Die «Züri-Reihe» der Zürcher Kantonalbank · Schliesslich erzählt Peter Zeindler eine...

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Zürich: wanderbar Die «Züri-Reihe» der Zürcher Kantonalbank

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Zürich: wanderbarDie «Züri-Reihe» der Zürcher Kantonalbank

4 Impressum

Herausgeberin: Zürcher Kantonalbank, Zürich 2004

Konzept und Redaktion: Othmar Köchle, Simon NetzleZürcher Kantonalbank Gestaltung:Iwan Raschle Grafischer Gestalter SGD SWB8626 Ottikon

Bildbearbeitung, Lithos:Lithwork Phoenix AG

Druck:Zürichsee Druckereien AG, Stäfa

Einband: Buchbinderei Burkhardt AG,Mönchaltorf

Copyright: Zürcher Kantonalbank, 2004 Nachdruck der Beiträge in Ab- sprache mit der Redaktion unter Quellenangabe; Belegexemplar erwünscht.

5Inhalt

6 Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Zürich ist «wanderbar». Wer sich zu Fuss auf den Weg durch unse-ren Kanton macht, erkennt, wie nahe das «Gute» liegt. Ich denke an Stimmungen an den Seeuferwegen am Greifensee, an die Aussicht vom Üetliberg und entlang der Albiskette, an die Uferwege der Sihl, der Limmat, der Thur oder der Töss, wo man immer wieder auf das Lichterspiel im Wasser blickt. Selbst wenn wir uns nach Stränden auf Bali sehnen, Abenteuer in Neuseeland erleben wollen oder von alten Kulturen in Mexiko träumen – vergessen wir darob die wunderbaren Landstriche in nächster Nähe nicht.

Die Zürcher Kantonalbank ist die nahe Bank. Da liegt es nahe, diese Ausgabe der beliebten Züri-Reihe dem Wandern zu widmen. Dabei denken wir nicht nur an das Unterwegs-Sein in Musse, sondern öffnen das Thema. Die Rede ist in den acht Texten, die hier vorliegen, von den Volkswanderungen, Werner Catrina hat eine organisierte Wanderung des ZAW begleitet und sich dabei Gedanken zum Wandern gemacht, von Auswanderern und Einwanderern, von Papier- und virtuellen Landschaften, von der Geschichte des Wanderns in der Schweiz. Es kommen Zürcher zu Wort, die eine besondere Beziehung zum Unterwegs-Sein haben und Erich Grasdorf legt dar, weshalb es sich lohnt in die Nähe zu schweifen. Schliesslich erzählt Peter Zeindler eine Wander-Kurzgeschichte, die ein überraschendes Ende findet.

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Dieser Band der Züri-Reihe fügt sich ein in unser Engagement für die Erholungsräume im Kanton Zürich, sei es unsere Zusammenarbeit mit den Zürcher Wanderwegen ZAW, seien es die sechs ZKB Rastplätze, die wir an einigen der schönsten Orte im Kanton der Öffentlichkeit übergeben konnten oder sei es unsere Stiftung Botanischer Garten Grüningen, dieses idyllische Kleinod im Zürcher Oberland.

Wir wünschen Ihnen viele neue Einsichten, Ausblicke und Überraschungen ebenso bei der Lektüre der Züri-Reihe wie bei eigenen Entdeckungen im «wanderbaren» Zürich.

Für das ZKB PräsidiumLiselotte Illi

PS: Übrigens, in der kleinen Wanderbroschüre, die wir in die hintere Umschlagseite eingesteckt haben, finden Sie einige Vorschläge, wo im Kanton Zürich Entdeckungen auf Sie warten.

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Radiowanderungen bewegten in den Siebzigerjahren die Massen. Der moderne Mensch wandert lieber zu zweit, mit der Familie oder in kleinen Gruppen. Dennoch lebt die Volkswanderung weiter. Unterwegs mit 172 Ausflüglern an einer vom Verein Zürcher Wanderwege (ZAW) organisierten Tour über den Dättenberg. Text und Bilder: Werner Catrina

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Der Bahnhof Bülach döst am zweiten Sonntag im November in der fahlen Spätherbstsonne vor sich hin. Eine kleine Gruppe mit

Rucksäcken, bunten Windjacken und Wanderschuhen wartet gegen Mittag auf den Start des Fussmarsches über den Dättenberg. Kurz nach-einander fahren die Züge aus Zürich und Winterthur ein, und plötzlich füllt sich der Platz mit sportlich gekleideten Menschen. Angeführt vom Wanderleiter Hans Keller des Vereins Zürcher Wanderwege, welcher die Tour organisiert, setzen sich schliesslich 172 Personen plaudernd und lachend in Bewegung; überwiegend Senioren, dazwischen, ganze Familien und auch ein paar Studentinnen. Nach dem Marsch durch Bülachs Agglomeration vorbei an Gewerbebauten und Wohnblocks be-wegt sich der lange Zug über einen Feldweg durch Äcker und Wiesen nach Norden zum Höhenrainwald. Eine junge Musiklehrerin begleitet ihre Mutter bereits zum dritten Mal auf einer ZAW-Wanderung. «Es gefällt mir, dass man sich ohne Anmeldung spontan zum Mitmachen entschlies-sen kann», lobt die Tochter, «und ich schätze die lockere Atmosphäre.» «Wir sind schon auf den Lofoten gewandert, erlebten Outdoor-Ferien in Patagonien und schlugen uns durch den Amazonasdschungel», er-zählt ein Geschäftsmann aus Wetzikon in Begleitung seiner Frau beim Einschwenken in den Höhenrainwald, «doch die Wanderwege im Kanton

Vom Volksmarsch zum individuellen Wandern

Die Wanderer lassen sich einfangen vom Zauber der Nähe, vom Reichtum einer unbekannten Landschaft

12 Zürich überraschen und begeistern uns immer wieder neu. Viele realisie-ren nicht, welchen attraktiven Erholungsraum wir quasi vor der Haustüre haben».

Zwei Dutzend Wanderungen pro Jahr

Jahr für Jahr organisiert die ZAW in Zusammenarbeit mit den SBB zwi-schen März und Oktober zwei Dutzend Wanderungen an Sonntagen, mehrere Mittwochswanderungen und sogenannte «Telefonwanderungen» (Vorschläge abzufragen beim Wandertelefon 056 496 85 49), dazu kürzere Spaziergänge inklusive Schneetouren im Winter. Ein erfahre-nes Team von Leiterinnen und Leitern konzipiert die Ausflüge verschie-dener Schwierigkeitsgrade, deren Startpunkt immer durch öffentliche Verkehrsmittel erreichbar ist. Alle Ausflüge – oftmals auch zu attraktiven Wanderpfaden in anderen Kantonen – werden im kostenlosen, von der Zürcher Kantonalbank finanzierten ZAW-Jahresprogramm publiziert.

