Einsichten undPerspektiven - BayernDr. Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls,...

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4 | 11 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Einsichten und Perspektiven Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte Bürgerengagement oder politischer Aktivismus? Wie steht es mit der Integration? Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen NS-Gedenkstätten in Frankreich Bayerisch-israelische Absichtserklärung zur Bildungskooperation Neue Publikationen Jahresausblick 2012

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  • 4 | 11BayerischeLandeszentralefür politischeBildungsarbeit

    Einsichtenund Perspektiven

    B a y e r i s c h e Z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k u n d G e s c h i c h t e

    Bürgerengagement oder politischer Aktivismus?Wie steht es mit der Integration?Das Bindestrich-Land Nordrhein-WestfalenNS-Gedenkstätten in FrankreichBayerisch-israelische Absichtserklärungzur BildungskooperationNeue PublikationenJahresausblick 2012

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    Autoren dieses Heftes Impressum

    Einsichten

    und Perspektiven

    Verantwortlich:

    Monika Franz,

    Praterinsel 2,

    80538 München

    Redaktion:

    Monika Franz,

    Dr. Christof Hangkofer,

    Christoph Huber,

    Werner Karg

    Gestaltung:

    griesbeckdesign

    www.griesbeckdesign.de

    Druck:

    creo Druck &

    Medienservice GmbH,

    Gutenbergstraße 1,

    96050 Bamberg

    Titelbild: Globalisierungs-

    kritische Aktivisten beim

    G8-Treffen in Heiligendamm

    im Juni 2007

    Quelle: ullstein bild

    Die Landeszentrale konnte die Ur-heberrechte nicht bei allen Bilderndieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aberbereit, glaubhaft gemachte Ansprüchenachträglich zu honorieren.

    Dr. Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Dr. Harald Lederer und

    Stefan Rühl sind Mitarbeiter der Gruppe 22 „Grundsatzfragen der Migration, Migrationsfor-

    schung, Ausländerzentralregister, Statistik“ im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in

    Nürnberg.

    Eva Feldmann-Wojtachnia ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Jugend und

    Europa am Centrum für angewandte Politikforschung der Ludwig-Maximilians-Universität

    München.

    Dr. Manuela Glaab ist Akademische Oberrätin am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissen-

    schaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiterin der Forschungsgruppe Deutsch-

    land am Centrum für angewandte Politikforschung.

    Stephan Hildensperger und Christoph Huber sind Mitarbeiter der Landeszentrale für politische

    Bildungsarbeit.

    Dr. Guido Hitze ist Historiker mit den Schwerpunkten Landes- und Parteiengeschichte (Nord-

    rhein-Westfalen, Schlesien, politischer Katholizismus, CDU) und Referatsleiter („Gedenkstätten

    und Erinnerungskultur“) in der Landeszentrale für politische Bildung des Landes Nordrhein-

    Westfalen.

    Werner Karg leitet das Veranstaltungsreferat in der Landeszentrale für politische

    Bildungsarbeit.

    Veranstaltungshinweis

    Die Weiße Rose im Gedächtnis MünchensWandel und Kontinuitäten

    Montag, 12. Dezember 2011, 19.00 Uhr

    Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 4. Stock, Saal

    Vortrag: Dr. Andreas Heusler, Historiker am Stadtarchiv München

    Podiumsgäste: Dr. Ludwig Spaenle, Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus

    Prof. Dr. Margit Szöllosi-Janze, Lehrstuhl für Neueste Geschichte und

    Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München

    Markus Schmorell, Familienangehöriger von Alexander Schmorell

    Dr. Hans-Jochen Vogel, Altoberbürgermeister

    Moderation: Amelie Fried, Publizistin

    Die Erinnerung an die Weiße Rose ist in München seit der ersten Gedenkfeier am 4. November

    1945 nicht verloschen, wenngleich im historischen Stadtgedächtnis unterschiedlich präsent. Bereits

    1946 widmete die Ludwig-Maximilians-Universität den Opfern des studentischen Widerstands eine

    Gedenktafel, später folgten weitere Denkmäler in der Stadt sowie die Benennung von Straßen,

    Plätzen oder Schulen nach einzelnen Personen der Weißen Rose. Die Veranstaltung will mit Einfüh-

    rungsvortrag und Podiumsdiskussion eine prüfende Bestandsaufnahme vergangener und aktueller

    Formen dieses Erinnerns wagen. Sie will überdies beispielhaft aufzeigen, dass Erinnerungskultur

    kein statisches Phänomen ist, sondern einer permanenten Veränderung unterliegt. Jede Generation

    hat ihre Art und Weise, wie sie Vergangenes vergegenwärtigt, bewertet und Schlüsse für das jewei-

    lige Hier und Jetzt zieht. Erinnerungskultur ist somit immer auch eine Aussage über die Gegenwart

    des Gemeinwesens.

    Veranstalter: Weiße Rose Stiftung e.V. und Stiftung Literaturhaus.

    Mit freundlicher Unterstützung der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.

    Eintritt: Euro 9,-/7,-

    Einsichten und Perspekt iven

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    Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela GlaabBürgerengagement oder politischer Aktivismus?Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutsch-land

    Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff,Martin Kohls, Harald Lederer, Stefan RühlWie steht es mit der Integration?Personen mit Migrationshintergrund in Bayern

    Guido Hitze„Es ist furchtbar, aber es geht!“Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen:Bemerkungen zu Geschichte, politischer Kulturund Identität

    Christoph HuberMauern und NamenNS-Gedenkstätten in Frankreich

    Stephan Hildenspergerzeit.raum@bayernDer Heimat ein Gesicht geben

    Werner KargBayerisch-israelische Absichtserklärungzur Bildungskooperation

    Neue Publikationen der Landeszentrale

    Jahresausblick 2012

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    246

    260

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    Inhalt

    Einsichten und Perspekt iven

  • Bürgerengagement oder pol i t ischer Akt iv ismus? Zum Wandel der pol i t ischen Part iz ipat ion in Deutschland

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    Proteste beim Abriss des Nordflügels des Stuttgarter Hauptbahnhofs im August 2010 Quelle: Alle Fotos im Artikel von ullstein

    Bürgerengagement oderpolitischer Aktivismus?Zum Wandel der politischen Partizipation in Deutschland

    Von Eva Feldmann-Wojtachnia und Manuela Glaab

  • Bürgerengagement oder pol i t ischer Akt iv ismus? Zum Wandel der pol i t ischen Part iz ipat ion in Deutschland

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    Politischer Aktivismus ist mitnichten ein neues Phänomenund kennt die vielfältigsten Ausdrucksformen. Seit derBegriff in den zwanziger Jahren geprägt wurde, haben sichzahlreiche Varianten von Aktionsformen, beispielweise De-monstrationen, Boykottaktionen, Mahnwachen oder Un-terschriftensammlungen, entwickelt. Gegenwärtig scheintder politische Aktivismus jedoch eine neue Qualität zugewinnen. Es lässt sich beobachten, wie die Politik in Zeitender globalen Finanzkrise auf eine Vermittlungskrise zusteu-ert, die angesichts der niederschwelligen Vernetzungsmög-lichkeiten von alarmierten Bürgerinnen und Bürgern eineTiefendimension mit unüberschaubaren, schwer steuerba-ren Konsequenzen erlangt. Neu an der aktuellen Protest-bewegung sind jedoch nicht die Aktionsformen an sich,sondern ihre Intensität und das Tempo, die durch die Inter-netvernetzung erreicht werden. Deutlich sichtbarer unddirekter sind auch die politischen Konsequenzen, die sogarso weit reichen können, dass sie wie im „Fall Guttenberg“einen Spitzenpolitiker zum Rückzug zwingen oder eineKehrtwende in der Energiepolitik mit herbeiführen. Diesogenannten „Wutbürger“ (Wort des Jahres 2010) und„Occupy“-Aktivisten bevorzugen flexible, nicht formali-

    sierte Beteiligungsformen, die zwischen Aktionen im Netzund an realen Orten switchen. Auch sind die Grenzen zwi-schen Generationen oder sozialen Gruppen ganz offenkun-dig durchlässiger geworden.

    Aber es gibt auch Initiativen seitens der Politik, dieeine Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhaltsund die aktive Mitwirkung an der Politik zum Ziel haben.So rief Bundespräsident Christian Wulff mit der Schaffungdes BürgerForum 2011 (www.bund.buergerforum2011.de)die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, in Eigenregie in loka-len BürgerForen zu diskutieren, wie der gesellschaftlicheZusammenhalt in Deutschland verbessert werden kann.Ziel dieser online-basierten Konsultationsofferte ist es,Menschen mit ihren eigenen Themen am politischen Wil-lensbildungsprozess zu beteiligen und für politisches Enga-gement zu motivieren. Noch ist es jedoch zu früh einzu-schätzen, was aus einer solchen Konsultation längerfristigresultiert. Wenngleich im Ergebnis ein bundesweites Bür-gerprogramm mit konkreten Vorschlägen für Politik undGesellschaft entwickelt wurde, so stellt sich die Frage, obund welche politischen Konsequenzen letztlich gezogenwerden.

    Demnächst könnte „Stuttgart 21“ im Duden als Fachbegriff nachzuschlagen sein: alsselbstregulierte, direkte politische Artikulationsform unterschiedlichster Bevölke-rungsgruppen. Geeint werden die Teilnehmer an den Protestaktionen durch das Ziel,ihre Unzufriedenheit mit der Intransparenz und mangelnden Glaubwürdigkeit derEntscheidungsprozesse zum Verkehrs- und Städtebauprojekt auszudrücken und diesemöglichst zu korrigieren. Handelt es sich bei einer solchen Mobilisierung auf derStraße um eine neue Qualität des politischen Aktivismus, welche die Frage nach einerErneuerung der repräsentativen Demokratie durch direkte Partizipationsformen aufden Plan ruft? Oder verstärkt diese Form des konfrontativen Protests die Kluftzwischen Bürgern und Politik, zwingt letztere aber zu handeln?

  • „Flashmob“-Aktion zum 60-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes im Mai 2009 in Berlin

    Politische Partizipation und Demokratie

    Für das Funktionieren der Demokratie ist politischePartizipation, verstanden als Handlungen, „die Bürgerfreiwillig mit dem Ziel unternehmen, Entscheidungenauf den verschiedensten Ebenen des politischen Systemszu beeinflussen“,1 unverzichtbar. Dies äußert sich inunterschiedlichsten Formen aktiver Bürgerbeteiligung.Je nach demokratietheoretischer Perspektive bestehenhinsichtlich des notwendigen Beteiligungsniveaus wieauch der adäquaten Partizipationsformen jedoch unter-schiedliche Auffassungen.2

    Partizipatorische Demokratietheorien betonen die Input-Dimension, also die politische Beteiligung der Bürgerinnenund Bürger, die sich nicht auf die Teilnahme an Wahlen undAbstimmungen beschränken, sondern in allen Bereichen

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    maximiert werden soll. Enthalten sich relevante Teile derBevölkerung, so wird dies als Zeichen mangelnder System-unterstützung und einer möglichen Gefährdung der Sys-temstabilität gewertet. Neue, unkonventionelle Formen despolitischen Aktivismus wie „Flashmob“ oder „YES MAN“könnten hier als kreativer Inputgeber für politische Ent-scheidungsprozesse betrachtet werden.3 In der Perspektiveoutput-orientierter Demokratietheorien kommt es dagegenauf die Systemperformanz an. Die Bürgerbeteiligung erfolgtvorwiegend durch die Teilnahme an Wahlen, um demokra-tische Herrschaft zu legitimieren und zu kontrollieren.Aber auch die Nichtteilnahme an Wahlen erscheint solangeunproblematisch, soweit hierdurch Zufriedenheit mit demOutput, also den Leistungen des politischen Systems, zumAusdruck gebracht wird.

