Eins : Eins (Romananfang)
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Transcript of Eins : Eins (Romananfang)
Kinder spielen Fußball auf einem Stück Rasen, an dessen kurze
Enden sie je zwei Äste gerammt haben. Laufen, Dribbeln,
Abspielen. Klare Stimmen schneiden durch die Juniluft, die sich
warm über dem Park wellt, noch erfrischt vom Gewitter des
Vormittags. Bunny Zimmermann weicht einem Hundehaufen aus,
in nicht ganz frisch gewaschener Baumwollhose und einer
Regenjacke über dem linken Arm, und blinzelt gegen die
Sonnenstrahlen des Nachmittags, als sie den Kindern zusehen
will. Sie bleibt stehen und hält sich die freie Hand über die
Augen. Sie ist 29.
Ihre Kollegen schätzen sie jünger, ihr Neffe älter. Sie selbst
kann nichts anfangen mit Zahlen und auch mit ihren Kollegen
nicht. Ein Heilpraktiker hat kürzlich von Blockierungen gemurmelt
und ihr auf eine Art in die Augen gesehen, die sie entscheiden
ließ, kein zweites Mal zu ihm zu gehen. Bunny ist von mäßiger
Größe und Statur, mit modisch geschnittenen dunkelblonden
Haaren und einer achtbar trainierten
Selbstsicherheitsausstrahlung, die hin und wieder mit
Attraktivität verwechselt wird.
Die Kinder im Park wissen nicht, was sie von ihr halten sollen.
Aber sie lassen sich nichts anmerken. Sie sind 8, höchstens 11
Jahre alt und behalten die Frau im Augenwinkel, während sie nun
fast wortlos immer wieder die von Kastanienbäumen verkürzten
und doch ermüdenden Meter des selbst gebauten Fußballplatzes
ablaufen und sich spitze Silben zurufen, ohne den Ball aus den
Augen zu verlieren. Sie spielen hier zu ihrem eigenen Spaß und
nicht für Publikum. Abschlag vom Tor und noch immer steht sie da
- eine Hand über den Augen, eine unter der Regenjacke - und
beobachtet, wie einer von ihnen den Ball in den Lauf eines
anderen spielt, der damit immer näher auf das Äste-Tor auf der
anderen Seite zu läuft. Doch dann kommt ein Mädchen im Reus-
Trikot herbei gesprintet, um ihm den Ball perfekt vom Fuß zu
treten. Die Frau nickt anerkennend. Und schmunzelt, als der
Stürmer sich fallen lässt, hört ihn schreien, protestieren und
schimpfen. Doch sogar die Mitspieler im Team des Reus-
Mädchens nicken, als die anderen „Elfmeter!“ rufen. Alle
zusammen laufen jetzt mit hastigen Erklärungen auf sie zu und
schütteln die schwitzenden Köpfe. Der Stürmer steht auf und
humpelt und verrenkt die Gesichtszüge. Ein Moment beginnt, in
dem das vor Schreck noch immer stumme Reus-Mädchen ihre
Augen auf die Frau mit der Regenjacke richtet, wo sie fragen,
warten, dann bitten.
Wie sieht jemand aus, der Bunny gerufen wird? Nicht so wie
Jenny Zimmermann jedenfalls. Niemand findet, dass es zu ihr
passt, sie so zu nennen, und doch tun es alle. Manche in dieser
Stadt wüssten sich zu erinnern, dass es teilweise mit ihrem
Mädchennamen zu tun hat, der Hahse war. Irgendwann hat sie
aufgehört, sich gegen den Spitznamen zu wehren. Nur ihre Eltern
haben sie nie so genannt. Und Deniz nicht, ihr Trainer, der es
umgehen konnte, indem er alle Menschen nur beim Nachnamen
rief.
Sie nimmt die Hand von den Augen, um ihr Telefon aus dem
Rucksack zu fummeln. Als sie es endlich vor sich hält und sehen
kann, dass sie nur unwichtige Nachrichten verpasst hat, tritt eins
der Kinder bereits an die Stelle des Rasens, den sie zum
Elfmeterpunkt bestimmt haben. Ein paar Wölkchen rollen heran.
Bunny wird vom prüfenden Blick des humpelnden Stürmers
erreicht, bevor beide zusehen, wie der Ball an der Torhüterin
vorbei zwischen die Äste geschoben wird. Kurzer Jubel, ein paar
weitere stille Blicke auf die Frau mit dem Rucksack, die kein Kind
dabei hat und keinen Hund, die nicht zu den Pennern gehört, die
ein paar Meter weiter die Parkbänke besetzen, und auch sonst
keinen Grund zu haben scheint, hier herum zu stehen und ihnen
zuzugucken. Sie fühlen sich abgeklärt, was Leute betrifft, die
Kinder in Parks anquatschen und sie würden aufeinander
aufpassen, wenn jemand es versuchen sollte. Aber machen so
was nicht nur Männer? Jedes der acht Kinder hat ein Telefon in
der Jackentasche und ein paar elterliche Instruktionen im Kopf,
und das schon so lange, dass sie sich kaum daran erinnern
können.
Das Spiel geht weiter, auch wenn das beschummelte Mädchen
nun endlich auch lautstark bekräftigt, nur den Ball berührt zu
haben. In ihrem Reus-Trikot – kein schwarz-gelbes, nein es ist
das ein paar Jahre alte schwarze der Nationalmannschaft - steht
sie noch immer am Elfmeterpunkt und grollt. Die Kids glühen für
diese Mannschaft, das ist Bunny schon oft aufgefallen. Sie lieben
die Jungs, die die gleichen Hobbys, Frisuren und Lieblingsbands
zu haben scheinen wie sie selbst. Schon in den Kitas lieben sie
deren Shirts, wollen deren Farben auf Arme und Gesichter
gemalt bekommen. Ihre Eltern und Großeltern sind es, die auf
Titel pochen und Statistiken. Weil niemand ihr zuhört, alle schon
wieder los rennen, um den nächsten Angriff nicht zu verpassen,
ist das Reus-Mädchen wieder verstummt. Bunny sucht ihren Blick,
aber es gelingt ihr nicht, ihr zu signalisieren, wie recht sie hat.
So kommt es, dass sie nicht auf das Spiel achtet und den einem
bunten Zweikampf entsprungenen Ball nicht sieht, der von oben
auf sie zugeflogen kommt. Erst aus dem Blick des Mädchens mit
der goldenen Nummer 21, an der erschrockenen Art wie sie sie
jetzt ansieht, liest sie, dass sie ihre Aufmerksamkeit schärfen
sollte. Und endlich erkennt sie den Ball.
Die junge Frau mit der schwarzen Regenjacke greift in die
Schultergurte ihres Rucksacks und strafft ihren Rücken. Helle
Augen weiten sich und peilen den Ball an. Ihr eben noch
unauffälliger Körper überrascht mit seiner Sprungkraft, als sie
im perfekten Moment abhebt, zugleich ihren Oberkörper nach
hinten biegt, den Nacken härtet und das Kinn zur Brust drückt, um
den Kopf nach vorne schießen zu lassen, wo sie den Ball mit
vollem Schwung und der Stirn trifft. Nach sicherer Landung, lässt
sie die Rucksackgurte wieder los, um in aufrechter Position zu
verharren und diesem Ball hinterher zu gucken.
Gleich werden sie staunen, glaubt Bunny, als der Ball den ganzen
langen Weg durch die Sommerluft ins Ästetor fliegt, wo er nach
dem Geräusch eines satten Wischens in den Hecken hinter den
Kastanienbäumen zur Ruhe kommt. Alle Blicke haben diesen Ball
verfolgt, sogar die der Penner bei den Bänken. Erst jetzt kann sie
dessen Abdruck spüren, an der Stirn, hinter der ihm Erschöpfung
zu drosseln gelungen ist. Sie atmet tief ein und wieder aus. Wie
gehofft, sieht das Mädchen sie an, doch wieder misslingt es
Bunny, ihr zu bedeuten, was sie denkt - dass dieser Kopfball für
sie und gegen die Ungerechtigkeit war, die ihr zuvor widerfuhr.
Und vor allem dafür, dass Bunny diese nicht verhindert hat. Aber
das Mädchen runzelt die Stirn. Auch keins der anderen Kinder
applaudiert. Und doch ist ihre Verblüffung unübersehbar. Bis eins
von ihnen losläuft, um den Ball aus der Hecke zu holen.
Zusammen mit den Kindern kann Bunny nicht fassen, dass der
noch immer humpelnde Stürmer nun verkündet, nach Hause zu
wollen. Sie maulen und bitten ihn zu bleiben, doch da gräbt er
bereits eine Jacke aus dem Haufen hinter dem Ästetor auf der
anderen Seite.
Das Mädchen, das den Elfmeter geschossen hat, ist es, das ihren
forschen Blick nun von dem humpelnden Deserteur auf Bunny
dreht. Ein viel zu großes Özil-Trikot trägt sie und lässt ihre feste
Stimme „Springst du ein?“ fordern und die anderen damit
beunruhigen. Zwischen aufmüpfig und lässig versuchen sie sich
aussehen zu lassen, während sie die Frau mustern. Deren Namen
sie vielleicht sogar schon mal gehört haben.