Die Touren sind perfekt, aber unaufdringlich organisiert. Der Leiter mar-schiert jeweils an der Spitze, ein weiteres Mitglied des Vereins bilden das Schlusslicht und sorgt dafür, dass niemand zurückbleibt. Sie sei Witwe, er-klärt eine seit vielen Jahren in Winterthur wohnhafte gebürtige Deutsche. «Ich bin wenn immer möglich auf allen ZAW-Wanderungen mit dabei», erklärt sie, «ich kenne inzwischen manche andere Stammgäste, habe gute Freunde gewonnen und entdecke auf jeder Tour eine neue Gegend meiner Wahlheimat». Die aufgelockerte Schar passiert jetzt das Ried Bömösli, ein vom Naturschutzverein Bülach betreutes Kleinod, über dem Libellen kreisen. Sanft steigt der Wanderweg auf zum Petersboden mit Aussicht auf das liebliche Hügelland mit der Alpenkette im Hintergrund. Mit 518 Metern über Meer liegt dieser höchste Punkt der Wanderung, knapp hundert Meter über dem Bülacher Bahnhof. Die Wanderer lassen

Macht sich auf, den Erholungsraum vor der Haustüre zu entdecken: eine bunt gemischte Wandergruppe am Bahnhof Bülach.

sich einfangen vom Zauber der Nähe, vom Reichtum einer unbekannten Landschaft nur zwei Dutzend Kilometer entfernt von der grössten Stadt der Schweiz.

Es begann vor 70 Jahren

Der Verein Zürcher Wanderwege, Schirmherr über die Wanderpfade des Kantons, blickt auf eine lange Geschichte zurück. In der Wirtschaftskrise der Dreissigerjahre suchten Bürgerinnen und Bürger nach sinnvoller Beschäftigung und gründete 1933 die Zürcherische Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege, die sich auch als Gegenpol zur aufziehenden Motorisierung verstand. 14 Wanderrouten, die sternförmig von Zürich aus in alle Teile des Kantons führten, bildeten das Startkapital der Arbeitsgemeinschaft, die rasch mit der systematischen Signalisierung der Pfade begann. Im Zweiten Weltkrieg mussten allerdings alle Wegweiser aus militärischen Gründen verschwinden und in der Hoffnung auf bessere

Zeiten eingelagert werden. In der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit wuchs das Netz der Wanderwege rasch. 1950 erschien im Verlag Orell Füssli erstmals die Wanderkarte des Kantons Zürich und eröffnete einem erfreuten Publikum neue Perspektiven des bevölkerungsreichsten Kantons der Schweiz. Wandern in grossen Gruppen gewann im ganzen Land an Popularität.

Radiowanderungen als Volksbewegung

Der Obwaldner Pionier Albert Rohrer erfand Anfang der Sechzigerjahre fast zufällig die Radiowanderungen: An einer Sendung im Radiostudio Zürich über die Wunder der Natur sprach man auch übers Wandern, und Rohrer schlug vor, Wanderungen am Radio zu organisieren. Der Verein Schweizer Wanderwege, wo Rohrer als Mitglied der Technischen Kommission wirkte, nahm die Idee begeistert auf. Radiowanderungen, von vielen mit Freude erlebt und von andern belächelt, entwickelten sich

14 Wanderrouten führen von Zürich aus sternförmig in alle Teile des Kantons

zu einer Art Volksbewegung. Nach und nach organisierte jede Sektion des Vereins Schweizer Wanderwege Radiowanderungen mit zuweilen über Tausend Sommerfrischlern!

Nach Spitzen in den Siebziger und Achtzigerjahren ebbte die Faszination an diesem Massen-Naturerlebnis ab, 2003 fand die aller-letzte Radiowanderung statt. Auch die Teilnehmerzahlen der geführten ZAW-Wanderungen nahmen in den letzten Jahren eher ab und liegen jetzt im Schnitt bei etwa 120 Personen. Immer mehr Naturbegeisterte wandern jedoch individuell, mit der Familie oder mit Freunden auf den vom Verein Zürcher Wanderwege gemachten Routenvorschlägen.

Wanderwege – auch in der Bundesverfassung

62 000 Kilometer Wanderwege erschliessen Täler und Berge der Schweiz, was dem anderthalbfachen dem Erdumfang entspricht! Bereits

16 in der Bundesverfassung von 1874 steht im Artikel quater 93: «Der Bund stellt Grundsätze auf für Fuss- und Wanderwegnetze. Die Anlage und Erhaltung von Fuss- und Wanderwegnetzen sind Sache der Kantone. Der Bund kann ihre Tätigkeit unterstützen und koordinieren.» Das einschlägige Bundesgesetz aus dem Jahr 1985 umschreibt detailliert die Förderung der Fusswegnetze durch Bund und Kantone und schafft die Voraussetzungen, um aus der Schweiz ein Eldorado für Wandervögel zu machen. Knapp zwei Drittel der Wege sind – wie es die Wanderer lieben – naturbelas-sen. Weil die Wege möglichst an den öffentlichen Verkehr angebunden sind, beginnen sie in den Ortszenteren und sind deshalb anfangs geteert. Manche Wanderwege dienen auch der Land- und Forstwirtschaft oder der Armee und sind deshalb mit Belag versehen; verglichen mit andern Ländern ist der Anteil an naturbelassenen Wanderwegen in der Schweiz jedoch sehr hoch. Die Menschen lieben Wanderpfade mit attraktiver Aussicht, deshalb ist zum Beispiel der Gratweg vom Zürcher Üetliberg zur Felsenegg hoch über Adliswil mit Aussicht auf See und Alpen einer der meistfrequentierten im Lande.

Warum wandert der moderne Mensch?

Während im Südosten die verschneiten Glarner Alpen in der Nachmittagssonne schimmern, bewegen sich die Wanderer in einem lo-ckeren Zug durch die liebliche Zürcher Unterländer Landschaft. Es muss tiefer liegende Gründe geben, weshalb heutzutage so viele Menschen in der Freizeit wandern. Antworten darauf gibt Dr. Rainer Brämer, der an der Universität Marburg als Natursoziologe forscht und lehrt. «Wir leben heute immer mehr hinter Glas; hinter den Fenstern von Wohnungen, Büros, Schulen und Shopping Centers, und wenn wir uns im Auto, der Bahn oder im Flugzeug fortbewegen, sitzen wir wiederum hinter Glas», erläutert der Fachmann, «Berufsleben und Freizeit spielen sich zudem oft vor Computer- und Fernsehschirmen ab. Für die wirkliche Natur, ja nur für

17ein schlichtes Draussen ausserhalb der Glasmenagerie, bleiben da kaum mehr als zehn Prozent unserer täglichen Wachzeit».

Obwohl der Umweltschutz in den letzten Jahren in der öffentlichen Debatte an Bedeutung verloren hat, behielt die Natur einen hohen Stellenwert als Erholungsraum. 90 Prozent der Deutschen – bei den Schweizern sind die Zahlen wohl ähnlich hoch – empfinden sich als Naturgeniesser, lieben Pflanzen im Haus, in Parks und in Wäldern und wandert gern in schönen Landschaften. Der Natursoziologe kommentiert: «Für viele wird die Natur zu einer Art Kulisse für die Freizeit.»

Angesichts der Hochstimmung der Wanderer am Dättenberg drängt sich die Frage auf, welche Landschaften die modernen Mensch am stärks-ten ansprechen. «Die zahlreichen Studien zur Landschaftsästhetik haben einerseits gezeigt, dass wir in der Regel eine besondere Zuneigung zu der Landschaftsformation entwickeln, in der wir aufgewachsen sind», er-klärt Rainer Brämer, «darüber hinaus gibt es jedoch nahezu weltweit erstaunlich einheitliche Vorstellungen davon, was eine schöne Landschaft ausmacht». Ob Europäer, Amerikaner oder Asiaten empfinden die meisten Menschen Szenerien gleichermassen als schön, die eine rela-tive Naturnähe ohne künstlich-technische Elemente zeigen, jedoch nicht mit Wildnis gleichzusetzen sind. Eine offene Vegetation nach Art einer Parklandschaft mit Wald und Wiesen wird als schön empfunden, dazu natürliche Gewässer und Hügel oder Berge im Hintergrund. Als be-sonders attraktiv gilt ein See, in dem sich die Landschaft spiegelt. Bei der Frage nach den Ursachen dieses naturästhetischen Gleichklangs, verweist der Wissenschafter auf die menschliche Gattungsgeschichte. «Eine genauere Analyse zeigt, dass die heute als schön empfundenen Landschaftselemente günstig für das Überleben waren», erklärt Brämer, «angefangen vom lebensnotwendigen Wasser zu übersichtlichen,

18 bewegungsfreundlichen Landschaftsstrukturen bis zu jenem sicheren Waldrand, der zugleich Sicht und Rückzugsmöglichkeiten bietet.» Der Natursoziologe weiter: «Was damals das Wohlgefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermittelte, ruft in uns offenkundig auch heute noch ähnliche Empfindungen hervor, ohne dass wir deren Ursachen mangels unmittelbarer Bedrohung noch erkennen können.»