    Offensichtlich ist den Protestierenden eine solcheGrundzustimmung nicht mehr möglich.

    1 Max Kaase: Vergleichende Partizipationsforschung, in: Dirk Bergschlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Vergleichende Politikwissen-schaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1997, S. 160.

    2 Vgl. Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010.3 Vgl. Felix Ludwig, Jana Trumann, Tim Zosel: Flashmob und Co. Politische Partizipation und Bildung oder nur Aktion?, in: kursiv. Praxis

    politische Bildung „Politische Partizipation“ (2011), H. 4, S. 25.

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    4 Rita Süssmuth: Mangelt es an Offenheit und Bürgerbeteiligung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 61 [„Demokratie und Beteiligung“](2011), H. 44-45, S. 4.

    Die aktuell zu beobachtenden, vielfältigen Erschei-nungsformen des politischen Aktivismus bringen zwei-felsohne eine weitreichende Unzufriedenheit mit deretablierten Politik zum Ausdruck. Sie zeigen aber auch,dass beachtliche Teile der Bevölkerung bereit sind, sichaktiv und teilweise unter hohem persönlichem Einsatzan der politischen Willensbildung zu beteiligen.

    Ein deutlich anderes Bild ergibt sich im Bereich der kon-ventionell verfassten politischen Partizipation, die in deninstitutionalisierten Bahnen der repräsentativen Demo-kratie verläuft, rechtlich geregelt ist und dementsprechendeine hohe Legitimitätsgeltung besitzt. So ist die Beteiligungan Wahlen in der Gesamttendenz auf allen Ebenen rückläu-fig. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde mit 72,2 ProzentWahlbeteiligung das niedrigste Niveau seit Bestehen derBundesrepublik erreicht. Noch deutlich geringer fällt dieWahlbeteiligung auf der Europa-, Landes- und kommuna-len Ebene aus. Und auch die Parteien, denen eine tragendeFunktion in der politischen Meinungs- und Willensbildungzukommt, beklagen seit langem einen Mitgliederschwund.Besonders betroffen hiervon sind die Volksparteien CDUund SPD, die jeweils nur noch um die 500.000 Mitgliederzählen.

    Die Forderung nach „mehr Demokratie“ deutetdarauf hin, dass es bei den Protesten vor Ort – dafür steht„Stuttgart 21“ nur als ein Beispiel – nicht allein um den kom-munalen Konflikt geht, sondern „um eine scharfe Ausei-nandersetzung um nicht mehr akzeptierte Formen undVerfahren bisheriger Bürgerbeteiligung“.4 Nicht die Ab-schaffung der repräsentativen, parlamentarischen Demo-kratie an sich steht zur Debatte, jedoch ein deutlich recht-zeitiger Einbezug der Bürgerinnen und Bürger im Prozessder politischen Entscheidungsfindung mit ernsthaftenKonsequenzen seitens der Politik.

    Insbesondere junge Menschen wollen ihre Stimmenicht mehr (oder nicht nur) am Wahltag oder innerhalb derbestehenden Strukturen abgeben. Direktere Beteiligungs-formen, auf der Straße oder im Netz, ohne aufwändigenzeitintensiven Vorlauf oder längerfristige, bindende Mit-gliedschaften und ein handlungsbezogener Erlebnischarak-ter stehen hier im Vordergrund. Kennzeichnend für denneuen politischen Aktivismus ist zudem eine eher punktu-elle, situative Beteiligung ressourcenstarker, gut vernetzterBevölkerungsteile, die nicht mehr eindeutig nur einer Gene-ration oder sozialen Herkunft zugeordnet werden können.Das teils lokal begrenzte Engagement erhält durch die

    Wirkkraft der Social Media oft auch eine globale Dimen-sion.

    Allerdings ist kritisch zu hinterfragen, ob politischerAktivismus bei der Lösung der artikulierten Problemetatsächlich helfen kann. Denn unabhängig von derKlassifizierung von verfassten und nicht-verfasstenPartizipationsformen und ihrer Bewertung im Hinblickauf Funktion, Reichweite und Legalität stellt sich hierdie Frage nach der normativen Grundlegung desPolitikbegriffs. Partizipation im Sinne von politischerTeilhabe und demokratischen Mitwirkung in möglichstvielen unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft istdabei als Schlüsselbegriff zu verstehen, wenngleichPolitik sicherlich allein über das Partizipationsprinzipnicht neu definiert werden kann. Als Protestverhaltenentziehen sich die neuen Formen des politischen Akti-vismus dieser Auseinandersetzung, wenn sie nicht aufInteressenausgleich und Diskurs ausgelegt sind, son-dern als Aktionismus in erster Linie auf Einzelaktionenund deren öffentliche Sichtbarkeit abzielen bzw. dieIdentifikation mit der eigenen Gruppe zum Ziel habenund die Politik letztlich als Adressat fehlt.

    Normalisierung des Unkonventionellen

    Politischer Aktivismus und Protestbewegungen inDeutschland sind keine Momentaufnahmen, sondern ein-zuordnen in eine längerfristige Entwicklung. Rückblickendauf die Geschichte der politischen Kultur in Deutschlandgab es bereits einige Hochzeiten des außerparlamentari-schen Bürgerprotestes. Hierzu zählen zweifelsohne die„Montagsdemonstrationen“ in der DDR, die die politischeWende mit dem Fall der Mauer 1989 einläuteten. In derBundesrepublik ist die Achtundsechziger-Bewegung her-vorzuheben, mit Studentenrevolten, Aktionen des zivilenUngehorsams und Ostermärschen, außerdem Massende-monstrationen und kilometerlange Menschen- und Lich-terketten gegen den NATO-Doppelbeschluss und gegendas Wettrüsten. Schon in den siebziger Jahren war von einer„partizipatorischen Revolution“ (Max Kaase) die Rede.Damit wurden unverfasste Beteiligungsformen, die sichaußerhalb institutionalisierter Bahnen, in spontanen odergeplanten Mobilisierungsprozessen vollziehen, auf einegriffige Formel gebracht. Sie nehmen seither neben den ver-fassten, elektoralen und parteibezogenen Aktivitäten einennicht mehr wegzudenkenden Platz im politischen Gesche-

  • hen ein. Momentan erleben wir daher zwar einen enormenAufschwung an politisch lebhaftem Aktivismus, im Kernjedoch kein neues Phänomen der Bürgerbeteiligung. Diesein Anlehnung an die Political-Action-Studie5 auch als „un-konventionell“ bezeichnete Partizipation umfasst sowohllegale als auch nicht-legale Varianten. Das Spektrum reichtvon der Teilnahme an Unterschriftensammlungen über ge-nehmigte Demonstrationen bis hin zu Boykotts, Straßen-blockaden oder Gebäudebesetzungen.

    Inzwischen gilt die begriffliche Unterscheidung zwi-schen konventionellen und unkonventionellen Beteili-gungsformen als überholt, weil sie kaum mehr denvorherrschenden Partizipationsmustern entspricht.Zum einen finden die legalen Varianten dieser Betei-ligungsformen breite Akzeptanz in der Bevölkerungund beschränken sich längst nicht mehr auf postmate-rialistische Protestmilieus. Zum anderen wird die Praxis

    5 Samuel Barnes/Max Kaase u.a.: Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills (CA) 1979.6 Vgl. Bernhard Weßels: Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: Ansgar Klein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligung

    und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230.

    Bürgerengagement oder pol i t ischer Akt iv ismus? Zum Wandel der pol i t ischen Part iz ipat ion in Deutschland

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    viel stärker von institutionenorientierten, „konventio-nellen“ Gelegenheitsaktivitäten bestimmt, als es dieMedienberichterstattung über spektakuläre Protest-aktionen vermitteln mag. Hinzu kommt, dass Parteienund andere Großorganisationen vielfach selbst alsInitiatoren von Protestkampagnen auftreten.

    Die „Normalisierung des Unkonventionellen“ (DieterFuchs) manifestiert sich in der gestiegenen Akzeptanz un-verfasster Beteiligungsformen. Sowohl die Bereitschaft, beiden zumeist themenbezogenen und zeitlich begrenzten Ak-tionsformen mitzumachen, als auch die tatsächliche Betei-ligung hieran sind längerfristig gestiegen. Hatte sich Mitteder siebziger Jahre erst ein Drittel der Bundesbürger über-haupt einmal an einer solchen Aktion beteiligt, so avancier-ten diese im Verlauf der achtziger Jahre zu einer Aus-drucksform der Mehrheit.6 Hervorzuheben ist jedoch, dassAktionen des zivilen Ungehorsams – wozu beispielsweise

    Montagsdemonstration mit ca. 120.000 Teilnehmern im Oktober 1989 in Leipzig

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    7 Vgl. ausführlicher Manuela Glaab: Politische Partizipation versus Enthaltung, in: Manuela Glaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.):Deutsche Kontraste 1990-2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt am Main 2010, S. 101-137.

    8 Vgl. Andreas Hadjar, Rolf Becker: Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkonventionelle politische Partizipation imZeitverlauf, in: Ingo Bode/Albert Evers/Ansgar Klein (Hg.), Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zu Entwicklung undFörderung zivilgesellschaftlicher Potenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124.

    9 Ausführlicher siehe: Eva Feldmann-Wojtachnia: Identität und Partizipation. Bedingungen für die politische Jugendbildung im Europa derBürger und Bürgerinnen, C·A·P Analyse (2007), Nr. 6, S. 6-10.

    Proteste an der Freien Universität Berlin gegen die Notstandsgesetze im Mai 1968

    wilde Streiks, Sit-ins und Verkehrsblockaden zu rechnensind – von der großen Mehrheit der Bürger als nicht legitimbetrachtet werden. Dementsprechend spielen sie auch nureine untergeordnete Rolle in deren Aktionsspektrum.

    Von einer Umkehr dieses Trends kann auch in dendarauffolgenden Jahrzehnten nicht die Rede sein.7 Immermehr Bürger bevorzugen offenbar ein punktuelles, zeitlichbegrenztes politisches Engagement. Dies korrespondiertmit einem gewandelten Politikverständnis, das als eher situ-ativ, kontextabhängig, erlebnis- und betroffenheitsorien-tiert zu beschreiben ist. Zudem ist die potentielle Beteili-gungsbereitschaft im Allgemeinen höher einzuschätzen alsdie tatsächliche Beteiligung an politischen Aktionen. Dazubietet die Forschung mehrere, sich ergänzende Erklärungs-ansätze an: Die Mobilisierung wird von der individuellensozioökonomischen Ressourcenausstattung beeinflusst.

    Ablesbar ist dies vor allem daran, dass Bürger mit hoher for-maler Schulbildung unkonventioneller Partizipation beson-ders aufgeschlossen gegenüber stehen.8

    Eine wichtige Determinante stellt außerdem das Alterdar. Demnach ist die aktive Beteiligung, vor allem abereine positive Einstellung gegenüber unkonventionellenPartizipationsformen in der jungen Generation beson-ders stark ausgeprägt. Partizipation ist dabei untrenn-bar mit der Identitätsbildung von Jugendlichen verbun-den und bewegt sich zunächst im gesellschaftlichen,vorpolitischen Raum. Sich für die eigene Umwelt zuinteressieren und sich mit den Interessen anderer überden privaten Nutzen hinaus kritisch auseinanderzuset-zen, sind soziale Grundbedürfnisse und elementareIdentitätserfahrungen, die bereits Kinder machen.9

  • Globalisierungskritische Aktivisten beim G8-Treffen in Heiligendamm im Juni 2007

    Weniger eindeutig ist der Zusammenhang zwischen ver-schiedenen Sozialisationsfaktoren sowie Motiven politi-scher Unzufriedenheit und der Protestneigung. Die Einbin-dung in soziale Netzwerke spielt vor allem bezüglich desparteibezogenen Engagements eine Rolle, fördert aber auchdie unkonventionelle Partizipation. Im Bereich der nicht-institutionalisierten Partizipation, die sehr stark an konkre-te Anlässe gebunden ist, ist somit von einer hohen Varianzder Erklärungsfaktoren auszugehen.10

    Darüber hinaus ist zu betonen, dass die Datenlageim Bereich der unkonventionell-unverfassten Aktivitäteninsgesamt betrachtet eine recht diskontinuierliche Ent-wicklung abbildet. Dies hat zum einen methodische Ursa-chen (variierende Frageinstrumente und Indikatoren sowieDatenlücken), verweist zum anderen aber auch auf die star-ke Kontextabhängigkeit dieser Partizipationsformen. EineLängsschnittanalyse von Protestereignisdaten ergibt daherstark schwankende Protestkonjunkturen.11 So kam es bei-

    10 Vgl. Oscar W. Gabriel: Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.): Deutschland in Europa. Ergebnisse des European Social Survey2002–2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338.

