Dr. iur. Pedro Bejarano Alomia, LL.B., LL. M. - Menschenrecht auf Nahrung

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Trotz der völkerrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Nahrung stirbt jede Sekunde ein Mensch an den Folgen des Hungers. Das sind mehr als 30 Millionen Menschen, die jedes Jahr bei dieser tagtäglichen Tragödie ums Leben kommen. Besonders betroffen sind Kleinkinder, weil Hunger der Verursacher der jährlich 11 Millionen Todesfälle von Kindern unter 5 Jahren ist: Al le f ünf Sekunden s t i rbt ein Kind an den Folgen des Hunger s . Einer solchen Realität gegenüber stellt sich die Frage, ob das Recht in der Lage ist, Hunger und Unterernährung auszurotten, nämlich ob die Verwirklichung des Rechts auf Nahrung überhaupt erreicht werden kann. Ist etwa der Hunger ein juristisches oder ein politisches Problem? Gibt es Lösungen zur Frage des Hungers? Könnten wir als Juristen zur Lösung der Frage des Hungers beitragen? Um die einleitende Fragestellung beantworten zu können, vereint diese Magisterarbeit neben den juristischen Aspekten auch disziplinübergreifende Auffassungen. Auf diese Art und Weise werden im ersten Teil philosophische, historische und ideengeschichtliche Themen angeschnitten, um so die Frage nach dem Recht auf Nahrung als Menschenrecht beantworten zu können. Im zweiten Teil werden die Grundgedanken eines Rechts auf Nahrung dargestellt, während im drittel Teil auf völkerrechtliche Fragen eingegangen wird, um die Auslegung des Rechts auf Nahrung im Kontext des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vornehmen zu können. Im vierten Teil werden politologische Aspekte angesprochen und im anschließend letzten Teil Lösungsansätze zur Bekämpfung des Hungers dargestellt.

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  • 1. Das Menschenrecht auf NahrungPedro Bejarano, LL.M. Berlin, 2005

2. 2 InhaltsverzeichnisInhaltsverzeichnis 2Einleitung 5 1. Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des Rechtsauf Nahrung - Grundlage und Gegenstand6 1.1. Entwicklung der Menschenrechtskonzeption6 1.2. Begrndungsstrategien der Menschenrechte 231.2.1. Diskurstheorie241.2.2. Vertragstheorien bzw. Kontraktualismusanstze 28 1.3. Der Menschenrechtsbegriff33 2. Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung35 2.1. Die Welternhrungslage 37 2.2. Erklrungen zu den Ursachen des Hungers412.2.1. Der Armutsansatz412.2.2. Die Dependenz-Theorie 432.2.3. Neokolonialismus442.2.4. Der progressive Ansatz442.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen452.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungslnder 462.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von Verwirklichungschancen462.2.8. berbevlkerungsreduzierung 512.2.9. Eine Fiktion: Die Verschwrungstheorie54 3. 32.3. Negative Konsequenzen der Mangelernhrung55 2.4. Begriffsbestimmungen 57 3. Der vlkerrechtliche Stellenwert des Rechts auf Nahrung60 3.1. Die Charta der Vereinten Nationen613.1.1. Entstehungsgeschichte 613.1.2. Die Prambel der UN-Charta643.1.3. Ziele und Grundstze der UN-Charta653.1.4. Art. 1 (3) UN-Charta653.1.5. Art. 55 UN-Charta 66 3.2. Die Allgemeine Erklrung der Menschenrechte (AEMR) 69 3.3. Der Internationale Pakt ber wirtschaftliche, soziale undkulturelle Rechte (IPwskR) 713.3.1. Der normative Inhalt des IPwskR 743.3.2. Die generelle Verpflichtungsklausel des IPwskR763.3.3. Der Status der Menschenrechte im IPwskR 803.3.3.1. Das Generationsmodell 803.3.3.2. Die Statuslehre 833.3.3.3. Das 3-Ebenen-Modell d. Respect, Protect und Fulfil 90 3.4. Die rechtliche Verankerung des Rechts auf Nahrung im IPwskR943.4.1. Art. 11 IPwskR973.4.2. Entstehungsgeschichte des Art. 11 IPwskR983.4.3. Die juristische Natur des Rechts auf Nahrung993.4.4. Die Konnotation einer angemessenen Ernhrung 1013.4.5. Verpflichtungsebenen 1023.4.6. Recht auf Nahrung und Recht auf Leben1043.4.7. ECOSOC und CESCR und der Entwurf eines Fakultativen Protokolls zum Sozialpakt 1053.4.8. Entwurf eines Fakultativprotokolls zum Sozialpakt 106 3.5. Institutioneller Rahmen zum Schutz des Rechts auf Nahrung 106 4. Begrndung des Rechts auf Nahrung 119 4.1. Hunger als Verteilungsgerechtigkeitsmangel1194.1.1. Der liberale Ansatz von Friedrich August von Hayek 1234.1.2. Der sozialliberale Ansatz von John Rawls 1244.1.3. Die kommunitaristische Position von Michael Walzer 1244.1.4. Die aktivierende Position von Amartya Sen125 4. 44.2. Die Begrndung des Rechts auf Nahrung aus derGrundbedrfnisthese1264.2.1. Genese der Grundbedrfnisstrategien 1264.2.2. Begriffsbestimmung129 4.3. Die Human Security Conception130 5. Lsungsanstze zur Bekmpfung der Unterernhrung 133 5.1. Die Stellungnahme der Weltbank 133 5.2. Empowerment of Capabilities137 5.3. Der Welt-Marshall-Plan 138 5.4. Steuer auf Waffenhandel140 5.5. Kerosinsteuer140 5.6. Der UN-Bericht Investing in Development: A Practical Planto Achieve the Millennium Development Goals (2005)141 Schlussfolgerungen143 5. 5Einleitung Trotz der vlkerrechtlichen Anerkennung des Rechts auf Nahrung stirbt jede Sekunde ein Mensch an den Folgen des Hungers. Das sind mehr als 30 Mil- lionen Menschen, die jedes Jahr bei dieser tagtglichen Tragdie ums Leben kommen. Besonders betroffen sind Kleinkinder, weil Hunger der Verursacher der jhrlich 11 Millionen Todesflle von Kindern unter 5 Jahren ist: A l l e fnf Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen des Hungers. Einer solchen Realitt gegenber stellt sich die Frage, ob das Recht in der Lage ist, Hunger und Unterernhrung auszurotten, nmlich ob die Verwirkli- chung des Rechts auf Nahrung berhaupt erreicht werden kann. Ist etwa der Hunger ein juristisches oder ein politisches Problem? Gibt es Lsungen zur Frage des Hungers? Knnten wir als Juristen zur Lsung der Frage des Hungers beitragen? Um die einleitende Fragestellung beantworten zu kn- nen, vereint diese Magisterarbeit neben den juristischen Aspekten auch dis- ziplinbergreifende Auffassungen. Auf diese Art und Weise werden im ersten Teil philosophische, historische und ideengeschichtliche Themen angeschnit- ten, um so die Frage nach dem Recht auf Nahrung als Menschenrecht be- antworten zu knnen. Im zweiten Teil werden die Grundgedanken eines Rechts auf Nahrung dargestellt, whrend im drittel Teil auf vlkerrechtliche Fragen eingegangen wird, um die Auslegung des Rechts auf Nahrung im Kontext des Internationalen Pakts ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vornehmen zu knnen. Im vierten Teil werden politologische Aspekte angesprochen und im anschlieend letzten Teil Lsungsanstze zur Be- kmpfung des Hungers dargestellt. 6. 6 1.Konzeption der Menschenrechte als Rahmenbegriff des Rechts auf Nahrung - Grundlage und Gegenstand Mit der Verabschiedung des Internationalen Paktes ber wirtschaftliche, so- ziale und kulturelle Rechte1 von 1966 wurde das Recht auf Nahrung als un- antastbares Menschenrecht anerkannt und seit damals vielfltig bekrftigt. Wie das Recht auf Nahrung als soziales Menschenrecht mit dem Inbegriff der Menschenrechte harmoniert und welche Voraussetzungen gegeben sein mssen, um ein Recht auf Nahrung verlangen zu knnen, ist in diesem Teil festzustellen. Dafr wird die Fortentwicklung des Menschenrechtskonzepts aus dem historischen Entstehungskontext erschlossen und kurz aufgewie- sen. 1.1. Entwicklung der Menschenrechtskonzeption Obwohl die Geltungsforderung der Menschenrechte heutzutage als ahisto- risch betrachtet wird, haben Menschenrechte eine geschichtliche Entfaltung, die verschiedene Prozesse sozialer Wandlung darstellt2. Darum ist es wichtig, die Entwicklung der Menschenrechtsidee in knapper Schilderung darzustellen. Dabei beschrnke ich mich auf die Grundbegriffe, die in ihrer Zusammensetzung im Laufe der Geschichte zur Entstehung der Idee der Menschenrechte beigetragen haben. Der Konzept der Menschenrechte als solche war zwar in der Antike unbe- kannt, aber dessen Fundamente wurden in der philosophischen Entwicklung Griechenlands aufgestellt3. Darum rhren naturrechtliche Anstze bereits von den vorsokratischen Sophisten im fnften Jahrhundert vor Christi Geburt her4. Die Sophisten konzentrierten sich im Gegensatz zu ihren Vorgngern, den Naturphilosophen, eher auf die menschliche sopha, die nicht nur die 1 IPwskR 2 Vgl. Oestreich 1968, 9 ff. 3 ebd., 15 4 ebd. 7. 7philosophische Weisheit, sondern in einem ursprnglichen umfassenden Sinn alle handwerklichen und geistigen Fhigkeiten der Menschen reprsen- tiert5. Hinsichtlich des Werdegangs der Menschenrechte liegt der Wert der Sophis- tik darin, dass zum ersten Mal in der griechischen Philosophie der Blick weg von der Natur und vollstndig auf den Menschen gerichtet wurde6. In diesem Sinne werden die Reflexionen der Sophisten als bahnbrechend betrachtet, weil es die menschliche Natur als Ma aller Dinge in den Blick- punkt der philosophischen Debatte rckte7. Der Mensch wurde auch zum Mittelpunkt der Rechtsvorstellungen8. Die So- phisten lehrten nicht nur, dass alle Menschen frei geschaffen und keiner zum Sklaven bestimmt wurde ein subversiver Satz in der griechischen Gesell- schaft, die sich ja auf das Institut der Sklaverei sttzte - sondern auch, dass das natrliche Recht die positiven Gesetze weitaus berwindet9. Bei der Philosophenschule der Stoa poikile, gegrndet um 300 vor Christi von Zenon aus Kition, finden sich auch vorangehende Vorstellungen eines allen Menschen als Menschen zukommenden Rechts10. Oberste Maxime der Ethik, die im Zentrum des Denkens der Stoa steht, ist die Forderung, mit sich selbst und mit der Natur in Harmonie zu leben11. Daraus ergibt sich der Glaube an ein vllig gltiges Weltgesetz, nmlich das sittliche Gleichheits- prinzip der Menschen, wodurch alle Menschen von Geburt an gleichsetzt und ihnen gewisse Naturrechte zuerkannt werden12. Die Stoiker erheben zwei grundlegende soziale Forderungen: Gerechtigkeit und Menschenliebe in einem Ausma, wie es die Antike bis dahin nicht ge- kannt hatte. Sie erstrecken sie auf alle Menschen, denn sie schlieen auch5 Fenske 2003, 55 ff. 6 Vgl. Fenske 2003, 162 7 ebd. 8 Oestreich 1968, 15 9 ebd. 10Vgl. Strig 2002, 218 ff. 11ebd. 12ebd. 8. 8die Sklaven und die Barbaren ein13. Diese neue humane Gesinnungsethik bewirkte eine Milderung der Sklaverei und die Frsorge fr Bedrftige und Kranke und legte Fundamente fr die Idee einer Menschenwrde14. Im Georgias wies Sokrates (470 399 v. Chr.) die Gerechtigkeit als hchstes menschliches Gut und als Ziel aller Staatsfhrung aus. Er bemerkte, dass ohne Gerechtigkeit keine Gemeinschaft existieren kann15. In der Politeia paraphrasiert Kephalos den Dichter Simonides, um den Begriff der Gerechtigkeit zu definieren: Jedem das Seine zu geben16. Im Reich der Ideen besetzt die Idee des hchsten Guten die oberste Stelle17. Sie ist sozu- sagen die Idee der Ideen. Das hchste Gute ist allem bergeordnet als sein oberster Zweck. Es ist der Endzweck der Welt18. Alles, was Platon (427 v. Chr. 347 v. Chr.) am Einzelmenschen darlegt, beispielsweise Tugend, Sittlichkeit, rechtes Handeln oder Gerechtigkeit, kehrt im Staat in vergrerter Skala wieder19. Die denkbar hchste Form des sittlichen Lebens ist das sittliche Leben der Gemeinschaft in einem guten Staat20, wobei die Gerechtigkeit zum Funda- ment dieses guten Staates wird21. Bezglich seiner Staatslehre gibt es genauso viele Sorten von Verfassungen (politeia), wie es Arten von Menschen gibt, denn die Staatsformen entstehen aus der Natur der Menschen, also entspricht jeder Verfassungstyp einem feststehenden Seelenzustand seiner Brger22. In der Timokratie verlangen sie nach Wertschtzung, in der Oligarchie nach Wohlhabenheit, in der De- mokratie nach Freiheit23. Aber der Ehrgeiz der Timokratie fhrt zu einer Oli- garchie, weil das Regime sich ausschlielich auf das Wohl des Staates rich-13ebd. 14ebd. 15Vgl. Oestreich 1968,15 16Fenske 2003, 74 17ebd. 18ebd. 19ebd. 20ebd., 183 21ebd. 22Vgl. Strig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, Stuttgart 2002, 183 ff. 23ebd. 9. 