Professionell markierte Wanderwege

Was die ZAW leiste, sei einmalig, lobt eine fitte Dame auf der spät-herbstlichen Wanderung rund um Bülach. Sie wandere oft auch im Ausland, aber so gut beschriftete Wege habe sie nirgendwo auf der Welt gesehen. Kein Zufall; denn der Verein Zürcher Wanderwege, der früher Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege hiess, besorgt die einheitliche Markierung mit den informativen gelben Wegweisern professionell und mit grosser Sorgfalt. Ausser dem Geschäftsführer und Technischen Leiter Heinz Binder engagieren sich 35 Kreisleiter und über 180 Ortsmitarbeiter in der Organisation. Oberhalb Eschenmoosen ist auf der Zürcher Unterländer Wanderung jetzt eine zweite Ruhepause angesagt, Bülach liegt unten in der Ebene, dahinter starten und landen die Flugzeuge auf den Pisten von Kloten und verbinden die Schweiz mit der weiten Welt. Die Menschen plaudern miteinander, geniessen eine Frucht oder ein Sandwich; die Stimmung könnte nicht entspannter und friedlicher sein.

6 000 Mitglieder – 2 700 Kilometer Wanderwege

Rund 6 000 Mitglieder zählt der Verein Zürcher Wanderwege; praktisch alle Gemeinden des Kantons sind zudem Mitglieder und zahlen ihren Obolus, der aufgrund der Bevölkerungszahl erhoben wird. Wie Heinz Binder im ZAW-Büro in Adliswil erklärt, wird der Verein immer wieder

Die Menschen plaudern miteinander, geniessen eine Frucht oder ein Sandwich; die Stimmung könnte nicht entspannter und friedlicher sein.

mit Legaten und testamentarische Vergaben bedacht. «Das hilft uns, die vielen Aufgaben wie die Markierung der Wanderwege, der Ersatz beschädigter Wegweiser und das Signalisieren neuer Wege zu erfül-len», sagt der Geschäftsführer und Technische Leiter. Die Publikation von Wanderbüchern, Broschüren und Wanderkarten und die Organisation der Wanderungen gehören weiter zum Pflichtenheft des ZAW. Der Verein verfügte über ein jährliches Budget von rund 600 000 Franken, wovon die Hälfte der Markierung des 2 700 Kilometer messenden kantonalen Wanderwegnetzes dient. Weil die ZAW die Markierung als Auftrag des Regierungsrates erfüllen, werden diese Kosten vom Kanton zurück-erstattet.

Laufen und Wandern als Megatrend

«Laufen ist relativ einfach auszuüben, gesund und sozial anerkannt», erklärt der Soziologe Markus Lamprecht. Als Gegenpol zum Wandern

20 in der freien Natur haben sich denn auch als neueres Phänomen die Massenläufe in den Städten wie der populäre Zürcher Silvesterlauf oder die Course de L‘Escalade in Genf etabliert. Über 20 000 Läuferinnen und Läufer joggen jeweils Anfang Dezember zur Erinnerung an Catherine Cheynel durch die Rohnestadt; die Männer laufen 7.25, die Frauen 4.78 Kilometer. Die mutige Genferin hatte in der Nacht vom 11. auf den 12. Dezember 1602 einem angreifenden savoyischen Soldaten eine Pfanne auf den Kopf gehauen und damit den erfolgreichen Widerstand gegen die anstürmenden feindlichen Truppen eingeleitet. 400 Jahre danach ist die Pfanne von Mère Royaume, die «Marmite», das Symbol des Genfer Volkslaufes und eines überschäumenden Volksfestes.

Doch längst nicht das ganze Volk wandert oder joggt. Ein Drittel der Schweizer Bevölkerung treibt überhaupt keinen Sport und bewegt sich nur minimal, ein weiteres Drittel ertüchtigt den Körper gelegentlich, wäh-rend sich ein Drittel konsequent sportlich betätigt. Moderne Jogger und Wanderer sind oft im trendigen Outfit unterwegs, was die Umsätze einer ganzen Branche beflügelt.

Fazit: Die Radiowanderung ist Geschichte, und die geführte ZAW-Touren verzeichnen eher sinkende Teilnehmerzahlen, doch Wandern gilt als ge-sellschaftlicher Megatrend. «Die Zahl der Wanderer steigt», ist Heinz Binder überzeugt, «doch wer wandert, ist heute weniger in Massen unter-wegs, sondern erlebt die Natur mit der Familie oder wandert individuell mit Freunden». Die Bülacher Wanderung geht bei sinkender Sonne zu Ende. Nochmals steigt der Weg an, diesmal auf den Rüebisberg, um dann sanft abzufal-len. Nach dreieinhalb Stunden und 12 Kilometern in den Beinen errei-

21chen die Naturfreunde Bülach, wo die einen einkehren und andere den nächsten Zug nach Hause nehmen. Und immer wieder hört man zum Abschied: «Auf Wiedersehen bei der nächsten ZAW-Wanderung!»

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Wandern – auswandern, einwandern: Menschen verlassen ihr Zuhause und ver-suchen ihr Glück anderswo – seit Menschen-gedenken. Eine Spurensuche. Demgegenüber erzählen Einwanderer aus den ehemaligen Siedlungskolonien, wie sie in die Schweiz gekommen sind und wie sie dieses Land erleben.

Text: Christian Felix, Bilder: Marco Carocari

25Röbi ist Bob,Sepp ist Joe

S chlag zwölf rollt das Gatter beim Portier zurück, die ersten hung-rigen Arbeiter drängen sich durch den breiter werdenden Spalt, ge-

folgt von Hundertschaften, die in kürzester Zeit die Kappeligasse füllen, dann die Weitegasse hinunterströmen zur Kantine der Adolph Saurer AG. Der Malerlehrling Robert, wohnhaft Weitegasse 11, beobachtet die Herde vom Garten aus. Das Jahr? Wohl 1947 oder 1948. Roberts Vater Robert ist Lastwagenfahrer bei der Adolph Saurer AG – Lastwagen, Stickmaschinen, Webmaschinen –, Mutter Mathilde und Vater putzen abends zusammen die Büros der Firma, alle Untermieter im Elternhaus, der Mann von Tante Trudi nebenan und deren Untermieter und überhaupt alle, alle die Tanten, Onkel, die in Arbon geblieben sind, Anna, Werner und Hugo, alle arbeiten für die Firma, im Exportbüro, im Magazin und vor allem in der Giesserei. Ein Onkel nämlich hat es bis zum Direktor der Giesserei gebracht.

Ohne mich!

