Einführung in die Risikoforschung 280417 VO Ringvorlesung Modul 2: Sozialwissenschaftliche...
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Einführung in die Risikoforschung280417 VO Ringvorlesung
Modul 2:
Sozialwissenschaftliche Risikokonzepte
© Peter Weichhart Institut für Geographie und Regionalforschung
der FGGA
P229/SWRK01
„Risiko“ – ein „schillernder“ Begriff
P229/SWRK02
„Der Begriff des Risikos besitzt demnach alle Nachteileeines nicht definierten Begriffs, nämlich Uneindeutigkeit,
Widersprüchlichkeit und hohe Fluktuation der Bedeutungen“
(A. GAZSÓ, Modul 1, S. 1).
Wie gehen wir mit solchen „schillernden Begriffen“ um?
Macht es Sinn, nach der „wahren Bedeutung“ des Begriffszu suchen? („Was bedeutet ,Risiko‘ eigentlich?“)
Nein, denn es gibt keine „wahren Bedeutungen“ oder absolut zu setzenden Definitionen von Begriffen
Ein Lösungsansatz: Sprachpragmatik
P229/SWRK03
„„Was ist ,Risiko‘?“Was ist ,Risiko‘?“ Sprach-realistischeFragehaltungUmformulierung:Umformulierung:
Sprach-pragmatischeFragehaltung
„„In welcher In welcher BedeutungBedeutungwird das Wort ,Risiko‘wird das Wort ,Risiko‘
von von wemwemzu welchem zu welchem ZweckZweck ver- ver-
wendet?“wendet?“
Methodische Ansätze zur Rekonstruktion von Begriffsbedeutungen
P229/SWRK04
• DiskursanalyseDiskurse sind „… öffentliche, geplante und organisierte Diskussions-prozesse …, die sich auf je spezifische Themen von allgemeinem gesellschaftlichen Belang beziehen. In der Verwendung dieses Be-griffs kommt eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die gesellschaft-liche Bedeutung von Kommunikations- und Argumentationspro-zessen sowie der sprachvermittelten Wahrnehmung bzw. Konstruk-tion von Wirklichkeit zum Ausdruck.“
(R. KELLER et al., 2001, S. 7)
Die Diskursanalyse lässt sich auch zur Rekonstruktion von wissen-schaftlichen Diskursen einsetzen.
Theoretische Grundlegung u. a. durch Michel FOUCAULT.
Wichtiger Ansatz, erste Versuche einer diskursanalytische Behand-lung des Risikobegriffs finden sich etwa bei Ch. LAU (z. B. 1989).
P229/SWRK05
Methodische Ansätze zur Rekonstruktion von Begriffsbedeutungen
• Distinktionstheoretische Zugänge (R. JOKISCH, 1996)
Informationsverarbeitung, Denkprozesse und Beobachtungen sindnur dann möglich, wenn wir in der Lage sind, Differenzen oderUnterschiede wahrzunehmen.
Die Reflexion einer solchen Beobachtungspraxis wird als Distinktionstheorie bezeichnet. „Eine solche Theorie der Distinktionenermöglicht es uns, jegliche Identität, die wir im Alltag beobachten, wissenschaftlich als eine Form von Distinktion zu erschließen.“
(R. JOKISCH, 1999, S. 83)
(„Distinktion“ bei Pierre BOURDIEU: soziale Handlungspraxis von Subjekten zur „Inszenierung“ der eigenen Person und ihrer Positio-nierung in der Statushierarchie des Sozialsystems.)
Gedankenexperiment zur Distinktion I
P229/SWRK06
B. L. WHORF, 1963, S. 9: „Wie würde eine Welt aussehen,in der alles, also restlos alles in ihr blau wäre?“
„Die Antwort müsste lauten: Man würde die Farbe Blau gar nicht zur Kenntnis nehmen und somit gar nicht wissen kön-nen, dass die Welt tatsächlich blau ist. Warum? Weil es da-bei in so einer Welt nur eine einzige Farbe gäbe, die bar jeglichen Unterschieds zu anderen Farben wäre, also bar jeglicher farblicher Distinktion. Mehr noch, man würde nicht einmal mit der Bezeichnung Farbe etwas anfangen können.Ich kann die Farbe Blau in ihrer Qualität erst dann wahrneh-men, wenn ich das Auge ab und zu auch einmal auf eine andere Farbe, wie zum Beispiel Gelb, richte.“
(R. JOKISCH, 1999, S. 83/84)
P229/SWRK07
Gedankenexperiment zur Distinktion II
„Ein zweites Gedankenexperiment verbirgt sich hinter der Aussage: ,Fische sind die einzigen Tiere, die nicht wissen,was Wasser ist.‘ Warum? Weil Fische sich im Medium Wasser bewegen und weil es für sie zu diesem Medium keine Alternative gibt. Es existiert — für Fische — zum Wasser nichts Gleichwertiges, was von ihm distinguiert werden könnte. Erst der Wechsel von Wasser und Luft weckt das Bewusstsein für die Eigenart des Wassers.“
(R. JOKISCH, 1999, S. 83/84)
„Leitdifferenz“ bei N. LUHMANN
P229/SWRK08
Ursprünglich zur Charakterisierung „gesellschaftlicher Teil-Systeme“ (Wirtschaft, Recht, Politik,…) verwendet. DieseSysteme orientieren sich an einer Leitdifferenz, die auch als „Code“ des Systems bezeichnet wird.