9tet24. Die Oligarchie spaltet den Staat in Arme und Reiche. Werden die Ar- men immer rmer, dann vertreiben sie die Machthaber und errichten eine Demokratie25. Der Drang nach Freiheit wird in der Demokratie immer grer, so dass diese Freiheit bald zur Zgellosigkeit wird. Gegen diese Ausschwei- fung muss das Volk die Macht dem Tyrannen bertragen26. Im idealen Staat bestehen von Natur aus drei unterschiedliche Aufgaben: Ernhrung und Erwerb als Grundlage, Verteidigung nach auen, Leitung und Vernunft. Die Gerechtigkeit einer solchen egalitren Sozialordnung, genauso wie beim Einzelmenschen, besteht darin, dass diese drei Aufgaben unter der Vernunft in das richtige Verhltnis kommen27. Im Dialog Politiks (Der Staatsmann), verteidigt Platon den Kommunismus der politeia mit einem mchtigen tugendhaften Herrscher als praktischem Gesetzgeber und nicht lnger in vllig unterschiedliche Klassen getrennten Brgern als das ideale System, um das richtige Verhltnis der sozialen Ge- rechtigkeit zu erreichen28. Fr Aristoteles (384 322 v. Chr.) ist die Glckseligkeit das hchste Gut des Menschen. Der Mensch ist vor allem Vernunftwesen und die Tugend besteht darin, dass der Mensch die Vollkommenheit seiner Vernunft anstrebt29. Aristoteles unterscheidet zwei Arten von Tugend. Whrend die ethische Tu- gend die Herrschaft der Vernunft ber die wollstigen Triebe bedeutet, rep- rsentiert die dianoethische Tugend - im Vergleich mit der ethischen Tugend die hhere - die Vervollkommnung der Vernunft selbst. In dieser Hinsicht lag die Grundlage allen Rechtes in der gottgegebenen Vernunft des Menschen30. Wie fr Platon ist die moralische Gemeinsamkeit der Brger in einem auf Gesetz und Tugend aufgebauten guten Staat auch fr Aristoteles die hchste 24ebd. 25ebd. 26ebd. 27Vgl. Strig 2002, 187 28Fenske 2003, 80 29Vgl. Strig 2002, 206 ff. 30ebd. 10. 10Form der Sittlichkeit31. Politik ist in dieser Hinsicht nichts anderes als ange- wandte Ethik32. Der Staat ist fr Aristoteles im Gegensatz zur platonischen Staatslehre kein einheitliches Wesen, sondern aus Einzelmenschen gebildet33. Der Staat ist hingegen Bestandteil, eine Untergemeinschaft eines gegliederten Ganzen34. Der Mensch ist nach der aristotelischen Betrachtung ein politisches bzw. ge- sellschaftliches Lebewesen, das zur seiner Vervollkommnung die Gemein- schaft mit anderen bentigt35. Diese Verbundenheit der Menschen miteinan- der ist nur durch das Recht die lex naturae - mglich36. Das natrliche Recht als das wahre Gesetz existiert von jeher, bevor eine staatliche Gemeinschaft errichtet wurde37. Durch dieses Gesetz, das fr Menschen und Gottheit verpflichtende Norm ist, wird die Ungleichheit der Vlker und Menschen erklrt und die Sklaverei gerechtfertigt38. Die Stoiker haben die Gleichheit der Menschen durch den Hauptgedanken begrndet, dass neben der realen Gemeinschaft das Reich der Vernunft vor- handen ist, und in diesem ist jeder Mensch Teilhaber an der Weltvernunft, so dass also alle Menschen mit Vernunft ausgestattet sind. Ebenfalls sind alle Menschen von der sittlichen Zielsetzung aus gleichberechtigt39. Im rmischen Kaiserreich fanden die Grundtheorien der Stoiker eine Fort- entwicklung und Anwendung auf soziale und politische Fragen durch den Politiker und Juristen Cicero und den rmischen Stoiker Seneca40. Auch fr Cicero (106 43 v. Chr.) ist der Mensch von Natur aus ein Wesen, das gesellschaftlich veranlagt ist, und er sieht darin den Hauptgrund fr eine 31ebd. 32ebd. 33ebd. 34ebd. 35Vgl. Quinton 1994, 302 ff. 36ebd. 37ebd. 38ebd. 39ebd. 40Vgl.Oestreich 1968, 17 11. 11Staatenbildung41. Ein Staat ist demzufolge ein Kreis von Menschen, die ge- meinsame Rechte fr legitim erklren und daraus einen kollektiven Nutzen ziehen42. Der Staat ist laut Cicero wie bei Aristoteles eine apriorische Rechtsgemein- schaft, die ber die menschliche Vernunft erfahrbar ist43. Die Ziele dieses Staates sind grundstzlich, fr Recht und Gerechtigkeit unter den Brgern zu sorgen, fr Wohlstand und uere Sicherheit.44 Die Ungleichheiten unter den Menschen, besonders die Sklaverei, sind tdli- che Krankheiten des Staates45. Darum mssen die positiven Gesetze am allgemeinen Naturrecht und an Tugenden orientiert werden, denn wenn die Gesetze nur der reinen Ntzlichkeit folgen, gibt es gar keine Gerechtigkeit46. Durch Cicero wurde die lex naturae aus einem Gegenstand der Philosophie zu einem Gegenstand des Rechtsdenkens und der Rechtskonzeption. Das Naturrecht, das im Letzten gttlich begrndet wird, bewirkt im Rmischen Imperium eine progressive Abschaffung von Ungleichheiten unter den Men- schen - beispielsweise fr Barbaren, Sklaven und Frauen - wie sie Aristoteles noch als sittlich akzeptiert hatte47. Mit der Teilhabe eines jeden Menschen an der kosmischen Weltvernunft war auch die religis gestimmte unbedingte Achtung gegen jeden Menschen verbunden: Homo res sacra hominis48. Der Philosoph Seneca (4 v. Chr. 65 n. Chr.) wandte sich in seiner Schrift ber die Milde (De clementia) an den Csar, um zu beteuern, dass wahre Gre und Majestt in der Sorge fr das Gemeinwohl liege. Die Herrschaft bedeute nicht anderes als Dienst am Volke49. 41ebd. 42Vgl. Quinton 1995, 306 ff. 43ebd. 44ebd. 45ebd. 46ebd. 47Vgl. Brieskorn 1997, 31 ff. 48Oestreich 1968, 18 49ebd. 12. 12Den Anstzen Senecas lag die feste berzeugung von der Zusammengeh- rigkeit aller Menschen und von ihrem gemeinsamen Schicksal zugrunde: Wir sind Glieder eines Krpers. Die Natur schuf uns alle als Verwandte50. Hinsichtlich der Antike kann man zusammenfassend sagen, dass frhe Fas- sungen des Naturrechts vor allem bei den Sophisten und Stoikern - in der griechischen und in der rmischen Antike nachgewiesen wurden, welche das christliche Denken des Mittelalters, das aufklrerische Naturrecht und die zeitgenssische Begrndung der Menschenrechte geprgt hat. Zur den Hauptbegriffen des Naturrechts der Antike gehrt die Vorstellung, dass dem Menschen vor aller staatlichen Rechtsetzung feststehende Rechte zustehen, die sich aus seiner Natur bzw. aus seiner Vernunft ergeben. Diese von der Natur abgeleiteten Rechte des Menschen, also seine Menschenrech- te, gelten unabhngig von Zeit und Raum, weil die Natur auch unvernderlich ist. Auch nach dem Ansatz der Vernunft sind alle Menschen gleichwertig. Eine andere Weltanschauung, die dem Menschen von Natur aus eine gewis- se ontologische Ausstattung zuspricht, ist das christliche Menschenbild51. Das einstige Christentum konnte an den berlegungen der Bibel und des Stoizismus anknpfen52. Zwei zentrale Vorstellungen knnen von der Bibel abgeleitet werden: Die Idee der Menschenwrde und die der Gleichheit der Menschen53. Die Kon- zeption der Gleichheit grndet sich auf die Behauptung, dass Menschen Kin- der Gottes und demzufolge Brder und Schwestern in Christus seien54. Die Gleichheit zwischen den Menschen findet in der Gleichberechtigung von Ge- schwistern in einer Familie ihre Allegorie55. Dieses Ideal kommt der stoischen Forderung der allgemeinen Menschenliebe nahe56. 50ebd. 51Vgl. Hffe 2001, 85 52Vgl. www.bpb.de/publikationen/!SFJ2B, 0 , 0, Idee_der_Menschenrechte.html 53Vgl. Strig 2002, 240 ff. 54ebd. 55ebd. 56ebd. 13. 13Der Mensch ist darber hinaus das Ebenbild Gottes und als solches die Kro- ne der Schpfung57.Aus dieser Aussage folgt einerseits, dass dem Men- schen eine Wrde und ein Wert zukommen, wie sie in der Schpfung sonst nirgends erreicht sind, und andererseits, dass diese gttlichen Herkunft die prinzipielle Gleichstellung und Freiheit aller Menschen bedingt58. Dem Christentum war von vornherein ein bernationaler Zug eigen. Hatte doch Christus seine Jnger ausgesandt, alle Vlker zu lehren. Es kannte auch von vornherein keine Standesschranken. Christus hatte sich gerade an die Mhseligen und Beladenen gewandt. Die ersten Bekenner des Christen- tums entstammen in der Masse den unteren Bevlkerungsschichten. Das Christentum war eine geistige Revolution von unten die aber alsbald die Spitzen des gesellschaftlichen Aufbaus mit ergriff59. Die christlich-stoischen Gedanken wurden im Mittelalter von Thomas von Aquin (1225 - 1274) fortentwickelt60. Weil Thomas von Aquin den Staat fr eine moralische Gre hlt, definiert er es als Mission des Staates, die Br- ger zu einem fairen und tugendhaften Leben zu fhren61. Die zentralen Vor- aussetzungen dafr sind die Aufrechterhaltung des Friedens und die Schaf- fung ueren Wohlstandes62. Wie die Griechen der Antike begreift Thomas von Aquin den Menschen voll- stndig im Kontext der Gesellschaft und des Staates63. Mit der Definition des Aristoteles argumentiert Thomas immer wieder, dass homo naturaliter ani- mal politicum est. Darum solle das Handeln des Einzelnen auf das Gemein- wohl der Gesellschaft gerichtet werden64. Es sei unmglich behauptet Thomas dass ein Mensch gut sein kann, wenn er nicht im rechten Bezug zum gemeinen Wohl stehe65. Die Philosophie der Innerlichkeit von Augustinus (354 - 430), sttzt sich auf den christlichen Glauben. Durch Christus, die Heiligen Schriften und die Kir- 57ebd. 58ebd. 59Strig 2002, 242 60Vgl. Auprich 2000, 29 61Vgl. Strig 2002, 285 ff. 62ebd. 63Vgl.Fenske 2003, 212 ff. 64ebd. 65Strig, 295 ff. 14. 14che wird den Menschen die gttliche Autoritt vermittelt. Die Wahrheit der Heiligen Schriften ist unfehlbar, weil Gott selbst durch sie spricht. Die Kirche stellt den Menschen unter die Autoritt Christi. Hinsichtlich dieser Autoritten - Christus, Heilige Schriften, Kirche - ist jede unglubige berlegung unzu- lssig. Der Glaube wird vorausgesetzt, und die Vernunft folgt.66 Ein wichtiger Denker der Sptscholastik war Giovanni Pico della Mirandola (1463 - 1494). Pico hebt die Sonderstellung des Menschen in der Gestaltung des Alls hervor. Gott schafft den Menschen als Schpfer seiner selbst und deswegen hat der Mensch die Freiheit, durch eigenes Ttigwerden in freier Selbstbestimmung sein Wesen selbst zu machen. Der Mensch kann alles sein, was er will, weil er von Geburt an zu jedweder Lebensform ausgestattet ist67. In Bezug auf das christliche Gedankengut kann man zusammenfassend sa- gen, dass die Gotthnlichkeit des Menschen der Grundsatz der christlichen Begrndung der Menschenrechte ist, wie in der Bibel formuliert wird (1,26 Genesis). Als einer Schpfung Gottes kommt dem Menschen eine unantast- bare Wrde zu. Die von dieser Wrde abgeleiteten Rechte gelten immer und berall, also unabhngig von Kulturen, Staatsformen oder politischen Syste- men. Die Konzeption des Menschen als Ebenbild Gottes impliziert die Gleichheit aller Menschen. Aus diesem Prinzip lsst sich folgern, dass allen Menschen die gleichen Rechte zukommen. In diesem Bezugspunkt stimmt das christliche Menschenbild sowohl mit den klassischen als auch mit den zeitgenssischen Menschenrechtserklrungen berein. Nach dem Mittelalter wurde die Wrde der Menschen jedoch nicht mehr an dessen Gottebenbildlichkeit fixiert68. Die Epoche des Humanismus und der Aufklrung wurde durch die Leitbegriffe bestimmt, dass die Vernunft als We- sensmerkmal des Menschen allgemeingltige Mastbe fr Gesellschaft und Politik reprsentiert und dass die Freiheit den Grundsatz des sozialen und politischen Handels darstellt69.66Vgl. Fenske 2003, 138 ff. 67Vgl. Auprich 2000, 29 ff. 68Quinton 1995, 327 69Vgl. Strig 2002, 317 ff. 15. 