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Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall Michel Serres edition suhrkamp SV

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Was genau war früher besser?Ein optimistischer Wutanfall

Michel Serres edition suhrkamp

SV SV

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Die französischeOriginalausgabe dieses Buches erschien unter demTitel C’était mieux avant bei Éditions Le Pommier (Paris).

Erste Auflage edition suhrkamp

SonderdruckDeutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasdes öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Photographie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Umschlaggestaltung/Umschlagabbildung: Olivier RollerPrinted in Germany

ISBN ----

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Durch den steilen Anstieg der Lebenserwartung bevöl-kert sich unser schönes Land mit dem, was man dümm-lich-verschämt Senioren nennt. Ich bin einer dieserGreise. Viele von ihnen verklären, wie wir sehen wer-den, ihre Jugend. Andererseits nörgeln sie. Denn obGreis oder Kind, Frau oder Mann, reich oder arm,rechts oder links, gläubig oder gottlos, ob Galloroma-ne oder Okzitanier, Bretone oder Picarde, Elsässer,Korse, Baske – seit den Zeiten unserer gallischen Vor-väter regt der Franzose sich auf, er kritisiert, mault,meckert, schimpft, empört sich, fährt aus derHaut, ge-rät in Wut. Mindestens dreimal die Woche ziert diesesWort die Titelseiten unserer Zeitungen. Auch die zuFratzen entstellten Gesichter, von denen es auf Fran-çois Rudes La Marseillaise, dem Hochrelief auf demrechten Pfeiler des Arc de Triomphe, wimmelt, schreienjenenZorn hinaus, für denunsere schlechtgelaunteNa-tion bekannt ist.

Greise plus Nörgler, zwei nichtexklusive Populationen.Ihre Summe oder Mischung verwandelt unser Frank-reich in einen Tummelplatz von Meckergreisen. Längstin der Überzahl und also zu einer gewichtigenWähler-gruppe geworden, sind diese redseligen Choleriker zu-gleich stets bemüht, die Erfolge ihres Daseins ins rech-

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te Licht zu rücken. Und so erzählen sie Däumelinchen,jener Arbeitslosen oder Praktikantin, die allerdingsnoch lange für dieseRentner wird zahlenmüssen: »Frü-her war alles besser.«

Das trifft sich gut, denn bei diesem Früher, da war ichschließlich dabei. Ich kann ein Expertenurteil abgeben.Hier ist es.

Caudillo, Duce, Führer, Großer Vorsitzender …

Früher wurden wir von Mussolini und Franco regiert,von Hitler, Lenin und Stalin, Mao, Pol Pot, Ceauses-cu … alles gute Leute, ausgewiesene Spezialisten fürVernichtungslager und Folter, Massenhinrichtungen,Kriege und Säuberungen. Verglichen mit diesen illu-stren Akteuren wirkt so ein demokratischer Präsidenteher blaß, es sei denn, er nötigt eine besiegte Nation,den demütigenden Versailler Vertrag zu unterzeichnen,überzieht Dresden mit Bombenteppichen oder zündeteine Atombombe, um die Zivilbevölkerung von Hiro-shima und Nagasaki auszulöschen.

Unsere Kindheit stand im Bann dieses politischen. Jahrhunderts.Wie oft zwang man uns, vor gehißterFlagge die Nationalhymne zu singen? Bei wie vielenAufmärschen mußten wir als Kinder mitlaufen, zu Eh-

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ren von Marionetten, die ihre politischen Meinun-genwechselten, wie es dieMachtverhältnisse gerade er-forderten? Wie viele Lügen hat man uns aufgetischt?Wie viele Gefolterte haben wir schreien hören, wieviele Leichen von Freunden in den Gräben sehenmüssen?

Krieg und Frieden

Früher, da zogen unsere Vorfahren in den Krieg von und unsere noch jungen Väter in den von ,in dem fast alle unsere Bauern fielen. Es folgten derBürgerkrieg in Spanien, dessenGrausamkeiten daswun-dervolle Landmit Blut tränkten, dann der ZweiteWelt-krieg mit all seinen rassistischen Greueln und schließ-lich die Kolonialkriege, in Indochina und Algerien,wo ich selbst unter Waffen stand. Mein Großvater ent-ging in der Schlacht von Sedan nur knapp dem Tod,mein Vater wurde im Bombenhagel von Verdun vonKampfgasen vergiftet, und ichmußte die Suezkrisehin-termich bringen. So kanntenmeine Familie und ich einJahrhundert lang nichts als Krieg, Krieg, Krieg… Vonder Geburt bis zum Erwachsenenalter hat er meinenKörper geformt, Arme und Beine, Herz und Hirn,der Krieg, der Krieg und wieder der Krieg.