«Ohne mich», sagt sich der junge Robert, «ich werde nie um zwölf zum Tor hinaus kommen, um halb zwei hinein, um sechs raus, sieben rein. Nie». Drei Brüder des Vaters sind ausgewandert, Onkel Dölf nach Amerika, wo er es zum Millionär gebracht hat. Robert Senior selbst hat es in den Dreissigerjahren auch versucht. Doch die USA geizten mit Visa. Allein in Alaska waren Einwanderer noch willkommen. Als endlich die

26 Schiffkarten unterwegs waren, bekam die Familie dann doch keine Ein-wanderungsbewilligung. Jetzt will der junge Robert sein Glück wagen. Der Direktor-Onkel kennt eine Familie in Auckland, Neuseeland.

Über die Gründe der Schweizer Auswanderung nach Übersee sind Bände geschrieben worden. Die Schweiz war im 19. und im frühen 20. Jahrhundert ein Auswanderungsland, soviel steht fest. «Ein armes Auswanderungsland», wird gelegentlich kolportiert. Klingt interessant, stimmt aber nicht. Spätestens mit dem Dreissigjährigen Krieg 1618 bis 1648 wurde die Schweiz ausgesprochen wohlhabend. Der Krieg ver-schonte die Eidgenossen und begünstigte das einträgliche Söldnerwesen, den Kriegsdienst für Fremde Herrscher, die Urform schweizerischer Auswanderung in der Neuzeit. Später, 1748, bezeichnete der Dictionnaire Universal de Commerce Zürich als «un véritable Pérou«, als ein wahres Peru, in Anspielung auf das märchenhaft reiche Silberland in den Anden. Die Schweiz war kein kontinentales Irland; also kein Massenexodus wegen Hungersnot und dergleichen.

Dem allgemeinen Wohlstand und den geordneten Verhältnissen zum Trotz gab es, gibt es in der Schweiz ein Oben und ein Unten. Schweizer Arbeitern und Kleinbauern standen zwar nicht schlechter da als die unte-ren Klassen in anderen Ländern; möglicherweise sogar eher besser. Arm ist man aber letzlich im Vergleich zu anderen, besser gestellten. Insofern ist auch arm, wer sich gegenüber anderen arm vorkommt. Gerade in der Schweiz, in einem Land, in dem es einem fast schon per Dekret gut zu gehen hat, mag es besonders demütigend sein, zu den Habenichtsen zu gehören. Vor allem aber: In der Schweiz waren die Karten verteilt. Bis weit ins 19. Jahrhundert hatten immer dieselben Familien das Geld und das Sagen, immer dieselben sich einzuschränken und den Mund zu

halten. Joseph Küng, alias Joe King, der aus Benken in der Lindtebene 1878 in die USA aus-wanderte, schrieb:

«Die Lebensbedingungen unserer Familie waren seit Generationen dieselben, denn in einem tradi-tionellen Land wie der Schweiz konnte sich die Situation der Arbeiterklasse nur verändern, wenn man – wie in unserem Fall – auswanderte.»

Der Fabrikarbeiter, der mit der Herde die Weitegasse hinunter der Kantine zueilte, mag zufrieden gewesen sein. Angenommen, die Beförderung zum Vorarbeiter stand an. Dann, so rechnete er, würde er es sich leisten können, für einen Aufschlag von 50 Rappen in der be-dienten Abteilung der Saurer-Kantine zu essen, statt im Selbstbedienungsteil. Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind wissen-schaftlich zu quantifizieren. Die Befindlichkeit des Einzelnen ist es nicht. Die Mehrheit der Schweizer-Arbeiter trennten vielleicht nur die 50 Rappen vom Glück.

Schiff ahoi!

Nicht so den jungen Robert. Bei ihm war es der halbe Erdumfang. Ein Foto aus dem Jahr 1950 zeigt den 20-Jährigen an Bord der «Toscana», als das Schiff eben durch den Suezkanal läuft.

Stephen Holyer, 35, IT-Spezialist,

Texas, USA.

«Im Auftrag meiner Firma kam ich mehrmals nach Zürich. Ich verliebte mich in die Stadt. Vor drei Jahren zog ich hier her. Das Freizeitangebot hier ist fantastisch: die Oper, Biken am See, Wintersport in den Bergen. Ich brauche dazu nicht einmal ein Auto. Inzwischen spreche ich Deutsch, doch leider nur wie ein dreijähriges Kind. Das schränkt mich ein. Und gelegentlich vermisse ich ein richtiges Tex-Mex-Essen.»

28 Neben ihm zwei Kollegen aus der Heimat, die ihn auf dem Weg ins Südseeabenteuer begleiten. Einer davon ist sein bester Freund Arthur. Die Befreiung aus der drückenden Schweizer Nachkriegszeit, die ägyptische Sonne sorgen vorderhand für gute Laune. Ansonsten bietet die «Toscana» ausser einwandfreien Spaghetti nichts von dem, was eine Schiffsreise reizvoll macht. Der Kahn ist überladen mit italienischen Auswanderern nach Australien. Robert holt sich an Bord ein Rückenleiden, dass chro-nisch wird.

Auswandererschiffe waren keine Queen Mary 2, und die Reise der «Titanic» ist nur das bekannteste Beispiel einer Überfahrt, die für Europamüde auf dem Meeresgrund endete. Dem Vater des schon zitier-ten Joe King hingegen wurde es eher heiss unter den Sohlen:

«Ende 1869 verliess (der Vater) die Schweiz und schiffte sich in Le Havre auf einem Segelschiff, das in 38 Tagen den Atlantik überquerte, ein. Ungefähr auf der Hälfte des Weges brach im Frachtraum Feuer aus. Nur die Warnung des Kapitäns, Unruhestifter und Panikmacher würden in Ketten gelegt oder er-schossen, war es zu verdanken, dass keine Panik ausbrach. Als das Schiff in New York anlief, brannte es immer noch, das Feuer hatte aber unter Kontrolle gebracht werden können.»

Auf der anderen Seite war die Reise oft der erlebnisreichste Abschnitt der Emigration. Für viele, zumal im 19. Jahrhundert, gab es nie wieder eine Gelegenheit, so weit von zu Hause wegzukommen, und soviel Neues und Fremdes zu entdecken. Zudem lebte man auf der Reise noch vom Ersparten oder von einem Kredit. Vorderhand blieb man vom Wissen um die Lebensbedingungen am neuen Ort verschont. Joe King beschrieb seine Fahrt auf dem Missouri nach Montana:

29«Am interessantesten war es, wenn eine riesige Herde den Fluss überquerte und sich von nichts und niemandem davon abhalten liess. Einmal waren Büffel rund ums Schiff, das anhalten musste, bis die Tiere das andere Ufer erreicht hatten. Man kann sich das Gefühl der Passagiere bei diesem Anblick vorstellen.»

Im Schweisse deines Angesichts

In Neuseeland arbeitet Bob, wie er nun heisst, bei einem Schweizer Maler namens Camenzind in Putaruru. (Das Maori-Wort be-deutet «Eulennest».) Er teilt mit Kumpels das Zimmer, wird krank und immer schwächer. Der Arzt stellt Unterernährung fest. Bob hat sich während Monaten in Take Aways ernährt, dann, angewidert von den landesüblichen Fish and Chips, fast gar nichts mehr gegessen. Das ist, wie gesagt, um 1950.