15Durch den Humanismus im 16. Jahrhundert wurde der antike Stoizismus mit seiner Emphase der rationalen Natur des Menschen wiederbelebt70. Thomas Hobbes und John Locke trugen mit ihren Lehren zur Konzeption der Idee der Menschenrechte bei71. Fr Thomas Hobbes (1588 - 1679) ist der Mensch grundstzlich egoistisch, der nur nach dem eigenen Vorteil strebt. Im Naturzustand, in dem alle Indivi- duen blo aus diesem Ziel handeln, herrscht der ununterbrochene Krieg. Aus diesen Umstnden ergibt sich der Wunsch nach Sicherheit, und aus dem menschlichen Wunsch nach Sicherheit und Rechtsschutz kommt die berge- ordnete Gewalt des Staates zustande72. Hobbes betont, dass der Mensch nur die Wahl zwischen zwei beln hat: dem Urzustand, das heit vlliger Anarchie; oder der restlosen Unterwerfung unter eine staatliche Ordnung.73 Mit der Zweiten Abhandlung ber die Regierung (Second Treatise on Go- vernment, 1690) macht sich John Locke (1632 - 1704) Hoffnungen auf ein Gemeinwesen - den Staat als Verkrperung der politischen Gewalt - das nicht nur den Frieden gewhrleistet, sondern auch auf den Interessen seiner Brger und sozialem Wohlergehen beruht74. Locke legt Wert auf Gewaltenteilung und grundstzlich auf life, liberty und property, welche als Grundstze des zeitgenssischen Grund- und Menschenrechtskatalogs eingeordnet sind75. Zur Erklrung der Entstehung des Staates rekurriert auch Locke auf den Na- turzustand (state of nature) vlliger Gleichheit (equality) und Freiheit (free- dom)76. Diese Freiheit entstammt dem Naturgesetz (law of nature), das den einzelnen zur eigenen Selbsterhaltung und zur Selbsterhaltung des Mitmen- schen verpflichtet77. Im Unterschied zu Hobbes wird der Mensch bereits im70ebd. 71Vgl. Quinton 1995, 332 ff. 72ebd. 73Strig 2002, 334 74Vgl. Quinton 1995, 341 ff. 75ebd. 76Vgl. Fenske 2003, 324 ff. 77ebd. 16. 16Naturzustand Eigentmer und Agent einer Geldwirtschaft: Eigentum, Freiheit und Leben sind ewige und universelle Werte, die zum Naturrecht gehren78. Im Prinzip ist der Naturzustand friedliches Zusammenleben. Erst durch den Versuch, Gewalt ber andere Menschen zu bekommen, entsteht der Kriegszustand. Dieser kann nur durch ein Staatswesen beendet werden, was lt. Hobbes zum Verlassen des Naturzustandes fhrt79. Zusammen mit David Hume (1711 - 1776) und Adam Ferguson (1723 - 1816) gehrt Adam Smith (1723 - 1790) zu den wichtigsten Vertretern der schottischen Moralphilosophie80. Die Moralphilosophie der schottischen Schule hat ihre Basis in einer Theorie von den Gefhlen, und sie lehnt alle Anstze ab, die auf die Vernunft basieren81. Darber hinaus versucht diese philosophische Strmung zu erklren, inwiefern egoistisch agierende Men- schen entgegen der berwiegenden humanistisch-altruistischen Ansicht zum Gemeinwohl beitragen knnen82. In seinem Werk Theory of Moral Sentiments behauptet Smith, dass die Rol- le der Moralphilosophie darin besteht, sich den Voraussetzungen des menschlichen Glcks zu widmen83. Darin liegt eine Abgrenzung von der vor- herrschenden christlichen Ethik, die Moral mit Wahrheit und Begrndbarkeit in Zusammenhang bringt84. Smith zufolge ist das Streben des Individuums nach Verbesserung seiner konomischen und sozialen Lage die ausschlaggebende Triebkraft der Sozi- alisation und der Entstehung von Wohlstand85.Um produktiv zu sein, muss jedoch der angeborene Egoismus - durch das ursprngliche Sentiment der Sympathie fr den Mitmenschen - bezwungen werden86. Die Sympathie sttzt sich auf die Einbildungskraft, die es uns er- laubt, sich in die Lage anderer zu versetzen. Sympathie basiert auf die psy-78ebd. 79ebd. 80Vgl. Fenske, Geschichte der politischen Ideen, Frankfurt/Main 2003, S. 364 ff. 81ebd. 82ebd. 83Vgl. Trapp, Adam Smith politische Philosophie und politische konomie, Gttingen 1987, 53 ff. 84ebd. 85ebd. 86ebd., 65 ff. 17. 17chischen und sozialen Affekte unserer Mitmenschen87. Wir mssen Affekte und Interessen mit den Augen eines dritten Menschen betrachten: Aus der Basis von Sympathie und von unparteiischen Urteilen kann Pflichtgefhl ent- stehen, und zwar die Orientierung an Normen, die uns veranlasst, unsere egoistische Sentiments zu beherrschen88. Smith wurde zum Begrnder der Theorie der Marktwirtschaft durch sein Meisterwerk An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776)89. In diesem Buch versucht Smith, die Grundlage des Fortschrittes der Nationen zu erklren, wobei er drei ausschlaggebende Elemente herausge- funden hat: Freiheit, Eigennutz und Wettbewerb. Fundament seiner Lehre sind nicht altruistische, sondern egoistisch agierende Individuen, die in ihrem natrlichen Verlangen nach Verbesserung ihrer Lebensverhltnisse unab- sichtlich das Gemeinwohl frdern90. Smith gilt als Verfechter des Freihandels und Gegner von direkten Staatsein- griffen in Marktmechanismen. Dabei macht er jedoch einige Einschrnkun- gen: Er behauptet, dass die entwickelte Marktwirtschaft erst in der Lage ist zu funktionieren, wenn die folgenden Staatsaufgaben richtig wahrgenommen werden: Verteidigung, innere Sicherheit, Justiz, Verkehrswesen, Bildung, Gesundheitswesen und die Verhinderung von Monopolen91. Die Theorie der Marktwirtschaft ist eng mit der Gesellschaftslehre des Libera- lismus verbunden: Definitorisch ist unter Liberalismus jener politische Ideenkomplex zu verste- hen, der durch die Postulate der Selbstbestimmungsfhigkeit der Individuen durch Vernunft, der Individualfreiheit gegenber dem Staat (Menschen- und Brgerrechte), der Bndigung politischer Herrschaft durch Verfassung und der Selbstregulierung der konomie durch Gesetzmigkeiten von Markt und Wettbewerb abgesteckt ist, in eine Evolutionsvorstellung geschichtlichen Fortschritts mndet und zumindest in der Entstehungs- und Bltezeit vom Brgertum mit seinen Eigentums- und Erwerbsinteressen und seinen daraus erwachsenden Machtsansprchen getragen wurde92. 87ebd. 88ebd. 89ebd., 181 ff. 90 ebd. 91 ebd. 92Schiller, Liberalismus. In: Nohlen, (Hrsg.), Digitale Bibliothek Band 79: Lexikon der Politik, Berlin 2003, 727 18. 18 Im Diskurs ber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen rekonstruiert Jean-Jacques Rousseau eine theoretische Ur- geschichte der Menschengattung93. Am Anfang bestehe ein harmonischer Naturzustand, in dem der Natur- mensch glcklich sei und in dem es gar keine Ungleichheit gebe auer be- zglich Alter, Kraft, und Gesundheit. Durch eine Art Schuld des Menschen entstehen aber das Eigentum, die brgerliche Gesellschaft und der all das schtzende Staat. Sowohl im Eigentum als auch im Staat liege das Grund- bel94. Statt dem Menschen zu einem Beisichsein zu verhelfen, bringen Eigentum und Staat eine dreifache Ungleichheit und Entfremdung hervor: Sofern das Eigentum sich mit Gesetz und Recht umgibt, schafft es Reiche und Arme, sofern mit einer Obrigkeit, Herrschende und Beherrschte, und im Fall einer Willkr- und Gewaltherrschaft zustzlich Herren und Sklaven.95 In VomGesellschaftsvertrag schlgt Rousseau einen politisch- gesellschaftlichen und einen individuellen Ausweg vor, und zwar die Grn- dung einer Gesellschaft mit einem Staatswesen, das seine Macht von vorn- herein an die Freiheit der Brger bindet96 und die Heilung des Individuums durch Erziehung und die Wiedergewinnung der Naturnhe. Eine ausschlaggebende Zsur in der Entfaltung der Menschenrechtskonzep- tion reprsentieren die amerikanischen Menschenrechtserklrungen des achtzehnten Jahrhunderts, die erstmals eine logisch verfasste Kodifizierung von Menschenrechten und Grundfreiheiten umfassen und wonach die Erhe- bung des Naturrechts zum Gesetzesrecht erreicht wurde97. Die wirtschaftliche und politische Freiheitsbewegung in Amerika wendete sich hauptschlich gegen die bergriffe der englischen Herrschaft98. Die93Vgl. Hffe 2001, 178 ff. 94 ebd. 95 ebd., 180 96ebd., 182 97Vgl. Fenske 2003, 366 ff. 98ebd. 19. 19amerikanischen Menschenrechtserklrungen haben den Menschenrechts- schutz als Staatszweck proklamiert99. Die franzsische Menschenrechtserklrung von 1789 richtete sich an den Staat und hob hervor, dass die Unkenntnis, das Vergessen oder die Miss- achtung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des ffentlichen Unglcks und der Verderbtheit der Regierungen sind.100 Das Gedankengut der franzsischen und amerikanischen Erklrungen prg- ten die deutsche Naturrechtslehre und vor allem die Vernunftrechtslehre von Immanuel Kant101. Immanuel Kant (1724 1804) grndete den Wert und die Wrde des Menschen auf dessen Selbstbewusstsein, Freiheit, Moralitt und Vernunft102. Beim Kategorischen Imperativ geht es um die Frage, was der Mensch tun soll103. Alle Dinge sind kuflich. Nur der Mensch hat Wrde, nmlich einen Wert jen- seits aller Ntzlichkeit. Der Mensch verdient als Mensch und nicht aufgrund von Leistungen Wertschtzung104. Alle Menschen sollen darum so miteinan- der umgehen, dass sie ihrer aller Wrde nicht verletzen. Sie sollen sich nicht als Mittel gebrauchen und auch nicht gebrauchen lassen. Kein Mensch darf einen anderen Menschen instrumentalisieren. Die Anerkennung der Persn- lichkeit eines jeden Menschen ist allen Zwecken bergeordnet105. Eine Fas- sung von Kants Sittengesetz lautet: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Per- son eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals blo als Mittel brauchst. 106 Dieses Sittengesetz bezeichnet Kant als den kategorischen Imperativ, weil es die Form eines Befehls hat und weil dieser Befehl ohne Ausnahme gilt. 99ebd. 100 Oestreich 1968, 69 101 Vgl. Hffe 2001, 189 ff. 102 Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriss, Berlin 1968, 76 103 Vgl. Hffe 2001, 189 ff. 104 ebd. 105 ebd. 106 Hffe 2001, 198 20. 20Das Sittengesetz ist kein religises Gebot, sondern vielmehr das Gesetz der Vernunft selbst107. Bei Kant bilden die Freiheit, die Gleichheit und die Selbstndigkeit des Men- schen Grundstze jeder Gesetzgebung108. Auf der Grundlage eines Ethos der Menschenwrde verlangt Kant, dass das Recht der Menschen heilig gehalten werden msse, mag es der herrschenden Gewalt auch noch so groe Aufopferung kosten109. Bisher kann man zusammenfassend behaupten, dass die Menschenrechte im modernen Sinn durch die Aufklrung und deren Anstze vom Gesell- schaftsvertrag begrndet wurden. Ein Grundsatz der aufklrerischen Staats- lehre postuliert, dass der Mensch durch einen Vertrag aus einem gesetzlo- sen Urzustand in eine Rechtsordnung bergeht. Eine Besonderheit dieser Rechtsordnung besteht darin, dass sie nicht als Selbstzweck betrachtet wird, sondern ausschlielich dazu da ist, die Rechte der Menschen zu garantieren. Die klassische aufklrerische Staatslehre (auch Vertragstheorie bzw. Kon- traktualismus genannt) hat gemeinsame Grundelemente. Der Vertrag des Kontraktualismus ist kein historischer Vorfall, sondern ein legitimationstheo- retisches Gedankengebude, das verschiedene Werte wie etwa politische Gewalt, Eigentum, Freiheit und Geldwirtschaft rechtfertigen will110. Darum ist der Kontraktualismus der Aufklrung keine deskriptive Theorie, sondern eine normative Theorie, die eine Begrndung politischer und sozialer Herrschaft entwickelt111. Der Hhepunkt der Aufklrungsphilosophie wird vom kanti- schen Vernunftrecht dargestellt, wobei die Vernunft die Grundlage der Men- schenrechte ist112. Ansatzpunkt ihrer Begrndung ist bei Kant das vorstaatli- che Recht der Freiheit, das sich aus dem Wesen des Menschen ergibt. Die Freiheit ist der ursprngliche Anspruch, der als Kern des Rechtswesens gilt. 107 ebd. 108 Vgl. Oestreich 1968, 77 109 ebd. 110 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 ff. 111 ebd. 112 ebd., 1658 21. 