Bunny dankt dem Mädchen mit einem Räuspern fürs Fragen wie
fürs Duzen und steckt ihr Telefon weg. Bleiern fühlt sich ihr
Körper nun wieder an und ausgelaugt. Die Zeit galoppiert, schon
ist Juni und das Jahr streckt sich seinem Höhepunkt entgegen.
Am späten Abend werden die Fernseher dessen Eröffnungsspiel
zeigen und auch die Abende der nächsten viereinhalb Wochen
den gemeinsamen Nenner des Spiels, zu dem diese Kinder sie
gerade eingeladen haben.
Sie zieht sich den Rucksack vom Rücken. Das Mädchen mit dem
Ball ist bereits zurück aus der Hecke. Das Spiel könnte weiter
gehen, sobald Bunny sich entschieden hat. Schon sprintet sie zu
dem Tor mit dem Klamottenhaufen und wirft ihre Sachen dazu.
Ihr Herz trommelt sie wach. Kurzes Dehnen, Hopsen,
Konzentrieren. Sie hat dazu gehört - bei jedem Wetter draußen
und gegen alles treten, was einem Ball ähnelt. Sie weiß, wo sie
hingehört, wortlos nimmt ihr Team sie auf.
Wie früher trabt sie im Mittelfeld, aber schon hat ihr das Özil-
Mädchen den Ball zugespielt. Wie von selbst nimmt sie ihn an,
kontrolliert ihn kurz, tippt ihn so an, dass er zu dem
mitgelaufenen Mitspieler rollt, der ihn aber nicht vor dem
Mädchen im Reus-Trikot erreichen kann. Umschalten auf
Defensive. Sie spielt links, die andere Mannschaft probiert es
über die andere Seite. Zwar läuft sie den ganzen Weg mit zurück,
aber zum Torschuss kommt es trotzdem. Der Ball fliegt vorbei.
Wie erwartet fühlt ihr Knie sich kompliziert an. Umschalten,
Ballbesitz. Doch ihre Mannschaft spielt nicht schnell genug ab.
Zurück nach hinten. Bunny tritt in ein kleines Rasenloch und hält
sich nur mühsam auf den Beinen.
Für ein paar Sekunden ist ihr Knie nicht mehr nur wacklig,
sondern zu wacklig, viel zu wacklig, aber es wird wieder kräftiger,
sobald sie den Ball bekommt und dessen Härte durch die
Sneakers spürt. Mit Ball läuft es sich leichter als ohne, darüber
hat sie schon früher gestaunt. Sie lässt sich auf einen Zweikampf
mit dem Reus-Mädchen ein, muss sich anstrengen, um sie
umkurven zu können, spielt sich auch von mit gestrecktem Bein
anlaufenden Gegnern frei, legt sich den Ball auf den rechten Fuß
und schießt einem Jungen aus ihrem Team den Ball stramm auf
den Kopf. Grinsend laufen sie aufeinander zu, klatschen sich ab.
Das Talent des Mädchens in Reus' -Trikot bleibt unübersehbar,
ihre Übersicht, ihre Spieleröffnung. Sie könnte es weit bringen,
wenn sie dran bleibt und Glück hat. Bunny hatte keines.
Inzwischen gerät sie schon aus der Puste, wenn sie mit ein paar
Kindern kickt. Sie sind so jung und so quirlig und ihre Naivität
lässt einen sie zugleich beneiden wie bedauern. Am Himmel - in
Richtung Osten, wo die Stadt ihre Schornsteine hat – steht jetzt
eine Wolke, als würde sie lauern, auf den richtigen Moment, das
richtige Stichwort. Als es unentschieden steht, ruft Bunny ihnen
zu, dass sie los muss. Niemand versucht, sie zum Bleiben zu
überreden. Schwitzend, keuchend und durstig greift sie nach
Jacke und Rucksack und winkt ihnen noch einmal zu. Aber das
Mädchen im schwarzen 21er-Trikot sieht in eine andere Richtung.
Am Versuch, sich damit abzufinden, dass die Welt auch im
Fußball nur selten gerecht ist, scheitert sie seit sie laufen kann.
Ist es gerecht, dass Marco Reus das heute beginnende Turnier
verpassen wird, weil er sich im letzten Testspiel der Mannschaft
verletzt hat? Dass der beste deutsche Stürmer der Bundesliga
nicht für die Nationalmannschaft nominiert ist? Dass auch die 14.
Auflage des erfolgreichsten Fußballsimulationsspiels keine
einzige Spielerin kennt? Dass für den Vereinswechsel von Mesut
Özil volle 50 Millionen Euro gezahlt wurden, der daraufhin kein
wirklich gutes Spiel mehr gemacht hat? Fünfzig? Ist es gerecht,
dass Bunny in dessen Alter mit dem Fußballspielen aufhören
musste?
Noch ein paar hundert Meter bis nach Hause. Mit einem leichten,
noch immer der Lauferei geschuldeten Zittern in den Händen
überprüft sie noch einmal ihr Telefon. Geht vorbei am
Seniorenheim, an der Schlange vor dem Eisladen, und an der
Tankstelle in einer Gegend Mittelstedts, die am Rande mehrerer
Viertel liegt, ohne wirklich Teil eines davon zu sein. Hunde,
Jogger, Balkone mit Blumenampeln und Wäscheleinen. Es riecht
nach Holzkohlegrills. Plakate künden von Theaterfestivals des
Sommers, Retropartys und der örtlichen Bürgerinitiative gegen
ein neues Einkaufzentrum. Rote Ampeln helfen Bunny beim
Verschnaufen. An deren Masten baumelt Werbung für die WM-
Partys in der Altstadt. Die Wolke ist wieder verschwunden, der
Himmel zeigt sich blau. Bunny bekommt Lust auf eine Zigarette.
Die letzte ist 15 Jahre her. Sie wundert sich. Über die Harmonie
im Tabakladen. Über das gespannte Vergnügen, eine Zigarette in
den Händen zu fühlen. Über die wohlige Entspannung, als sie sich
eine davon anzündet. Über die Erinnerung ihres Körpers an
diesen Geschmack.
Eins
Das Haus taucht auf, in dem sie wohnt, in der von ihr gegründeten
Familie. Ein Haus wie viele in diesem Land - gebraucht aber wenig
umschwärmt. Aus dem Boden gestampft, sobald diese Stadt sich
wieder aufgerappelt hatte aus den Trümmern ihrer üblen
Visionen. Auf den Balkonen sieht Bunny Blumen blühen, dazu
Plastikmöbel und einige Fahnen in schwarz-rot-gold. Da, wo jetzt
dieses Haus steht und sich vom Sommersonnenlicht aufwerten
lässt, thronte vor siebzig Jahren das Stadtkloster, weswegen
diese inzwischen baumlose Straße noch immer danach benannt
ist.
Vor der Haustür mit der Nummer 11 türmt sich Sperrmüll ihrer
Nachbarn, ein paar Regale, eine Kommode, ein Kinderbett und
Teppiche. Bunny tritt ihre Zigarette aus. Auf dem Wegschmeißen
gründet diese Gesellschaft, denkt sie noch und schüttelt still den
Kopf. Der Briefkasten ist leer und im Hausflur riecht es nach
deftigem Essen, Rouladen vielleicht oder ein Braten. Die Leute
wollen Fleisch, eine Mahlzeit ohne bedeutet ihnen Verzicht.
Fleisch ist Grundrecht, ohne Fleisch hat das Leben keinen Sinn.
Doch wer würde mit eigenen Händen ein Tier töten können?
Das Treppensteigen lässt sie erneut keuchen, ihr Knie wankt.
Dabei sind es nur drei Treppen, drei mal neun Stufen, die doch
eigentlich nur für die kleinen Beine ihrer Tochter
Herausforderung bedeuten sollten. Auf der Fußmatte steht
„Hallo“ und an der Tür ihr Name. Die Regenjacke hängt sie über
die ihres Mannes. Rucksack und Sneakers lässt sie im Flur, wo ein
möglicher Zusammenhang zwischen dem Bratengeruch und dieser
Wohnung verdunstet. Hier riecht es nur nach Windeleimer,
Babykosmetik und Kaffee. Die Wohnungstür fällt ins Schloss.
Stille.
Empfangen von genau der hastigen Unordnung, die sie am
Morgen verlassen hat, kneift Bunny die Augen zusammen. Wie
jeder täglich an den Dingen vorbei geht, die eigenen Alltag
formen, sieht sie das Hochzeitsfoto nicht, das im Flur hängt. Auf
dem sogar die Kirche, vor deren Tür sie stehen, fröhlich wirkt.
Mintgrün gekleidet und mitten im Sonnenlicht zwischen Mütter
und Väter sortiert erwartet das Paar potentielle Betrachter. Der
Körper der Braut ist schon deutlich schwanger, sogar die Eltern
sehen zufrieden aus, mit dem Moment, seiner Symbolik und
seinen Menschen.