Wie ungleich steiniger und dornenvoll waren die Startbedingungen im 19. Jahrhundert! Häufig überboten die ersten Jahre alles, was die Siedler in Europa an Entbehrung und Not je erlebt hatten. Joe King arbeite im rekordkal-ten Winter 1880/81 in Helena, Montana, bei einem Metzger. In der Stadt kannte er kaum jemanden und lernte auch niemanden kennen, sprach auch noch kaum Englisch.

Marla Landolt, 44, Informatikerin

und Ernährungsberaterin,

Chicago, USA.

«Die Liebe brachte mich 1988 in die Schweiz. Inzwischen bin mit einem Schweizer verheiratet und habe eine achtjährige Tochter. Vor allen Dingen mag ich die Landschaft in diesem Land. Sie lockt einen ins Freie, und so lebt man gesünder als in den USA. Manchmal vermisse ich allerdings den Tatendrang der Amerikaner. Mir fehlen auch Geschäfte hier, die sieben Tage 24 Stunden lang offen sind. Ich habe mich von Anfang an für Hochdeutsch entschieden und spreche es fliessend.»

30 Joe litt Hunger und schlich sich bei Feierabend in die Saloons, um sich aufzuwärmen:

«… und wenn ich dann schliesslich in mein Zimmer ging, war es, wie wenn ich in einen Eisschrank kommen würde. Das Eis glitzerte an den Wänden und war so dick, dass man es leicht mit einem Spaten hätte abkratzen können. Es war ein Wunder, dass ich mit meinem kalten Arbeitsplatz, meinem kalten Zimmer und den dünnen Kleidern nicht erfror. Einmal schlief ich zwei Wochen mit meinen Stiefeln an den Füssen, aus Angst, sie am Morgen nicht mehr anziehen zu können …»

Im amerikanischen Westen war die Blockhütte die übliche Behausung: geschälte Rundbalken, die Zwischenräume mit Lehm verstopft, das Dach mit Torf bedeckt, eine Feuerstelle, Türe und ein Fenster, Küche und ein einziges weiteres Zimmer. Bei Krankheit, Geburt oder Unfall war kein Arzt da, bei Viehdiebstahl keine Polizei, bei Betrug und Streitigkeiten um Land kein Friedensrichter. Die Kraft des eigenen Körpers war die einzige Garantie für das Überleben. Doch die Kraft brachte Ertrag. Was jemand in einem solchen Pionierland tut, hat einen unmittelbaren Effekt auf sein Dasein. Packt er an, verdient er Geld; geht er klug vor, vermeidet er Unglück. Die eigenen Arme und der eigene Kopf entscheiden über Erfolg oder Misserfolg. Joe King hatte zunächst in der Schweiz eine sichere Stelle als Gärtner. Der Meister riet ihm, zu bleiben und nicht mit der Mutter zum Vater nach Montana auszuwandern.

«Würde ich seinen Rat befolgen, so hätte ich mit dreissig eine respektvolle Position mit gutem Einkommen inne. Später bedauerte ich oft, seinen Rat nicht befolgt zu haben. Jetzt bin ich jedoch überzeugt, das Richtige getan zu haben, obwohl es lange gebraucht hat, dies zu beweisen.»

Auswanderer vermochten sich nur durch Härte und Beharrungsvermögen aus dem Anfangstief hoch rackern, so weit, bis sie die Stellung über-trafen, die in der Schweiz tüchtige Arbeiter erreichen konnten: regelmässiger Lohn, ge-heizte Stube, Sonntagsbraten, eine Uhr und ein Ableben in Ehren mit Blaskapelle – ohne in den letzten Jahren noch armengenössig gewor-den zu sein. Lange nicht alle schafften diese Wende. Wenig dokumentiert ist das Schicksal jener, die im Streit erschossen wurden, die als Säufer im Winter vor einem Saloon erfroren, die am Ende als Viehdiebe am Galgen hin-gen, oder viel banaler, die sich als Knechte oder Minenarbeiter zugrunde schufteten. Fast nur die Erfolgreichen haben Zeugnisse ihres Lebens hinterlassen, Fotos, Tagebücher oder Kinder.

Bobs Freund Arthur kriegt die Kurve in Neu-seeland nicht ganz. Einmal hat er zwar Glück. Sein Haus steht auf einem Grundstück, auf dem ein Einkaufszentrum geplant ist. Er kann seine Parzelle für ein Mehrfaches des Einstandspreises verkaufen. Arthur besucht darauf als reicher Mann die Schweiz. Doch sein Vermögen schmilzt rasch. Er hat sich an das schöne Leben gewöhnt und spinnt fortan eins ums andere merkwürdige Projekte, die ihm wieder das grosse Geld bringen sollen.

Arthur Morgan Rooks, 35, MBA

Student und Management-

praktikant, Chicago, USA.

«Mein Bauch sagt mir, dass ich in hier am richtigen Ort bin. Zürich ist die perfekte Kombination von Gross- und Kleinstadt. Ich kam vor zwölf Jahren hierher, weil ich Auslanderfahrung sammeln wollte. Ich machte an der Zürcher Oper ein Praktikum in Kunstmanagement. Als dunkelhäu-tige Person muss ich in der Schweiz zuerst immer eine Mauer überwinden und die Menschen von meinen Fähigkeiten überzeugen. Zum Glück spreche ich fliessend Deutsch und Schweizerdeutsch.»

32 Am Ende lebt er von der Sozialhilfe. Bob reist 1956 in die Schweiz, diesmal schon auf dem Luftweg, mit der französischen Gesellschaft UTA, über Nouméa, Saigon, Paris. In der Heimat sucht er sich eine Frau. Unter Schweizer Auswanderern kursiert der dringende Rat, auf jeden Fall eine Schweizerin zu heiraten, nur schon wegen des Essens. Das hat Bob nach seiner Erfahrung mit den Fish and Chips sicher besonders beherzigt. Er heiratet die Köchin Frieda, die vorher im Hotel Unterstrass in Zürich am Herd gestanden hat. Mit ihr eröffnet er mehrere Restaurants hintereinander, die «Geneva Bar«, das «Lugano» … Pommes Frites-Tüte um Pommes Frites-Tüte kommt Geld zusammen. Zwei Kinder werden in dieser Zeit in Neuseeland geboren, Bob und Susan.

Go West!

Januar 2004, ein Anruf in Grand Valley, Ontario, Kanada. Ein leichtes spitzes «Yeeeh» meldet sich am anderen Ende der Leitung: Joe Mazenauer. Yeeeh – dazwischen Appenzeller Dialekt: «Wa wettsch wüsse?» Das Thermometer in Süd-Ontario zeigt jetzt mittags minus 20 bis minus 25 Grad. Familie Mazenauer hat es geschafft, definitely. 250 Stück Vieh und 550 Hektaren Land gehören zum Hof, kein Vergleich zu den Appenzeller «Hämetli», auf denen noch heute oft ein knappes Dutzend Kühe weiden. Joe Mazenauer liebt Kanada wegen der Grösse, der Weite des Landes. Da mag der Blizzard noch so eisig um Mazenauers Loghouse (Haus aus Balken) pfeifen.

Landhunger trieb im 19. Jahrhundert zunächst Schweizer Auswanderer fort. Nicht aus jedem Landesteil wanderten anteilmässig gleich viele Menschen aus. Doch ob Prättigau, Maggiatal, St. Galler Oberland, Aargauer Jura oder Klettgau – eine Gemeinsamkeit verband die stark

von Emigration betroffenen Bezirke: Hier warf der Boden geringe Erträge ab. Erbteilung herrschte vor, die Höfe waren zersplittert. Joe King schrieb über seine Familie:

«Mein Grossvater starb, als mein Vater noch ein Junge war. Er hinterliess ein kleines Stück Land, und die Familie machte daraus, was sie konnte.»