21Weil sie allen Menschen in gleichem Ma zusteht, umfasst sie genauso der Grundsatz der Gleichheit113. Der naturrechtliche Gedanke des vernnftigen Menschen hat inzwischen das Menschenbild verndert und die aufklrerische Grundvorstellung der subjek- tiven Rechte wurde allmhlich in den liberalen Ordnungen durchgesetzt114. Durch die industrielle Revolution in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verschlimmern sich die Lebensbedingungen des Proletariats dadurch, dass die entstandenen Arbeiterbewegungen durch den Kampf gegen die brger- lich-liberalen und individualistischen Rechte zum Aufstieg der sozialen Menschenrechte fhren115. Aufgrund des Totalitarismus im 20. Jahrhundert musste die Konzeption der Menschenrechte noch einmal gewandelt werden116. In der internationalen Gemeinschaft fand eine angespannte Auseinanderset- zung bezglich der Menschenrechte statt, die u. a. wegen Roosevelts These der vier Grundfreiheiten freedom of speech and expression, freedom of every person to worship God in his own way, freedom from want und free- dom from fear - zur Errichtung der Vereinten Nationen und zur Verabschie- dung der Allgemeinen Erklrung der Menschenrechte fhrten117. In the future days, which we seek to make secure, we look forward to a world founded upon four essential human freedoms. The first is freedom of speech and expression - everywhere in the world. The second is freedom of every person to worship God in his own way eve- rywhere in the world. The third is freedom from want wich, translated into world terms, means economic understandings wich will secure to every nation a healthy peace- time life for its inhabitants everywhere in the world. The fourth is freedom from fear wich, translated into world term, means a worldwide reduction of armaments to such a point and in such a thorough fashion that no nation will be in a position to commit an act of physical ag- gression against any neighbor anywhere in the world.113 ebd., 1659 114 Vgl. Oestreich 1968, 100 ff. 115 ebd., 105 116 Vgl. Fenske 2003, 499 ff. 117 ebd. 22. 22That is no vision of a distant millennium. It is a definite basis for a kind of world attainable in our time and generation.() To that injust order we op- pose the greater conception - the moral order.118 Das wichtige an diesen vier Freiheiten ist, dass sie ber die Grenzen des Nationalstaats hinweg gedacht werden119. Jeder Mensch, egal welcher Reli- gion, Nationalitt, Abstammung oder Hautfarbe, soll in den Genuss dieser Rechte kommen120. Die dritte Freiheit die Freiheit von Mangel und Not, berall auf der Welt ist bedeutsam, weil Roosevelt damit ausspricht, dass es zentrale Aufgabe so- wohl staatlicher als auch supranationaler Instanzen sein muss, entschlossen die Grundbedrfnisse der Menschen zu befriedigen und deren Lebensbedin- gungen zu verbessern121. Roosevelt ist damit weit von der libertren Position entfernt, die solche Manahmen als moralisch illegitim betrachtet, weil sie aus ihrer Sicht Eingriffe in die Freiheit bedeuten122. Aufgrund der Verschlechterung der Weltprobleme wuchs die Forderung nach effizienterer internationaler Zusammenarbeit123. Auf diese Art und Weise entstanden der Internationale Pakt ber brgerlich- politische Rechte (IPbpR) und der Internationale Pakt ber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), beide 1966 verabschiedet, sowie eine umfangreiche Vielfalt weiterer Konventionen und Abkommen124. Schlielich nahmen die meisten Lnder der Welt die Grund- und Menschen- rechte in ihre Verfassungen auf, und andere Menschenrechtserklrungen wurden im weiteren Verlauf auf regionaler Ebene verabschiedet: 1950 fr Europa, 1969 fr Amerika, 1981 fr Afrika und 1990 fr die islamische Welt125. 118 www.wwnorton.com/college/history/ralph/workbook/ralprs36b.htm 119 www.phil.euv.frankfurt-o.de/download/2004WS/PolitischePhilosophie/Kapitel09.pdf 120 ebd. 121 ebd. 122 ebd. 123 Vgl. Delbrck, Menschenrechte/Menschenrechtspolitik, 2003, 7080 ff. 124 ebd. 125 ebd. 23. 23Es ist immer noch umstritten, ob die Geschichte der Grund- und Menschen- rechte in der Antike beginnt, aber es gibt Grnde, ber Antike und Men- schenrechte nachzudenken, weil das wesentliche Element der Idee der Men- schenrechte, nmlich die Vorstellung von Gleichberechtigung und Gemein- wohl, bis in die Antike zurckverfolgt werden kann126. Von diesem Ausgangspunkt her prsentiert Wolfgang Schmale eine kurz ge- fasste Geschichte der Menschenrechte: Ein ideeller Entwicklungsstrang beginnt zweifellos in der Antike, sptestens mit der Naturrechtslehre der Stoa und der spteren Rezeption durch die Christen. Es folgten: ein neuer Sprung mit der Durchsetzung der Idee von der Glaubensfreiheit im 16. Jahrhundert; die politischen brgerlichen Revolu- tionen in den Niederlanden, England, Amerika und Frankreich vom 16. bis 18. Jahrhundert; damit eng verbunden die umfassende Naturrechts- und Menschenrechtslehre der Aufklrung; Kodifizierung der Menschenrechte als Menschenrechte als Menschenrechte oder auch Grundrechte in Verfassun- gen und Rechtserklrungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert; Export von Europa in die Welt; Allgemeine Erklrung der Menschenrechte der Ver- einten Nationen vom 10. Dezember 1948, usw. Weitere Entwicklungsstrnge sind mit bestimmten geographischen Rumen, z. T. mit einzelnen Staaten, einhergehend mit der Manifestierung einer nationalen Identitt, direkt ver- bunden. Andere Entwicklungsstrnge sind nur regionalgeschichtlich be- stimmbar. Und immer wieder entfalteten einzelne Persnlichkeiten makrohis- torische Wirkungen.1271.2. Begrndungsstrategien der MenschenrechteMit der Verabschiedung des Internationalen Pakts ber wirtschaftliche, sozia- le und kulturelle Rechte 1966 wird das Recht auf angemessene Ernhrung als universelles Menschenrecht anerkannt. Aber wie lsst sich das Recht auf angemessene Ernhrung im Rahmen der Menschenrechte begrnden? Hierbei spielen die Begrndungsstrategien eine zentrale Rolle, weil sie einen strukturierten Komplex wissenschaftlicher Grundstze bilden, womit die theo- retische Rechtfertigung von Menschenrechten mglich ist128. 126 Vgl. Stourzh 2000,5 127 www.univie.ac.at/igl.geschichte/ws2001-2002/ringvo_ws2002_schmale.htm 128 Vgl. Nohlen, Begrndungszusammenhang, 2003, 8066 24. 24Ob sich die Menschenrechte in berzeugender Weise begrnden lassen, ist ausschlaggebend dafr, dass das Recht auf Nahrung als Menschenrecht plausibel gemacht wird. Ihre Begrndbarkeit ist deshalb eine unerlssliche Vorbedingung seiner Darstellung. Fr eine Begrndung der Menschenrechte sind grundstzlich schlaglichtartig zwei Theorien zu benennen: die Diskurstheorie und die Vertragstheorie. 1.2.1. Die DiskurstheorieKernthese der Diskurstheorie ist, dass ethische Fragen und damit auch die Frage der Gerechtigkeit durch praktische Vernunft beantwortet werden kn- nen. Unter praktischer Vernunft versteht man die menschliche Fhigkeit der Anleitung und Bestimmung des Willens. Kant bestimmt die praktische Ver- nunft als das Vermgen, allgemeine ethischen Prinzipien aufzustellen, nach denen der Wille die Handlungen ausrichten soll129. Darum sttzt sich diese These auf die Tradition der kantischen Ethik und wird grundstzlich von Jr- gen Habermas und Robert Alexy vertreten130. Unter Diskursethik wird derjenige Teil der Diskurstheorie verstanden, der sich mit praktischen und folglich ethischen und juristischen in Abweichung von theoretischen Fragen beschftigt131. Die Diskursethiker interpretieren die Vernunft auf der Grundlage der Sprach- und Verstndigungskompetenzen: die Vernunft ist nur im Rahmen der Spra- che begrifflich, wobei die Verstndigung ein essentielles Element jeder Rede ist132. Unter dieser Bedingung entwickelt die Diskursethik ein Modell, dessen explizite normative Bestimmungen aus impliziten normativen Kommunikati- onsvoraussetzungen abgeleitet werden133. Die Diskursethik besagt, dass die Menschenrechte als Normen mit universel- ler normativer Wirksamkeit durch ein bestimmtes Verfahren begrndet wer-129 Vgl. Brieskorn 1997, 154 ff. 130 ebd. 131 Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 ff. 132 ebd., 145 133 ebd. 25. 25den knnen134. Als eine Theorie des Verfahrens der vernnftigen Begrn- dung von Wert- und Verpflichtungsurteilen ist sie darauf gerichtet, ein System von Diskursregeln zu erarbeiten. Damit wird sie als prozedurale Gerechtig- keitstheorie gekennzeichnet135. Diesem Ansatz nach besteht zwischen Legitimitt und Wahrheit ein innerer Nexus136. Der feste Glaube der Menschen an die Geltung ihrer Normen weist einen innewohnenden Wahrheitsbezug auf137. Die Legitimationsberzeugun- gen implizieren den Anspruch universaler und rationaler Wirksamkeit, und darum sind sie zu berprfen138. Ausgangspunkt der prozeduralen Legitima- tions- und Normenbegrndung ist der ideale Diskurs als Legitimationsin- stanz. Habermas definiert Diskurs als die argumentative, dialogisch konzipierte und methodisch reflektierte Form des ber die vernnftige Rede vermittelten be- grifflichen Denkens139, wonach die blichen Legitimationskriterien wie bei- spielsweise Gott, Natur oder Tradition durch die formalen Prozeduren des Konsens (als vernnftige Einigung gleichberechtigter Menschen verstanden) ersetzt werden. Und zwar muss der Konsens, der keine faktische Einigung darstellt, den Regeln des idealen Diskurses entsprechen140. Diskursregeln sind jedoch Rederegeln, whrend Menschenrechte Normen im Rahmen des Handelns darstellen.141 Ein direkter Schluss von den Diskursregeln auf die Menschenrechte ist nicht mglich. Die Diskursregeln sind nur Rederegeln. Sie einzuhalten, bedeutet lediglich, den anderen im Diskurs als gleichberechtigten Partner zu behan- deln. Daraus folgt noch nicht, dass der andere schlechthin, also auch im Be- reich des Handelns, als Person anerkannt werden muss. Aus einer sprach- pragmatischen Anerkennung folgt noch keine moralische oder rechtliche An- erkennung142. 134 Vgl. Hinkmann 2002, 81 135 ebd. 136 Vgl. Rtgers 1995, 146 137 ebd. 138 Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 139 Kraemer 1995, 145 140 Vgl. Kersting, Diskurstheorie, 2003, 143 141 Hinkmann 2002, 84 142 Alexy, zit. aus Hinkmann 2002, 85 26. 26Deshalb unterscheidet Alexy zwischen einer diskurstheoretischen Rechtferti- gung der Diskursregeln und einer Rechtfertigung der Menschenrechte143. Die Regeln des idealen Diskurses, die auch bei der Begrndung der Men- schenrechte eine zentrale Rolle spielen, lauten: (1)Jeder darf bei Reden mitmachen; (2)Jeder darf an jeder uerung zweifeln, (3)Kein Mitsprecher darf daran gehindert werden, die vorhergehenden Rechte wahrzunehmen144. Alexy versucht diese Diskursregeln als objektiv geltende Regeln zu begrn- den145. Seine Beweisfhrung setzt sich aus drei Elementen zusammen: ei- nem transzendentalen bzw. transzendentalpragmatischen Element, einer anthropologischen These, wonach das Menschenbild des Nutzenmaximie- rers vorausgesetzt ist, und der empirischen Prmisse, wonach der Mensch mit einem Interesse an Richtigkeit ausgestattet ist146. Das transzendentale Argument besagt, dass Freiheit und Gleichheit der Mit- sprecher Voraussetzungen des Sprechaktes der Behauptung sind147. Be- hauptungen sind unerlssliche Bestandteile der allgemeinsten Lebensform der Menschen148. Um einen Sprachakt als Behauptung betrachten zu kn- nen, muss er mit einem Anspruch auf Richtigkeit verbunden sein. D. h., wer etwas behauptet, erhebt einen Anspruch auf Richtigkeit und deswegen auf Begrndbarkeit149. Aus dem Anspruch auf Begrndbarkeit folgt die Pflicht des Behauptenden, das Behauptete auf Verlangen zu begrnden150. Wer etwas begrndet, gibt vor, den anderen als gleichberechtigten Begrndungs- partner zu akzeptieren151. Wer sein ganzes Leben lang keine Behauptung 143 ebd. 144 Vgl. Edinger 2000, 20 145 Vgl. Hinkmann 2002, 86 146 ebd. 147 ebd., 87 148 ebd. 149 ebd. 150 ebd., 88 151 ebd. 27. 