Der Fernseher läuft ohne Ton. Davor sitzt ihr Mann und fummelt
an seinem Telefon. „Da bist du ja.“, brummelt er, ohne
aufzublicken. Sie nickt. Er hat kein Abendbrot gemacht. All seiner
Ruhe nach ist Emma in ihrem Zimmer eingeschlafen, gegen den
ihr umständlich angewöhnten Schlafrhythmus. Bunny bleibt im
Türrahmen stehen, den Zaun erahnend, den er um sich gezogen
zu haben scheint. Unentschlossen fragt sie: „Wie war dein Tag?“
Auch er nennt sie Bunny, wenn er mit ihr redet.
Hannes zuckt die Schultern. Eine Frage nach ihrer Verspätung
bleibt aus. Wie jede andere Erkundigung. Sie ist eine gute Stunde
später zu Hause als sonst, wovon nicht einmal die Hälfte dem
Umstand geschuldet sein konnte, dass sie zu Fuß unterwegs
gewesen ist. Weil er das Auto für einen Möbelhauseinkauf
gebraucht hat, zu dem es nun nicht gekommen zu sein scheint.
Jedenfalls stehen nirgendwo Pakete des am Vorabend im
Prospekt ausgesuchten Kinderbetts herum, schon gar nicht das
fertig zusammen gebaute.
Ob sie ihn küssen soll, forscht Bunny in sich, in seinem Profil, in
seinem Körper. Der stolz wirken könnte und furchtlos, wenn er
sich nicht auf dieser Couch zusammenknüllt. Einen Schritt geht
sie auf ihn zu, dann noch einen. Das Knie wackelt. Hinter dem
breiten Wohnzimmerfenster ist der Himmel noch immer blau. In
der Mitte des Zimmers bleibt sie stehen, in Hose, T-Shirt und
stumpfem Körper, und fällt in die Konturen des Gesichts, das sie
neuerdings auch in der Miene ihrer Tochter schwimmen sieht.
„Du bist ja ganz verschwitzt!“ Wieder nickt Bunny während sie
ihre Lippen von seiner unrasierten Wange löst. Von der
Überzeugung, die einzige Frau auf der Welt zu sein, deren Mann
jetzt in einem stickigen Wohnzimmer sitzt und keinen Hunger hat,
kann sie sich nicht lösen. Wenn sie sich umsieht, wirkt die
Wohnung auf sie, als würden hier mehr als drei Personen wohnen.
Vor Jahren haben sie ihre Leben in Kartons hier her getragen
und sich aus all den Einzelteilen ein Heim gepuzzelt. Plus Träume,
plus Kind. An der Ecke des Couchtisches stößt sie sich das Knie.
Dabei kommt sein Wasserglas ins Schaukeln. Sie muss daran
denken, wie ihre Urgroßeltern in einer Wohnung wie dieser zu
elft gelebt haben, mit Eltern und Kindern. Wie winzig sie ihr
dennoch erscheint. „Pass doch auf!“ zischt Hannes.
Was hat ihn so unfreundlich werden lassen? Was hat ihn so
erschöpft? Trotzig greift sie nach dem Glas und trinkt es in
einem Zug aus. Dann schlurft sie in die Küche, um eine neue
Flasche aus dem Kasten zu holen. Dass die Kaffeekanne leer ist,
kann sie nun sehen, die Obstschale auch. Der kleine Balkon hinter
dem Küchenfenster sieht erbärmlich aus mit den abgestorbenen
Resten der Frühblüher. In ihren Töpfen werden sie dort vor sich
hin faulen, weiß Bunny, die die Leidenschaft ihrer Eltern zum
Gärtnern nicht geerbt hat. Und dass es dauern wird, bis jemand
die Töpfe wegräumen wird. Mit der vollen Wasserflasche in den
Händen kehrt sie ins Wohnzimmer zurück.
„Guckst du da überhaupt hin?“ Sie deutet auf den Fernseher.
„Wenn du nicht gerade davor stehst!“
Bunny gießt das Glas voll und tritt dann zur Seite, um nun selbst
auf den Bildschirm zu starren. Eine Gruppe Männer, die in grauen
Kapuzenpullis durch den urbanen Morgen joggen und schnell als
Spieler der deutschen Nationalmannschaft zu erkennen sind. Aus
dem Off sind ein paar allgemeingültige Weisheiten des Trainers
zu hören, der schließlich auch zu sehen ist, als alle zusammen vor
einer Bankfiliale anhalten und ihre grauen Kapuzen absetzen.
Werbespots interessieren sie, sie glaubt mit deren
Glücksversprechen lernen zu können, dieses Land zu verstehen,
dieses Land und seine Menschen. Doch dieses Filmchen gehört zu
denen, mit denen sie nicht viel anfangen kann.
„Hast du Hunger?“, nuschelt sie und gießt sein Glas wieder voll.
Er zuckt beide Schultern, die rechte ist chronisch instabil und
voller Schmerzen und der Grund dafür, warum er für sich den
Handball- durch einen Fußballverein ersetzt hat. In dem er nun
wieder regelmäßig trainiert und Ligaspiele auskämpft. Ein
knappes Jahr hat er pausiert nach Emmas Geburt, dann hat er
alles zu sehr vermisst – ein Team, das Training, die Spiele, die
Emotionen, den Zyklus aus An- und Entspannung. Was wäre, wenn
es ihr genauso geht? Sie könnte ihn danach fragen. Sie sollte es
tun, wenn sie mehr Zuneigung verspürt und weniger Müdigkeit.
Auf dem Bildschirm erkennt sie einen dieser Frühstücks-Spots
mit der Familie aus Vater, Mutter, Tochter und Sohn, die für einen
Haselnussbrotaufstrich werben, der Bunny zu süß ist. Bis vor
Kurzem waren sie einer der Hauptsponsoren der nun wieder
allgegenwärtigen Nationalmannschaft. Sogar einen Fluch hat
diese sich Marke zugelegt, seit fast allen Spielern, mit denen
spezielle Clips für sie gedreht worden waren, ernsthafte
Karriereknicks widerfahren sind. Dann hat man sich wieder auf
Normalos besonnen. Wer prüft schon, ob der Fluch nicht
vielleicht auch bei ihnen wirkt? Vielleicht gefällt Bunny der Spot,
weil er genau auf sie zugeschnitten ist, auf Frauen Ende 20,
Anfang 30, die Kinder haben und mitunter davon träumen, ihr
Leben wäre so wie in dieser Werbefamilie - handlicheres Haus,
handlicherer Mann, handlichere Kinder und ebensolche
Mahlzeiten. Bunny erinnert sich besonders an das Filmchen aus
Sicht der Tochter. Sie hatte sich fremd gefühlt in ihrer Familie,
keinerlei Gemeinsamkeiten gefunden. Außer eben ihre
Frühstücksvorlieben. Und obwohl das alles doch ziemlich traurig
ist, fühlt es sich mit diesem Spot nicht so an.
In einer der anderen Wohnungen bellt ein Hund und es klingt, als
wäre er ganz allein. Bunny hätte gern einen Hund, spätestens
wenn Emma besser laufen kann. Doch Hannes fürchtet neben
Tierarztkosten und Hundehaaren all die unausweichlichen
Spaziergänge. Was ihm mit seinem aktuellen Anblick zu
veranschaulichen gelingt, der sie in ein Gefühl taucht, das
Angewidertes enthält und Trauer. Ist auch ihm bewusst, dass sie
ihrem üblichen Donnerstag-Abend-Programm nach, dessen sie all
seiner Mittelmäßigkeit zum Trotz mit etwas Glück in ein paar
Jahren mit nostalgisch-warmer Wirkung gedenken werden, jetzt
Abendbrot vorbereiten oder etwas miteinander tun müssten?
Dass sie sich auf das Fußballspiel des Abends und all die Spiele
der nächsten Tage freuen und sie zu zelebrieren planen sollten?
Beide scheuen.
Auch er hat gearbeitet heute, auch er im Büro. Auch sein Tag
dort wird ohne Eigenschaften gewesen sein, ohne Momente. Auch
seine Schreibtischstunden waren das Loch dieses Tages, in dem
Ungezähltes verschwand und Teile von ihm selbst. Auch sie
findet, dass sie sich einen faulen Feierabend verdient hätte,
zumal ihr Arbeitstag doppelt so lang war wie seiner .
Wieder ein Spot mit dem Nationalmannschaftstrainer. Seit
Jahren wirbt er für eine Kosmetikmarke. Ein Möglichkeit, die
lange unvorstellbar schien im Zusammenhang mit diesem Sport
und all seiner ritualisierten Männlichkeit, die schon von der
Benutzung einer Hautcreme oder eines Pflege-Shampoos
niedergewalzt zu werden schien. Doch nun gilt dieser durchaus
eitel wirkende Trainer als der, der – dennoch oder deswegen –
den deutschen Fußball gerettet hat. Indem er ihn verschönerte.
Das sichert die Qualifikation als Identifikationsfigur für den
modernen deutschen Mann. Worauf diese Werbung aufbaut, die
den Schulterschluss von Mannschaft und Land, von Mannschaft
und Fans glorifiziert. Nicht ohne dabei auch ein paar Frauen im
Bild zu haben. Eine weitere Neuzeitlichkeit in der Zelebrierung
dieses Turniers, das am späten Abend beginnt und dessen
Eröffnungsspiel die Werbeschlacht des Jahres offiziell einläuten
wird, mit all ihren Emotionen und all ihrem Geld.