In der Zwischenzeit wurde der Begriff aus dem Kontext derLUHMANNschen Systemtheorie gleichsam herausgelöstund als generelles analytisches Konzept im Sinne derDistinktionstheorie verwendet.„normal“ versus „pathologisch“, „abhängig“ versus „unab-hängig“ etc.
„Wahrheit“ versus „Nichtwahrheit“ als Leitdifferenz der Wis-senschaft, „Recht“ versus „Unrecht“ im Rechtssystem etc.
George SPENCER BROWN, 1969, Laws of Form
Distinktionstheorie und „schillernde“ Begriffe
P229/SWRK09
These: „Schillernde“ Begriffe haben mehrwertige Distinktionsvalenzen.
Eine Rekonstruktion der verschiedenen Distinktionsvari-anten in gleichen oder unterschiedlichen Diskurszusam-menhängen erscheint besonders hilfreich, um die Dimen-sionalität von Begriffen und ihre Brauchbarkeit für wissen-schaftliche Fragestellungen und Erkenntnisobjekte abzu-klären. Diese Methode lässt sich auch für Attribute an-wenden, die den Begriffen zugeschrieben werden.
Distinktionsdimension„Risiko vs. Chance“
P229/SWRK10
Diese Dimension steht in ökonomischen Diskursen im Vordergrund. Sie ist mit den Attributzuschreibungen „Un-sicherheit“ und „Ertrag“ verknüpft.
„Risiko“ bezeichnet den Sachverhalt, „… dass die wirt-schaftlichen Folgen von Handlungen unsicher sind, wobeiabweichend von der Alltagssprache neben den ungünsti-gen auch die günstigen ,Überraschungen‘ gemeint sind.“
F. HOLZHEU, 1987, S. 12
(Im Rahmen dieser Dimension ist also auch ein Lotto-Sechser im Kontext von „Risiko“ zu diskutieren!)
„Risiko vs. Chance“
P229/SWRK11
„Als Risiko bezeichnet man bei unternehmerischen Ent-scheidungen die Möglichkeit der Abweichung des tatsäch-lichen Ertrages vom erwarteten Ertrag.“
A. KYRER, 2005, S. 105
Ökonomische Grundregel: Ergiebigere Formen ökonomi-schen Handelns sind in der Regel mit größerer Unsicher-heit behaftet. „Insofern kostet mehr Sicherheit einen Ver-zicht auf an sich mögliche ergiebigere Produktion, also aufRealeinkommen.“ F. HOLZHEU, 1987, S. 13
WICHTIG: Bei dieser Dimension stehen ein aktives Handelnmenschlicher Akteure sowie ein bewusstes Entscheidungs-kalkül im Vordergrund.
P229/SWRK12
„Risiko vs. Chance“
RisikoEntscheidung
unter Unsicherheit
ChanceEntscheidung
unter Unsicherheit
Attributzuschreibungen:
• Eintretenswahrscheinlichkeit
• Ertrag
• Information• …
P229/SWRK13
„Risiko vs. Chance“Attributzuschreibung „Eintretenswahrscheinlichkeit“
„Dreier-Distinktion“:
Diese Attribut-zuschreibung istauch für andereDistinktionsdimen-sionen relevant!
UnsicherheitEintretenswahr-scheinlichkeit:
< 1kalkulierbar
Sicherheit1
Eintretenswahr-scheinlichkeit:
1
UngewissheitKontingenz
(Nichtnotwendigkeit)nicht kalkulierbar
30-jährigesEreignis
11. Sept.
„Beurteilungs-sicherheit“
P229/SWRK14
„Risiko vs. Chance“Attributzuschreibung „Ertrag“
Schaden,Verlust
Nutzen,Gewinn
Attributausprägungen:
• monetär• ideell• psychisch (Verunsicherung, Angst, Identität …)• sozial (Prestige, Sozialkapital …)• Handlungspotenzial (Action potential)• individualisiert vs. sozialisiert (Pesos-Krise)• …
P229/SWRK15
Distinktionsdimension„Risiko vs. Sicherheit“
Achtung, hier geht es um „Sicherheit2“: Abwesenheit einerpersönlichen (existenziell bedeutsamen) Gefährdung.