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Seither haben wir fast fünfundsiebzig Jahre Frieden er-lebt, was es zumindest inWesteuropa seit der Ilias oderderPaxRomananie gegebenhat. EswarmeineGenera-tion, die Kriegsgeneration, die diesen sechs bis siebenJahrzehnten, die glücklicher waren als die Blutbädervon einst, den Boden bereitete und sieWirklichkeit wer-den ließ. Aber die Ruhe des Friedens verleitet zumVer-gessen, während wir das Getöse und die Raserei derKämpfenie ausdemGedächtnis verlierenwerden. StädteundDörfer errichten garGefallenendenkmäler, auf de-nen in kaum zu ertragenden Listen der Toten gedachtwird.Hat unserMeckergreis Gedächtnislücken? Läufter nie über die inzwischen leeren Dorfplätze? Ist derFriede von heute weniger unterhaltsam als die Kriegevon einst?

Früher fielen den fortwährendenGemetzeln und ande-ren Staatsverbrechen, demGulag oder der Shoah, Dut-zendeMillionen zumOpfer. Statistiken sagen, daß vordem letzten Jahrhundert die Zahl derer, die an Infek-tionskrankheiten starben, stets über der Zahl derKriegs-opfer lag. Das . Jahrhundertwar das erste, in demdasGrauen der Schlachtfelder mehr Tote gefordert hat alsdie Arglist der Mikroben. Das strategische Wissen fei-erte einen glanzvollen Sieg über die tückischen Winz-linge. Um den Tötungsrekord noch zu übertreffen, er-sannen findige Experten Kampfflugzeuge, chemischeWaffen undAtombomben; und unsere Eliten träumtenvon massiven Zerstörungen.Welche Meisterwerke der

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Planung und Fertigung haben wir doch früher hervor-gebracht!

Nie hatte das Abendland in Wissenschaft und Kunst,Malerei und Musik, Elektrotechnik, Quantenmecha-nik und Chemie,Technik und Transportwesen, Alltags-leben und Komfort solche kulturellen Höhen erreichtwie zu der Zeit, bevor diese Verbrechen begannen. Niezuvor hatte es eine solcheBlüte derFreiheit undDemo-kratie gekannt, ganz zu schweigen vom Völkerbund,dem Roten Kreuz sowie ungezählten pazifistischen,egalitären und emanzipatorischen Bewegungen, diewir miterlebt und mitunter auch unterstützt haben.Der Abgrund der Verrohung, in den wir gestürzt sind,und die Zahl der Leichen, die unsere aberwitzigeGrau-samkeit angehäuft hat, erstaunen weniger als die Bezie-hung zwischen diesenGreuelnund einem solchenGip-fel der Kultur.Aber wovor schützt sie uns dann, die Kultur?

Früher, nämlich während der Besatzung, tauchten andenMauern von Paris und anderen französischen Städ-ten mit einem Mal zahllose deutsche Wörter auf. Dashat mich den Abscheu vor herrschenden Sprachen ge-lehrt und die Liebe zu denen, die man auslöschen will.Da mir heute an den gleichen Orten mehr amerikani-sche Wörter begegnen als seinerzeit deutsche, die sichan die Nazis richteten, versuche ich, die französischeSprache zu verteidigen, die unterdessen zur Sprache

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der Armen undUnterlegenen geworden ist. Und stellefest, daß die Kollaborateure dieses wie jenes Sprachim-ports, die Söhne wie die Väter, der gleichen Klasse an-gehören, die man Elite nennt.

Siehtman von der Bombardierung der Zivilbevölkerungin den Städten ab, so ist in den Kriegen, meist von Ver-antwortlichen reiferen Alters beschlossen und organi-siert, diemännliche Jugend getötet worden.Mit anderenWorten: In den Ministerien, Botschaften und Haupt-quartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit In-brunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebe-nen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Töchternund Söhnen, die überlebt hatten und zweifellos geblen-det waren von der imponierenden Gräberzahl, wurdewenig später in den Hörsälen eine ganz andere Ge-schichte nahegebracht, die vom »Vatermord«.Tote und Lügengeschichten, ja, früher war doch wirk-lich alles besser.