    11 Umfassend dazu Dieter Rucht (Hg.): Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001.

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    spielsweise im Zuge der Reformpolitik der rot-grünen Bun-desregierung zu Protesten von Erwerbslosen und weiterenBevölkerungsteilen, die sich von Arbeitslosigkeit bedrohtsahen. Vor allem in den Jahren 1998 sowie 2003/04 wurdeein hoher Aktivitätsgrad ermittelt; schwerpunktmäßig inOstdeutschland, aber auch bundesweit kam es zu Protesten.Mit den wiederum so genannten „Montagsdemonstratio-nen“ gegen den Sozialabbau durch die Hartz-IV-Gesetz-gebung im Sommer 2004, bei denen über eine Million Men-schen auf die Straße gingen, erreichte die Mobilisierungihren Höhepunkt. Die Protestkonjunktur wurde außerdemdurch globalisierungskritische Bewegungen belebt, die imvergangenen Jahrzehnt wachsenden Zulauf auch inDeutschland erhielten. Die „alten“ postmaterialistischenBewegungskerne der siebziger und achtziger Jahre werdendabei zusehends abgelöst durch Nichtregierungsorgani-sationen (NGOs), die ein globalisierungskritisches, inter-national vernetztes Bewegungsumfeld auf den Plan rufen

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    12 Vgl. Dieter Rucht, Roland Roth: Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen und Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.):Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493-512.

    13 Vgl. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de Rijke: Zur Lage der Jugend. Lebenssituation und Engagement in Gewerkschaften undJugendverbänden, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2011), H. 4, S. 8-18.

    14 Vgl. Monika Buhl: Politische Identitätsbildung im Jugendalter, in: kursiv. Praxis politische Bildung (2006), H. 1, S.20.15 Siehe: http://www.mpfs.de (Stand: 28. 11. 2011).

    können.12 Im Zentrum der Protestaktivitäten steht dieKritik an Kapitalismus und Neoliberalismus. Große öffent-liche Aufmerksamkeit erregten auch die gegen IWF, Welt-bank und WTO sowie gegen internationale Gipfeltreffengerichteten Demonstrationen. Die Mobilisierungsbasis derglobalisierungskritischen Bewegungen in Deutschlandwurde hier durch die Einbeziehung benachbarter, vor allemfriedens- und sozialpolitischer Themenfelder noch erwei-tert.

    Politischer Aktivismus in der jungenGeneration

    Junge Menschen stehen heute mehr als je zuvor unter einemenormen Mobilitäts- und Flexibilitätsdruck, besondersdann, wenn sie auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen möchten.Daher wägen sie sehr kritisch ab, wofür und mit welcherIntensität sie ihre persönlichen Ressourcen einsetzen. Be-vorzugt werden Gelegenheitsstrukturen und Handlungs-kontexte zur Beteiligung, die sie nicht längerfristig bindenund einengen. Die 13. Shell-Jugendstudie (Jugend 2010) be-zeichnet die junge Generation als großteils „pragmatischund illusionslos“, aber nicht automatisch als passiv und teil-nahmslos gegenüber ihrem politischen und gesellschaftli-chen Umfeld. Im Gegenteil: Wie soziologische Unter-suchungen zeigen, hat sich das politische Interesse, so wiedie Mitgliedschaft in Organisationen, Vereinen und Verbän-den, inzwischen sogar verstärkt.13

    Doch die Attraktivität politischer Partizipationsmög-lichkeiten wird von jungen Menschen unterschiedlichbewertet, wenn auch die Abkehr von konventionellenparteigebundenen Formen und Wahlen nicht vorschnellals allgemeine Politikverdrossenheit gewertet werdensollten. Denn dem steht die zunehmende Bereitschaftzur aktiven Mitwirkung in Initiativen oder Vereinengegenüber. Nicht ein Desinteresse an Politik als solcher,sondern ihre zunehmende Kritik an den herkömmli-chen Beteiligungsformaten ist entscheidend. Dies führtzu einem Zulauf zu interaktiven und innovativenAktionsformen, die in ihrer überschaubaren Kurzfris-tigkeit und lokalen Anbindung niederschwellig unddadurch enorm attraktiv sind – besonders für die jungeGeneration. Den öffentlichen Raum neu zu „erobern“ –wie Piraten im übertragenen und wörtlichen Sinne –oder im „Flashmob“ „Gemeinschaft auf Zeit“ zu erle-

    ben im fließenden Übergang von virtuellen Netzen undder Realität „vor Ort“, dabei geht es meist um weitmehr als um Spaßaktionismus. Ziel ist es, die eigene, oftgesellschaftskritische oder konträre Position gesell-schaftlich sichtbar zu machen, aber auchAufmerksamkeit für neue Themen zu generieren.

    Man wird dem Begriff der Jugendpartizipation nicht ge-recht, verkürzt man ihn nur auf eine rein politische Sicht-weise; ein umfassendes Verständnis schließt immer auchBildungs- und Sozialisationsprozesse ein. Entwicklungs-psychologisch betrachtet sind Jugendliche etwa ab 14 Jah-ren zu strukturellem Denken und dem Abstrahieren dersubjektiven Lebenswelt in sozialen und politischen Zusam-menhängen in der Lage. Etwa zeitgleich setzt eine – wieauch immer geartete – politische Identitätsentwicklung ein.Jugendliche prägen hier erste eigene Einstellungen undVerhaltensweisen aus, die sie relativ stabil über die Jugend-phase hinweg beibehalten.14 Dies allein bringt allerdingsnicht unmittelbar eine nachhaltige, strukturelle Jugendbe-teiligung hervor, hierzu sind neben einer gezielten gesell-schaftspolitischen Bildungsstrategie zur Förderung undVerankerung der nötigen Kompetenzen auch gute Gelegen-heiten und Erfahrungsräume wie letztlich auch verbindlicheRahmensetzungen in Politik und Gesellschaft gefragt. Oft-mals fehlen hier die (jugendgerechten) Zugänge oder es ste-hen zu große bürokratische Hürden im Weg.

    Als ein attraktiver, interaktiver Ort der Beteiligungerscheint daher vielen Jugendlichen gerade das Internet, woeigener Input sowie die eigene Meinung unkompliziert unddirekt eingebracht werden können. Regelmäßig untersu-chen die KIM- und JIM-Studie15 das Medienverhalten vonKindern und Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutsch-land. Demzufolge haben nahezu 100 Prozent der 12- bis 19-Jährigen Internetzugang, zumeist über ihre Eltern, jedochverfügt die Hälfte der älteren Jugendlichen bereits übereinen persönlichen Anschluss im eigenen Zimmer. Die JIM-Studie weist zudem einen Zusammenhang zwischen derHäufigkeit und Dauer der Internetnutzung und dem Bil-dungsgrad der Jugendlichen nach. Zwar nutzen Jugendlichemit höherem Bildungsgrad das Internet öfter, aber kürzerals Jugendliche mit niedrigerem Bildungsgrad. Mädchennutzen das Internet ebenfalls etwas weniger als Jungen. Ambeliebtesten bei Jugendlichen sind die verschiedenen Kom-munikations- und Austauschmöglichkeiten unter Gleich-altrigen und somit Suchmaschinen und Provider im Netz,

  • wobei Google deutlich an der Spitze liegt. Hoch beliebt sindSocial-Web-Angebote oder Seiten mit user generated con-tent, wo eigene Inhalte eingearbeitet werden können. Hiererwähnen die Jugendlichen „YouTube“, „schülerVZ“ und„Wikipedia“. Daher hätte unter Umständen ein Jugendkon-sultationsportal eine gute Akzeptanzchance; zumal bei etwader Hälfte der Jugendlichen ein Interesse an aktueller Bun-des- und Lokalpolitik verzeichnet werden kann und esJugendliche durchaus für wichtig halten, über neue Ent-wicklungen schnell Bescheid zu wissen.

    E-Partizipation und Netzaktivismus

    Mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien stelltsich immer drängender die Frage, inwieweit das Internet alsein zentraler Ort für Partizipation und Bürgerbeteiligungbetrachtet werden muss. Die Mobilisierungserfolge vonNetzaktivisten haben eindrucksvoll vor Augen geführt,dass durch die neuen Informations- und Kommunikations-technologien (IuK) ganz neue Dimensionen politischerBeteiligung eröffnet werden. Aus Sicht der Politikwissen-

    16 Vgl. Glaab (wie Anm. 7).17 Aktueller Diskussionstand des BMI-Strategiepapiers siehe: http://www.CIO.bund.de/cln_164/DE/E-Government/Nat_%20E-

    Government/nat_eGovernment_node.html (Stand: 28. 11. 2011).

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    schaft sind die vielfältigen „neuen“ elektronischen Partizi-pationsformen (unter den Stichworten „E-Partizipation“,„digitale Demokratie“, „fluid oder real-time democracy“)überwiegend als technische Adaptionen herkömmlicherFormen der Bürgerbeteiligung zu betrachten. Das Spek-trum reicht von einfachen Informationstools bis hin zuanspruchsvollen, auf Deliberation zielende Anwendungenwie Online-Konsultationen. Diese unter dem Begriff der„E-Demokratie“ subsumierten Formen der E-Partizipationlassen sich in einen staatlichen sowie einen nicht-staatlichen,zivilgesellschaftlichen Bereich systematisieren, wenngleichdiese in der Nutzungspraxis häufig miteinander verknüpftsind.16

    So hat sich die Bundesregierung dazu verpflichtet,für die derzeitige Legislaturperiode (2009–2012) eine E-Government Strategie 2.0 vorzulegen, um die E-Partizipa-tion in Deutschland zu fördern.17 Diese setzt sich zum Ziel,moderne Kommunikationswege für alle öffentlichen Ein-richtungen zu etablieren, um damit das Interesse an gesell-schaftspolitischen Themen und eine direkte Teilhabe derBürgerinnen und Bürger an der Politik zu fördern. Unter

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  • Bürgerengagement oder pol i t ischer Akt iv ismus? Zum Wandel der pol i t ischen Part iz ipat ion in Deutschland

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    18 Siehe: Entschließung des Rats vom 27. November 2009 über einen erneuerten Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa(2010–2018) (2009/C 311/01).

    19 Vgl. Hilmar Westhom (u.a.): E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölkerung und Wirtschaft am E-Government. Studie imAuftrag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1., Berlin 2008, S. 7.

    20 Vgl. http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Internet-Strukturdaten/web_III_11.pdf. (Stand 23.11.2011).21 So z.B. Matthew Scott Hindman: The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009.22 Vgl. Renate Köcher, Oliver Bruttel: Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach 2011. Dabei handelt es sich um eine reprä-

    sentative Studie, die das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) im Auftrag der IT-Beratung Infosys Limited durchgeführt hat. Diesestützt sich auf 1.906 im Mai 2011 durchgeführte Interviews (Bevölkerung ab 16 Jahre); abrufbar unter:http://www.infosys.com/german/newsroom/press-releases/documents/social-media-it-society2011.pdf; alle in diesem und den folgendenAbschnitten zitierten Daten sind dort zu entnehmen.