RisikoExponiertheitgegenüberGefährdung
Sicherheit2
Abwesenheitvon
Gefährdung
Attributausprägungen:• Gefährdung von Gesundheit und Leben, „Personenschaden“• Sachschaden• Nutzungseinschränkungen• Vulnerabilität • …
Risiko vs. Sicherheit
P229/SWRK16
Achtung: „Sicherheit1,2“ ist eine Illusion!
Das eigentliche Problem liegt darin, dass wir die Zukunft nicht wissen können.
Für N. LUHMANN folgen Risikoprobleme aus dem Span-nungsverhältnis zwischen Zeitdimension und Sachdimen-sion. „… im Falle von Risiken handelt es sich ja gerade nicht um eine Zukunft, bei der man gegenwärtig schon festlegen kann, wie andere sich in zukünftigen Situationenverhalten sollen“ (1991, S. 67).
„Risikoprobleme vereinigen gewissermaßen zeitliche und soziale Kontingenz.“
(J. WEICHSELGARTNER, 2002, S. 77)
P229/SWRK17
Risiko vs. Sicherheit„Sicherheit1,2“ täuscht vor, „…dass man, wenn man das Risiko nicht eingehe, ,sicher‘ handle. Da aber auch ein Nicht-Handeln riskant ist, kann es eine solche Sicherheit nicht geben. Die Sicherheit dient nur als Reflexionsbegriff und ist in Wirklichkeit ein leeres Konzept: Man gewinnt sie nie, und man kann sie auch nie erreichen. Und zwar … auch durch Wissenschaft nicht. Denn … (es gibt) … nochkeine wissenschaftlichen Verfahren, die die zeitliche Diffe-renz von Entscheidungsgegenwart und Folgegegenwartaufheben können.“ (J. WEICHSELGARTNER, 2002, S. 77)
„Sicherheit in Bezug auf das Nichteintreten künftiger Nach-teile kann es gar nicht geben. Deshalb ist der Sicherheits-begriff eine soziale Fiktion.“ (R. JOKISCH, 2000, § 11)
Distinktionsdimension„Risiko vs. Gefahr“
P229/SWRK18
Der Soziologe Niklas LUHMANN (1990, 1991) deutet denRisikobegriff neu und führt damit eine wichtige Attributdi-mension ein, die für die „Zweite Moderne“ von besondererBedeutung ist:„Als Gefahr kann man jede nicht allzu unwahrscheinlichenegative Einwirkung auf den eigenen Lebenskreis bezeich-nen, etwa die Gefahr, dass ein Blitz einschlägt und dasHaus abbrennt. Von Risiko sollte man dagegen nur spre-chen, wenn die Nachteile einer eigenen Entscheidung zu-gerechnet werden müssen. Risiko ist mithin, anders als dieGefahr, ein Aspekt von Entscheidungen, eine einzukalku-lierende Folge der eigenen Entscheidung.“
(N. LUHMANN, 1997, S. 327)
Risiko vs. Gefahr
P229/SWRK19
„Die Unterscheidung von Gefahren und Risiken macht so-gleich klar, dass die technologische Entwicklung, auch wenn sie in sich relativ ungefährlich wäre, zu einem An-schwellen der Risiken führt. Sie transformiert Gefahren in Risiken einfach dadurch, dass sie vorher nicht gegebeneEntscheidungsmöglichkeiten schafft. Wenn es Regenschir-me gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben. Die Gefahr,dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, dasman eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn ir-gendwo liegenzulassen.“
(N. LUHMANNN, 1997, S. 328)
(sic!)
P229/SWRK20
Risiko vs. Gefahr
RisikoNachteile, die als Folge einer eige-
nen Entscheidung erwachsen
GefahrNachteile, die vomBetroffenen nicht
verursacht oder be-wirkt werden
Attributdimension:
Entscheider Betroffene
Warum ist diese Distinktionsdimension wichtig?
P229/SWRK21
Risiko vs. Gefahr
Diese Distinktionsdimension ist deshalb besonders wichtig,weil in der Zweiten Moderne (~ Spätmoderne, ~ Postmoder-ne, ~ Postfordismus) die Entscheider häufig nicht ident sindmit den Betroffenen (U. BECK, 1986, Risikogesellschaft).