27aufstellt und keine Begrndung gibt, nimmt nicht an der allgemeinsten Lebensform des Menschen teil152. Mit der Konzeption der allgemeinsten Lebensform meint Alexy, dass die not- wendigen Bedingungen des Sprechaktes der Behauptung allen menschli- chen Lebensformen gemeinsam sind. D. h., jede menschliche Lebensform hat das Potential und eine gewisse Praxis, verschiedene Interessenkonflikte argumentativ zu lsen, auch wenn das nicht in jedem Fall geschieht153. Mit der empirische Prmisse des Interesses an Richtigkeit meint Alexy, dass der Mensch mit einem sozial wirksamen Interesse an Richtigkeit bzw. Wahr- heit ausgestattet ist, und damit aus moralischer berzeugung in jeder Kon- fliktsituation argumentiert, um zu einer richtigen Lsung zu gelangen154. Mit der individuellen Nutzenmaximierung meint Alexy, dass ein Konfliktver- halten, das auf konomischer Vernunft basiert, Grundlage der Entfaltung je- ner praktischen Vernunft ist, die mit Untersttzung der Diskursregeln reali- siert werden soll155. Die Begrndung der Menschenrechte bzw. die Transposition der Argumenta- tions- und Kommunikationsvoraussetzungen (Bereich des Diskurses) fr den Bereich der Menschenrechte (Bereich des Handelns) erfolgt durch drei interdependenteThesen: der Autonomie, des Konsens und der Demokratie156. Die Autonomiethese besagt, dass jeder Diskursteilnehmer, die Autonomie seiner Gesprchpartner als gegeben annimmt, was die Leugnung einiger Menschenrechte ausschliet157. Die Konsensthese verbindet die Rechtmigkeit der Normen mit der hypo- thetischen globalen Zustimmung des idealen Diskurses und rechtfertigt grundstzlich die Gleichheit der Diskursteilnehmer158. Die Demokratiethese besagt, dass nur durch demokratische Prozesse die Diskursregeln und damit 152 ebd. 153 ebd., 90 154 Vgl. Brieskorn 1997, 158 155 ebd. 156 Vgl. Hinkmann 2002, 87 157 ebd. 158 ebd. 28. 28auch die Menschenrechte in der Praxis sinnvoll umgesetzt werden kn- nen159. Habermas behauptet jedoch, dass Menschenrechte nur innerhalb des positi- ven Rechts innerhalb eines Nationalstaates durchsetzt und sanktioniert wer- den knnen160. Alexy bekrftigt schlielich diese Sichtweise und weist darauf hin, dass Men- schenrechte nur dann ordentlich verwirklicht werden knnen, wenn sie in po- sitives Recht transformiert und in Brgerrechte umgewandelt werden161. 1.2.2. Vertragstheorien bzw. KontraktualismusanstzeDie Vertragstheorien umfassen Anstze, die die Sozialordnung, die Verfas- sung und den Staat begrnden, in Analogie zu mehrseitigen Rechtsgeschf- ten mit wechselseitigem Vorteil162. Staatsformen und Normen werden als begrndet betrachtet, wenn sie durch die Normerzeugung die Billigung aller Betroffenen erwerben163. Die Vertragsberlegung ist seit dem Altertum - durch das sophistische Ge- sellschaftsverstndnis , dem Mittelalter durch den Herrschaftsvertrag und der Neuzeit durch das Vertragskonzept nachweisbar164. Vertragstheorien finden sich bei Thomas Hobbes, John Locke, Jean Jacques Rousseau und Immanuel Kant165. Die Vertragstheorien gehen davon aus, dass in einem fiktiv vorstaatlichen Naturzustand alle Menschen zugleich gleich und frei sind, aber angesichts der allgemeinen Unsicherheitssituation entstehen die Vertragsverhandlungen166. Die zweckmige Rationalitt der Vertragspartner bestimmt die Verfahrensweise und das Ergebnis der Ver- tragsverhandlungen167.159 ebd. 160 ebd., 93 161 ebd. 162 Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1660 163 ebd. 164 Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9986 165 ebd. 166 ebd., 1987 167 ebd. 29. 29Erst im Zuge der Ablsung der mittelalterlichen Naturrechtsteleologie und Ordo-Spekulation durch einen methodologischen und normativen Individua- lismus ist ein konstruktiver Kontraktualismus entstanden, der mit seinem Ar- gumentationsdreischritt: anarchischer Naturzustand Vertrag Gesell- schaft/Staat das Denken der politischen Philosophen und Naturrechtsjuristen des 17. und 18. Jh.s durchgngig bestimmt hat, der aber auch in der politi- schen Philosophie der Gegenart als Rechtfertigungstheorie des philosophi- schen Liberalismus groe und systematische Bedeutung erlangt und mit sei- nen begrndungstheoretischen Vorstellungen selbst in der zeitgenssischen Moralphilosophie Fu gefasst hat.168 Der Vertrag des Kontraktualismus ist bei den Philosophen der Neuzeit kein historisches Geschehnis, sondern eher ein Gedankengebude169. Der Kon- traktualismus ist deswegen keine deskriptive Lehre, durch die historische Verfahren erklrt werden, sondern ein normativer Ansatz, der eine Begrn- dung politischer Gewalt formuliert170. Bei den Denkern der Neuzeit ist die politische Gewalt grundstzlich begrndungsbedrftig171. Die Legitimations- instanz ist dieser Theorie nach weder Gott noch die Natur, noch die Traditi- on, sondern eher der freie und rationale Mensch: nur auf seinen rationalen Willen kann die politische Gewalt begrndet werden172. Aus vertragstheoretischer Perspektive ist der Mensch kein politisches Le- bewesen aristotelischenZuschnittsmehr,demdiepolitisch- gemeinschaftliche Existenzform in die natrliche Wesensverfassung einge- schrieben wre, sondern ein atomar-vereinzeltes, eigeninteressiertes Indivi- duum173. Um die Herrschaftslegitimation zu erklren, entwickelt die Vertragstheorie den Naturzustandsgrundsatz, indem alle staatlichen Leistungen fehlen und jedermann nur seine Vorteile anstrebt, was zu Situationen bis hin zu einem Brgerkrieg fhrt174. Die einzige Mglichkeit, dieser chaotischen Situation zu entkommen, besteht darin, dass man auf die absolute Freiheit verzichten und eine gemeinschaftliche Koexistenz errichten muss175. 168 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1653 169 Vgl. Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1654 170 ebd. 171 ebd. 172 ebd. 173 ebd. 174 ebd., 1655 175 ebd. 30. 30Die individuelle Freiheitseinschrnkung, die zur Etablierung der staatlichen Ordnung erforderlich ist, wird nur unter der Rationalittskondition der Re- ziprozitt begrndet176. Der Staat ist also nur auf der Grundlage eines Ver- trages durchfhrbar, wonach die Menschen sich gegenseitig zum Verzicht der individuellen Freiheit und zur politischen Unterordnung verpflichten177. Eine Wiederbelebung der Vertragstheorie in der Gegenwart startet mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls, deren Gegenstand die soziale Gerechtigkeit ist.178 Rawls erschafft den Naturzustand mittels des Schleiers des Nichtwissens als ein fiktives Gedankentheorem, wodurch das Indivi- duum in einer fairen Situation als gleichzeitig gleich und frei betrachtet wird179. In diesem Kontext gilt die Kooperation der rationalen Vertragspartner als vor- teilhaft, jedoch will jeder sich zugleich eine mglichst groen Beteiligung an Ressourcen sichern180. Unter diesen Umstnden entstehen zwei Vertei- lungsprinzipien, die darin bestehen, dass einerseits allen Brgern die glei- chen politischen und zivilen Freiheitsrechte zustehen und andererseits, dass die sozio-konomischen Ungleichheiten nur zumutbar sind, insoweit sie in einer Ordnung fairer Chancengleichheit auch den am wenigsten Begnstig- ten zugute kommen181. Elemente des ersten Prinzips sind: politisch-rechtliche Gleichheit und Maximierung der individuellen Freiheit182. Durch den ersten Grundsatz lassen sich grundlegende brgerlich-politische Menschenrechte begrnden183. Rawls nennt unter anderem das Wahlrecht, das Recht auf Eigentum, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewis-176 Vgl. Rieger, Vertragstheorien, 2003, 9988 177 ebd. 178 Vgl. Kersting, Vertragstheorien 2003, 1659 179 ebd. 180 Vgl. Khn 1984, 18 181 Kersting, Vertragstheorien, 2003, 1662 182 ebd. 183 Edinger 2000, 18 31. 31sens- und Gedankenfreiheit, die Freiheit der Person und das Recht auf Schutz vor willkrlicher Inhaftierung184. Dem gegenber stehen die Elemente des zweiten Prinzips: Chancengleichheit nicht nur als formale Chancengleichheit (in Form gleicher gesetzlichen Rechte auf vorteilhafte soziale Positionen), sondern auch als faire Chancen (Menschen mit hnlichen Fhigkeiten sollten hnliche Lebenschancen haben) betrachtet185. Das Differenzprinzip heit, dass Ungleichheiten nur dann gerechtfer- tigt sind, wenn sie auch den am schlechtesten gestellten Mensch zum Vorteil gereichen. Durch dieses Prinzip wird die Pareto-Optimalitt bzw. das Nut- zenprinzip des Utilitarismus ersetzt186. Ein Zustand ist pareto-optimal, bei dem (...) das Wohlergehen eines (...) Gesellschaftsmitglieds nicht erhht werden kann, ohne da dadurch mindestens ein anderes Individuum eine Einbue erleidet.187 Aus diesem zweiten Grundsatz heraus werden einige soziale Menschenrech- te begrndet188. Zwischen den Grundstzen besteht, so Rawls, eine klare Rangfolge, nach der das Verteilungsprinzip des zweiten Grundsatzes der gleichen Freiheit aller nachgeordnet ist189. Folglich muss sich daraus ein Primat der brgerlich-politischen vor den sozialen Menschenrechten erge- ben190. Menschen im Urzustand entscheiden sich aus folgenden Grnden fr die beiden Gerechtigkeitsprinzipien191: Durch das erste Prinzip wird das Grundgut der Freiheit fr alle184 ebd. 185 Vgl. Khn 1984, 24 186 ebd. 187 Fuchs-Heinritz/Lautmann 1995, 487 188 Edinger 2000, 19 189 ebd. 190 ebd. 191 Khn 1984, 22 ff. 32. 32 gesichert Sicherstellung der Annehmbarkeit der schlechtest mglichen Position Allgemeine Anerkennung, weil jeder Vorteile daraus zieht, damit auchStabilitt des Systems Frderung der Selbstachtung, weil jeder Mensch als Selbstzweck, undnicht (wie beim Utilitarismus) als Mittel gesehen wird. Weil Rawls Theorie der Gerechtigkeit nur auf das innergesellschaftliche Insti- tutionssystem bezogen ist, hat Rawls seine Theorie auf die zwischenstaatli- che Ebene gedehnt und damit nicht nur die Menschenrechte als verfas- sungsrechtliche Grundrechte, sondern auch als Komponente des Vlker- rechts zu begrnden versucht192. Dieses Ziel verfolgt Rawls in The Law of Peoples, der berarbeiteten Fas- sung einer Amnesty-International-Vorlesung aus dem Jahr 1993193. In die- sem Werk erweitert Rawls sein Urzustandsmodell nicht im Sinne eines Indi- vidualismus auf die globale Ebene mit der Folge, einen universalen Umverteilungsgrundsatz zugunsten der schlechtest gestellten Menschen zu verlangen; er formuliert vielmehr einen Prozess in zwei Ebenen, wobei jedes Volk fr sich faire Regeln entsprechend den Grundstzen der Theorie der Gerechtigkeit einrichtet194. Anschlieend etablieren die Vlker gemeinsame Prinzipien, um miteinander umzugehen: (1) Peoples are free and independent, and their freedom and independence are to be respected by other peoples; (2) Peoples are to observe treaties and undertakings; (3) Peoples are equal and are parties to the agreements that bind them; (4) Peoples are to observe a duty of non-intervention; (5) Peoples have the right of self-defense but no right to instigate war for reasons other than self-defense; (6) Peoples are to honor human rights; (7) Peoples are to observ certain specific restrictions in the conduct of war; (8) Peoples have a duty to assist other peoples living under unfavorable conditions that prevent their having a just or decent political and social regime.195 192 Vgl. Hinkmann 2002, 185 193 ebd. 194 ebd., 186 195 Rawls 1999, 37, zit. nach: Hinkmann 2002, 191 33. 