Früher gab es keine Handys und Notebooks, also be-kam jeder es in allerHärte mit der ungeschminkten Rea-lität zu tun.Heute dagegen seien dieDäumlinge stets indie Watte des Virtuellen gepackt, beschwert sich derMeckergreis, sowie Sanchohinter vorgehaltenerHandauf seinem Esel die aus den Büchern geborenen Eska-paden des Don Quijote belächelt.

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Wären die Toten, die wildgewordenen Führer, die Lü-gen, die Lager, die Verbrechen und das Gift von frühernicht in der harten Realität auf mich eingestürzt, son-dern in der sanften Virtualität eines Videospiels, ichhätte nichts einzuwenden gehabt.

Ideologien

Früher durften wir unbehelligt in frei verkäuflichenantisemitischen Blättern Juden karikieren und massivbeleidigen; durftenAfrikanern, Aborigines und Schwar-zen im allgemeinen mit pseudowissenschaftlichen Ar-gumenten nachweisen, sie seien unkultiviert, stündenden Primaten nahe und kämen geradewegs aus derSteinzeit, und das, obwohl sie doch unsere Zeitgenos-sen sind; durften straflos behaupten, die Katholiken,diese Betbrüder, seien eine Bande von Ignoranten undRückwärtsgewandten, die Deutschen bloß blutrünsti-ge Bestien undwie Sozialisten und Kommunisten stetsmit demMesser zwischen den Zähnenunterwegs; Leh-rer und Arbeiter hätten es, faul wie sie sind, bloß aufbezahlten Urlaub abgesehen und unsere Chefs, aus-nahmslos ruchlose Kapitalisten, saugtenmit jeder Mahl-zeit den Proletariern das Blut aus, nicht zu vergessenAdlige, Freimaurer, Einwanderer, Banlieuebewoh-ner…– alle waren sie, wie man sich denken kann, höl-lisch gefährliche Leute, und es gab gar keine soziale

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Gruppe, die keinKomplott gegen uns schmiedete. Diesozialen Netzwerke spielen dies dumme und gefähr-liche Spiel weiter. Zutiefst vom Haß gegen andere er-füllt, steuerten gesellschaftlicher Dialog und politischeAuseinandersetzung ohne große Widerstände auf dieoben erwähnten Verbrechen zu.Übergang von den Worten zu den Taten.

Ich sage nicht, aller Rassismus sei verschwunden. Aber:Die Mischung von Herkünften, Religionen und Spra-chen in Schulklassen und an Universitäten, die häufi-genUrlaubs- und Studienreisen in nahe und ferne Län-der, der Austausch unter Experten und Unternehmen,die von überall hereinkommenden Nachrichten, dervon Rechnern und Handys gewährte universelle Zu-gang, das Kleine-Welt-Theorem, laut dem über fünfEcken heute jeder jeden kennt … und schließlich jeneentscheidenden neuen Zahlen, die uns darüber unter-richten, daß innerhalb von Familien häufiger gemordetwird als außerhalb von ihnen, daß Nachbarschaft undIntimität oft noch mehr Gewalt ausbrüten als Anders-heit und es also schwieriger ist, daß Gleiche Gleichelieben, verfeindete Brüder eingeschlossen, als daß Ver-schiedene einander ertragen… all das schwächt, ja wi-derlegt mitunter jene dummen und unmenschlichenVorurteile der Vergangenheit, von denen ich nicht den-ke, daß unser Meckergreis wirklich stolz auf sie seinkann.