    23 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 20), hier S. 13.

    anderem soll mit dieser Initiative, die vom Bundesinnenmi-nisterium (BMI) ausgeht, auch die Internetnutzung durchbislang unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen gefördertwerden.

    Hierzu wurde 2008 die Internetplattform „e-kon-sultation.de“ im Auftrag des BMI als neues Konsultations-instrument eingerichtet, auch mit dem Ziel, dieses Verfahrenfür andere politische Ressorts verfügbar zu machen. Of-fensichtlich bevorzugen jedoch die Bürgerinnen und Bürgerandere, selbstgesteuerte Foren im Netz und ziehen hier kei-ne Rückschleife zu Angeboten der offiziellen Politik. Auchversucht das Bundesjugendministerium mit weiteren Ak-teuren der Jugendpolitik und der Jugendarbeit, im Rahmender Umsetzung der EU-Jugendstrategie (2010–2018)18 inDeutschland und mittels des „Strukturierten Dialogs“ neue,zum Teil online-gestützte Kommunikationsformen mitjugendlichen Zielgruppen zu finden und flankierend überdas institutionalisierte, offene EU-KonsultationsverfahrenJugendpartizipation voranzubringen.

    IuK-Technologien werden aber auch und vor allemunabhängig von staatlichen Initiativen genutzt. Von beson-derem Interesse ist die Tatsache, dass zivilgesellschaftlicheOrganisationen diese mit wachsendem Erfolg zur internenOrganisation sowie zur Mobilisierung und Koordinationvon Protesten nutzen. Schlagworte wie „Cyberaktivismus“,„E-Aktivismus“ oder „Onlineaktivismus“ verweisen aufdiesen Trend. Eine vom Bundesministerium des Innern inAuftrag gegebene Studie entdeckt im Bereich von Aktivis-mus, Kampagnen und Lobbying auch die technisch fort-schrittlichsten Angebote der E-Partizipation.19 Zu denneueren, rein internetbasierten Aktionsformen zählen zumBeispiel die Einrichtung von E-Petitionsplattformen, dasLahmlegen von Websites durch gezielte Überlastung oderdas Fluten ausgesuchter Adressaten mit E-Mails. Das On-lineportal „abgeordnetenwatch.de“ steht beispielhaft fürFormate, die auf mehr Transparenz im politischen Prozessabzielen.

    Das Partizipationspotenzial des Internet resultiertaus der Tatsache, dass es die Interessenartikulation zu gerin-gen Kosten, ortsunabhängig, mit hoher Geschwindigkeitund prinzipiell unbegrenzter Reichweite ermöglicht. Stu-

    dien belegen, dass es trotz einiger Nutzungsbarrieren eineimmer größere Reichweite erlangt. Aktuellen Internet-Strukturdaten der Forschungsgruppe Wahlen aus 2011 zu-folge nutzen etwa drei Viertel der Bevölkerung in Deutsch-land das Internet. In Westdeutschland sind 75 Prozent on-line, in Ostdeutschland hingegen nur 69 Prozent. Eine Kluftbesteht weiterhin zwischen der Internetnutzung durchMänner (80 Prozent) und Frauen (67 Prozent). Vor allemaber stellt die formale Bildung einen wichtigen Faktor derInternetaffinität dar. Während nahezu alle Deutschen mitHochschulreife (94 Prozent) und auch 85 Prozent mitMittlerer Reife das Internet nutzen, tun dies nur 57 Prozentderjenigen mit Hauptschulabschluss und Lehre. In derGruppe derjenigen mit Hauptschulabschluss ohne Lehreliegt die Nutzung sogar nur bei 34 Prozent.20

    Anwendungen des Web 2.0 und Social Media wie Face-book oder Twitter entfalten eine zusätzliche Dynamikund haben das Potenzial, auch politikferne Teile derBevölkerung zu erreichen. Neue Formen der Versamm-lungsöffentlichkeit entwickeln sich in diesen Foren, diejedoch von jüngeren, „well-informed citizens“ über-durchschnittlich genutzt werden. Einige Autoren spre-chen daher davon, dass vor allem eine Informationseliteund weniger der „einfache Bürger“ gestärkt werden.21

    Auch eine jüngst veröffentlichte Studie des IfD Allens-bach kommt zu der Feststellung, dass insbesondere dieGruppe der politischen Netzaktivisten das Internet alsChance für mehr demokratische Teilhabe begreift.22

    Nach der Datenlage sind dazu etwa zehn Prozent der Bür-ger zu rechnen. Sie werden charakterisiert als eine selbstbe-wusste Minderheit, die meist aus höheren Bildungs- undEinkommensschichten stammt, überwiegend männlich istund vor allem in der jüngeren Generation der unter 30-Jährigen zu finden ist. Die Protestneigung verbindet sich indieser Gruppe mit der Überzeugung, politisch etwas bewir-ken zu können. So meinen 60 Prozent, durch das Internetwürde der Druck auf die Politik steigen, „bei wichtigenEntscheidungen stärker auf die Meinung der BevölkerungRücksicht zu nehmen“.23

  • Mark Zuckerberg (geb. 1984), Gründer von Facebook, im April 2010

    Es gibt gute Gründe dafür anzunehmen, dass das Potenzialder E-Partizipation noch nicht ausgeschöpft ist. Dafürspricht nicht nur die Tatsache, dass das Internet mit seinenvielfältigen Anwendungen es ermöglicht, sich schnell undohne größeren Aufwand zu engagieren. Dessen sind sich 56Prozent der Bevölkerung und 88 Prozent der Netzakti-visten bewusst. Tatsächlich handelt es sich bei den jungenNetzaktivisten um eine Bevölkerungsgruppe, die politischüberdurchschnittlich aktiv ist. Während sich nur 17 Prozentder Gesamtbevölkerung in den traditionelleren Formen derkonventionellen wie auch unkonventionellen politischenPartizipation stark engagieren, sind es der Allensbach-Stu-die zufolge in der Gruppe der Netzaktivisten 46 Prozent.Sie planen Unterschriftenaktionen ebenso wie Demons-trationen, sie sind Mitglieder in Parteien und Aktive inNGOs. Es zeichnen sich hier Konturen eines Milieus ab, zudem die etablierten Parteien nur schwer Zugang finden – amehesten gelingt dies noch den Grünen.

    Der Erfolg der Piratenpartei zeigt hingegen, welchesPartizipationspotenzial in diesem Bereich vorhanden

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    Einsichten und Perspektiven 4 | 11242

    ist. Aber auch die breite Bevölkerung erkennt zuneh-mend die Beteiligungschancen, die das Internet eröffnet.Die große Mehrheit der Befragten erhofft sich hier-durch mehr politische Transparenz und Informationen.So würden es 68 Prozent befürworten, wenn die Kom-munalpolitik im Vorfeld von Großprojekten generellInternetforen einrichten würde, damit die Bürger dieMöglichkeit der Stellungnahme erhalten. 63 Prozentbefürworten dasselbe Verfahren bei allgemeinen politi-schen Diskussionen und Gesetzesvorhaben.

    Die empirischen Forschungen zu diesen Fragen stehen erstam Anfang, sodass dieser digitale Zugang als Push-Faktor(und im Falle der jungen Generation sicherlich zugleichauch Pull-Faktor) sowie die zu erwartenden Effekte der E-Partizipation noch schwer einschätzbar sind. Dennoch hates den Anschein, dass in Deutschland etwas in Bewegunggekommen ist. Spätestens seit dem Wahlerfolg der Piratenin Berlin haben alle Parteien erkannt, dass sie sich dem The-menfeld der E-Partizipation widmen müssen und es auchnicht versäumen dürfen, die IuK-Technologien selbst kon-

  • Bürgerengagement oder pol i t ischer Akt iv ismus? Zum Wandel der pol i t ischen Part iz ipat ion in Deutschland

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    Wahlparty der Piratenpartei in Berlin-Kreuzberg am Abend der Senatswahl im September 2011

    sequenter zu nutzen. Auch bei der Planung von Großpro-jekten könnten diese hilfreich sein, z.B. in Form von On-line-Konsultationen oder zur Unterstützung von Bürgerfo-ren. Dabei gilt es zu beachten: E-Partizipation soll Bürger-nähe herstellen, erreicht aber nicht zwangsläufig einenQuerschnitt der Bevölkerung. Auch die Allensbach-Studiegelangt zu der Feststellung, dass es in hohem Maße von derpersönlichen Betroffenheit sowie dem generellen politi-schen Interesse und Engagement abhängig ist, inwieweit dieBürger von den neuen Möglichkeiten der Information undMitwirkung Gebrauch machen.24 Vorhandene Partizipati-onslücken werden sich also durch E-Partizipation kaumvon selbst schließen. Zudem sollten Legitimationsproblemenicht übersehen werden, die aus den ungleichen Beteili-gungschancen ressourcenstarker und -schwacher Bevölke-rungsteile – hier vor allem aufgrund der Nutzungsbarrierenim Bereich der IuK-Technologien – resultieren.

    FazitFormen des politischen Aktivismus stehen derzeit im Fokusder öffentlichen Aufmerksamkeit. Tatsächlich nutzen dieBürgerinnen und Bürger die ihnen zur Verfügung stehen-den Partizipationsmöglichkeiten – seien es konventionell-verfasste oder auch unkonventionell-unverfasste Formen –je nach Bedarf und Betroffenheit ganz selbstverständlich.Allerdings hat die Erweiterung des Partizipationsreper-toires nicht zu einer generellen Zunahme des politischenEngagements geführt. Vor allem im Bereich der elektoralenund parteibezogenen Beteiligung sind in den vergangenenbeiden Jahrzehnten rückläufige Tendenzen zu beobachtengewesen. Nur ein kleiner Teil der politisch Interessiertenentscheidet sich für längerfristige Beteiligungsformen, wiebeispielsweise für eine Parteimitgliedschaft. Aber auch beiden mehr spontanen, unverfassten Partizipationsformenweist der Trend nicht durchweg nach oben. Relevante Teile

    24 Vgl. Köcher, Bruttel (wie Anm. 22), hier S. 14.

  • der Bevölkerung haben sich von der Politik zurückgezogenund sind kaum noch zum Wählen oder gar zum„Mitmachen“ zu motivieren. Andere engagieren sich direktund mehr oder minder spontan, sind dann aber nicht bereit,die Konsequenzen vor Ort zu tragen, wie mancheBürgerinitiative, die gegen den Aus- und Aufbau vonGroßanlagen für erneuerbare Energien protestiert.

    Wozu führt also ein solcher politischer Aktivismus?Dabei geht es um viel grundlegendere Fragen als nurum die neuesten Erscheinungsformen des Bürgerpro-testes. Zur Debatte gestellt werden muss die Frage, wiedas beobachtbare Engagement nachhaltig in der Gesell-schaft zu verankern und mit entsprechender politischerRelevanz und Rahmensetzung zu versehen ist. EineSchlüsselrolle kommt hier letztlich der politischen Bil-dung zu, wenn sie im Sinne einer nachhaltigen Stär-kung von Partizipation und Förderung von Demokra-tiekompetenz über eine reine Informationsfunktionhinaus reicht. Auch in Zeiten eines basisdemokratischenAktivismus wäre es falsch, eine solche (notwendige)Rückschleife zum Diskurs über bürgergesellschaftlichesEngagement, Selbstregulierungsprozesse und Selbst-verantwortung in der Demokratie zu überspringen.Allerdings muss sich die politische Bildungsarbeit zeit-gemäß auf ihre neue Aufgabe einrichten, will sie ein dif-ferenziertes, politisches und soziales Bewusstsein schaf-fen und somit die politische Reflexion und konstruktiveNeubestimmung von Bürgerengagement anregen.