Der Spot mit dem Muhhh folgt, nach dem die Leute bestimmte
Flaschen suchen sollen, die beim Abschrauben des Deckels
dieses Geräusch machen und einen Geldgewinn verheißen. Bunny
findet die Aktion so dümmlich, dass sie sich nur wundern kann,
dass es funktioniert. Auch wenn der Kapitalismus gerade vor die
Hunde geht, stecken alle noch mit drin. Wir beuten alle anderen
aus. Und ohne es zu kapieren auch uns selbst. Der Traum vom
Glück. Bunny glaubt weder an Gott noch an Geld. Aber woran
dann?
Plötzlich stirbt das Bild. Hannes legt die Fernbedienung wieder
weg. „Was?“ nuschelt er in ihren nachdenklichen Blick, „Du
wolltest doch, dass ich ausmache!“
Dann wird sein Mund wieder zur Linie, über der seine Augen den
dunklen Ausdruck tragen, der ihr seine Schmerzen bedeutet. Ihre
Augen schlittern zum Fenster, hinter dem sich eine Linde krümmt.
Ihr ist, als würden die Blätter ihr zuwinken, auf die Art, wie alte
Menschen es tun, auf und nieder und dabei ganz davon erfüllt,
eine sehr tiefe Traurigkeit unbedingt verbergen zu müssen. Für
einen Moment muss sie die Augen schließen.
„Emma schläft?“, fragt sie dann und starrt weiter nach draußen,
wo es nicht mehr zu sehen gibt, als die Linde vor dem blauen
Himmel und die Fassaden der anderen Straßenseite, in deren
Fenstern sich das Sonnenlicht spiegelt.
Sie haben ihr Kind an ihrem ersten Tag in dieser Wohnung
gezeugt. So möchte Bunny es zumindest glauben. Nach langen
Stunden voller Möbel- und Kartonschlepperei waren sie nicht zu
müde gewesen für schnellen, vollkommenen, ungeschützten Sex.
Obwohl an dem Tag noch nichts vor den Fenstern hing, die
Hannes selbst im dritten Stock noch zu tief findet, um
unabgeschirmt dahinter wohnen zu können.
„Sie ist bei deinen Eltern.“
Schon wieder. Erst letzte Woche hatte er statt sie von der Kita
abzuholen seinen Schwiegereltern aufgetragen, dies zu
übernehmen. Ein paar Zweige der Linde erreichen fast die
Fensterscheibe, so sehr biegen sie sich unter einer kräftigen
Böe. „Wieso?“
Anstelle einer Antwort erhebt er seinen Leib seufzend von der
Couch. Die Bewegung erinnert sie an ihre Schwangerschaft. Sie
hatten kein zweites Kind gewollt, jedenfalls Bunny nicht,
jedenfalls nicht so schnell. Zumal sie keine der Frauen ist, die
gerne schwanger sind. Was Hannes nicht versteht. In der ersten
Schwangerschaft haben sie geheiratet - altmodisch oder nicht,
auch sie hatte es so gewollt - und nun war sie unsicher, welchen
Preis die Welt ihr dieses Mal berechnen würde.
Sie ist überrascht, als Hannes vor ihr steht und seine Arme
öffnet. Sie sind etwa gleich groß, erinnert sie sich.
Das waren sie auch damals schon. Auf dem Sommerfest des VfB
Mittelstedt. Dessen Handballer hatten ihren Aufstieg zu feiern
und die Fußballerinnen immerhin den abgewehrten Abstieg. Und
ihre Kapitänin - nur ein paar Wochen entfernt von ihrem ersten
Kreuzbandriss - eine Einladung zum U-20-
Nationalmannschaftslehrgang. Am Schwenkgrill hatten sie zum
ersten Mal Augenkontakt, bei Rock Your Body haben sie
miteinander getanzt, geknutscht wurde zu Angels und von da an
erduldeten sie die Witze, Sticheleien und Bemerkungen der
jeweiligen Mannschaftskollegen mit einem Lächeln, dem bei aller
Hoffnung doch keinesfalls Gewissheit innewohnte, auch 10 Jahre
später noch zusammen zu sein. Mit Unterbrechungen. Die es
gegeben haben musste, um einander messen zu können.
„Bleib bei mir...“, murmelt er und gräbt seine Nase in ihr Haar.
Fast muss sie lachen, so ungereimt kommt ihr die Umgebung
dieses Satzes vor, den er noch nicht einmal zu ihr gesagt zu
haben schien, sondern zu jemandem in seinem Kopf. Und doch
wärmt er sie und ihn umgibt die vertraute, leicht gekränkte
Anspannung. Auch riechen tut er nach ihrem Ehemann, nach
Wurzeln und Ozean und seinem Deo. Wenn man schwanger ist,
sind die Sinne angeblich besonders scharf. Oder schwach?
Schon am Pfingstwochenende hätte sie ihre Tage bekommen
müssen, aber erst heute ist ihr wirklich bewusst geworden, dass
es dazu nicht gekommen war.
„Du bist spät.“, haucht er in ihre Schulter. Mit einer gewissen
Einfalt, die gleichzeitig um etwas bittet, nein, etwas fordert.
Entweder sie weiß nicht, was es ist oder sie will es nicht wissen.
Trotz des Sonnenscheins ist es hier drinnen recht dunkel und
jetzt, wo auch noch der Fernseher aus ist, könnte man meinen, in
diesem Wohnzimmer fast Fotos entwickeln zu können, anstelle
einer unperfekten Dunkelkammer. Aber sein Fotokram, all die
Dosen, Fläschchen und Apparate sind im Haus seiner Eltern
geblieben, weihen dort jetzt sein altes Kinderzimmer. Alle paar
Tage kann er sich dort verkriechen.
"Alles okay?", versucht sie sich auf einem neuen Weg
anzunähern. Sie zeigt ihm ihr Gesicht, zeigt ihm, wer sie ist. Aber
schon macht er sich wieder frei, brummelt „Klar!" und schlurft in
Richtung Toilette.
Wer ist dieser Mann? Was hat er noch mit ihr zu tun? Wie kann
man darauf kommen, dass sie mit ihm zusammenleben kann, ein
Kind aufziehen und ihn lieben? Und nun noch ein weiteres Kind?
Sie erkennt jedes seiner Geräusche. Sein Geschlurfe über das
Laminat, die Art, wie er den Toilettendeckel hochklappt und ihn
immer zu laut gegen die Fliesen darüber poltern lässt. Sein
Pinkeln, ein kurzer, mächtiger Schauer. Dann Stille. Auf ihrem
Oberkörper fühlt sie das T-Shirt, wie es spannt und sperrt. Sie
fährt sich durch die Haare, die sich trocken und schlaff anfühlen.
„Ich habe Fußball gespielt. Mit ein paar Kids. Nur ein paar
Minuten, aber...“
„Mit deinem Knie?“, ruft er zurück und lässt es so klingen, als
wäre es seins.
Ein Hungergefühl drängt sich in ihre Enttäuschung. In der Küche
steht noch das Frühstücksgeschirr. Sie fummelt eine Scheibe
Brot aus der Tüte. Über ihr schlurfen die Nachbarn über den
Fußboden. Das Bellen des Hundes wird immer trauriger. Obwohl
es nicht viel Sonnenlicht ist, das es durchs Küchenfenster noch
hier herein schafft, wird Schmuddeligkeit deutlich. Ein paar
Blicke auf die Griffe der Hängeschränke und deren Umgebung, da
wo sie von Händen begrapscht werden, mitunter von solchen, an
denen Essensreste kleben, nähren Bunnys Mutlosigkeit.
Wenn diese Wohnung ein paar Monate leer stünde, würden ihr
Staubschichten und Spinnennetze eine unruhige Art Frieden
geben. Erst dann wäre sie wohl für Hannes interessant und seinen
Fotoapparat. Nur mit halbem Ohr hört sie zu, wenn er von seinen
Ruinen-Touren erzählt, die er Urban Exploring nennen. Nie hat sie
verstanden, worum es ihm dabei geht, was ihm diese leblose
Unordnung bedeutet. Manchmal scheint es das einzige zu sein,
das ihn wirklich bewegt, durch verlassene, verfallene Gebäude zu
schleichen und Fotos davon machen zu können, die dann im
Internet unter den anderen Verrückten für etwas Aufsehen
sorgen. Die Vorstellung, dass jeder einzelne Ort auf dieser Welt,
jedes Haus und jede Stadt irgendwann verlassen und verfallen
sein könnte, löst in ihr nur Unbehaglichkeit aus. Auch dieser
Küche könnte es so ergehen. Wenn die Farbe abblättert von
Tisch und Stühlen, wenn die Armaturen zu rosten beginnen und
die Schränke angegammelt von den Wänden kippen. Bunnys
Augen irren zwischen den kleinen blauen Fliesen über Herd und
Arbeitsfläche umher und rätseln, welche es sein würde, die
zuerst herunter fällt. Mit der Zeit würden sich Fenster lösen oder
eingeschlagen werden und Zweige der Bäume hinein wachsen
lassen. Irgendwann würde jemand hier einsteigen, um nach
Alkohol zu suchen oder etwas Essbarem, und sich nur ein paar
Sekunden lang fragen, wer hier gelebt haben mag. Oder würde er
unter all den Resten dieser Küche ihre verwesenden Körper
entdecken?