Die Auswanderung aus der Schweiz erfolgte in Wellen. Solange die Wirtschaft noch wesent-lich auf dem Agrarsektor beruhte, hing der Kon-junkturverlauf von den Witterungsbedingungen ab. Die Erntezyklen in Übersee und Europa waren nicht deckungsgleich. Deshalb stimm-ten auch die Konjunkturzyklen zwischen der Schweiz und dem wichtigsten Zielland, den USA, nicht im selben Mass überein wie heute. Gute Konjunktur in Nordamerika, Krise in der Schweiz, diese Kombination löste jeweils eine neue Auswanderungswelle aus. Spitzenwerte erreichte die Emigration in den Jahren 1850 bis 1856 sowie 1880 bis 1885. Neben den negativen Faktoren in der Heimat wirkte die Sogwirkung aus dem Zielland. Gold! Als nach den spektakulären Goldfunden in Kalifornien dieses Wort durch die Schweizer Alpentäler hallte, erlebte manches Bergdorf einen wahren Exodus. Das Goldfieber entzog dem Maggiatal

André Yong Shen Kow, 37,

Elektroingenieur, Malaysia.

«Meine Firma bot mir vor drei Jahren einen Job in der Schweiz an. Ich akzeptierte, weil ich die Kultur und die Lebensweise eines fremden Landes kennen lernen wollte. Allerdings fühle ich mich hier nicht zugehörig, da ich die Landessprache nicht spreche, aber auch, weil manche Schweizer glauben, wir Asiaten seien hinter dem Mond. In Asien ist die Arbeit dein Leben. Hier sind Berufs- und Privatleben getrennt. Das schätze ich sehr. In der Schweiz bin ich ein freier Mensch.»

34 in kurzer Zeit 1,5 Prozent der Bevölkerung, im Aargauer Jura waren es bis 2 Prozent. Auf die Stadt Zürich gerechnet wären das 7 200 Personen. Fussnote: Die meisten Schweizer kamen zu spät für das Goldfieber in den amerikanischen Westen. Joe King schreibt über die Goldgräber:

«Die Goldsucher des alten Westens waren die interessantesten unter den Einwanderern. Sie wurden von Berichten über die Goldfunde magisch an-gezogen. Manchmal wurden sie dabei reich, meistens aber wurden sie ent-täuscht und führten ein Leben voll harter Arbeit ohne den üblichen Komfort. Die meisten, die reich geworden waren, hatten sich nicht mehr unter Kontrolle und gaben ihr Vermögen für Geldspiele, Alkohol und allgemeine Zerstreuung aus und hofften dabei immer auf erneutes Glück.»

Gold war als Lockmittel spektakulär, wirtschaftliche Bedeutung indes hatte der Eisenbahnbau in Nordamerika. Eisenbahnen erschlossen Neuland. Jedes Mal, wenn mit einem Konjunkturaufschwung neue Linien durch die Prärien und die Rockies getrieben wurden, zog eine neue Siedlerwelle in den Westen. Mit jeder neuen Bahnschwelle schnürte irgendwo in Europa ein Mensch sein Bündel. Überhaupt war das Auswandern ansteckend. Ein Brief von einem erfolgreichen Auswanderer genügte, um eine halbe Dorfjugend in Erregung zu setzten. Der Onkel in Amerika wurde zum Synonym für Hoffnung.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die Bahnen gebaut, die Goldadern erschöpft und das Land verteilt. Von nun an trieben die in-dustriellen Konjunkturzyklen die Menschen zum Aufbruch. Im klassischen Schweizer Auswanderungskanton, im industrialisierten Glarnerland, war das schon länger der Fall. Glarus war ohnehin ein Spezialfall. Für die Glarner gab es einen besonderen Anziehungspunkt in den USA: New Glarus, Wisconsin, war eine der wenigen funktionieren-den Schweizer Kolonien in Übersee. Der Ort liegt im Dairy Belt, dem

Milchwirtschaftsgebiet, das sich in den USA von Wisconsin über Illinois südlich der Grossen Seen entlang bis zum Staat New York im Osten erstreckt. Dieser Gürtel nahm die meisten Schweizer Siedler in Nordamerika auf. Fussnote: In den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts kauften, sozusa-gen als Nachzügler, viele Schweizer Bauern im benachbarten Süd-Ontario Farmen.

New Glarus wurde mit Hilfe der Glarner Regierung gegründet. 1845 liess sich dort eine Gruppe von 190 Pionieren aus dem Kanton nieder. Die Kolonie hatte den Zweck, in der schweren Wirtschaftskrise der 1840er-Jahre für Not leidende Glarner eine neue Heimat zu schaffen. Die Emigration in der Gruppe oder mindestens im Familienverband war gängig, solange die Auswanderer Land bebauen woll-ten. Ab etwa 1865 jedoch stieg der Anteil der unverheirateten Männer auf 40 Prozent aller Schweizer Auswanderer. Gegen Ende des Jahrhunderts verliessen auch vermehrt Frauen ohne Männer die Schweiz. Im Industriezeitalter wurde die individuelle Auswanderung zu Regel.

Haere ra, Lebwohl!

Irgendwann in den 1960er-Jahren an der Weitegasse 11 zeigt Grossmutter Mathilde auf den Zimmerboden. Da unten, ganz tief unten,

Peter David Nitz, 28, Händler von

Design-Gegenständen, Upstate

New York, USA.

«Die Liebe brachte mich nach Zürich und sie hält mich weiter hier, neben der hohen Lebensqualität. Die Trams sind pünktlich, die Stadt ist sauber. Ich mag Zürich, habe hier keinerlei Probleme, ausser der landestypischen Streitereien um die Waschküche. Ja, das schon: Alles ist ein bisschen eng in der Schweiz. In den USA gibt es mehr Platz. Nach sieben Jahren Zürich spreche ich ein wunder-bares Gemisch von Schweizer- und Hochdeutsch.»

36 auf der anderen Seite der Erde wohnt Röbi. Als ob er der Onkel da unten Kopf stehen würde. Welche Wehmut mit Mathildes Bemerkung verbun-den ist, wird erst klar, als auch ihre Tochter abreist, nach Südafrika, und die Grossmutter in Tränen ausbricht. Auswanderung bedeutete Abschied, vor allem, wenn statt einer ganzen Familie nur einer geht.

Von Robert aus Putaruru kommt höchstens ab und zu ein Brief, eine Postkarte, ein Foto und zu Weihnachen eine Schallplatte mit Maori-Liedern: «Haera Ra – Lebwohl. E taku tau, taku manawa e – Meine Liebe. Mein Herz.» Doch niemanden an der Weitegasse kommt es je in den Sinn, nach Neuseeland anzurufen. Für ein solches Gespräch wagt man es nicht einmal, den Hörer zu berühren, ohne die Furcht, dass man damit gleich den ganzen Hausrat verpfändet. Umgerechnet auf die heu-tige Kaufkraft verschlang noch 1970 ein halbstündiger Anruf rund 1500 Franken! Inzwischen haben sich die Fernverbindungen revolutioniert. (Zum Vergleich: Die Recherchenanrufe nach Auckland für diesen Text kosteten 2004 sieben Franken.) Die Mazenauers aus Kanada reisen, seit die Mutter alt geworden ist, jedes Jahr ins Appenzellerland.