Dadurch werden Risiken in Gefahren transformiert!
In der Geschichte der Menschheit bis zur Gegenwart hat sich das Verhältnis von Risiko und Gefahr und dessen Deu-tung wesentlich verändert.
P229/SWRK22
Risiko vs. Gefahr• Vormoderne („traditionelle Risiken“)
In Anlehnung an Ch. Lau, 1989, U. BECK, 1986, und M. HOLZINGER, 1992
Risiken sind individuell zurechenbar und zeitlich begrenzt.Sie werden freiwillig eingegangen in der Befolgung grup-penspezifischer Verhaltensregeln. Sie sind sozial normiert,sanktioniert und wirken gemeinschaftsstiftend (Risikoritu-ale: Duell, Mensur). Die Schadensfolgen trägt der Ent-scheider. Entscheider und Betroffene sind ident.
Gefahren werden durch „höhere Gewalt“ verursacht (Gott,„die Natur“, Schicksal). Die Schadensfolgen tragen die Be-troffenen.
P229/SWRK23In Anlehnung an Ch. Lau, 1989, U. BECK, 1986, und M. HOLZINGER, 1992
Risiko vs. Gefahr
• Moderne („Industriell-wohlfahrtsstaatliche Risiken“)
Risiken werden der Rationalisierung unterworfen und wahrscheinlichkeitstheoretisch kalkuliert. Risikokostenwerden durch die Institutionalisierung des Versicherungs-wesens vergesellschaftet. Sie werden als Kostenfaktorindividueller, betrieblicher und staatlicher Kalkulation zumGegenstand von Aushandlungsprozessen zwischen öko-nomischen Interessengruppen. Ablösung moralischer Risikozurechnung durch ökonomische Nutzenkalküle.
Viele Gefahren werden durch neue Entscheidungsmög-lichkeiten und technische Schutzmöglichkeiten in Risikentransformiert.
P229/SWRK24In Anlehnung an Ch. Lau, 1989, U. BECK, 1986, und M. HOLZINGER, 1992
Risiko vs. Gefahr• Zweite Moderne (Risikogesellschaft, „Neue Risiken“)
Risiken sind gleichsam Mischformen aus industriell-wohl-fahrtsstaatlichen Risiken und allgemeinen Lebensge-fahren. Man ist von ihnen unfreiwillig betroffen, obwohlsie ihre Ursachen in Entscheidungen und Handlungen von Individuen und Institutionen haben. Es handelt sich um nicht intendierte Handlungsfolgen, wobei ein syste-matisches Auseinanderfallen von Risikoverursachung und Risikobetroffenheit charakteristisch ist.
Dadurch werden Risiken in Gefahren transformiert. (Anthropogener Klimawandel und seine Folgen, Tschernobyl.)
Risiko vs. Gefahr
P229/SWRK25
Das Beispiel Katrinaund New Orleans
Katrina und New Orleans
P229/SWRK26
New Orleans und seine Bewohner
Hurrican KatrinaNaturereignis
Transformation in eine Natur-katastrophe
Ökonomische und politischeAkteure treffen Entscheidun-gen, setzen Handlungen (in
Tokyo, London, New York …)und gehen damit Risiken ein.
Nicht intendierte Handlungs-folgen: anthropogener Klima-wandel, Erwärmung der tropi-
schen Meere etc.
Ökon. & pol. Akteuretreffen Entscheidun-gen (Wachstum der
Stadt an einem Stand-ort unter dem Meeres-
spiegel), Risiko
Dämme und Schutz-maßnahmen
Ein Teil der Bewohner geht das Risiko ein, hier zu leben; viele an-dere haben keine Wahl. Für sie war Katrina nicht Risiko, sondern
Gefahr.
Transformation von Gefahr in Risiko
Transformation von Risiko in Gefahr
Risiko?Risiko?Gefahr?Gefahr?
Was war das „Lehrziel“, die „Botschaft“?
P229/SWRK27
• Verwirrung stiften• Mehrdimensionalität des Risikobegriffs thematisieren
• Vorschläge für den methodischen Umgang mit dieser Mehrdimensionalität machen
• Skepsis gegenüber den Verkürzungen des gängigen Risikobegriffs (Eintrittswahrscheinlichkeit x Schadens- höhe) produzieren
• zu systematischer Grundlagenreflexion anregen
• quaternio terminorum vermeiden helfen
Quaternio terminorum
P229/SWRK28
(Vierzahl der Begriffe)
Wenn A, dann Risikowenn Risiko, dann B
Nun aber A, daher B
Wenn A, dann Risiko1
wenn Risiko2, dann B
Nun aber A, daher B