Als die Toilettenspülung verstummt ist, ruft er, dass das Auto bei
seinen Eltern ist und warum, aber sie hört nicht richtig zu und
verpasst die Logik daran. Die wiederum etwas mit dem Kinderbett
zu tun zu haben scheint. In ihrem Kopf formt sie noch an Worten,
um ihr Vergnügen an diesen Fußballkindern mit Hannes teilen zu
können. Wie sie über deren Gesten schmunzeln musste, die noch
dramatischer schienen als die grasfleckigen Trikots mit den
großen Namen, die ihnen an den Oberkörpern klebten. Dass sie
genossen hat, mit eigenen Augen zu sehen, dass sie immer noch
so spielen wie früher, an Plätzen dieser Stadt, die auch sie noch
kennt. Wie glücklich sie das heiser-dumpfe Geräusch gemacht
hat, das gegen einen Ball tretende Schuhe erzeugen, wie sicher.
Und wie wunschlos, ein paar Minuten im Getümmel mitzuspielen,
ihr Herz zu spüren und auch ihr Können. Von dem Reus-Trikot
möchte sie erzählen und dem Mädchen darin, von ihrem Talent
und ihren enttäuschten Augen. Von dem Ausdruck in den
Gesichtern all dieser Kinder – so beherzt und bemüht, nicht zu
viel Freude zu zeigen oder Stolz, und doch so voll davon. Erst als
sie sich Butter auf das Brot zu schmieren begonnen hat, erkennt
sie, dass es bereits schimmelt.
Während Emmas Geburt war sie sicher, nie wieder über ihr Knie
jammern zu werden. Und hatte bezweifelt, dass die Schmerzen
damals wirklich so unerträglich gewesen waren, dass sie nicht
hätte weiterspielen können. Ohne den Ärzten Gelegenheit zu
geben, ihre Knorpel- und Kreuzbandschäden auf Bilder und damit
in die Wirklichkeit bannen zu können.
Auf dem Küchentisch liegt eine Plastiktüte voller Deutschland-
Fähnchen, -tröten und -wimpelketten mit einem Preisschild daran.
Ungefähr die gleiche Tüte weiß sie seit einem der letzten
Turniere im Keller zwischen den Wintersachen liegen. Wo liegt
der Sinn in ihrem Sparen, wenn er so viel ausgibt?
"Ich mach Abendbrot.", hört sie ihn anbieten als er wieder ins
Wohnzimmer schlurft. Beide wissen, dass es im Gegenzug an ihr
sein wird, das Kind zu holen. Wenn er angerufen hätte, denkt sie,
wenn er vor einer Stunde zu ihrem Feierabend angerufen hätte,
dann hätte sie den Weg zu ihren Eltern direkt machen, sich den
Umweg über diese Wohnung sparen können. Bunny muss tief Luft
holen.
Auch weil das Sonnenlicht den Dreck an den Fenstern noch
deutlicher macht und den Staub auf den Regalen. Ihn stört es
nicht und sie hat keine Lust mehr, allein zu putzen. Ihn darum zu
bitten, war sinnlos, dann hätte sie es ebenso gut gleich selbst
machen können. Sie schiebt das schimmelige Brot zurück in die
Tüte und findet im Regal eine Packung Schokoriegel, die Emma
liebt, und die Hannes gekauft haben muss.
„Frau Doktor Weißhaupt hat doch gesagt, diese Riegel sind
nichts für Kleinkinder!“, erinnert sie ihn mit einer Stimme, die bis
ins Wohnzimmer reicht.
„Frau Dr. Weißhaupt soll sich lieber um ihre tote FDP kümmern!“,
ist seine lahme Antwort.
„Das ist Frau Dr. Gutzeit.“
„Ein bisschen Zucker hat mir früher auch nicht geschadet!“
„Dr. Weißhaupt ist die Kinderärztin, Dr. Gutzeit die HNO...“
„Dieses Verteufeln von Lebensmitteln, immer im Wechsel, wie
jede andere Mode...“
„Und Dr. Gutzeit ist die mit dem FDP-Kandidaten als Ehemann -
hörst du mir zu?“
„Also...“, ruft er aus dem Wohnzimmer, „...holst du sie jetzt?“
In Gedanken noch irgendwo zwischen dem schmierigen Herd und
den Skulpturen im Wartezimmer der HNO-Ärztin, hört sie sich:
„Wen?“ fragen.
Aber sein Lachen bleibt aus, also steckt Bunny den Autoschlüssel
ein und schließt die Tür so, dass sie möglichst laut ins Schloss
rastet. Dass er sie mit Absicht nicht verstanden hat, glaubt sie,
und dass sie ihm auf die Nerven geht, ihn stört, ihn hindert an
dem Leben, dass ihm zusteht. Ohne die Eventualität zu begreifen,
dass es ihr genauso gehen könnte. Der Reißverschluss der Jacke
klemmt, also lässt sie sie offen. Es ist die Zeit des Tages, dessen
Laute, Lichter und Gerüche Feierabendgedanken aufkommen
lässt, den Wunsch auszuruhen, schweigen zu dürfen und unnütz
zu werden. Die Nonnen in dem Kloster, das dieser Straße ihren
Namen gegeben hat, hätten ihrem Gott jetzt wohl für diesen Tag
gedankt und sich zum Abendbrot gesetzt. Waren es glücklichere
Frauen? Oder nur benebeltere? Sie kneift die Augen zusammen,
als sie ins Sonnenlicht tritt. Für einen Moment steht sie vor der
Haustür und denkt darüber nach, in welche Richtung sie gehen
wird.
Der Weg zu ihren Eltern ist kein weiter. Aus der Jackentasche
angelt sie ihr Telefon. Was sie in ihrem Bauch fühlt, ist nichts als
Hunger. Mittelstedt riecht nach Sommer und Grillabend und in
ihrer Wohnung ist nicht einmal das Brot noch essbar. Ihre Beine
kommen ihr schwer vor und ein wenig fremd. Über ihr knurrt ein
Hubschrauber über den wolkenlosen Himmel. Sie schaltet das
Telefon stumm und steckt es wieder in den Rucksack.
Zweige einer wilden Hecke berühren sie. Dass es eigentlich
umgekehrt ist, fällt ihr auf, dass eigentlich sie es ist, die die
Hecke berührt. Sie geht einen kleinen Umweg, um noch einmal am
Park vorbei zu kommen. Aber niemand spielt nun noch Fußball,
nicht mal die Penner sind noch da. Im Altenheim essen sie
Abendbrot. Bunnys Schritte knirschen über den Gehweg und in
den Kastanienbäumen rauscht es wie schon vor 100 Jahren. Am
Zaun des Discounterparkplatzes, in dem sie zwischen Schule und
Training gejobbt hat, fallen ihr die Sommer ein, in denen ihr
Teenager-Ich über jeden Zaun klettern gewollt und ihren kleinen
Bruder mit dieser Leidenschaft angesteckt hat. Blutende Wunden
hatte es gegeben, aber sie haben einfach immer weiter gemacht.
Sie glaubten, die Welt gehöre ihnen, wäre gerecht und
unerschütterlich gut, und falls nicht, dann würde sie von ihnen
dazu gemacht werden. Gewinnen wird, wer sich am meisten
anstrengt, am fleißigsten trainiert, sich am wenigsten ablenken
lässt. Sie tritt gegen ein Steinchen und schießt ihn gegen einen
Mülleimer.
In den Schaufenstern des Reisebüros erahnt sie Schemen ihres
Spiegelbilds. Wie und wann sie Hannes von der Schwangerschaft
erzählen soll, sollte ihr Stoff zum Grübeln geben. Ihre
Halbschwester Franziska hat es ihrem Freund damals per SMS
sagen müssen – und ihn nie wieder gesehen. Die
Wahrscheinlichkeit, dass Hannes sich freuen würde, ist groß,
jedenfalls größer als die, dass Bunny es tun wird. Aber zwischen
ihnen klebt der Dunst von Streit ohne wirklich zu streiten, ohne
Aussicht auf Argumente, Übertreibungen, Vorwürfe oder
Entschuldigungen. Und in dem Nebel der Befürchtung, nicht
einmal auf eine Versöhnung hoffen zu können, ist alles in ihr
blockiert, das mit diesem Kind zu tun hat.
Unter ihren Füßen wackeln ein paar der Gehwegplatten. Erst vor
zwei Tagen hat ein Starkregen hier wieder die Gullys erschöpft
und Fugen ausgespült. Sie sagen, dass die Unwetter schlimmer
sind als früher, aber Bunny weiß nicht, ob sie das glauben soll.
Vielleicht fühlen sich die Leute nur sicherer und sind darin wie in
ihrem eitlen Vertrauen auf den Kapitalismus erschüttert, sobald
ein paar Straßen und Keller kniehoch überfluten. Überall reden
sie vom Glauben an dieses und jenen und dann verlieren sie ihn
beim kleinsten Rätsel. Der Bürgersteig bröckelt, aber das Knie
bleibt hart. Auch Franziska kommt zurecht, mit dem Stolz der
Alleinerziehenden.