Im 19. Jahrhundert jedoch bedeutete Auswandern oft ein endgültiges Lebewohl. Man schloss die Haustüre für immer, küsste die Lieben zum letzten Mal im Leben und liess die Katze zurück. Auswandern glich dem Tod und der Seelenwanderung von einem Leben ins nächste. Selbst der gewöhnliche Briefverkehr war zur Jahrhundertmitte kostspielig. Meist versiegten die Nachrichten der Emigranten nach wenigen Jahren. In Mümliswil, Engi oder Küblis wusste man nicht, ob der geliebte Sohn, Schatz oder Bruder auf eine Goldader gestossen war oder gerade am Galgen baumelte.

37Die Auswanderer selbst teilen sich bis heute deutlich in zwei Gruppen, in jene, die bald Mühe haben, Deutsch zu sprechen und jene, die Aromat und Maggiwürze einfliegen lassen. Anders gesagt in Assimilierte und Heimwehschweizer. Das Heimweh treibt bisweilen bizarre Blüten. In Überseegegenden mit zahlreichen Schweizer Bewohnern stösst man zwi-schen den landestypischen Bungalows auf perfekte Chalets, Bernerhäuser unter Palmen, auf Fahnen, Schnitzereien und Geranien.

Joe Mazenauer ist in den 24 Jahren, die er nun in Ontario lebt, zum Kanadier geworden. Die Familiensprache ist Englisch, die Kinder sind im Land aufgewachsen. Die Schweiz ist schön für Ferien, findet Joe, doch um wieder dort zu leben? Never! In Kanada gibt es ohnehin alle euro-päischen Importprodukte zu kaufen. Die Frau kocht wie früher, und im Winter steht auf der Farm in Grand Valley Fondue auf dem Tisch.

Bei Robert und Frieda ging der Graben durch die Familie. Bob fühlte sich in Neuseeland heimisch, während seine Frau stilles Heimweh nach der Schweiz litt. Sie arbeitete im Hintergrund, als Hausfrau, Köchin und lernte daher nur mangelhaft Englisch. Heute pendelt Frieda von Sommer zu Sommer zwischen Auckland und Zürich. Robert liegt in Neuseeländischer Erde begraben. Derweil streben in der Weitegasse schon lange keine Arbeiter mehr der Kantine zu.

Die Geschichte der Kartographie beschreibt das gewaltige Projekt, sich ein Bild von der Landschaft zu machen. Das geht von farben-prächtigen Landschaftsgemälden aus dem 17. Jahrhundert über die harte Vermessungs-arbeit in den Alpen, von der Dufourkarte, die klären sollte, wo die Landesgrenze ver-läuft, bis zur virtuellen, zentimetergenauen Abbildung im neuen Atlas der Schweiz. Von Daniel Speich.

41Papierlandschaften –Eine kleine Geschichte der Kartografie

L ewis Carroll, der Schöpfer von Alice im Wunderland, notierte 1893 in einer kurzen Geschichte folgendes Gespräch:

«Wie gross sollte der Massstab einer Karte maximal sein?»«Ungefähr sechs Inch auf die Meile.»«Nur sechs Inch?», rief Mein Herr aus. «Wir haben schon eine Karte im Massstab von sechs Yards auf die Meile gemacht, und wir versuchten uns an einer mit hundert Yards zur Meile. Und schliesslich entwickelten wir die grösste aller Ideen! Wir machten eine Karte unseres Landes im Massstab von einer Meile zur Meile.» «Habt Ihr sie oft benutzt?», fragte ich.«Sie ist bisher noch nie ausgefaltet worden», sagte Mein Herr. «Die Bauern wehrten sich dagegen: Sie sagten, die Karte würde das ganze Land bedecken und kein Sonnenlicht mehr auf die Erde lassen. Deshalb benützen wir heute das Land selbst als seine eigene Karte, und ich kann Ihnen versichern, das ist fast ebenso gut.»

Landkarten und Pläne begleiten uns heute im Alltag überall: beim Wandern in der Landschaft, beim Spaziergang in einer fremden Stadt, beim Verfolgen von Kriegsereignissen im Fernsehen oder in der Zeitung.

Der Traum vom homogenen Bild zwang die eidgenössischen Feldmesser in die abgelegenen Gegenden hinein. «Ingenieure im Nebel», Gemälde von Raphael Ritz (1829 – 1894)

Vermessungen und Pläne liegen allen Bauvorhaben zu Grunde und die Katasterpläne garantieren sicheren Grundbesitz. Das Lesenkönnen von Karten und Plänen kann überlebenswichtig sein, es gehört jedenfalls zur Grundausstattung im modernen Leben. Doch je öfter man mit Karten han-tiert, umso seltener stellt man sich die Frage, was diese Papierlandschaften überhaupt sind, und wie es kommt, dass sie (meistens) recht gut funktio-nieren.

Die beste aller Karten

Das Gespräch von Lewis Carroll mutet absurd an. Da scheint ein Kartograf im steten Bemühen um die möglichst naturgetreue Abbildung seines Landes jede Verhältnismässigkeit aus den Augen verloren zu haben. Je grösser der Massstab, umso detailreicher kann die Karte sein und umso

exakter repräsentiert sie das abgebildete Land – bis sie schliesslich mit diesem zusammenfällt. Die Karte 1:1 stellt wohl an Detailgenauigkeit alles in den Schatten, was die Geschichte der Vermessung hervorgebracht hat. Sie ist gewissermassen die beste aller Karten. Allerding: Wenn sie zum Einsatz käme, läge sie als absolut landschaftsdominierendes Element über dem dargestellten Land. Da sie aber in der Karte (also in sich selbst) nicht eingezeichnet ist, würde sie im Fall ihrer Anwendung das Land nicht angemessen darstellen. Gleichwohl hat die Vision der totalen Deckungsgleichheit von Land und Karte in der Geschichte des Kartenwesens stets als Leitmotiv gedient. Seit Jahrhunderten sind Vermesser und Kartografen damit beschäftigt, die Welt immer genauer auszumes-

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44 sen und immer exaktere Karten zu zeichnen. Die Kartografiegeschichte ist eine grosse Erfolgsgeschichte der zunehmenden Präzision, in deren Verlauf die Übereinstimmung von Land und Karte, von Gegenstand und Bild, stetig erhöht wurde. Oder anders gesagt: Man hat mit giganti-schem Aufwand daran gearbeitet, die Relation zwischen der Karte (1) und der Landschaft (1) in ein Verhältnis von 1:1 zu setzen. Freilich müs-sen sich Karten zwingend von ihrem Gegenstand unterscheiden, um möglichst nahe an das dargestellte Objekt heranzukommen. Sie sind immer Reduktionen davon. Sie zeigen Landstriche in einer verkleinerten Abbildung und kommen deshalb nie ohne Verallgemeinerungen aus. Die Arbeit der Kartografen besteht darin, über diese Ungenauigkeit hinweg möglichst eindeutige Bezüge herzustellen. Doch die so entstehenden Papierbilder der Landschaft stellen seit rund 200 Jahren nur den sicht-barsten Teil kartografischer Unternehmen dar, denn hinter ihnen steht ein wachsendes Archiv von Messreihen und Tabellen. Heute können diese ge-ografischen und topografischen Daten in digitalen Informationssystemen nach Belieben aufeinander bezogen werden. Die bildhaften Pläne und Karten sind lediglich der Ausdruck einer abstrakten Papierlandschaft, in der sich die Realität weitgehend verdoppelt hat.

