Einführung in die Erziehungs- und...
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Einführung in die Erziehungs- undSozialisationsforschung:Die strukturgenetischeEntwicklungstheorie
Vorlesung im SS 2004von Prof. Dr. Sabine Walper
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie
Jean Piaget(1896 – 1980)
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie
Jean Piaget(1896 – 1980)
• Grundzüge der TheorieJean Piagets
• Die vier Hauptstadiender Entwicklung
• Die Entwicklung desmoralischen Denkensnach LawrenceKohlberg
• Neuere Theorie-Entwicklungen
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie vonJean Piaget (1896 – 1980)
Fokus: Entwicklung von Erkenntnisprozessen:
• Wahrnehmung• Kategorien Raum und Zeit• Begriffsbildung• Mengen- und Zahlkonzepte• Logische Verknüpfungen und Ableitungen
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Ausgangspunkt: Kritik am Assoziationismus
§ Kann deskriptiven Reichtum an Verhaltens- undErkenntnisinhalten nicht annähernd angemessenabbilden
§ Beschreibt Beziehungen („Assoziation“) nurunter dem Aspekt der zeitlichen Abfolge, nicht als:räumliche, soziale, kausale, verwandtschaftliche,logische Beziehung
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Schema, Struktur: kategoriale Zusammenfassung von Handlungsweisen; hypothetisches Konstrukt
Strukturalismus: Fokus auf allgemeine Strukturentwicklung
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Stufentheorie der Entwicklung:
§Entwicklungsstufen sind charakterisiert durch die Struktur, die ausHandlungen und Denkleistungen erschlossen wird.
§Die Abfolge von Entwicklungsstufen folgt einer notwendigen Sequenz.
§Diese Stufenfolge ist bedingt durch zunehmende Komplexität derDenkleistungen.
§Die Entwicklung des Denkens erfolgt durch die Äquilibration kognitiverStruktur: Selbstregulationsprozesse der Denkentwicklung angesichts kognitiverKonflikte.
→ Konstruktivismus
Die strukturgenetische Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Auseinandersetzung mit der Umwelt erfolgt durch
• Assimilation:
„Einverleibung“ eines Gegenstandes in ein Schema
• Akkomodation:
Anpassung des Schemas an den Gegenstand
4 Hauptstadien der Entwicklung
I) Sensumotorische Entwicklung
• Übung angeborener Reflexe: Konsolidierung dergegebenen Schemata
• Primäre Kreisreaktionen: Wiederholung vonHandlungen, die zu angenehmen Ergebnissengeführt haben; „generalisierende Assimilation“
• sekundäre Kreisreaktionen: Handlung als Mittelzum Zweck
Sensumotorische Entwicklung (Fortsetzung)• Koordinierung der erworbenen Handlungsschemata und
ihre Anwendung auf neue Situationen: SystematischeAnwendung mehrerer Handlungsschemata auf den gleichenGegenstand; Koordination (z.B. Greifen und Werfen,Hinkrabbeln etc.)
• Tertiäre Kreisreaktionen: Entdeckung neuerHandlungsschemata durch aktives Experimentieren
• Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zurVorstellung: Antizipation von Handlungsergebnissen inder Vorstellung durch Verinnerlichung von Handlungen
4 Hauptstadien der Entwicklung
4 Hauptstadien der Entwicklung
II) Präoperationales, anschauliches Denken
Überblick:
• Unangemessene Generalisierungen
• Egozentrismus des Kindes
• Zentrierung auf einen oder wenige Aspekte derSituation
• Zentrierung auf Zustände, Vernachlässigung derTransformationen, die zu Zuständen führen
• Eingeschränkte „Beweglichkeit“ des Denkens
• Fehlendes Gleichgewicht: Widersprüche im Denken
Präoperationales, anschauliches Denken (Forts.)
Unangemessene Generalisierungen
→ Assimilation an Schemata, z.B.:
• animistische Deutungen in der Wahrnehmung unbelebterObjekte
• finalistische Erklärungen
• artifizialistische Naturdeutung
Korrektur fehlerhafter Assimilation durch Akkomodation
4 Hauptstadien der Entwicklung
Präoperationales, anschauliches Denken (Fortsetzung)
Egozentrismus des Kindes:
• Unfähigkeit, sich in die Rolle / Perspektive eines anderenhineinzuversetzen,
• Unfähigkeit, die eigene Perspektive als eine von mehrerenMöglichkeiten zu erkennen
z.B. Drei-Berge-Aufgabe
Entwicklungs“motor“: (sozial vermittelte) kognitive Konflikte
4 Hauptstadien der Entwicklung
Die Drei-Berge-Aufgabe
Kann sich das Kind im präoperationalen Stadium vorstellen,dass die drei Berge vom Standpunkt eines gegenübersitzenden Betrachters (z.B: Position 2) anders aussehen alsvon seinem eigenen (z.B. Position 1)?
Die Drei-Berge-Aufgabe
„Gegenuntersuchung“ von Helen Borke (1975):
Ist der mangelnde Bezug des Materials (Berge) zur eigenenErfahrungswelt der Kinder ausschlaggebend für ihre„Unfähigkeit“ zur Dezentrierung?
Neue Untersuchung mit Haus, Kuh, Pferd und See, auf demein Boot schwimmt. Zusätzlich: Puppe Grobi (Sesamstrasse)als anderer Betrachter.