Schon in einer guten Woche werden die Tage wieder kürzer. Nicht
mehr lange und all das Grün der Bäume wird sich färben und die
Stadt fluten. Von weit her läuten Glocken, das
Hubschrauberbrummen entfernt sich. Die Häuser präsentieren
ihre Fenster, hinter deren Scheiben schon das Licht der
Bildschirme zappelt. Ab heute fühlen sich die Menschen weniger
gefangen in ihren Zimmern, ihren Rollen, ihrem Alltag. Sie stehen
am Grill, decken ihre Tische und freuen ich auf den Fußball. Noch
immer spürt Bunny den Hunger und kann nicht mal sicher sein,
dass das Abendbrot fertig ist, wenn sie mit Emma nach Hause
kommen wird. Vielleicht spielt er längst wieder am Telefon und
vergisst sein Erwachsensein. Das Rattern eines Rollkoffers
kommt näher. Dessen Besitzerin holt Bunny ein und fährt an ihr
vorbei. Ein Seitenblick zeigt ihr, dass die Frau schwanger ist,
sechster Monat vielleicht. Herbst wird es sein, wenn dieses Kind
geboren wird, vielleicht schon Winter. Wenn die Welt längst
wissen wird, wer Weltmeister geworden ist. Es rattert und brüllt
über die Gehwegplatten, so laut, dass Bunny sich fast die Ohren
zuhalten möchte. Dann entfernen sich Geräusch und Frau.
In ein paar Stunden wird es also beginnen, das Riesen-
Fußballturnier. Bis nach Mittelstedt werden Brasiliens
Anstoßzeiten die Tage strukturieren. Bunny freut sich auf ihre
Tochter, auf ein, zwei Stunden mit ihr, bevor sie sie ins Bett
bringen und sich selbst vielleicht ein Glas Wein gönnen wird. Und
etwas Zeit zum Alleinsein. Sie ist stolz auf die Kleine, die schon
so viel zu verstehen scheint und zu lieben. Die lachen kann,
laufen, klettern, sprechen und zuhören. Sie ist stolz auf sich, weil
ihr Kind seine Eltern liebt, ohne sich aufzuplustern, sobald es
jemand anderes ist, der sich um sie kümmert.
An der roten Ampel wartet die schwangere Frau mit dem Koffer.
Sie schwitzt in ihrem Hosenanzug. Vor viel Auswahl steht man
nicht, wenn man in der Umstandsmodeabteilung Businesskleidung
sucht, da friert man im Winter in dem gleichen Hosenanzug, der
einen im Hochsommer vor Hitze am Nachdenken hindert. Es wird
grün und neben Bunny rattert es wieder los. Die Hosenanzugfrau
weiß genau wohin sie will. Aus dem Imbiss an der Ecke zur
Prinzenstraße erreicht Bunny die Art Geruch, die mitteilt, es
gäbe keine Alternativen zum Essen, zu sofortigem Essen,
herzhaft gewürzt und hastig serviert. Doch sie widersteht, wird
schneller und umkurvt einen Hundehaufen, was ein Fußgänger vor
ihr offenbar versäumt hat.
Zwischen all den Sommerszenen dieses Viertels sieht sie auf der
ihr entgegen kommenden Fahrbahn einen Bus, den sie sofort
zuordnen kann. So lange ist es nicht her, dass sie selbst darin
gesessen hat. Und doch sind die Jahre vorbei, in denen sie die
enthaltenen Gesichter erkennen konnte. Also richtet sie ihren
Blick lieber auf den Platz schräg hinter dem Fahrer, auf den
Trainerplatz. Und tatsächlich kann sie Deniz erkennen, der heute
also anstelle von Bunny und ihrer Mannschaft diese Busmädchen
über die Trainingsplätze scheucht. Sie hat andere Trainer gehabt,
denen die Lauferei weniger wichtig war, doch Deniz glaubte
immer an die Kraft des Laufens, das er gern
Grundlagenausdauertraining nannte, als gelte es, dessen Reiz
noch weiter zu minimieren. Ein eigentlich verschlossener Mensch,
der aber innerhalb seines Trainerkosmos' laut donnernd herum
springen und vielen der Mädchen damit Angst machen konnte.
Etwas macht Bunny sicher, dass er sich freuen würde, sie zu
sehen, dass es ihnen beiden helfen würde, für diesen Tag
dankbar zu sein, doch er hat nur Augen für das Display des
Laptops auf seinem Schoß. Fast läuft sie gegen ein
Halteverbotsschild mit ihrem Blick auf die Rücklichter des VfB-
Busses.
Der nächste Imbissladen folgt, aber auch an dem muss sie
vorbei. Hier gibt es Varianten panierten Formfleisches. Eigentlich
eine absurde Form von Nahrung, doch wenn man so viel Hunger
hat wie Bunny, ist es nur noch Disziplin, die verzichten lässt. Eine
Gesellschaft, die Nahrung nicht produziert, um die Menschen satt
zu machen, die Klamotten nicht produziert, damit die Menschen
es warm haben und mit deren Gesundheitssystem Geld verdient
werden muss, kann nicht überleben. Immer geht es nur um Profit
Einzelner. Und worum geht es in der Ehe? Um das Satt werden?
Warm? Um füreinander da zu sein, sein Leben zu teilen, sich zu
unterstützen? Wie viel davon gibt es in ihrer Ehe?
Auch um das Haus, in dem sie 17 Jahre lang gelebt hat, ist ein
Zaun gezogen. Doch er ist umwachsen von einer Hecke, die im
Frühsommer zu blühen beginnt und im Spätherbst noch nicht
ganz damit aufhören wird. Mit all der Zuneigung, die Bunnys
Eltern in diesen Garten stecken, blüht sie womöglich irgendwann
das ganze Jahr durch. Dieses Haus war von der Familie eines
Bundeswehrgenerals erbaut und bezogen worden, bevor sie es
nach deren Scheidung an Bunnys Eltern verkauften. Die sicher zu
sein scheinen - noch immer und absolut - worum es in einer Ehe
geht. Das Haus ist hell verputzt bis zum Dach, unter dem ihr
Zimmer war und irgendwie immer noch ist. Dass sie hier nie
wirklich ausgezogen ist, wird Bunny klar, nicht in der Art wie man
aus anderen Wohnungen zieht, die man im Laufe des Leben
bewohnt, indem man sie also komplett leert, die Schlüssel abgibt,
nachdem man noch einmal durch die Räume spaziert war, in dem
Bewusstsein, dass man deren Luft zum letzten, zum allerletzten
Mal atmet. Sie ist mit 4 Kartons voller Kleinkram in eine WG aus
Mitspielerinnen gezogen, ohne ihr Zimmer deswegen aufzugeben,
hat nach und nach mehr Sachen herausgetragen, aber die letzten
- unter anderem der CD-Player, das Klappbett, der nutzlos
gewordene Stoffhasen-Talisman wie der PC-Tower plus
Röhrenmonitor - werden wohl hier bleiben, in dem halb
abgetakelten Kinderzimmer, das leer steht, um sie bei Besuchen
ein wenig zu rühren und doch schon lange nicht mehr ihres zu
sein. Dieses Haus birgt kein Geheimnis wie die der Nachbarn,
deren Kinder nun auch nicht mehr hier wohnen. Die Elternhäuser
haben jetzt Sonnenkollektoren auf dem Dach, die die Renten
ausstopfen und eine Energiewende kolorieren sollen.
Bunnys Schritte werden straffer, als sie direkt auf das Haus mit
dem üppigen Garten zu stapft. Dessen Fundamentgrube vom
Wirtschaftswundergeneral wohl eigentlich nicht ausgehoben und
ausgegossen worden war, damit ein paar Jahre später zu Geld
gekommene Pazifisten ihre Möbel darauf zurecht rücken würden.
Pläne ändern sich, ohne dass das immer falsch sein muss.
Doch Bunnys Eltern scheinen immer sicher zu sein, was richtig
für sie ist. Auch wenn sie von Religionen immer nur gelesen
haben. Sie verfehlen selten ein Ziel. Vater Optiker, Mutter
Journalistin. Zwischen den Geburten ihrer beiden Kinder hat sie
eine Zeitschrift entwickelt – ein Magazin für Inneneinrichtung
und Dekoration -, sie selbst herausgegeben und rechtzeitig gut
verkauft, um erst 10 Jahre später deren Redaktionsleitung
abzugeben. Auch deswegen ist ihr Haus längst bezahlt, gibt es
ein paar Urlaube im Jahr und großzügige Spenden für gute
Zwecke. Stolz auf ihre Kinder sind sie, begeistert von ihren
Enkeln. Der Wohnzimmerschrank enthält auch ein paar Alben mit
Zeitungsausschnitten, die Bunnys Karriere belegen. Talent,
Disziplin, Kapitänin, Auswahlmannschaften, Verletzungen. Nach
dem dritten Kreuzbandriss gucken sie dich anders an.