    Konkret heißt das auch, in dem Dialog mit den politischenAkteuren zu treten und gemeinsam längerfristige, attrakti-ve Partizipationsstrukturen besonders für Jugendliche aus-zuhandeln. Die sich überstürzenden Nachrichten derFinanz- und Eurokrise erfordern eine tiefer gehendeDiskussion zur gesellschaftlichen Dimension politischerEntscheidungen in Deutschland und Europa. PolitischesEngagement entsteht nicht von selbst, sondern imAustausch und in der breiten Auseinandersetzung überIdentität und Werte in Gesellschaft und Politik. Schließlichkontrastiert eine in vielen Umfragen ermittelte hohePartizipationsbereitschaft mit einem nur begrenzten tat-sächlichen Engagement. Hier tun sich eine Partizipations-lücke und die Frage nach sozialer Beteiligungsgerechtigkeitauf, die auch durch Formen der E-Partizipation bisher nichtgeschlossen und beantwortet werden kann.

    25 Manuela Glaab: Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischen Beteiligung und seine Konsequenzen für die deutschen Parteien, in:dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteiendemokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutsch-land, Bd. 15, München 2003, S. 126.

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    Der Begriff der „Partizipationseliten“25 mag eine Zuspit-zung darstellen, macht aber deutlich, dass sich die bessergebildeten und beruflich besser gestellten Teile der Bevölke-rung im traditionellen wie virtuellen Bereich überdurch-schnittlich engagieren – und damit auch bessere Chancenhaben, ihre Anliegen durchzusetzen. In Zeiten der Krisesollte es eher das Ziel aller sein, Lösungsperspektiven zuerarbeiten, um die Energie der „Wutbürger“ in konstruk-tive Mitwirkung zu leiten und den Dialog zwischen Bürgerund Politik neu zu denken und weiterzuentwickeln. Protestallein können wir uns nicht leisten. ❚

    Literatur:

    Samuel Barnes u.a.:Political Action. Mass Participation in Five WesternDemocracies, Beverly Hills (CA) 1979.

    Jutta Bergmann-Gries:Wutbürger, Parteigänger, Nichtwähler. Was bedeuten siefür die politische Bildung?, in: kursiv. Praxis politischeBildung („Politische Partizipation“) 2011, H. 4, S. 27–36.

    Feldmann-Wojtachnia, Eva et. al. (Hg.):Youth participation in Finland and Germany. StatusAnalysis and data based recommendations. Helsinki/München 2010.

    Dieter Fuchs:The Normalization of the Unconventional. Forms ofPolitical Action and New Social Movements, in: GerdMeyer, Franciszek Ryszka (Hg.): Political Participationand Democracy in Poland and West Germany, Warschau2011, H. 4, S. 148–169.

    Oscar W. Gabriel:Politische Partizipation, in: Jan W. van Deth (Hg.):Deutschland in Europa. Ergebnisse des European SocialSurvey 2002/2003, Wiesbaden 2011, H. 4, S. 317–338.

    Manuela Glaab:Mehr Partizipation wagen? Der Wandel der politischenBeteiligung und seine Konsequenzen für die deutschenParteien, in: dies. (Hg.): Impulse für eine neue Parteien-demokratie. Analysen zu Krise und Reform, in: Schriften-

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    reihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 15, Mün-chen 2003, S. 117–140.

    Manuela Glaab:Politische Partizipation versus Enthaltung, in: ManuelaGlaab/Werner Weidenfeld/Michael Weigl (Hg.): DeutscheKontraste 1990–2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft –Kultur, Frankfurt am Main 2010,S. 101–137.

    Andreas Hadjar, Rolf Becker:Bildungsexpansion und politisches Engagement – Unkon-ventionelle politische Partizipation im Zeitverlauf, in:Ingo Bode/Adalbert Evers/Ansgar Klein (Hg.),Bürgergesellschaft als Projekt. Eine Bestandsaufnahme zuEntwicklung und Förderung zivilgesellschaftlicherPotenziale in Deutschland, Wiesbaden 2009, S. 101–124.

    Matthew Scott Hindman:The Myth of Digital Democracy. Princeton, NJ u.a. 2009.

    Max Kaase:Partizipatorische Revolution – Ende der Parteien?, in:Joachim Raschke (Hg.), Bürger und Parteien. Ansichtenund Analysen einer schwierigen Beziehung, Bonn 1982,S. 173–189.

    Max Kaase:Vergleichende politische Partizipationsforschung, in: DirkBerg-Schlosser, Ferdinand Müller-Rommel (Hg.): Verglei-chende Politikwissenschaft 1997, S. 159–174.

    Renate Köcher, Oliver Bruttel:Social Media, IT & Society (1. Infosys-Studie), Allensbach2011.

    Dirk Jörke:Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: Aus Politikund Zeitgeschichte, Nr. 1–2, 2011, S. 13–18.

    Dieter Rucht (Hg.):Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturenund Entwicklungen, Frankfurt am Main 2001

    Dieter Rucht, Roland Roth:Globalisierungskritische Netzwerke, Kampagnen undBewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Diesozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Hand-buch. Frankfurt am Main/New York 2008, S. 493–512.

    Manfred G. Schmidt:Demokratietheorien. Eine Einführung, Wiesbaden 2010.

    Bernhard Weßels:Politisierung entlang neuer Konfliktlinien?, in: AnsgarKlein, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Politische Beteiligungund Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeitenund Grenzen, Bonn 1997, S. 205–230.

    Hilmar Westholm u.a.:E-Partizipation – Elektronische Beteiligung von Bevölke-rung und Wirtschaft am E-Government. Studie im Auf-trag des Bundesministeriums des Innern, Ref. IT 1. Berlin2008.

  • Karte 1 verdeutlicht den Anteil der Menschen mit Migra-tionshintergrund auf Basis des Mikrozensus 2009 an derBevölkerung der Länder, wobei die neuen Länder im Mi-krozensus aus statistischen Gründen als eine Gebietseinheitausgewiesen werden. In Hamburg (27,0%), Bremen(26,3%), Baden-Württemberg (26,2%), Hessen (24,6%),Berlin (24,3%) und Nordrhein-Westfalen (24,0%) haben je-weils rund ein Viertel aller Einwohner einen Migrations-hintergrund. Etwa im Bundesdurchschnitt liegen Bayern(19,2%), Rheinland-Pfalz (18,5%) und das Saarland(17,3%). Unterdurchschnittliche Anteile von unter 17%sind in Niedersachsen (16,6%), Schleswig-Holstein(12,6%) und vor allem in den neuen Ländern (4,7%) zuverzeichnen.

    Die amtlichen Statistiken in Deutschland zu soziode-mographischen und sozialstrukturellen Themenberei-chen (z.B. Bevölkerungs-, Bildungs-, Arbeitsmarkt-statistik) unterschieden bis vor wenigen Jahren in allerRegel nur zwischen Deutschen und Ausländern.Aufgrund von Einbürgerungen, der Vielfalt des Migra-tionsgeschehens und der seit dem Jahr 2000 geltenden

    ius-soli-Regelung2 verliert die Unterscheidung nach derNationalität jedoch zunehmend an Aussagekraft.

    Der Integrationsstand der Migrantinnen und Migrantenund ihrer Nachkommen lässt sich so nur noch unzurei-chend abbilden. Zum einen werden durch die alleinige Ver-wendung der Staatsangehörigkeit eventuell mögliche In-tegrationsprobleme unterschätzt, da Ausländer nur eineTeilgruppe der durch internationale Wanderungen gepräg-ten Bevölkerung darstellen. Zum anderen werden aber auchIntegrationserfolge von Migrantinnen und Migranten un-terschätzt, wenn erfolgreiche Personen mit Migrationshin-tergrund in den Statistiken nicht der Gruppe der Ausländer,sondern der Gruppe der Deutschen zugeordnet werden.3

    Als Folge dieser Defizite der amtlichen Statistiken hat dasStatistische Bundesamt im Jahr 2005 mit einem entspre-chenden Fragenprogramm das Konzept der „Bevölkerungmit Migrationshintergrund“ in den Mikrozensus einge-führt.

    Der Beitrag wendet sich im Folgenden zunächstkurz dem Begriff der Integration zu. Anschließend folgenAusführungen zur Bevölkerung mit und ohne Migrations-

    1 Der Artikel gibt die persönliche Ansicht der Autoren wieder.2 ius soli meint das Prinzip, nach dem ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden.

    Mit der Staatsangehörigkeitsreform 2000 wurden mit dem sogenannten „Optionsmodell“ Elemente des ius soli für die zweite Einwanderer-generation eingeführt, bei dem bis zur Volljährigkeit eine doppelte Staatsbürgerschaft besteht und sich die Person dann in der Regel bis zum23. Lebensjahr für eine Staatsbürgerschaft entscheiden muss.

    3 Kurt Salentin, Frank Wilkening: Ausländer, Eingebürgerte und das Problem einer realistischen Zuwanderer-Integrationsbilanz, in: KölnerZeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003), H. 2, S. 278-298, hier S. 294.

    Wie steht es mit der Integrat ion?

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    Personen mit Migrationshintergrund in Bayern1

    Wie steht esmit der Integration?

    Von Christian Babka von Gostomski, Afra Gieloff, Martin Kohls, Harald Lederer und Stefan Rühl

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

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  • hintergrund in Deutschland. Mit diesem Wissen ausgerüstet,erfolgt ein vertiefter Blick auf Bayern: Wie stellt sich dieVerteilung des Anteils der Personen mit Migrationshin-tergrund ohne allgemeinen Schulabschluss, derer mit (Fach-)Hochschulabschluss, der Erwerbslosen sowie der Personenmit Migrationshintergrund, die Transferleistungen bezie-hen, in den sieben Regierungsbezirken Bayerns und bezo-gen auf die größten bayerischen Städte dar? Aus Mangel anAuswertungsmöglichkeiten mit Mikrozensusdaten wirdzudem die Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migran-tengruppen in Deutschland 2006/2007 (RAM)“ desBundesamtes für Migration und Flüchtlinge herangezogen,um Anhaltspunkte über den Stand der Integration vonAusländern in diversen anderen Bereichen (Sprachkennt-nisse, soziale Kontakte, gesellschaftliche Partizipation,identifikative Aspekte) zu erhalten. Zudem erfolgt ein Blickin die Zukunft: Welche Perspektiven ergeben sich bei einerVorausberechnung der Bevölkerung mit Migrationshinter-grund bis 2020 für Bayern?

    Eine Annäherung an den Begriffder Integration

    Von gelungener Integration ist für Personen mit Mi-grationshintergrund dann zu sprechen, wenn sich dieVerteilungen der Bevölkerung mit Migrationshinter-grund den Verteilungen der Bevölkerung ohne Migra-tionshintergrund hinsichtlich wichtiger integrationsrelevanter Sachverhalte angeglichen haben. Dabei sindallerdings auch soziodemographische Sachverhalte, wieetwa die unterschiedliche Altersstruktur oder spezifi-sche Aspekte der Einwanderungsgeschichte bestimmterZuwanderergruppen, zu berücksichtigen.