∅Bereits dreijährige können richtige Antworten geben
Präoperationales, anschauliches Denken (Fortsetzung)
Zentrierung auf einen oder wenige Aspekte derSituation
Beschränkung des Urteilsfeldes, z.B.
• Zirkuläre Erklärungen
• Probleme mit dem physikalischen Mengenbegriff(Umschütt-Aufgabe)
• Kategorisierungen „de proche en proche“
• Moralisches Urteil: Fokus auf Schaden statt Intention
4 Hauptstadien der Entwicklung
Die Umschütt-Aufgabe
Ist im rechten Glas (B‘) mehr oder weniger als im mittlerenGlas (B), wenn man den Inhalt (von B in B‘) umfüllt?
Präoperationales, anschauliches Denken (Fortsetzung)
• Zentrierung auf Zustände, Vernachlässigung derTransformationen, die zu Zuständen führen
• Eingeschränkte „Beweglichkeit“ des Denkens
• Fehlendes Gleichgewicht: Widersprüche im Denken
z.B. Klasseninklusion: denken ist unidirektional, abernicht reversibel
Überwindung durch Konstruktion umfassender Systeme der Verschachtelung von Klassen
4 Hauptstadien der Entwicklung
Klasseninklusion
Lebensmittel
Feste Nahrung Flüssige Nahrung
Obst Gemüse Getreide-produkte
Fleisch
Äpfel Birnen
Boskop Elstar
III) Konkret-operationales Denken
(Beginn zwischen 5. und 6. Lebensjahr)
Leistungen:• Klassenhierarchien• Logische Multiplikation von Klassen• Systeme der Reihenbildung• Zeit und Raum• Zahlensysteme
4 Hauptstadien der Entwicklung
Logische Multiplikation von Klassen:Der Raven-Test
Welche Lösung gehört in das Feld unten Mitte?Wähle zwischen den Formen auf der rechten Seite.
IV) Formal-operationales Denken(ab 10. Lebensjahr)
• geht über gegebene Information hinaus (Bsp.Pendel-Aufgabe)
• Aufbau kombinatorischer Systeme→ Variablenkontrolle und Hypothesenbildung
• erhöhte Beweglichkeit des Denkens durch zweiFormen der Reversibilität: Negation und Reziprozität
(z.B. Hebelgesetze)
• Verständnis von Proportionen
4 Hauptstadien der Entwicklung
Implikationen für Lernanordnungen :
ØBeweglichkeits-Übungen
ØInduktion kognitiver Konflikte und Auflösung
von Widersprüchen durch Umstrukturierung
§ Methoden der selbsttätigen Entdeckung
§ Offener Unterricht
§ Lernen unter Gleichaltrigen
Entwicklung des moralischen Urteils:Die Stufentheorie von Lawrence Kohlberg
Rekonstruktion der kognitiven Strukturiertheit von Argumentationenin moralischen Konfliktsituationen
Grundlagen: kognitive Entwicklungstheorie von Jean Piaget
Theorie der Gerechtigkeit von Rawls
3 Niveaus mit insgesamt 6 Stufen:
I: Präkonventionelles Niveau
II: Konventionelles Niveau
III: Postkonventionelles Niveau
Entwicklung des moralischen Urteils:Die Stufentheorie von Lawrence Kohlberg
Untersuchung des Moralischen Urteils anhand der„klinischen Methode“ mit Interviews zumoralischen Dilemmata (z.B. das Heinz-Dilemma)
I: Präkonventionelles Niveau
Stufe 1:
Orientierung an Strafe und Gehorsam
Stufe 2:
instrumentelle Orientierung an eigenen Bedürfnissen;
Reziprizität im Sinne von „eine Hand wäscht die andere“
Entwicklung des moralischen Urteils:Die Stufentheorie von Lawrence Kohlberg
II. Konventionelles Niveau
Stufe 3:
Orientierung am Erhalt wichtiger Sozialbeziehungen:„Good boy, nice girl“-Argumentation;
Familie und andere Primärgruppen als Bezugsrahmen
Stufe 4:
Orientierung an staatlichen Systemen;
„law-and-order“-Argumentation: Erfüllung der Regeln einesgegebenen Rechts- und Ordnungssystems
Entwicklung des moralischen Urteils:Die Stufentheorie von Lawrence Kohlberg
III. Postkonventionelles Niveau
Stufe 5:
Verständnis des Systems als Gesellschaftsvertrag;
oft utilitaristische Argumente: Gewinnmaximierung fürmöglichst viele;
zunehmend wichtig: Gerechtigkeit der Entscheidungs-findung
Stufe 6:
Prinzipien, etwa i.S. des kategorischen Imperativs von Kant
Förderung des moralischen Urteilsdurch...
• Gezielte Induktion kognitiver Konflikte („N + 1“)• Diskussion normativer / moralischer Fragen• Demokratische Entscheidungsstrukturen• Das Prinzip der Eigenverantwortung
Grundlage der Entwicklung desmoralischen Denkens:
∅Soziale Perspektivenübernahme (Robert Selman)
Untersuchungen zur Perspektiven- / Rollenübernahme-Fähigkeit im Kindesalter
(Selman, Chandler, M. Keller)∪
Children‘s Theory of Mind(z.B. die Maxi-Aufgabe)
(Perner, Wimmer, Sodian, Harris)