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Ich verstehe ihn, wenn er mit einer gewissen Nostalgiesagt, früher hättenwir noch zusammengelebt,währendsich heute jeder einzelne in die Isolation seinesHandyszurückziehe. Aber bedenkt man, durch welche Ideolo-gien die von ihmgepriesenenZugehörigkeiten einst zu-sammengehalten wurden und zu welchen Verbrechenmanche dieser Ideologien führen sollten – wer wolltesie nicht lieber aufgeben? Und überhaupt: Wer weißdenn heute noch, wie man zusammenhält, wo sich dochvor einigen Jahren sogar die Fußballer bei derWeltmei-sterschaft verkracht haben; wer kann noch als Paar zu-sammenleben, wo doch die Scheidungsrate ansteigt;wer kann noch eine politische Partei bilden, wo dochin jeder einzelnen von ihnen so große persönlicheKon-flikte schwelen, daß am Ende die Verwirklichung derIdeale, die sich jene Bewegungen auf die Fahnen ge-schrieben haben, ganz unwahrscheinlich wird? Die al-ten Zugehörigkeiten sterben ab, selbst die zur Nation,der wir, meist für nichts und wieder nichts, unsere El-tern zuMillionen geopfert haben.Wir versuchen, neueZugehörigkeiten zu schaffen, lokale zum Beispiel, inNachbarschaften, in denen neue Währungen in Um-lauf sind, aber auch globale, mit den sozialenNetzwer-ken, in denen sich Millionen zusammenfinden.Das ist ebenmein Individualismus, sagtDäumelinchen.Und verkündet umgekehrt: Es lebe der andere.

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Naturvertrag

Welcher andere? Die Menschen, gewiß, aber auch dieGesamtheit derer, die nicht unserer Gattung angehö-ren. Passen Sie auf.

Früher jagten Fabriken ihre Abfallstoffe ungehindertin die Atmosphäre oder leiteten sie ins Meer, in dieSeine, den Rhein oder die Rhône. Tanker stießen Ab-gase in rauen Mengen aus. Die industrielle Revolutionhatte so großes Vertrauen in Arbeiter, Ingenieure undDenker gesetzt, daß niemand sich träumen ließ, eskönnte je eine Schattenseite ihres Tuns zutage treten.Die Philosophen lehrten die Endlichkeit desMenschenund die Unendlichkeit einer Welt, die Gaben und Seg-nungen im Überfluß bereithielt, und wir konnten un-begrenzt aus dem vollen dieses Kapitals schöpfen, dasder Menschheit ohne Gegenleistung in den Schoß ge-legt ward. Um die Rückstände scherte sich keiner.

Allmählich aber beganndie Situation zukippen.Als dieLondoner im Smog erstickten und Polioviren sich inder Garonne ausbreiteten, fingen wir an, uns über dieRisiken unseres Handelns Gedanken zu machen, zu-mal die öffentlicheMeinung nachHiroshima und einerReihe von Industriekatastrophen in Alarmbereitschaftversetzt worden war. Auf unsere Herrschaft über dieDinge folgte imGegenzug die eindrucksvolle Antwortder Dinge selbst. Daher die philosophische Kehrtwen-

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de: Ja, der Mensch mag mit seinem Wissen, seinenWünschen, seiner Geschichte unendlich sein. Die Weltdagegen ist endlich. Auf den Fotos der Astronautenkonntenwir es uns jetzt sogar anschauen, unser kleinesBoot, gehüllt in sein Ozeankleid und einen gasförmi-gen Schal aus Wolken und Luft.

Während ihr Meckeropa es mit denMenschen und nurmit denMenschen hielt, macht Däumelinchen sich auf,die Welt gegen unsere Unternehmen zu verteidigen, jadafür einzutreten, daß dieWelt selbst als Rechtssubjektanerkannt werde. Er hatte sich in einem bequemen an-thropologischen Narzißmus eingerichtet, sie hat ver-standen, welchen Schlag Bio- und Geowissenschaftendem Menschen und seiner Arroganz versetzt haben,und beherzigt deren Lehren, die sie in die Welt eintau-chen lassen.

Sozialer Erregungszustand

Früher, in jenenZeiten des ständigenKrieges, desKrie-ges unter den Menschen und aller Menschen gegen dieWelt, lebte die Gesellschaft in einem eigentümlichenZustand der Erregung. In Zeiten des Friedens laufendieMenschen auf der Straße oder amBahnhof aneinan-der vorbei, ohne besonders aufeinander zu achten, odergrüßen fast gleichgültig, wenn sie sich kennen.Von ein

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paar Geisteskranken abgesehen, begegnen sie einanderohne Mißtrauen. Im Frieden sind die sozialen Bezie-hungen von einer neutralen Beiläufigkeit durchdrun-gen, die für ihre zivile Unaufgeregtheit sorgt.