    In der Wissenschaft herrscht heute die Vorstellung vor, dassIntegration niemals nur an einem Indikator festgemachtwerden kann, sondern als Zusammenspiel mehrerer Dimen-sionen gedacht werden muss. So werden oft vier Dimensi-onen der Integration analytisch voneinander getrennt:4

    • „Strukturelle Integration“ meint die Positionierung aufdem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem der Aufnah-megesellschaft (beispielhafte Indikatoren: Schulab-

    4 Dabei wird anlehnend an Hartmut Esser argumentiert: Hartmut Esser: Aspekte der Wanderungssoziologie – Assimilation und Integrationvon Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt und Neuwied 1980; ders.: Inte-gration und ethnische Schichtung, Mannheim 2001. Ähnlich auch bei Anna Lutz, Friedrich Heckmann: Die Bevölkerung mit Migrations-hintergrund in Bayern. Stand der Integration und integrationspolitische Maßnahmen, Bamberg 2010, http://www.stmas.bayern.de/migration/material/bevoelkerung-mhg.pdf (Stand: 6. September 2011), S. 22.

    5 Statistisches Bundesamt: Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2009, Wiesbaden 2010, http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220097004,property=file.pdf (Stand: 6. September 2011), S. 6.

    Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11248

    schluss, Erwerbslosigkeit, Bezug von Transferleistun-gen).

    • „Kulturelle Integration“ umfasst die Aneignung vonkulturellem Wissen der Aufnahmegesellschaft (z.B. deut-sche Sprachkenntnisse).

    • „Soziale Integration“ zielt unter anderem auf die Ein-gebundenheit in die Aufnahmegesellschaft (z.B. sozialeKontakte zu Personen deutscher Herkunft, Mitglied-schaften in deutschen Vereinen und Verbänden).

    • „Identifikative Integration“ schließlich weist auf denStand der Verbundenheit mit der Aufnahmegesellschafthin (z.B. Bleibe- oder Einbürgerungsabsichten).

    Definitionen und Strukturdaten fürDeutschland

    Wie bereits einführend angesprochen, bildet seit dem Jahr2005 der Mikrozensus die Basis für vielerlei Auswertungennach dem Merkmal „Migrationshintergrund“. Der Mikro-zensus ist eine jährliche repräsentative Befragung von etwaeinem Prozent der Haushalte in Deutschland. Er gibt einenumfassenden Überblick über die Lage der Bevölkerung dif-erenziert nach ihrem Migrationsstatus mit Blick auf (sozio)-demographische Merkmale, Herkunft, Lebensformen inPrivathaushalten, Erwerbsbeteiligung, Bildung und räumli-cher Verteilung.

    Mit dem Mikrozensus 2005 wurden erstmals nicht nurInformationen zur Staatsangehörigkeit, sondern auchzum Geburtsort, zur Zuwanderung und zu einer even-tuellen Einbürgerung der befragten Personen und ihrenEltern erhoben.

    Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist wie folgtdefiniert:

    „Alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bun-desrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle inDeutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschlandals Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewander-ten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Eltern-teil.“5

    Im Folgenden werden zunächst einige Kerndatendes Mikrozensus 2009 dargestellt. Dabei geht es zunächst

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 249

    Tabelle 1: Bevölkerungsstruktur in Deutschland anhand des Mikrozensus 2009

    Bevölkerung mit Migrationshintergrund Bevölkerung ohne Migrationshintergrund

    Männer- und Frauenanteil50,3% Männer und 49,7% Frauen 48,7% Männer und 51,3% Frauen

    Durchschnittsalter34,7 Jahre 45,6 Jahre

    Durchschnittliche Haushaltsgröße2,4 Personen 2,0 Personen

    Anteil der Ledigen45,8% 38,3%Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009

    Tabelle 2: Weitere Merkmale der Menschen mit Migrationshintergrund im Jahr 2009

    Bevölkerung mit Migrationshintergrund gesamt 15,703 Millionendavon:Ausländer 7,224 Millionen*deutsche Staatsangehörige 8,479 Millionen

    zugewanderte Personen 10,601 Millionenin Deutschland geborene Personen 5,102 Millionen

    zugewanderte Ausländer 5,594 Millionenin Deutschland geborene Ausländer 1,630 Millionen

    zugewanderte Deutsche 5,007 Millionenin Deutschland geborene deutsche Staatsangehörige 3,472 MillionenQuelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009* Die Ausländerzahlen des Mikrozensus orientieren sich an der Bevölkerungsfortschreibung und weichen daher von den Aus-länderzahlen des Ausländerzentralregisters (AZR) ab.

    um den Umfang und die räumliche Verteilung der Bevöl-kerung mit Migrationshintergrund im Bundesgebiet. DieVergleichsgruppe ist dabei jeweils die Bevölkerung ohneMigrationshintergrund.

    Laut Mikrozensus gab es im Bundesgebiet im Jahr2009 insgesamt 15,7 Millionen Menschen mit Migrations-hintergrund, was 19,2% der insgesamt 81,9 Millionen Ein-wohner Deutschlands entspricht. Von 2005 bis 2009 ist dieBevölkerung mit Migrationshintergrund um 715.000 ange-wachsen und die Bevölkerung ohne Migrationshintergrundum 1,3 Millionen zurückgegangen.

    Tabelle 1 macht deutlich, dass die Zuwandererbevölkerungin Deutschland im Vergleich zu der einheimischen Bevölke-rung

    • einen höheren Männer- und Ledigenanteil aufweist;• deutlich jünger ist;• im Durchschnitt (trotz des höheren Anteils von Ledi-

    gen) in größeren Haushalten lebt und• sich deutlich stärker in den westlichen Ländern und in

    Berlin konzentriert.

    Während es sich bei der Bevölkerung ohne Migrationshin-tergrund ausschließlich um deutsche Staatsangehörige han-delt, können Menschen mit Migrationshintergrund sowohlAusländer als auch Deutsche (z.B. durch Einbürgerung)sein. Zudem kann diese Gruppe noch danach differenziertwerden, ob es sich um selbst zugewanderte Menschen han-delt (als „Personen mit eigener Migrationserfahrung“ oderals „foreign born“ bezeichnet) oder um deren Nachkom-

  • men, die schon in Deutschland geboren wurden („Personenmit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfah-rung“).

    Bei der überwiegenden Zahl der Menschen mit Migra-tionshintergrund, nämlich knapp 8,5 Millionen (54,0%),handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, darunterfast 3,3 Millionen (Spät-)Aussiedler und etwa 2,1 Mil-lionen Eingebürgerte. Besonders stark wächst seitBeginn der statistischen Erfassung im Jahr 2005 jedochdie Gruppe der in Deutschland geborenen Deutschenan, die nur aufgrund der Eigenschaften ihrer Elterneinen Migrationshintergrund haben (von 2,9 aufinzwischen fast 3,5 Millionen).

    Hierbei handelt es sich u.a. um Kinder und Jugendliche, diez.B. im Rahmen der ius-soli-Regelung die deutsche Staats-angehörigkeit bei der Geburt erhalten, auch wenn ihre El-tern Ausländer sind, oder um Kinder mit einem einseitigenMigrationshintergrund (d.h. nur ein Elternteil hat einen Mi-grationshintergrund). Ausländische Staatsangehörige stel-len 46,0% der Bevölkerung mit Migrationshintergrund.

    Die Mehrheit aller Menschen mit Migrationshin-tergrund (10,6 von insgesamt 15,7 Millionen) ist jedoch nachwie vor selbst zugewandert (67,5%). Insbesondere bei denausländischen Staatsangehörigen sind viele auch im Auslandgeboren, während bei den Deutschen – wie oben beschrie-ben – die nicht selbst gewanderten Nachkommen von Mi-granten schon einen deutlich höheren Anteil ausmachen.

    Strukturelle Integration auf regionalerund städtischer Ebene in Bayern

    Im Folgenden wird ein Überblick über einige wichtigeEckdaten der strukturellen Integration von Personen mitMigrationshintergrund in den bayerischen Regierungsbe-zirken und in den drei größten Städten Bayerns, München,Nürnberg und Augsburg, gegeben. Die Betrachtung greiftauf vier bedeutsame, statistisch generierbare Integrationsin-dikatoren aus den Bereichen der Bildung, der Erwerbslosig-keit und des Transferleistungsbezugs zurück. Diese Kenn-zahlen für die Bevölkerung mit Migrationshintergrund wer-den einerseits in Relation zu der jeweiligen Personengruppeohne Migrationshintergrund vor Ort betrachtet. Anderer-seits ist auch ein Vergleich zwischen den bayerischen Regio-nen sowie zwischen Augsburg, München und Nürnbergsehr aufschlussreich. Bei letzterem Vorgehen muss natürlichin Rechnung gestellt werden, dass die Bezirke und Städte in

    Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11250

    Bayern jeweils sehr unterschiedliche demographische,sozioökonomische und historische Profile aufweisen, wel-che in einem komplexen Wechselverhältnis zum Integra-tionsprozess stehen. Auf diese regionalen und wirtschafts-strukturellen Unterschiede kann hier nicht weiter einge-gangen werden.

    Als Basis für die Analyse dient der regionalisierteMikrozensus, der gemeinsam von den Statistischen Ämterndes Bundes und der Länder im Jahr 2010 herausgegebenwurde.6 Die Daten beziehen sich hierbei auf die Aus-wertungen des Mikrozensus 2008. Vor einem Vergleich derIntegrationsindikatoren der Gebietskörperschaften stehtein kurzer Überblick über die relativen Größenordnungender Personengruppe mit Migrationshintergrund in denjeweiligen Regierungsbezirken sowie eine Einordnung derdrei bayerischen Städte in eine Rangfolge anderer deutscherGroßstädte.

    Wie bereits oben festgestellt, weist der Freistaat Bayernmit etwas über 19% einen ähnlich hohen Anteil anMenschen mit Migrationshintergrund auf wie Deutsch-land insgesamt. Vor allem in den RegierungsbezirkenOberbayern (23,4%), Mittelfranken (22,3%) undSchwaben (20,2%) mit den drei großen bayerischenBallungsgebieten leben überdurchschnittlich häufigPersonen, die entweder selbst Migranten sind oder ge-mäß obiger Definition mit solchen verwandt sind (sieheAbbildung 1). In den eher ländlich geprägten Regionenhingegen sind relativ selten Personen mit Migrations-hintergrund anzutreffen, wobei punktuell jedoch auchhier an bestimmten lokalen Standorten hohe Anteils-werte auftreten können. Im Regierungsbezirk Ober-pfalz hat z.B. nur etwa jede achte Person einen Migra-tionshintergrund (12,3%).

    Die drei größten bayerischen Städte weisen – gegenüberdem bayerischen Durchschnitt von 19,3% – einen circadoppelt so hohen Anteil an Personen mit Migrations-hintergrund auf (siehe Abbildung 2). In Augsburg (39,2%)und Nürnberg (37,6%) besitzen fast vier von zehn Personeneinen Migrationshintergrund. In München ist der Anteil mit35,1% etwas geringer.

    In allen drei Städten leben damit anteilig betrachtetmehr Personen mit Migrationshintergrund als bei-spielsweise in Berlin (24,0%), Hamburg (26,3%), Köln(31,9%), Essen (21,2%) oder Duisburg (29,8%). Von dengrößeren Städten in Deutschland sticht vor allem die

    6 Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Bevölkerung nach Migrationsstatus regional. Ergebnisse des Mikrozensus 2008, Wiesbaden2010, http://www.statistikportal.de/Statistik-Portal/migration_regional_2008.pdf (Stand: 6. September 2011).

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 251

    Abbildung 1: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland, Bayern und inden bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

    19,0% 19,3%

    23,4%

    14,1%

    12,3%13,4%

    22,3%

    16,1%

    20,2%

    0,0%

    5,0%

    10,0%

    15,0%

    20,0%

    25,0%

    Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

    Abbildung 2: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in ausgewählten Städten im Jahr2008

    21,2%24,0%

    26,3% 26,3%28,3% 28,8%

    29,8%31,9% 32,5%

    35,1%37,5% 37,6%

    39,2%42,1%

    0,0%

    5,0%

    10,0%

    15,0%

    20,0%

    25,0%

    30,0%

    35,0%

    40,0%

    45,0%

    Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11252

    Stadt Frankfurt am Main mit einem Prozentsatz von42,1% heraus.