33Die acht Grundstze der gerechten Gemeinschaftlichkeit werden zunchst in liberalen Demokratien konstitutionell entwickelt, aber sie mssen als Prin- zipien fr deren Auenpolitik - fr anstndige Vlker gebilligt werden, damit sie rechtsverbindlich sind196. Diese acht gewissen Grund- und Menschen- rechte, behandeln ihre Brger als kompetente und kooperationsfhige Mit- glieder der sozialen Ordnung, ihr Rechtssystem wird von einer gemeinsamen Vorstellung der Gerechtigkeit inspiriert, und sie sind nicht aggressiv gegen andere Staaten197. Rawls Grundstze der internationalen Gemeinschaftlichkeit wird auch kriti- siert, weil trotz des Verweises auf die Achtung der Menschenrechte der sechste Grundsatz nur rudimentr formuliert ist198. Trotzdem betont Rawls, dass die Einhaltung der brgerlich-politischen Rech- te die Erfllung bestimmter Verwirklichungsbedingungen verlangt, denn wenn den Mitgliedern einer politischen Gesellschaft nicht die ntigen Grundgter zur Verfgung gestellt werden, um ihnen einen effektiven Genuss ihrer Grundfreiheiten zu ermglichen, sind diese wert- und nutzlos199. Tatschlich ist fr einen verhungernden Menschen ein Anspruch auf Aner- kennung als Rechtsperson nicht viel wert: Ohne faire Nahrungsversorgung, Ausbildungsmglichkeiten, eine gerechte Einkommensverteilung, eine fun- damentale ffentliche Gesundheitsvorsorge und sogar eine angemessene Arbeitsmarktpolitik, sind die liberalen brgerlich-politische Rechte fr viele Mitglieder einer politischen Gemeinschaft unwirksam200. 1.3. Der Menschenrechtsbegriff Dass das Recht auf angemessene Ernhrung als Menschenrecht anerkannt wird, ist unbestritten, aber wie kann man ein Menschenrecht definieren? In196 ebd., 192 197 ebd. 198 ebd. 199 ebd., 193 200 ebd. 34. 34ihrem naturrechtlichen Signifikat werden Menschenrechte als unantastbare, unveruerliche und berstaatliche Rechte des Menschen bezeichnet, die ihm allein aufgrund seiner Menschenwrde zustehen201. Menschenrechte im strengen Sinn des Wortes knnen nur Rechte sein, die dem Menschen als solchem kraft seines Wesens als Trger hchster geisti- ger und sittlicher Werte zukommen. Sie mssen also als vorstaatlich gege- bene Rechte bestehen und knnen durch Positivierung in der staatlichen o- der zwischenstaatlichen Rechtsordnung nur anerkannt und umschrieben, nicht verliehen werden202. Aus dieser Begriffsbestimmung werden drei Elemente abgeleitet: Vorstaat- lichkeit, naturrechtliche Grundlegung und Individualbezug der Menschen- rechte203. Es wird hervorgehoben, dass Menschenrechte unabhngig von staatlicher Anerkennung vorhanden sind: obwohl durch den Fakt der Positi- vierung Menschenrechte anerkannt und umschrieben werden, ist die Positi- vierung dieser Rechte nicht unbedingt erforderlich fr ihre Existenz204. Damit werden sie einerseits aus der gelegentlichen Willkr des Gesetzgebers he- rausgezogen, und andererseits knnen sie operationalisiert werden205. Ein Kardinalproblem, das bei der Auseinandersetzung der Menschenrechte eine groe Rolle spielt, ist die tatschliche Verwirrung der Grund-, Brger- und Menschenrechtsdefinition206. Ausgangspunkt der Erluterung ist die Be- trachtung der Menschenrechte als Oberbegriff, wobei Grundrechte Men- schenrechte in eine Verfassung bergesetzt sind, denn sie werden in einer Rechtsform verankert und konkretisiert207. Brgerrechte sind andererseits eine besondere Ausprgung der Grundrechte, die nur den Brgern eines be- stimmten Staates zustehen208. 201 Vgl. Brieskorn 1997, 17 202 Friesenhan 1961, 504 203 ebd. 204 ebd., 505 205 ebd. 206 Vgl. Fritzsche, Menschenrechte, Paderborn 2004, 22 207 ebd. 208 ebd. 35. 35 2. Der Grundgedanke eines Rechts auf Nahrung Das Recht auf angemessene Nahrung ist ein grundlegendes Menschenrecht, das allen Menschen auf der Welt zusteht209. Dieses Recht basiert auf der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklrung der Men- schenrechte und ist in zahlreichen internationalen Instrumenten besttigt worden. Das Recht auf Nahrung ist durch den Internationalen Pakt ber wirt- schaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 den sog. Sozialpakt der Vereinten Nationen - vlkerrechtlich verbindlich210. Das Recht auf Nahrung wird als Recht aller Menschen auf Zugang zu pro- duktiven Ressourcen definiert. Beim Recht auf Nahrung handelt es sich nicht hauptschlich darum, mit Nahrungsmitteln versorgt zu werden, sondern viel- mehr darum, Menschen die Chance zu ermglichen, sich selbst zu versor- gen. Der Staat soll dafr geeignete Rahmenbedingungen gestalten, die es den Menschen erlaubt, sich selbst zu ernhren211. Die Erklrung ber Fortschritt und Soziale Entwicklung von 1969 betont, dass es eine Verpflichtung der Staaten ist, Hunger und Unternhrung zu beseitigen und das Recht auf angemessene Ernhrung zu gewhrleisten212. Die Allgemeine Erklrung zur endgltigen Beseitigung von Hunger und Man- gelernhrung von 1974 weist darauf hin, dass jeder Mensch das unveru- erliche Recht darauf hat, von Hunger und Mangelernhrung befreit zu wer- den, um sich frei entfalten und seine krperlichen und geistigen Fhigkeiten erhalten zu knnen213, und sie betrachtet zugleich, dass die internationale Gemeinschaft bereits ber die erforderlichen Ressourcen verfgt und demzu- folge in der Lage ist, die angestrebte Zielsetzung zu erreichen214.209 Alston, 1984, 22 210 Vgl. Eide, Asbjrn 1995, 89 211 http://gpool.lfrz.at/gpool/main.cgi?rq=ed&etid=29&eid=67003&oid=699&th=1 212 UNO, Erklrung ber Fortschritt und soziale Entwicklung, verkndet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 2542 (XXIV) vom 11. Dezember 1969, II Art.10b: http:// www. fao. Org/Legal/RTF/intl/intl_e.htm 213 http://www2.gtz.de/right-to-food/deutsch/akteure.htm 214 ebd. 36. 36Darber hinaus wurde das Recht auf angemessene Ernhrung in der Erkl- rung ber die Rechte der behinderten Menschen von 1975, die Vorschriften des bereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979 und der Erklrung zum Recht auf Entwicklung von 1986 be- krftigt215. berdies bekrftigen die Erklrung ber die Rechte des Kindes von 1959 und das bereinkommen ber die Rechte des Kindes von 1989 das Recht jedes Kindes auf eine Lebensqualitt, die die seelische, krperliche und so- ziale Entfaltung des Kindes gewhrleistet216. Zustzlich unterstreicht das Zusatzprotokoll zum Amerikanischen berein- kommen ber Menschenrechte im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von 1988 in seinem Art. 12, dass jeder das Recht auf angemessene Ernhrung hat, durch welche die Mglichkeit gewhrleistet wird, ein Hchstma an krperlicher, emotionaler und geistiger Entwicklung zu genieen217. Ein weiteres Dokument zum regionalen Menschenrechtsschutz, die Allge- meine Erklrung der Menschenrechte im Islam von 1981, besttigt das Recht eines jeden, Nahrung und Trinken zu erhalten. Darber hinaus erkennt die ILO-Konvention 169 ber die Indigene Vlker das Recht auf angebrachte Ernhrung an218. Daneben wurde das Recht auf angemessene Nahrung in Abschlussdoku- menten zahlreicher internationaler Gipfeltreffen und Zusammenknfte aner- kannt und bekrftigt: inter alia, die Welternhrungskonferenz von 1974, die Erklrung von Cocoyoc von 1974, die Declarations of Principles and Pro- gramme of Action of the World Conference on Agrarian Reform and Rural Development von 1979, der Weltkindergipfel von 1990, die International Con- ference on Nutrition von 1992, die Erklrung von Wien und das Aktionspro-215 http://www.gtz.de/right-to-food/download/WF_stand_depatte.pdf 216 ebd. 217 ebd. 218 ebd. 37. 37gramm der Weltmenschenrechtskonferenz von 1993, die Kopenhagener Er- klrung und das Aktionsprogramm des Weltsozialgipfels von 1995, die Welt- frauenkonferenz in Beijing von 1995, der Welternhrungsgipfel in Rom von 1996 und sein verabschiedeter Aktionsplan zur Verbesserung der Ernh- rungssituation und auerdem der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen von 2000, dessen erste Ziel ist, den Anteil der Hungernden durch soziale und finanzielle Manahmen auf die Hlfte zu reduzieren219. In der verabschiedeten Erklrung des World Food Gipfels im Juni 2002, wur- de the right of everyone to have access to safe und nutritious food aner- kannt, und die UN-Welternhrungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO hat zuletzt durch einen Leitlinienkatalog im Jahr 2004 das Recht auf Nahrung festgeschrieben220. Obwohl das Recht auf Nahrung, wie schon kurz dargestellt, in zahlreichen internationalen und regionalen Rechtstexten kodifiziert ist, blieb es lange Zeit ignoriert, ein Charakteristikum, das es allgemein mit den anderen wirtschaft- lichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte teilte. D. h., das Recht auf Nahrung wird nur als programmatisches Leitprinzip betrachtet, ohne in der Praxis eine bedeutende Rolle zu spielen. Das Problem der Umsetzung des Rechts auf Nahrung ist vergleichbar mit der Realisierung anderer sozialer Menschenrechte, gegen deren Rechtscharakter Vorbehalte formuliert wer- den. Weil diese Rechte nicht unmittelbar realisierbar erscheinen, knne es sich um keine Menschenrechte handeln, sondern vielmehr um politische Zielvorgaben, die lediglich eines Tages und unter bestimmten finanziellen Voraussetzungen verwirklicht werden knnten. 221 2.1. Die Welternhrungslage Inzwischen leiden Millionen Menschen auf der Welt an Hunger, Mangeler- nhrung oder unter den Folgen ihrer unsicheren Ernhrungslage. Auf keinen219 ebd. 220 http.//www.vistaverde.de/news/Politik/0409/27_nahrung.php 221 Vgl. van Hoof 1984, 97 ff. 38. 38Fall ist diese prekre Lage in einem Mangel an Nahrungsmittel begrndet, weil die Ressourcen der Erde alle Bewohner ernhren knnen222.Trotz Fortschritten sind immer noch ber 850 Millionen Menschen unterer- nhrt, und jhrlich sterben 10 Millionen, vor allem Kinder unter 5 Jahren, an den Folgen von Unter- und Mangelernhrung. Alle 6 Sekunden stirbt ein Kind daran. So komplex die Ursachen von Armut und Hunger sind, so vielfltig prsentieren sich auch die geeigneten Lsungsanstze. Patentrezepte gibt es leider nicht. Nur eines ist sicher: Hunger ist nicht in erster Linie ein Ange- bots- oder Produktionsproblem, denn weltweit wird gengend Nahrung her- gestellt.223Nachfolgend soll aufgezeigt werden, dass gute politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen in den Entwicklungslndern sowie eine gerechtere in- ternationale Ordnung die Schlsselfaktoren zur Bekmpfung der Armut und des Hungers darstellen224. Zunchst werden jedoch der aktuelle Stand der Welternhrungslage skizziert und die wichtigsten Ursachen der Unterernh- rung aufgefhrt. Schtzungsweise 1,2 Milliarden Menschen mssen pro Tag mit weniger als einem US-Dollar auskommen. Etwa 1,3 Milliarden Menschen besitzen kein sauberes Trinkwasser, 2 Milliarden leben unter schlechten sanitren Bedin- gungen, und die Haushalte von 2 Milliarden einem Drittel der Menschheit haben keinen elektrischen Strom. 852 Millionen Menschen sind unterernhrt. More than one billion people are chronically hungry. Every year 13 to 18 mil- lion people die as a result of hunger and starvation. Every 24 hours, 35 000 human beings die as a direct or indirect result of hunger and starvation - 24 every minute, 18 of whom are children under five years of age. No other disaster compares to the devastation of hunger. More people have died from hunger in the last two years than were killed in World War I and World War II together.225AlsHauptgrund fr Hunger undUnterentwicklung wird die Armut226 gekennzeichnet. 