Der Konflikt hingegen knüpft neue Bande, die auf Ag-gression, Angst, Haß undMißtrauen beruhen und vonihnen genährt werden. Keiner lebt dann ohne Furcht,nicht der Jude, derAngst vor einemmöglichenPogromhat, nicht derWiderstandskämpfer, demDenunziationdroht, nicht der Kollaborateur, dem man Verrat vor-wirft. Alle leben in Habtachtstellung. Gibt es in dieserLage noch einen einzigen friedlichen Zivilisten? Dader Kriegszustand das heilige Verbot der Tötung auf-hebt, die nunbefohlen oder gar alsHeldentat gepriesenwird, weiß jeder, daß dieser Übergang zum Akt auchihn betrifft: Er kann töten oder getötet werden, mor-gen, an der nächsten Straßenecke, ohne Vorwarnung;jeder fürchtet im anderen den möglichen Mörder. Imganzen Netz der sozialen Beziehungen geht diese To-desdrohung um.

DieserGesellschaftszustand, der demKrieg entspringt,kann auch unter der Herrschaft der ach so rechtschaf-fenen Leute von einst wiederauferstehen, dort, wo diePolizei willkürlich zuschlägt, statt die Bürger und ihreRechte zu schützen. Die Szene trägt sich während derstalinistischen Ära inMoskau zu. Ein Physikprofessorlädt jeden Donnerstagabend drei alte Freunde zum

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Kartenspiel bei sich ein. Sie alle kennen und schätzeneinander seit Kindertagen, sie haben zusammengearbei-tet, und im Laufe dieses geselligen Abends beteiligensich alle an der regen Unterhaltung, die, während einSpiel auf das nächste folgt und die Gewinne hin- undhergehen, alle erdenklichen Themen streift. Beglücktvon den gemeinsam verbrachten Stunden und demeinen oder anderenGlasWodka pflegt man umMitter-nacht in gelöster Stimmung auseinanderzugehen.Einesschönen Wintertages, man verabschiedet sich gerade,reicht dieHausherrin denGästen ihreMäntel. Aus einerder Taschen fällt eine Karte, es ist die der gefürchtetenGeheimpolizei. Wem die gehöre, fragt sie. Jeder ein-zelnebestreitet vehement, daß es die seine ist.Amnäch-sten Morgen taucht ein Soldat in Uniform in derWoh-nung auf und verlangt nach derKarte.Man gibt sie ihm.VomnächstenDonnerstag an werden die freundschaft-lichen Treffen in eisigem Schweigen fortgesetzt, bis sielangsam aufhören.Keine Freunde, also auch keine Freude mehr.

Psychiatrische Einrichtungen verzeichnen in Zeitendes Krieges oder der Tyrannei einen massiven Rück-gang der Einlieferungszahlen. Mit jedem Konflikt lee-ren sich dieAnstalten. EinfacheErklärung:Der Irrsinnder Bürger- oder Weltkriege bemächtigt sich des ge-samten Kollektivs. Wie aus einer Quelle sprudelt eraus den geschlossenenOrten, an denen er von Pflegernverwaltet wird, ins Freie, um die Welt zu überfluten.

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Was ich miterlebt habe, ist nicht Foucaults Große Ein-sperrung, sondern dieGroßeÜberflutung, die Sintflut,im wahrsten Sinne des Wortes. Sie begrub mit ihrentodbringenden Fluten die ganze Erde unter sich. Dadie allgemeine Psychose sämtliche Beziehungen vergif-tete, trieben wir alle auf diesem Giftmeer. Später habeich die Rückkehr zum Frieden wie eine Heilung erlebt.Ja, vorher warenwir krank. Ich versuche, die Ätiologiedieser grausigen Absurdität zu erkunden, ich möchtewissen, wieman ihr Einhalt gebieten kann.Wie kommtes, daß diese Pandemie sichmit einemMal Bahnbricht?Und warum weichen die Fluten auf einen Schlag wie-der zurück?Lang lebe die kollektive geistige Gesundheit!

Krankheiten

Früher, als wir noch keine Antibiotika kannten, starbman anTuberkulose oder Syphilis,wie fast alleBerühmt-heiten des . Jahrhunderts, Schubert, Maupassant,Nietzsche. Meine Tante wurde von einer Meningitis da-hingerafft, einenMonat vorEinführungdes Penicillins,eines Heilmittels, das ihr tödliches Leiden auf eine Sprit-zenbehandlung von acht Tagen reduziert hätte; so aberwar gegen die Infektion kein Kraut gewachsen.