In der ganzen Straße schienen alle Kinder zu haben,
Brotbackautomaten und Autos. Und doch waren die Kinder der
Nachbarn verschieden - in Haustier-, Spielzeug- und
Vätersituation, im Loben und im Strafen. Bunnys beste Freundin
Svenja ein paar Hausnummern nach rechts und ihr bester Freund
Martin ein paar Hausnummern nach links. Darüber, wie sehr
Svenja und Martin sich gehasst hatten, hat Bunny immer lachen
können. Nur bei Geburtstagspartys war es umständlich. Nun
aktualisiert das Internet ihren Kenntnisstand vom Leben der
beiden und sie weiß von Martins Hochzeit und Svenjas Scheidung.
Dass Svenjas Mutter wie Martins Vater Krebs hat, hat sie
allerdings nur von ihren Eltern erfahren. Die nichts als Freude
empfinden würden über die erneute Schwangerschaft ihrer
Tochter.
Die jetzt nicht den gepflasterten Weg hinter der Gartenpforte
entlang geht, sondern den vom Carport aus in Richtung Terrasse.
Dort angekommen bleibt sie stehen, gerade weit genug weg, um
niemanden dahinter zu erschrecken, und wirft ein paar Blicke
durch das gekippte Küchenfenster. Am Tisch sitzen sie, ihre
Tochter im Hochstuhl, ihr Vater in Hemd und Fliege, ihre Mutter
und Lukas. Sie essen etwas, was wie eine Quiche Lorraine
aussieht und auch so riecht. Emma, die mit ihren Schuhen in
Größe 22 auch schon kräftig aufstampfen kann, wenn ihr etwas
nicht passt, um dazu ihr Gesicht zu etwas sehr Zornigem zu
verschließen, sieht gerade so komplett zufrieden aus wie es nur
Kleinkinder sein können. Bunnys Bruder füttert ihre Tochter und
ihr Vater kommentiert das. Dann lachen sie. Auch Emma, die es
liebt, so inmitten von Heiterkeit und Eintracht zu thronen.
Bunny weiß nicht, was genau es ist, aber etwas an diesem Bild
macht sie glücklich. So sehr, dass sie es festhalten will. Ihre
Eltern sind gute Eltern, sie sind eigentlich in allem gut. Sie haben
Liebe in sich und mögen sie auch zeigen, sie können kochen,
gärtnern und tanzen, lieben Menschen, Tiere und Bewegung. Kein
Wunder, dass Lukas hier nicht ausziehen mag.
Auf dem Küchenfensterbrett blühen Blumen, deren Namen Bunny
sich nicht merken kann. In vom Vater bemalten, von der Mutter
bepflanzten und nun fast zugewucherten Tontöpfen stehen sie da
und freuen sich an ihrem Schicksal im Hahse-Haus und spenden
der Fenstergafferin ein paar Momente der Ruhe vor dem
Entdecktwerden. Sie könnten Geschichten erzählen, die diese
Familie zum Schmunzeln, alle anderen vielleicht zu Langeweile
veranlasst. Was werden sie über Emma zu berichten haben?
Werden sie noch blühen wenn sie zur Schwester wird, zur
Schülerin, zur Frau?
Komplett von Zärtlichkeit durchweicht, für ihre Tochter, für
dieses Haus und seine Bewohner, weiß Bunny hinter sich das
Stück Rasen auf dem sie die Tricks von Zidane geübt hat oder
Ronaldinho. Immer und immer wieder, mal mit, meist ohne Bruder.
Bevor und nachdem Martin sie abgeholt hat zum Training des
Stadtteilvereins, wo Deniz sie später entdecken konnte für den
großen VfB Mittelstedt. Auf diesem leicht geschwungenen und
gut gepflegten Rasen war der Fußball eine Leidenschaft
geworden, der Sinn freier Minuten, Stunden und Tage. Wie immer
ist dieser Rasen gemäht und vertikutiert. Auf ihm hat sie sich nie
weh getan, nicht ein einziges Mal. Erst auf dem Rasen des VfB
hatte sie lernen müssen, Schmerzen zu überspielen, weiter zu
rennen und sich das Humpeln zu verkneifen und frühestens in der
Kabine nachzusehen, ob es blutet. Auf keinen Fall wollte sie
riskieren, nicht mehr mitspielen zu dürfen.
So schön es hier ist und immer war - wie jedes andere Kind hatte
auch Bunny sich zuweilen ausgemalt, wie es wäre von hier
wegzulaufen. Immer mal wieder hatte sie sich vorgestellt, sich an
Orten dieser Stadt zu verstecken, die sie gut kannte, um dort
abzuwarten, wie diejenigen, die ihr ihrer Meinung nach
Ungerechtes gesagt oder angetan hatten, nach ihr suchen
würden, um dabei ihr Verhalten tief bereuen zu müssen. Doch
nicht ein einziges Mal hatte sie diese Idee ausgeführt, nie war
sie wirklich abgehauen aus dieser aufgeräumten Idylle.
Aus dieser Stadt hat sie es nie raus geschafft. Nicht, dass das
ihre Sehnsucht gewesen wäre, aber bei einer Karriere, wie die,
die sie begonnen und von allen Experten voraus gesagt
bekommen hatte, muss es auch enttäuschen. Kein großer Verein,
weder national, noch international. Der VfB Mittelstedt als
Endstation. Es bleibt anstrengend, darüber nicht zu viel
nachzudenken.
Wie immer ist in dieser Küche auch heute alles an seinem Platz;
kein Messer liegt herum oder Krümel, kein Lappen oder Topf. An
der Kühlschranktür halten Magneten mit Tiermotiven aktuelle
Zeichnungen von Franzis Sohn Jasper - eine Sonne kann man
erkennen, ein Haus und einen schwarz-rot-goldenen Marienkäfer.
Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, die Vitrine mit Bunnys
Trophäen ist zu erahnen. Brummend singt die Spülmaschine ihr
Lied von Komfort und Hygiene. All das kann Bunny hören ohne
gesehen zu werden. Lukas hat einen neuen Haarschnitt, einige
Mädels müssen verrückt nach ihm sein und vielleicht etwas
heimlicher auch Jungs. Wie immer trinkt er Milch mit Zucker, als
müsse er seine Coolness auch mal durchbrechen. Was ihn
eigentlich noch lässiger wirken lässt. Er wirkt so alt wie er ist und
kommt nach seiner Mutter, Bunny ist die, die die blauen Augen
des Vaters geerbt und dessen Kinn, seine breit geschwungenen
Lippen wie den Hang dazu, Konflikte auszusitzen. Die braunen
Augen der Mutter, deren Wangenknochen und Ungeduld kann
Bunny auch an ihrem Bruder finden, dessen Geburt zu ihren
frühesten Erinnerungen zählt.
Ob Franzi und Nils sich an Bunnys Geburt erinnern? Sie sind die
Familie, die ihr Vater vor dieser Familie hatte. Deren Mitglieder
Bunny immer leid getan haben, so lange sie zurückdenken kann,
hat sie Mitleid mit Franzi, mit Nils und mit deren Mutter. In den
Ferien haben die beiden oft mit in diesem Haus gelebt, aber sie
hatten sich schon zu groß und vielleicht auch vom Leben zu
benachteiligt gefühlt, um mit Bunny oder gar dem noch kleineren
Lukas spielen zu wollen. Als Franzi schwanger wurde, hatte Nils
sich seinem Vater längst ganz entzogen - er arbeitete in Brüssel,
wie das Internet angab - während seine Schwester die väterliche
Unterstützung nun gerne angenommen hat. Bunnys neugeborener
Neffe Jasper lebte ein paar Monate mit hier, während der er
seine Tante, die gerade wieder an Krücken lief, ganz für sich
eingenommen hat. Jetzt steht sie hier am Fenster, heftet ihren
Blick auf seine Marienkäferzeichnung am Kühlschrank und
vermisst ihn, möchte ihn in den Arm nehmen wie auch ihren
Bruder, der in ihren Gedanken immer auch ein bisschen so klein
bleiben wird wie Jasper jetzt ist. So wie sie für dieses Haus, in
dem alles sortiert ist, sauber und sicher.
Ein Knuff des Vaters kündet von einem Witz auf Lukas' Kosten,
wieder lachen alle, wobei sich die Blicke ihrer Mutter und ihrer
Tochter fast parallel in Bunnys Richtung zu drehen drohen. Die
dabei von einem klaren Impuls getroffen wird, dem Impuls sich
zu ducken, sich zu verstecken, nicht gesehen werden zu wollen.
Dem Impuls hier heute nicht zu klingeln, das Haus nicht zu
betreten, nicht von der Quiche zu probieren und Emma nicht von
hier weg zu bringen. Ihr Magen knurrt, aber entschlossen
verlässt sie die Terrasse, stapft eilig am Carport mit dem
Abwrackprämienwagen vorbei, der sie ebenso wenig verraten
wird wie die daneben lehnenden Elektrofahrräder.