222 www.verbraucherministerium.de/index-00022AF443241154A9F26521C0A8D8.htm 223 FAO, Landwirtschaft: Horizont 2010, Doc. C 9324, Rom 1993, 1: http:// www. Fao.org/Legal/RTF/intl_e.htm 224 Vgl. Allgemeine Bemerkung Nr. 12 E/c.12/1999/ 5: www.fao.or/Legal/RTF/intl.intl-e.htm 225 United Nations, Right to adequate food as a human right, New York 1995. In: www.un.org/rights/HRToday/hrbiblio.htm 226 von Blanckenburg 1986, 50 39. 39Hinsichtlich der Hintergrnde und der Hauptzusammenhnge des Welter- nhrungsproblems werden in der ffentlichen Diskussion ziemlich verschie- dene Auffassungen vertreten. Hier ist der Zusammenhang zwischen Armut und Mangelernhrung bedeutsam227. Vormals wurde geglaubt, dass Hunger grundstzlich ein Produktionsproblem sei, das mit angebotsseitigen Strategien beseitigt werden kann228. In diesem Sinne ist zwar eine Steigerung der Agrarproduktion erforderlich, aber ebenso wichtig ist der Zugang zu Nahrung durch nachfrageseitige Manahmen, da- durch, dass der Teufelskreis der Armut durchbrochen werden kann229. Unterernhrung fhrt zu einer geringen Arbeitsproduktivitt, Unterbeschfti- gung und Armut und damit zu einer geringen Kaufkraft, die den Erwerb von Nahrungsmitteln erschwert 230. Im 4. World Food Survey wurde darauf hingewiesen, dass Mangelernhrung besonders inLndernmit geringenEinkommenund mangelhafter Wirtschaftsentwicklung erscheint. Ungengend ernhrte Menschen finden sich grundstzlich unter denen, die arm sind, und zwar unter den landlosen Landarbeitern, stdtischen Arbeitslosen und den Gelegenheitsarbeitern. Das Ernhrungsproblem ist demnach zu einem erheblichen Teil bedingt durch die Hhe der Einkommen und durch die Einkommensverteilung in ei- ner Bevlkerung. Menschen, die sich nicht aus Eigenbau mit Nahrung selbst versorgen knnen, mssen diese kaufen, und viele haben nicht gengend Einkommen oder Kaufkraft, um fr sich und ihre Familien hinreichende Nah- rung zu erwerben. Wie schon erwhnt, erschwert die Armut unter den Kon- sumenten auch ein Anheben der Nahrungspreise, wie es zur Erhhung des Nahrungsangebotes der Landwirtschaft erwnscht wre231. Da Hunger kein Agrarproduktionsproblem, sondern vielmehr das Ergebnis eines Verteilungspolitikdefizits ist,hat Jean Ziegler,UN- Sonderberichterstatter fr das Recht auf Nahrung, erlutert, dass der Acker- bau heutzutage Nahrungsmittel fr zwlf Millionen Menschen erzeugt. Dies geschieht bei einer Weltbevlkerung von 6 Milliarden. Ziegler behauptet, 227 ebd. 228 ebd., 58 ff. 229 ebd. 230 Horber 2000. In: http: // www.humanrights.ch/cms/pdf/001012_horber.pdf 231 FAO 1977. Zit. nach: von Blanckenburg 1986, 61 40. 40dass die katastrophale Ernhrungslage auf die mrderische und absurde Weltordnung zurckzufhren ist232. Das weltweite Nahrungsaufkommen ist nicht von Knappheit, sondern ber- fluss geprgt: Die Produktion von Weizen, Reis und anderem Getreide reicht allein fr eine Versorgung jedes Menschen mit 3.500 Kalorien tglich aus, dazu kommt das allgemein gegessene Gemse, Bohnen, Nsse, Wurzelge- mse usw., Obst, Milch und Milchprodukte, Eier, Fleisch aus buerlicher Hal- tung, Fisch. Gengend Nahrung ist vorhanden, mindestens 4,3 Pfund Nah- rung stehen tglich weltweit pro Person zur Verfgung: 2,5 Pfund Getreide, Bohnen und Nsse, ca. 1 Pfund Obst und Gemse und fast 1 Pfund Fleisch, Milch und Ei. Jedoch sind viele Menschen zu arm, um gengend Nahrungs- mittel zu kaufen. Die meisten Hungerlnder verfgen derzeit sogar ber gengend Nahrung fr ihre Bevlkerung. Viele sind Nettoexporteure von Nahrung und anderen Agrarerzeugnissen233. Einer Studie des Worldwatch-Instituts von Washington zufolge wrden die Nahrungsmittel ausreichen, um alle Menschen zu ernhren allein wenn man bercksichtigt, dass immer noch bis zur Hlfte der Weltgetreideernte an Tiere verfttert wird, die dann geschlachtet werden234. Wrden die Menschen dieses Getreide direkt verzehren, anstatt es an Tiere zu verfttern, knnte die siebenfache Anzahl Menschen davon satt werden235. Die Welt ist voller berflussbeispiele. Worldwatch hat errechnet, dass jhrlich 75 Milliarden Dollar fr Luxusgter wie Make Up, Parfms, kulinarische Vor- lieben, Kreuzfahrten oder Eiscreme ausgegeben werden, whrend fr die Gesundheitsvorsorge von Frauen, die Beseitigung von Hunger und Unterer- nhrung, sauberes Trinkwasser, die Impfung von Kindern und den Kampf gegen den Analphabetismus 47,3 Milliarden ntig wren. Allein die Gelder, die dem Mineralwasser und Hundefutter in den Industrielndern zugewiesen 232 www.vistaverde.de/news/Politik/0301/15 hunger.htm 233 Vgl. www.awitness.org/journal/mythen_hunger.html 234 www.worldwatch.or/pubs.drew/2004 235 ebd. 41. 41werden, knnten das Problem des Hungers und des Trinkwassers von zwei Drittel der Menschheit lsen236. 2.2. Erklrungen zu den Ursachen des Hungers2.2.1. Der ArmutsansatzArmut kann sich als eine defizitre Grundbedrfnisbefriedigung definieren237. In diesem Sinne sind dann diejenigen Menschen arm, deren Konsum bzw. Grundbedarfsgter einen absoluten oder relativen Standard nicht erreicht, weil den bedrftigen Menschen Mindestbedingungen fr eine wirksame Teil- nahme am Prozess der gesellschaftlichen Gterstellung und Gterverteilung fehlen238. Eine erforderliche Kondition fr eine unternehmende Beteiligung an diesem Vorgang ist der Zugang zu Produktionsmitteln239. Ebenso wichtig in dieser Hinsicht sind die krperlichen und geistigen Fhigkeiten, um diese Produktionsmittel wirkungsvoll nutzen zu knnen. Hinreichende Ernhrung, Bildung und Gesundheit werden als integrale Bestandteile der Grundbedrf- nisbefriedigung bercksichtigt240. Die individuelle Wahrnehmung von Armut wird ausschlaggebend mitbe- stimmt von dem sozialen Wertesystem, an dem sich das Individuum orien- tiert241. Die Kriterien zur Unterscheidung der Armen von den Nichtarmen spiegeln auch kollektive Prioritten und Vorstellungen von Wohlfahrt und An- sprchen wider242. Definiert man Armut als defizitre Grundbedrfnisbefriedigung, dann knnen solche Defizite mittels sozialer Indikatoren gemessen werden243. Als soziale Indikatoren werden theoretische Begriffe wie Ernhrung, Gesundheit oder Bildung verwendet244. Fr das Bildungswesen z. B. kann die Einschulungs- quote als Input-Indikator und die Alphabetisierungsquote als Output-Indikator236 www.worldwatch.or/pubs/sow/2004 237 Sangmeister, Armut, 2003, 4328 238 ebd. 239 ebd., 4329 240 ebd. 241 ebd. 242 ebd., 4330 243 ebd. 244 ebd., 4331 42. 42verwendet werden, whrend beim Nahrungswesen das tgliche Kalorienan- gebot pro Kopf als Input-Indikator und die Lebenserwartung bei der Geburt als Output-Indikator dient245. Anspruchsvollere Indizes der Armut lassen sich durch Zusammenfassung relevanter statistischer Mazahlen bilden; dadurch werden die in den sozia- len Indikatoren enthaltenen Informationen fokussiert. Eine Mglichkeit der Aggregation sozialer Indikatoren stellt der Human Development Index (HDI) dar, der vom UNDP seit 1990 berechnet wird. Der HDI setzt sich aus den als soziale Leitindikatoren verstandenen variablen Lebenserwartung bei der Ge- burt, Alphabetisierungsquote, durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs so- wie dem realen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf zusammen.246 Die Entwicklungspolitik hat sich in den letzten Jahrzehnten an wechselnden theoretischen Modellen orientiert und daraus verschiedene Vorhaben der Armutsbekmpfung abgeleitet247. Zur Zeit sind die Entwicklungspolitikexperten sich einig, dass zur Bewltigung des Armutsproblems in Entwicklungslndern wenigstens zwei Strategien mit- einander verknpft werden mssen: (1) eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die auf Wachstum gerichtet ist; (2) spezielle Programme, um die Verdienst- mglichkeiten der Armen zu steigern 248. Die Armut in Entwicklungslndern wird jedoch durch die ungleiche Verteilung von Boden, Finanzkapital, Sachkapital sowie durch die defizitre Ausstattung mit Humankapital fortgesetzt249. Ein Kampf gegen die Massenarmut muss als ethischer Imperativ verstanden werden; aber auch unter funktionalen Kriterien erlangt die Armutsbekmp- fung ein zentrales Signifikat, weil Ernhrung, Gesundheit, Bildung sowie die Erfllung anderer Grundbedrfnisse Bedingungsfaktoren von Produktivitt und wirtschaftlicher Dynamik sind250.245 ebd., 4332 246 United Nations Development Programme, Human Development Report 1991, 90. Zit. nach: Sangmeister 2003, 4334 247 Thibaut 2003, 7997 248 Sangmeister, Armut, 2003, 4335 249 ebd. 250 ebd., 4336 43. 432.2.2. Die Dependenz-TheorieAusgangspunkt dieses Ansatzes ist, dass es lediglich eine kapitalistische Welt gibt, und dass das Schicksal der einzelnen Lnder von ihrem Standort abhngt251. Die Kernlnder bzw. Industrielnder stehen den Peripherieln- dern bzw. den Entwicklungslndern gegenber. Diese sind unterentwickelt, weil die Industrielnder durch eine systematische Ausbeutung das Kapital aus den Entwicklungslndern herausgenommen haben. Sie sind zurck- geblieben, weil die Industrielnder sie durch verschiedenen Vorrichtungen in Dependenz halten und ihnen immer noch die Kosten fr den Fortschritt der Industrielnder aufbrden252. Die Landwirtschaft spielt hier eine groe Rolle, weil das Ziel der Industrieln- der darin besteht, eine globale Arbeitsteilung zu verwirklichen253. Unter die- sen Umstnden mssen die Peripherielnder besonders landwirtschaftliche und mineralische Primrprodukte zum Export produzieren, whrend die Zent- rallnder Industriegter erzeugen. Die Orientierung der Nahrungsproduktion auf den Export hindert die Peripherielnder daran, die Mangelernhrung ihrer Bevlkerung zu beseitigen254. Auf dieser Grundthese, auf der die wirtschaftlich bermchtigen Industrie- lnder die Entwicklungslnder in Abhngigkeit und auf Agrarexporte ausge- richtet halten, baut sich die Behauptung von der Schuld der reichen Lnder am Hunger in der Welt auf. Es wird unterstellt, dass der hohe Nahrungskon- sum in den Industrielndern zu Lasten der Entwicklungslnder gehe, dass die Industrielnder die Entwicklungslnder hinderten, sich vorrangig auf Selbstversorgung ihrer Bevlkerung mit Nahrung auszurichten, dass der groe Fleischkonsum in den Industrielndern weitgehend auf Getreide- und Maniok-Exporten der Entwicklungslnder, die hier zur Tierftterung verwen- det werden, beruhe, dass der hohe Energieaufwand in der landwirtschaftli- chen Erzeugung der Industrielnder die Energiekosten fr die Entwicklungs- lnder verteure.255 251 von Blanckenburg 1986, 63 252 ebd. 253 ebd. 254 ebd., 64 255 von Blanckenburg 1986, 64 44. 442.2.3. Der Neokolonialismus Der Neokolonialismus ist die Fortsetzung der Kolonialherrschaft mit politi- schen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, militrischen oder technischen Mitteln256. Vor allem multinationale Konzerne gelten als Mechanismen fr die Erhaltung der agrarexportierenden Strukturen in den Entwicklungslndern257. Die Oli- garchie bzw. die Elite der Entwicklungslnder ist den wirtschaftlichen Interes- sen der reichen Lnder untergeordnet und damit an der Bewhrung der strukturellen Dependenz beteiligt258. 