    Werden nun die einzelnen Regierungsbezirke und auch diedrei bayerischen Großstädte nach den oben angesproche-nen Integrationskennzahlen betrachtet, so ergibt sich hin-sichtlich der Bildungssituation folgendes Bild (siehe Kar-te 2).

    Der Freistaat Bayern weist einen niedrigeren Anteilan Personen mit Migrationshintergrund ohne Schulab-schluss (8,8%) als der Bundesdurchschnitt (13,4%) auf. Beieinem Vergleich der beiden Bevölkerungsgruppen – Men-schen mit und ohne Migrationshintergrund – zeigt sichbzgl. dieses Merkmals jedoch auf allen räumlichen Ebeneneine sehr große Diskrepanz; d.h. Menschen mit Migrations-hintergrund haben deutlich häufiger keinen Schulabschlussals die einheimische Bevölkerung. Bei vergleichender Be-trachtung der Regierungsbezirke sticht ins Auge, dass inUnterfranken und Schwaben Personen mit Migrationshin-tergrund in überdurchschnittlichem Maße ohne Schulab-schluss leben. Am anderen Ende der Skala stehen Ober- und

    Niederbayern, wo sich die allgemeine Bildungssituation derBevölkerung mit Migrationshintergrund etwas besser dar-stellt.

    Zu dem Blick auf „problematische“ Bildungslagenmuss eine Sichtweise auf die hochqualifizierten Migrantentreten, denn diese Gruppe kann als Vorbild für andere Mi-granten gesehen werden. Hierzu wird im Folgenden dieBevölkerung in Bezug auf Hochschul- oder Fachhoch-schulabschlüsse analysiert, wobei aus dem statistischenMaterial nicht hervorgeht, ob der jeweilige Bildungsab-schluss im In- oder Ausland erworben wurde (siehe Kar-te 3).

    Auffällig ist, dass in Bayern Personen mit Migrations-hintergrund häufiger einen Hochschul- oder Fachhoch-schulabschluss vorweisen können (14,0%) als dieMenschen, die keinen Migrationsbezug haben (12,2%).Dies ist verursacht durch zahlenmäßig große Migran-tengruppen mit hohem Bildungsniveau in den bevölke-rungsreichen Regierungsbezirken Oberbayern undMittelfranken.

    Karte 2: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund ohne Schulabschluss in Deutsch-land, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 253

    Karte 3: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund mit Hochschul- oder Fachhoch-schulabschluss in Deutschland, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr2008

    Bei Betrachtung des Integrationsindikators „Erwerbslosen-quote“ fällt einerseits beim Vergleich Bayerns mit dem deut-schen Durchschnitt auf, dass Bayern bei beiden Bevölke-rungsgruppen deutlich bessere Werte aufweist als die mei-sten anderen Länder (siehe Karte 4).7 Jedoch gibt es ande-rerseits innerhalb Bayerns erhebliche räumliche Disparitä-ten. So sind vor allem in Oberfranken Personen mitMigrationshintergrund deutlich überdurchschnittlich –auch in Bezug auf den Bundesdurchschnitt – erwerbslos;jede siebte Erwerbsperson mit einem Migrationsbezug hatdort keine Arbeit. Gänzlich anders stellt sich die Situationdiesbezüglich in Oberbayern dar. In dieser ökonomischenBoomregion sind nur sehr wenige Menschen erwerbslos(2,5% der Personen ohne Migrationshintergrund und 6,4%derjenigen mit Migrationshintergrund).

    Hohe Erwerbslosenquoten schlagen sich häufig in hohenAnteilen beim Empfang sozialpolitischer Leistungen nie-der. Karte 5 stellt die Bevölkerungsgruppen dar, welcheihren überwiegenden Lebensunterhalt durch Transferleis-tungen bestreiten.8

    Hier zeigt sich ein ganz ähnliches Muster wie beider Betrachtung zur Erwerbslosigkeit. Zum einen weist diebayerische Gesamtbevölkerung bessere Werte als der Bun-desdurchschnitt auf, wobei bei Menschen mit Migrations-hintergrund eine deutlich höhere Inanspruchnahme anLeistungen zu konstatieren ist. Zum anderen treten die obenfestgestellten Ungleichgewichte innerhalb Bayerns auchhier zu Tage.

    In Abbildung 3 wird nur die Bevölkerung mit Mi-grationshintergrund in den Städten Augsburg, München

    7 Die Erwerbslosenquote bezeichnet den Anteil der Erwerbslosen an den Erwerbspersonen in Prozent. Diese Quote darf nicht mit derArbeitslosenquote verwechselt werden, die sich nur auf die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bezieht.

    8 Dies sind staatliche Transfer- und Versicherungsleistungen wie Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung und andere Hilfen in besonderen Lebenslagen (z.B. Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege), Leistungen nach Hartz IV(ALG II, Sozialgeld), Arbeitslosengeld I, Sonstige Unterstützungen (z.B. BAföG, Vorruhestandsgeld, Stipendium, Pflegeversicherung,Asylbewerberleistungen) und Elterngeld, Erziehungsgeld.

  • Karte 5: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund nach Transferleistungsbezug inDeutschland, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

    Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11254

    Karte 4: Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund nach Erwerbslosigkeit in Deutsch-land, Bayern und in den bayerischen Regierungsbezirken im Jahr 2008

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 255

    Abbildung 3: Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne allgemeinen Schulab-schluss, mit Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, nach Erwerbslosigkeit und nachTransferleistungsbezug in Augsburg, München, Nürnberg im Jahr 2008

    11,0%

    8,3%

    11,2%

    k.A.

    23,4%

    12,5%

    12,7%

    6,5%

    11,8%

    11,7%

    8,0%

    16,9%

    0,0% 5,0% 10,0% 15,0% 20,0% 25,0%

    Augsburg

    München

    Nürnberg

    Augsburg

    München

    Nürnberg

    Augsburg

    München

    Nürnberg

    Augsburg

    München

    Nürnberg

    Quelle: Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 (Mikrozensus 2008)

    und Nürnberg hinsichtlich der vier betrachteten Integra-tionsindikatoren verglichen. Es zeigt sich, dass die Landes-hauptstadt bezüglich der vier betrachteten strukturellenIntegrationsindikatoren für Personen mit Migrationshin-tergrund jeweils die besten Werte aufweist. Herausragendist dabei der sehr hohe Akademikeranteil Münchens von23,4% für Personen mit Migrationshintergrund. Zudem istder hohe Transferleistungsbezug von Personen mit Migra-tionshintergrund in Nürnberg auffällig; jede sechste Personlebt von derartigen Sozialleistungen.

    Aspekte der Integration ausländischerPersonen in Bayern

    Um Anhaltspunkte für weitere Bereiche der Integration lie-fern zu können, wird die Repräsentativbefragung „Aus-gewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007

    9 Christian Babka von Gostomski: Basisbericht: Berichtsband. Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Vertiefende Ergebnisse zum Forschungs-bericht 8, Nürnberg 2010a, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Sonstige/forschungsbericht-008-basisbe-richt-berichtsband.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 6. September 2011); Christian Babka von Gostomski: Basisbericht: Tabellenband.Repräsentativbefragung „Ausgewählte Migrantengruppen in Deutschland 2006/2007“ (RAM). Zur Situation der fünf größten inDeutschland lebenden Ausländergruppen, Nürnberg 2010b, http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Sonstige/forschungsbericht-008-basisbericht-tabellenband.pdf?__blob=publicationFile (Stand: 6. September 2011); Christian Babka vonGostomski: Fortschritte der Integration. Zur Situation der fünf größten in Deutschland lebenden Ausländergruppen. Forschungsbericht 8,Nürnberg 2010c.

    (RAM)“ herangezogen.9 RAM 2006/2007 ist eine Befra-gung nach dem sogenannten „Ausländerkonzept“. Die beiRAM 2006/2007 befragten Personen waren Ausländer imstaatsrechtlichen Sinne. Es wurden 15- bis 79-Jährige miteiner Mindestaufenthaltsdauer von zwölf Monaten inDeutschland interviewt. Von Dezember 2006 bis April 2007wurden insgesamt 4.576 türkische, italienische, griechischeund polnische Personen sowie Personen aus dem ehemali-gen Jugoslawien befragt, davon 836 Personen in Bayern. ImFolgenden wird ein Überblick der Ergebnisse zu Sprach-kenntnissen, sozialen Kontakten zu Personen deutscherHerkunft, Mitgliedschaften in deutschen Vereinen und Ver-bänden sowie zu Bleibe- und Einbürgerungsabsichten gege-ben. Diese Indikatoren kultureller, sozialer und identifika-tiver Integration können mithilfe des Mikrozensus nichtanalysiert werden, da sie dort nicht berücksichtigt werden.

    Personen ohneallgemeinen

    Schulabschluss imVerhältnis zur jeweiligenBevölkerungsgruppe imAlter 15 Jahre und älter

    in %

    Personen mitHochschul- oder

    Fachhochschulabschlussim Verhältnis

    zu den jeweiligenBevölkerungsgruppen imAlter 15 Jahre und älter

    in %

    Erwerbslosenquote(Anteil der Erwerbslosen

    an denErwerbspersonen in %)

    Anteil der Personen, dieihren Lebensunterhaltüberwiegend durchTransferleistungen

    bestreiten, im Verhältniszur jeweiligen

    Bevölkerung in %

  • Betrachtet man zunächst die Verteilung der bei RAM2006/2007 befragten ausländischen Personen zwischenDeutschland insgesamt und Bayern vergleichend, dannsind türkische (Deutschland 45,0%, Bayern 37,5%), pol-nische (Deutschland 7,9%, Bayern 6,6%) und italieni-sche Staatsbürger (Deutschland 14,8%, Bayern 13,8%)unterproportional in Bayern vertreten. Personen miteiner Staatsangehörigkeit aus dem ehemaligen Jugos-lawien (Deutschland 23,7%, Bayern 31,9%) und griechi-sche Personen (Deutschland 8,5%, Bayern 10,2%) sindhäufiger in Bayern als im Bundesdurchschnitt anzu-treffen.

    Hinsichtlich des Durchschnittsalters der RAM-Befragten(Deutschland 40,6 Jahre, Bayern 40,3 Jahre) und der Ge-schlechterrelation (Deutschland 53,2% Männeranteil,Bayern 53,7% Männeranteil) ergeben sich kaum Unter-schiede. Auch beim Anteil der Personen, die im Auslandgeboren wurden, sind die Differenzen marginal (Deutsch-land 18,9%, Bayern 19,1%). Werden bei der Teilgruppe derZugewanderten die Gründe für die Zuwanderung vergli-chen, dann kamen die in Bayern lebenden Zuwanderer häu-figer aus Gründen der Arbeitsmigration (Deutschland27,2%, Bayern 30,1%) und wegen einer Ausbildung bzw.eines Studiums (Deutschland 2,0%, Bayern 2,5%) undweniger häufig im Zuge der Familienzusammenführung alsEhepartner (Deutschland 21,9%, Bayern 19,6%), als Kind(Deutschland 16,8%, Bayern 16,5%) oder als andererFamilienangehöriger (Deutschland 4,6%, Bayern 3,9%)sowie um Asyl zu beantragen (Deutschland 5,5%, Bayern4,0%).10 Solche Unterschiede, die auf spezifische Aspekteder Einwanderungsgeschichte bestimmter Zuwanderer-

    10 Zu den Antwortkategorien und zur Möglichkeit von Mehrfachnennungen: Babka von Gostomski 2011b (wie Anm. 9), S. 160.11 Zur Fragestellung: ebd., S. 91.12 Zu den Fragestellungen: ebd., S. 147, S. 145 und S. 167.13 Zur Fragestellung: ebd., S. 167.

    Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11256

    gruppen in Bayern einerseits, in Deutschland andererseitshindeuten, sind bei den folgenden Aussagen zu berücksich-tigen.

    Während sich bei den deutschen Sprachkenntnissengeringfügig erhöhte Anteile der vergleichsweise gutsprechenden ausländischen Personen in Bayern zeigen,deuten die anderen Indikatoren darauf hin, dass aus-ländische Personen in Deutschland bezüglich der so-zialen und identifikativen Integration sich etwas wohlerhierzulande zu fühlen scheinen (siehe Tabelle 3).11

    So ist der Anteil der Personen mit häufigeren Kontakten zuPersonen deutscher Herkunft im Freundeskreis, derjeni-gen, die zivilgesellschaftlich in deutschen Vereinen,Verbänden oder Organisationen eingebunden sind, und derAnteil der Personen, die das Land nicht verlassen möchten,jeweils in Bayern gegenüber dem Bundesdurchschnittgeringer. 12

    Bei einer Frage nach Einbürgerungsabsichten wa-ren mehrere Antwortkategorien möglich.13 Die bayerischenBefragten sagten seltener, dass sie sich nur dann einbürgernlassen wollen, wenn neben der deutschen auch die auslän-dische Staatsangehörigkeit behalten werden kann (Deutsch-land 14,3%, Bayern 12,7%). Zudem gab ein größerer Anteilder Befragten in Bayern an, noch nicht zu wissen, ob sie eineEinbürgerung anstreben (Deutschland 12,6%, Bayern16,0%). Entsprechend wollen sich weniger Personen inBayern unter Aufgabe des ausländischen Passes (Deutsch-land 23,5%, Bayern 22,3%) einbürgern lassen oder schlie-ßen eine Einbürgerung generell aus (Deutschland 48,1%,Bayern 45,6%).

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 257

    14 Acker: Vorausberechnung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Bayern bis 2020, in: Beiträge zur Statistik Bayerns, Heft 540.Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung, München 2010.

    15 Aufgrund des jüngeren Durchschnittsalters und der höheren Geburtenzahlen verzeichnet die Gruppe der Personen mit Migrationshinter-grund – anders als die Personen ohne Migrationshintergrund – neben Wanderungsgewinnen auch Geburtenüberschüsse.

    16 Acker (wie Anm. 14), S. 19.17 Ebd., S. 22.18 Ebd., S. 25f.

    Tabelle 4: Entwicklung der Bevölkerung Bayerns mit und ohne Migrationshintergrund bis2020

    Jahr Personen ohneMigrations-hintergrund

    Anteil Personen mitMigrations-hintergrund

    Anteil Gesamt

    2008 10.108.000 80,7% 2.418.000 19,3% 12.526.000

    2020 Untere Variante 9.680.000 77,2% 2.854.000 22,8% 12.534.000

    2020 Mittlere Variante 9.717.000 76,6% 2.963.000 23,4% 12.680.000

    2020 Hohe Variante 9.744.000 76,4% 3.017.000 23,6% 12.761.000

    Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage von Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2010 und Acker 2010, S. 17

    Und in den nächsten Jahren?

    Im Jahr 2009 lebten etwa 2,4 Millionen Personen mitMigrationshintergrund in Bayern (vgl. Karte 1). Für bevor-stehende Herausforderungen der Integrationspolitik ist diezukünftige Zahl und Struktur der Bevölkerung mit Migra-tionshintergrund von wesentlicher Bedeutung. Daher wer-den im Folgenden auf der Grundlage von Acker (2010)14

    voraussichtliche Verläufe skizziert.

    In der als wahrscheinlich erachteten mittleren Varianteder Vorausberechnung zeigt sich, dass die BevölkerungBayerns bis 2020 weiter wachsen wird. So wird diebayerische Bevölkerung von derzeit 12,5 auf etwa12,7 Millionen im Jahr 2020 zunehmen (Tabelle 4). DerAnstieg der Gesamtbevölkerung wird dabei weitgehenddurch die Personen mit Migrationshintergrund getra-gen.15

    Deren Zahl wird bis 2020 voraussichtlich um rund 23% auf3,0 Millionen steigen, während die Zahl der Personen ohneMigrationshintergrund um etwa 400.000 auf ca. 9,7 Millio-nen sinken wird (–4%). Der Anteil der Personen mit Migra-tionshintergrund steigt dabei von 19,3% im Jahr 2008 aufrund 23,6% im Jahr 2020 (Tabelle 4).

    Eine altersbezogene Analyse verdeutlicht, dass bis 2020 inannähernd sämtlichen Altersgruppen ein Anstieg des An-teils der Personen mit Migrationshintergrund erwartetwird. In jüngeren Altersgruppen ist die Zunahme überpro-

    portional. So wird bei den 6- bis 18-Jährigen im Jahr 2020mit einem Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migra-tionshintergrund von 33% gerechnet (2007: 25%).16

    Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wirdfür die Gruppe der in Deutschland geborenen, nichtselbst zugewanderten Personen aufgrund hoher Ge-burtenüberschüsse das stärkste Wachstum erwartet.Im Jahr 2020 werden diese etwa 8% der bayerischenBevölkerung stellen. Auch die Zahl der Ausländer miteigener Migrationserfahrung wird infolge weitererWanderungsgewinne zunehmen und 2020 etwa 9%ausmachen.

    Für zugewanderte Deutsche (Spätaussiedler und Einge-bürgerte) ist nur mit einem moderaten Anstieg zu rechnen,der Anteil an der gesamten bayerischen Bevölkerung wirdsich im Jahr 2020 auf etwa 6% belaufen.17

    In der aktuellen räumlichen Verteilung der Per-sonen mit Migrationshintergrund zeigen sich auffälligeDifferenzen zwischen den Regierungsbezirken (vgl. Abbil-dung 1). Angesichts dieser Unterschiede sind die aufLandesebene durchgeführten Vorausberechnungen zusätz-lich regionalisiert worden.18

    Es zeigt sich, dass die Entwicklung der Bevölkerungsowie der Anteile von Personen mit Migrationshinter-grund regional unterschiedlich verläuft. So wirdvoraussichtlich lediglich in Oberbayern die Bevölke-rungszahl bis 2020 deutlich zunehmen (+7%). In allen

  • Abbildung 4: Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in den RegierungsbezirkenBayerns, 2008 und 2020

    weiteren Regierungsbezirken wird dagegen die Bevöl-kerungszahl stagnieren oder abnehmen.

    Den relativ stärksten Rückgang wird Oberfranken erfahren(–6%).19 Demgegenüber wird in sämtlichen Regierungsbe-zirken der Anteil von Personen mit Migrationshintergrundzunehmen (Abbildung 4). Der höchste Anstieg wird inOberbayern (+5 Prozentpunkte), die geringste Zunahme inOberfranken und Schwaben (+3 Prozentpunkte) vorausbe-rechnet. Oberbayern ist zu Beginn und zum Ende des Vo-rausberechnungshorizontes der Regierungsbezirk mit demhöchsten Anteil von Personen mit Migrationshintergrund(2020: 28,3%), während die Oberpfalz jeweils den gering-sten Anteil aufweist (2020: 15,7%).

    19 Ebd., S. 26.20 Einen breiten Überblick über weitere mögliche Indikatoren, aber auch auf die vielen Datenlücken auf Länderebene hinsichtlich der mögli-

    chen Indikatoren geben Lutz und Heckmann (wie Anm. 4), S. 44-220.

    Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11258

    Fazit

    Der vorliegende Beitrag stellte ausgewählte Aspekte überden Stand der Integration von Personen mit Migrations-hintergrund in Bayern dar. Der Prozess der Integration istallerdings komplexer, als dass er sich mittels der dargestell-ten Indikatoren umfassend beschreiben ließe.20 An mehre-ren Stellen wurde zudem bereits angemerkt, dass dieKategorie „Personen mit Migrationshintergrund“ eine sta-tistische Größe darstellt, welche – auch regionsspezifisch –in sozialer und ethnischer Hinsicht sehr heterogen zusam-mengesetzt ist.

    Aus der Analyse können folgende Ergebnisse zu-sammengefasst werden:

  • Wie steht es mit der Integrat ion?

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11 259

    21 Zu integrationspolitischen Maßnahmen in Bayern: Lutz, Heckmann (wie Anm. 4), S. 62-76, S. 91-113, S. 125-137,S. 151-165, S. 187-196, S. 203-206, S. 231-241.

    • Bayern weist mit knapp über 19% einen in etwa imBundesdurchschnitt liegenden Anteil an Menschen mitMigrationshintergrund auf. Damit haben etwa 2,4Millionen der rund 12,5 Millionen Einwohner Bayernseinen Migrationshintergrund.

    • Der erwartete Anstieg der bayerischen Bevölkerung bis2020 lässt sich ausschließlich auf das Wachstum derPersonengruppe mit Migrationshintergrund zurückfüh-ren. Deren Anteil an der Gesamtbevölkerung wird von19,3% im Jahr 2008 auf 23,6% steigen.

    • Personen mit Migrationshintergrund leben überpropor-tional häufig in den Regierungsbezirken Oberbayern(23,4%), Mittelfranken (22,3%) und Schwaben (20,2%).Zukünftig werden diese Anteile weiter zunehmen.

    • Korrespondierend dazu zeigt sich, dass dies insbeson-dere den drei großen bayerischen Ballungsgebietengeschuldet ist. So ist der Anteil der Personen mit Migra-tionshintergrund in Augsburg (39,2%), Nürnberg(37,6%) und München (35,1%) deutlich gegenüber demLandesdurchschnitt erhöht.

    • Im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt sind die inBayern lebenden Personen mit Migrationshintergrundals besser strukturell integriert zu bezeichnen. Bayeri-sche Personen mit Migrationshintergrund sind schulischbesser qualifiziert, weniger häufig erwerbslos und leben

    in geringerem Maße von Transferleistungen als Personenmit Migrationshintergrund insgesamt in Deutschland.

    • Innerhalb Bayerns schneiden dabei die Personen mitMigrationshintergrund in Oberbayern am besten ab.

    • Werden nur die fünf größten Ausländergruppen in denBlick genommen, dann schneiden diese anhand vonIndikatoren der sozialen und identifikativen Integrationetwas weniger gut ab als im Bundesdurchschnitt.

    Auch wenn die Daten zeigen, dass anhand der IndikatorenSchulabschluss, Erwerbslosigkeit und Transferleistungs-bezug im Vergleich mit dem Bundesdurchschnitt die inBayern lebenden Personen mit Migrationshintergrund ver-gleichsweise gut strukturell integriert sind, so ist doch dar-auf hinzuweisen, dass von gelungener Integration auch fürPersonen mit Migrationshintergrund in Bayern insgesamtnoch nicht gesprochen werden kann. Denn bei den meistenangeführten Indikatoren der strukturellen Integration wei-sen Personen ohne Migrationshintergrund deutlich bessereWerte auf. Dies zeigt, dass die vielfältigen Maßnahmen, diein Bayern bereits zur Verbesserung der Integration vonPersonen mit Migrationshintergrund ergriffen wurden,auch in absehbarer Zukunft nötig sein werden, um die Kluftzwischen Personen mit Migrationshintergrund und solchenohne Migrationshintergrund weiter zu verringern.21 ❚

  • * Der Artikel basiert auf einem Vortrag des Autors am 9. Dezember 2010 im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und KultusMünchen.

    Das Bindestr ich-Land Nordrhein-Westfalen: Bemerkungen zu Geschichte, pol i t ischer Kultur und Ident i tät

    Einsichten und Perspektiven 4 | 11260

    Ein neues Land – der Landtag von Nordrhein-

    Westfalen kurz nach 1946

    Quelle: alle Bilder im Artikel von ullstein

    Das Bindestrich-Land Nordrhein-Westfalen:Beme