Frische kann sie spüren in sich und kitzlige Eile. Immer
schnellere Schritte wischen über den Bürgersteig, über die
Straße, über die Kreuzung. In all der hellen Stadtsonne beginnt
sie zu schwitzen. Die Sohlen ihrer Sneakers schweigen auch
noch, als sie zu laufen beginnt. Der Laufschritt festigt ihre Beine
und weitet ihre Brust. Sie läuft, vorbei an Svenjas Haus, die
Abkürzung über den Parkplatz beim Ärztehaus und dann durch
den Fußgängertunnel bei den Schienen. Sie läuft um sich zu
beruhigen. Sie läuft so schnell sie kann. Der Rucksack schwingt
über ihren Rücken und scheuert ein wenig an der so unnötigen
Regenjacke. Fast still ist es jetzt in diesem Viertel, nur die Vögel
singen ein frühes Abendlied. Und auch wenn das Knie schon
wieder schmerzt - die ganze Straße entlang läuft sie, rennt und
wird nur wenig langsamer, als sie wieder in die Prinzenstraße
biegt und später die Abkürzung zur Kastanienallee findet. Bunny
läuft.
Zwei
Hinter dem Haus ihrer Schwiegereltern ist der Himmel noch
immer blau. Davor wartet das Auto.
Das bis vor vier Jahren ihren Eltern gehört hatte und für das
diese noch immer die Versicherung bezahlen. TÜV bis zum
nächsten Jahresende, wenn der Corolla so lange überhaupt
durchhält. Er leuchtet sie kurz an, als wäre er es, der sie erkannt
hat, und nicht nur der Funkimpuls aus dem Schlüssel in Bunnys
Händen.
Aus der hellen Villa summt die Stille, die an einem
wochentäglichen Vorabend hier Alltag ist, jetzt wo das Kind aus
dem Haus ist. Die sogar den Bürgersteig vor dem Haus
beherrschen kann. Wieder weht der Geruch von Holzkohle durch
die Luft. Bunny glaubt, dass Ingrid in der Küche ist, deren
Fenster zur anderen Seite des Hauses zeigen. Und Herbert noch
immer in der Kanzlei. Die letzten Schritte zum Auto setzt sie
langsamer, um unnötige Geräusche zu vermeiden. Beim Greifen
des Türgriffs überschlägt ihr Herz sich fast, aber schon knackt
er, die Tür öffnet sich und ihr Körper schwingt sich hinter das
Lenkrad, von wo aus sie den Rucksack neben Emmas Kindersitz
wirft. Die Luft im Auto ist dumpf und von dessen Sonnenparkplatz
aufgeheizt. Mit trockenem Mund und gestrafftem Körper atmet
sie durch, streicht sich den Schweiß von der Stirn. Ein
versichernder Blick Richtung Haustür soll ihr helfen, sich
unentdeckt zu fühlen. In dem Thermobecher, der neben dem
Lenkrad klemmt, ist noch Kaffee, kalt zwar, aber ihrem
ausgedörrten Mund ist es in diesem Moment egal. Fahrersitz und
Rückspiegel sind schnell verstellt. Über dem Armaturenbrett
wellen sich Parktickets und -verwarnungen – gehalten von einer
Sonnenbrille, die mal von Bunny und mal Hannes getragen wird.
Daneben steht eine solarbetriebene Plastikblume, deren Anblick
sie ausweichen muss, da so viel freundliche Unbekümmertheit ihr
diesen Moment nehmen könnte und seine Motivationen. Auf dem
Beifahrersitz liegt Hannes' Trainingsjacke. Und riecht nach ihm.
Schon bevor sie den Motor startet, ahnt sie, welche Musik aus
dem Radio dröhnen wird. Diese ganze Familie hält sich für etwas,
das sie nicht ist.
Bunny räuspert sich, dreht den Schlüssel um und nimmt die CD
aus dem Radio. Sie lässt die Kupplung frei und löst sich Meter um
Meter vom Stillstand. So schnell es geht, ohne den Plan vom
Knausern mit Geräuschen aus den Augen zu verlieren, rollt sie
aus der Einfahrt der Familie, die ihren Namen vor ein paar
Generationen westwärts getragen hat, damit ihr Sprössling Bunny
dazu überreden konnte, ihn auch sich selbst zu geben, wie etwas
später ihrer Tochter.
Der Rückspiegel zeigt die unveränderte Villa. Die Haustür hat
sich nicht geöffnet, am Gartenzaun ist niemand zu sehen. Sie
schaltet in den dritten Gang und lässt die Seitenfenster herunter.
Die Plastikblume hat zu tanzen begonnen und der Fahrtwind
lockert ihre Haare. Nachgeschmack des kalten Kaffees klemmt
sich um ihre Zunge, doch sie entdeckt den halben Schokoriegel,
der neben dem Schaltknüppel klemmt. Hektisch befreit ihn ihre
freie Hand aus der Verpackung. Am Stoppschild hält sie nicht an.
Der erste Bissen schmeckt süß.
Noch nie ist sie gern schnell gefahren, schon gar nicht schneller
als erlaubt, aber dies ist auf keinen Fall eine Zeit zum Zögern.
Bei 22 Grad Celsius und leichtem Nordostwind verlässt Jenny
Zimmermann ihre Stadt in westlicher Richtung. Die Stadt, die
einst aus einer Mönchssiedlung hervorging, und es zu einem
Kaufmannsstädtchen, später auch mal zu Bundesligafußball, ein
paar Einkaufszentren und einem Pantoffelmuseum geschafft hat,
liegt voller Unschuld in Bunnys Rückspiegel. Eine kitzlige
Aufregung hat sie ergriffen, jetzt, da das Auto sich bewegt und
Teil des Verkehrs wird, der sie kurz zurück führt in die
Prinzenstraße, um dann mit ihr in Richtung Autobahn zu rollen.
Auf der rechten Seite kann sie die Sportplätze erkennen, auf
denen die Mannschaften des VfB Mittelstedt trainieren, auf
denen sie einst ihr Team stolz machen konnte und sogar ihren
Trainer. Danach Lagerhallen und Werkstätten – geschlossen,
verwahrlost und trist. Dann die Möbelhäuser, der Sportflughafen,
das Autobahnkreuz. Immer breiter wird die Straße. Ihre
Verachtung für Navigationssysteme, hinter der die Weigerung
steht, sich etwas diktieren zu lassen, lässt sie sich auf Instinkte
verlassen. Gleich nach dem Tunnel wird die Ausfahrt der
Stadtautobahn angekündigt, Bunny müsste eine Richtung wählen.
Doch ihr hungriger Kopf verweigert Entscheidungen. Nach Berlin
will sie nicht, aber es ist zu spät, die Spur zu wechseln, höchstens
eine käme sie noch weiter nach links und die würde sie nur zurück
bringen. Sie wird eine Lösung finden. Ans Meer könnte sie fahren,
zu Franzi und Jasper. Zu Ostern haben sie die beiden besucht,
aber Hannes und Franzi wussten nicht viel miteinander
anzufangen. Sie meldet sich nur noch selten bei Bunny, vor ein
paar Tagen kam eine Sammelmail mit einem Spendenaufruf für
Jaspers Schulfest. Langsam wird das Auto kühler, sie lässt die
Fenster wieder hoch. Sie zeigen ihr bunte Unschärfen, hinter
denen sie sonnige Landschaften erahnen kann, Kühe, die
zusammen unter Bäumen stehen, Raststätten mit
Systemgastronomie. Sie dreht am Radio, sucht einen Sender
ihrer Kindheit und findet blurred lines. Mit dem Sommerhit des
Vorjahres auf vier Reifen geradeaus.
Nichts an dieser Welt gibt es, das ihre Fahrt anzeigt, das
Eigenmächtige daran, das Sträfliche. Kein Wechsel in Farben,
Tönen oder Schwingungen, alles bleibt weiter ein Sommertag.
Bunny ist überrascht, wie unkompliziert es ist, einfach
wegzufahren, wie gut es sich anfühlt. Diese Welt ist voller Ruhe.
Sie wird einfach darin verschwinden können.
Schwangeren verzeiht man doch alles, ob sie wollen oder nicht.
Morde, bequeme Klamotten, Appetit und andere Impulsivitäten.
Sie will nicht nach Berlin. Sie will in die andere Richtung.
Menschenleer und zeitenlos. Echte Gerüche, echtes Essen, viel
Wind. Die paar Wochen, die es her ist, dass sie das Salzwasser
berührt hat, kommen ihr ewig vor. Einfach hinein legen könnte sie
sich, sich treiben lassen auf der Frische der Ostsee. Auch nachts
noch mal an den Strand, die Lichter, die Wellen. Nur dort können
sie dieses Kind gemacht haben. Wie schön es wäre
zurückzukehren, wie einfach. Noch ein bisschen durch den Abend
fahren und dann ein kühles Bett wärmen bis die Hähne krähen.
Eine Abfahrt nach der anderen bleibt am rechten Straßenrand
liegen. Bunny kann sich nicht entscheiden. Aber das Auto fühlt
sich gut an und bald wird sie irgendwo etwas essen. Um dann
weiter zu fahren, immer weiter. Immer geradeaus. Neben all den
anderen Autos, die wie aufgefädelt nebeneinander her rasen und
weder einander noch ihre Umwelt zu bedrohen scheinen, die ihre
Fahrer vergessen lassen, was passiert, wenn jemand Fehler
macht, Menschen, Maschinen oder die Tiere an den
Straßenrändern. Vergessen.
[Auszug]
ganzes Buch