2.2.4. Der progressive AnsatzFrances Moore Lapp und Joseph Collins behaupten in ihrem Buch Food First (1978), dass jedes Land in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernh- ren259. Die Nahrungsversorgung der einheimischen Bevlkerung gelingt den Entwicklungslndern nicht, weil zwischen der Oligarchie der Entwicklungs- lnder, den multinationalen Konzernen und den Interessenvertretungen der Industrielnder ein Bndnis besteht260. Eliten und multinationale Konzerne verfgen ber den Einsatz von Land, Arbeitskrften, Kapital, Kredit, Techno- logie und Forschung ausschlielich, um ihr eigenes Bestreben nach Profit zu befriedigen261. Besonders liegt Collins und Lapp daran, zu zeigen, wie die reichen Natio- nen ihre internationale wirtschaftliche Machtstellung und auch ihre Entwick- lungshilfeprogramme nutzen, um eine Kontrolle ber die Agrarmrkte der Dritten Welt zugunsten ihrer eigenen Wirtschaft zu gewinnen. Diese berle- gungen fhren sie zu dem Schluss, das primr nicht die Entwicklungslnder, sondern die reichen Lnder fr den Hunger in der Dritten Welt verantwortlich sind. Sie folgern daraus, dass zur Lsung des Problems eine strkere Ab- koppelung der Entwicklungslnder vom internationalen Austausch erforder- lich ist und dass dort der Nahrungsproduktion erste Prioritt mit dem Ziel der Selbstversorgung Food First - zuerkannt werden muss.262256 ebd., 66 257 ebd. 258 ebd., 67 259 ebd., 68 260 ebd. 261 ebd., 69 262 ebd. 45. 45Susan George behauptet in ihrem Buch How the Other Half Dies (1976), dass die Menschen in der Dritten Welt verhungern, weil sie arm sind. Die Ungleichheiten im Landbesitz werden als Hauptgrund der Armut ausgewie- sen. Die Lebensmittel sind teuer, weil die Preise vom Landbesitzer und letzt- lich vom Weltwirtschaftssystem bestimmt werden263. Schlechte Rahmenbedingungen im Sden: Ein Blick auf die Staaten mit dem hchsten Anteil von Unterernhrten an der Gesamtbevlkerung oder auf die Liste negativer Lnderbeispiele zeigt eine der wichtigsten, wenn nicht die Hauptursache von Armut und Hunger auf: schlechte politische und wirtschaft- liche Rahmenbedingungen. Ineffiziente Regierungssysteme, wachsende An- zahl von bewaffneten Konflikten und Naturkatastrophen, Korruption, hohe Militrausgaben, gravierende Demokratiedefizite, fehlende Strategie zur Ein- dmmung des Bevlkerungswachstums, wachstumsfeindliche Wirtschaftspo- litik dies sind einige Stichworte dazu.2642.2.5. Unzureichende internationale Rahmenbedingungen Die Grnde fr Armut und Hunger liegen nicht nur in den betroffenen Ln- dern, sondern auch in den fehlerhaften Normen des internationalen Handels. Der Protektionismus der Industrielnder hindert die Entwicklungslnder dar- an, ihre Produkte zu exportieren und damit den Handel als Motor der Ent- wicklung einzusetzen265. So hat die UNO-Konferenz fr Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einer vielbeachteten Studie im letzten Jahr aufgezeigt, dass der Dritten Welt allein bei den arbeitsintensiven Industrien aufgrund anhaltender Handelsschranken jhrlich 700 Milliarden Dollar an Exporterlsen verloren gehen von der Landwirtschaft ganz zu schweigen. Diese Summe entspricht mehr als dem Doppelten der jhrlichen ffentlichen und privaten Mittelflsse der reichen Lnder und der multilateralen Organisationen in die Empfngerlnder.266 263 ebd., 70 264 ebd. 265 Horber 2000, 2. In: http:// www.humanrights.ch/cms/pdf/00101012_horber.pdf 266 ebd. 46. 46 2.2.6. Die Verschuldung der Entwicklungslnder Verschuldung ist die Bezeichnung fr die staatliche Kreditaufnahme auf dem globalen Kapitalmarkt, deren Gesamtbetrag als problematisch betrachtet wird, wenn der Schuldendienst eine groe Portion an den Exporteinnahmen ausmacht und die Chancen eines Landes einschrnkt, die Devisen fr inln- dische Investitionen einzusetzen. Zur Verschuldungskrise kommt es, wenn ein Land zahlungsunfhig wird267. Seit Anfang der achtziger Jahre hat der explosionsartige Anstieg der Zinsst- ze dazu gefhrt, dass die Lnder der Dritten Welt nicht mehr in der Lage wa- ren, ihre Schulden zu tilgen. In dieser Zeit begann der Lebensstandard in den verschuldeten Lndern drastisch zu sinken, und die Nahrungslage ver- schlimmerte sich vielfach. 268 2.2.7. Hunger als Entitlement Failure: Der Verlust von Verwirklichungs- chancen Dem Buch konomie fr den Menschen von Amartya Sen zufolge ist der Hunger weniger das Ergebnis von Nahrungsmittelknappheit als vielmehr das Ergebnis eines Verteilungsproblems im Sinne eines unzureichendes Zu- gangs zu den Nahrungsmitteln269. Menschen leiden Hunger, wenn sie ihr Zugangsrecht auf eine angemessene Nahrungsmenge nicht wirksam machen knnen.270 Sens Ansatz lautet : Hunger und Fehlernhrung sind niemals lediglich ein Problem der Menge an Nahrungsmitteln271. In seiner Analyse und fr seinen Lsungsansatz erscheint der Begriff entitlement, der als Verwirklichungs- chance bzw. Verfgungsmacht ber Gter, Dienstleistungen oder Rechte267 Vgl. Boeck 2003, 9973 268 Vgl. Sangmeister 2003, 5673 269 Vgl. Sen 2003, 9 ff. 270 Sen 2003, 253 271 Wagner, Entwicklung als Freiheit. In: www.inwent.org/ E+Z/1997-2002/ez400-7.htm 47. 47verstanden wird272. Wenn Menschen verhungern, dann ist der Fakt, dass Lebensmittel auf dem Markt vorhanden sind, unerheblich. Menschen leiden an Hunger, obwohl Lebensmittel zu ihrer Versorgung beschaffbar wren273. Erfolgreiche Lsungsanstze des Hungers mssen neben der Steigerung der Nahrungsmittelproduktion immer auch gegen die immateriellen Defizite angehen, die mit Armut und Ausgrenzung verbunden sind, sei es die Unmg- lichkeit einer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, die fehlende Beteili- gung an Entscheidungsprozessen aller Art oder der Verlust von Selbstver- trauen bis zur Hoffnungslosigkeit. Armut ist untrennbar verbunden mit Unfrei- heit, Entwurzelung und Unsicherheit.274 Ein zentrales Element zur Verbesserung der Ernhrungssicherheit ist die Frderung der sozialen Entwicklung im Sinne der Herstellung politischer, so- zialer und wirtschaftlicher Bedingungen, mittels derer man Menschen in die Lage versetzt, ihre Probleme selbst anzupacken275. Hungersnte und Mangelernhrung knnen nur berwunden werden, wenn eine entsprechende Nahrungsmittelmenge produziert wird, aber vor allem, wenn ein sozial gerechtes Umfeld geschaffen wird, das den Menschen er- mglicht, sich zu entfalten, ihre Fhigkeiten zu entwickeln und somit erfolg- reich fr sich selbst zu sorgen276. Die Amartya-Sen-Konzeption zur berwindung des Hungers und der Unter- ernhrung ist Bestandteil seiner Entwicklungstheorie, die die Wege zu Ge- rechtigkeit und Solidaritt in der globalen Ordnung fr alle ffnen soll277. Ent- wicklung ist in dieser Hinsicht, der Abbau von Unfreiheiten und die Erweite- rung der substanziellen Freiheiten, die den Menschen zukommen. Unterent- wicklung, Armut und Hunger sind demgemss Formen von Unfreiheit278. Der Entwicklungsprozess ist im wesentlichen identisch mit der Geschichte der berwindung von Unfreiheiten. Zwar ist diese Geschichte keineswegs vom Prozess des Wirtschaftswachstums und der Akkumulation natrlichen272 ebd. 273 ebd. 274 Sen, Zit. nach: www.iz3w.org/i23w/ausgaben/244/LP_s19.html 275 ebd. 276 ebd. 277 ebd. 278 ebd. 48. 48und menschlichen Kapitals loszulsen, doch schliet sie sehr viel mehr ein und geht weit ber diese Variablen hinaus279. Sens Ansatz der menschlichen Verwirklichungschancen darf nicht mit der280 Theorie des Humankapitals verwechselt werden.Die Humankapital- Theorie interessiert sich grundstzlich fr die Produktivittssteigerung, sie stellt also die menschlichen Fhigkeiten in den Vordergrund, die als Kapital fr die Produktion eingesetzt werden knnen281. Die These der Verwirkli- chungschance betont hingegen die grundlegende Freiheit des Menschen, seine realen Entscheidungschancen auszuweiten und sein erstrebenswertes Leben zu fhren. Der Wert des Menschen darf nicht auf seinen produktiven Nutzen reduziert werden282. Bei der Interdependenz von Freiheit und Entwicklung manifestiert sich die Freiheit sowohl in Prozessen, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ermglichen,als auch in realen Chancen, die die Menschen hinsichtlich ihrer sozialen Umstn-de haben283 Unfreiheit kann mangelhafte Prozesse verursachen, beispielsweise die Ver- letzung politischer bzw. brgerlichen Freiheiten oder mangelhafte Chan- cen, die nicht ausreichen, um minimale Ziele zu realisieren284. Dazu gehrt das Fehlen grundlegender Chancen wie beispielsweise die Vermeidung von Hunger und Krankheiten285. Individuelle Freiheit hat eine eminente Bedeutung fr die Entwicklung. Sie verstrkt sowohl die Fhigkeit des Menschen, sich selbst zu helfen als auch auf die Welt einzuwirken, und beides ist fr den Entwicklungsprozess uner- lsslich286. 279 Sen 2003, 350 280 Vgl. Sen 2003, 347 281 ebd. 282 ebd. 283 www.iz3w.org./i23w/ausgaben/244/LP_s19.html 284 ebd. 285 ebd. 286 Vgl. Sen 2003, 50 49. 49Hier zeigt sich simultan der funktionelle Charakter der Freiheiten, weil ihre Erweiterung den Aufschwung frdert und die Entwicklung voranbringt287. Freiheit ist somit Mittel und Zweck der Entwicklung, wobei fnf relevante Grundfreiheiten unterschieden werden: (1) politische Freiheiten, (2) konomische Einrichtungen, (3) soziale Chan- cen, (4) gesellschaftliche Transparenz und (5) soziale Sicherheit. Diese in- strumentellen Freiheiten erweitern die Verwirklichungschancen eines Indivi- duums, in grerer Freiheit zu leben, aber sie dienen auch dazu, sich wech- selseitig zu ergnzen288. Der erste Entwicklungsschritt ist nicht die Bekmpfung von Armut und Elend, sondern der Vorrang grundlegender Freiheitsrechte289. Obwohl eine Demo- kratie kein automatisch wirkendes Heilmittel darstellt, erhht sie die unmittel- baren Verwirklichungschancen der Menschen, wobei politische und soziale Partizipation eingeschlossen werden290. Der freie Zugang zum Markt reprsentiert einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung291. Besonders wichtig ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Verweigerung dieser Freiheit ist ein Mittel, um Menschen in Abhngigkeit zu halten. hnliches gilt fr den freien Zugang zu den Warenmrkten: Beson- ders in der Dritten Welt leiden viele Kleinbauern und Kleinproduzenten darunter, dass strukturelle Beschrnkungen ihnen diese Freiheit blockieren. Staatliche Eingriffe und Regulierungen sind deswegen nicht nur legitim, son- dern auch erforderlich292. Der Marktmechanismus ist nur dann erfolgreich, wenn die gebotenen Chan- cen einigermaen gleich verteilt sind293. Um das zu ermglichen, sind der Zugang zu angemessener Nahrung, elementarem Schulunterricht, medizini- scher Grundversorgung ausschlaggebend. Deshalb muss der Marktmecha- nismus durch eine gerechte Verteilung der sozialen Chancen ergnzt wer-287 ebd., 51 288 Sen 2003, 52 289 Sen 2003, 181 290 ebd. 291 Vgl. Sen 2003, 139 ff. 292 ebd. 293 Vgl. Sen 2003, 177ff. 50. 50den. Erst soziale Einrichtungen machen es den Menschen mglich, aktiv am wirtschaftlichen Fortschritt teilzunehmen294. Gesellschaften bentigen, auf der Grundlage des Vertrauens, eine soziale Transparenz, nmlich die Freiheit der Menschen, miteinander umzugehen und dabei die Garantie zu haben, dass in der sozialen Ordnung Offenheit herrscht. Zugleich ist sie auch ein bedeutendes Mittel gegen die Korruption auf alle Ebenen295. Transparenzgarantien stehen in Zusammenhang mit politischen und kono- mischen Freiheiten. Diese sind in demokratischen Ordnungen strker defi- niert als in autoritren Systemen296. Der geschichtliche Verdienst des Kapita- lismus besteht nicht primr darin, dass er zu einer gewaltigen Erhhung des Warenangebots und Produktionssteigerungen gefhrt hat, sondern vielmehr in der Erschaffung einer Art Geschftsmoral297. Soziale Sicherheit, die gleichzeitig Ziel und Mittel der Entwicklung darstellt, wird durch Sozialversicherungen garantiert298. Diese Mechanismen verhin- dern, dass die betroffenen Menschen in extreme Armut oder Hungersnot ge- raten299. Zu dem Bereich der sozialen Sicherheit zhlen Arbeitslosenunter- sttzung, ein Mindesteinkommen fr Mit