Das Schweigen der Kartografen

Ein unbestrittener Meilenstein der Schweizer Kartengeschichte ist Hans Conrad Gygers (1599 – 1674) «Landtafel des Zürcher Gebiets» von 1667, ein farbenprächtiges Gemälde des Zürcher Territoriums im ungefäh-ren Massstab von 1:32 000. Während Jahrzehnten hatte der gelernte Maler Gyger das Kantonsgebiet bereist und in akribischer Feldarbeit ein ausserordentlich plastisches Geländebild geschaffen. Sein wichtigs-tes Werkzeug war dabei der Messtisch, ein dreibeiniges Ungetüm mit flacher Zeichenplatte, auf die er Lineal und Winkelmesser legte, und

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direkt, das heisst «planimetrisch», alle markanten Landschaftspunkte in ihren relativen Positionen zu einander einzeichnete. So entstand auf dem Zeichenblatt ein Netz von Kirchtürmen und Hügelkuppen, das anschlies-send farbig mit den eigentlichen Karteninhalten ausgefüllt wurde. Das Resultat war eine Karte, die in ihrer Detailtreue bis ins 19. Jahrhundert hin-ein einzigartig blieb. Aber die Landtafel war auch einzigartig, weil kaum Kopien des Originals erstellt wurden. Vielmehr liess der Zürcher Rat, dem Gyger sein Werk gegen eine bescheidene Entschädigung vermachte, die Karte im innersten Kreis der kantonalen Obrigkeit verschwinden. Kartografisches Wissen über territoriale Verhältnisse war in der Alten Eidgenossenschaft ein streng gehütetes Geheimnis.

46 Dieser Schleier des Geheimnisvollen umgab die Kunst der Kartografen noch bis weit ins 19. Jahrhundert. Doch in dem Masse, wie sich die Anforderungen an Genauigkeit und Präzision vermehrten, nahm auch die Zahl der Mitarbeiter an vermessungstechnischen Unternehmen zu. So waren etwa im «Drawing Room» der königlich englischen Kartografie im Tower zu London um 1780 rund 50 Personen mit dem Erstellen von Karten beschäftigt, und sie alle unterstanden strengster Schweigepflicht. In Frankreich begann im frühen 18. Jahrhundert die erste systematische Landesvermessung, die nicht mehr von einer Einzelperson hätte geleistet werden können. Der Messtisch wurde in der Folge in den wissenschaftli-chen Zentren der Welt zu einem zweitrangigen Hilfsmittel. Karten stützten sich nun auf ein vermessungstechnisches Gerüst, das im Wesentlichen aus berechneten Zahlen bestand.

Die Grundlage der neuen Kartenkunst war ein Triangulationsnetz. Ausgehend von einer Basis, das heisst einer schnurgeraden Linie, deren Länge irgendwo im Land mit Messstangen oder Messketten wirklich auszu-messen war, wurde ein Netz günstig gelegener Aussichtspunkte bestimmt. Von jedem dieser Gipfel und Kuppen mussten zwei weitere gleichartige Punkte mit einem Theodolit, das heisst einem Winkelmessgerät, anvisiert werden. Die festgestellten Winkelgrössen hatte man anschliessend fein säuberlich zu notieren, so dass sie im zentralen Büro zu einem landeswei-ten Dreiecksnetz zusammengetragen werden konnten. Einfache Regeln der Trigonometrie erlaubten es dort – vor der Unbill des Wetters und der Mühsal der Beinarbeit gut geschützt –, die restlichen Werte zu be-rechnen. In einem zweiten Schritt schickte das zentrale topografische Büro Kartografen ins Land hinaus, die das nackte Netz von Punkten mit konkreten Karteninhalten wie der Vegetationsart, den Siedlungen, den Strassen- und Gewässerläufen und der konkreten Geländeformation zu ergänzen hatten.

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Die Dufour-Karte oder: Wo ist eigentlich die Landesgrenze?

In der Schweiz war ein solches Vorgehen lange Zeit unmöglich, weil den Kantonsregierungen der Alten Eidgenossenschaft die Mittel fehlten. Weder die Räte von Bern noch jene von Basel, Zürich oder Genf waren in der Lage, die nötige Zahl an kompetenten Feldmessern unter zentra-ler Leitung zu vereinen. Und weil sie alle davon überzeugt waren, dass topografisches Wissen nicht in falsche Hände geraten sollte, unternah-men sie in vermessungstechnischen Angelegenheiten nichts. Die moderne Schweizer Kartografie setzte erst mit der Entstehung bundesstaatli-cher Institutionen ein, und sie stand – im Unterschied zu Deutschland, Frankreich oder England – von Beginn weg nicht im Zeichen autoritä-rer Geheimhaltung, sondern baute fest auf die entstehende bürgerliche Öffentlichkeit auf.

Anlässlich der Grenzbesetzung von 1809 musste der Eidgenössische Generalstab schmerzlich feststellen, dass er die genaue Lage der zu ver-teidigenden Landesgrenze nicht im Detail kannte. Nun wurden mehrere Fachkräfte unter der Leitung des eidgenössischen Oberstquartiermeisters Konrad Finsler (1765 – 1839) ins Feld geschickt, um diesen Missstand zu beheben. Doch ihre Bemühungen blieben bis zur Intervention der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft im Jahre 1828 weitge-hend fruchtlos. Erst der topografische Wissensdurst dieser Vereinigung interessierter Gelehrter ermöglichte es dem neuen Generalstabschef Guillaume Henri Dufour (1787 – 1875) im Jahre 1833, die Tagsatzung, das heisst den jährlichen Kongress der Kantonsdelegierten, zur Freigabe der nötigen Mittel zu bewegen.

Im Jahre 1834 fanden die grundlegenden Basisvermessungen bei Aarberg im Berner Seeland statt. Ihre exakte Länge wurde anschliessend mit der französischen Vermessung abgeglichen und durch den triangulatori-

48 schen Alpenübergang via die Bündner Alpen, den Johannes Eschmann (1808-1852) bewerkstelligte, mit der Italienisch-Österreichischen Vermessung verbunden. 1837 konnte die eidgenössische Militärbehörde der Tagsatzung einen ersten gesamtschweizerischen Netzentwurf vor-legen. Im Begleitschreiben wurde Wert auf die Feststellung gelegt, die Vorarbeiten zu einer Schweizerkarte bewiesen nichts weniger, als «dass die in der Schweiz unternommenen trigonometrischen Vermessungen, in Hinsicht auf Genauigkeit, auch den besten derartigen Arbeiten anderer Länder in nichts nachstehen.» Nun war auch die Schweiz ins Rennen um die exakteste Papierlandschaft eingestiegen und sollte auf dem Gebiet bald führend sein.

Im Jahre 1845 erschienen das Blatt XVII («Vevey, Sion») und das Blatt XVI («Genf, Lausanne») der auf 25 Blätter angelegten neuen Schweizerkarte. Als ob der Sonderbundskrieg von 1847/48, in dem Dufour die Eidgenössischen Truppen befehligte, und als ob die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 keinen Einschnitt bedeute-ten, lief die Produktion ungebremst bis Mai 1865 weiter, als das letzte Blatt druckfertig war. Zu diesem Zeitpunkt hatten insgesamt 57 952 Blätter des kartografischen Programms die Fertigungsstätte verlassen. Sie alle gin-gen direkt ab der Druckpresse aus dem geschützten Raum obrigkeitlicher Kontrolle hinaus in die Öffentlichkeit und wurden von den Mitgliedern der Naturforschenden Gesellschaft ebenso wie von den Lehrern, den Journalisten, den Kantonsingenieuren und den Universitätsprofessoren sofort in Gebrauch genommen. Besonders interessiert zeigte sich der 1863 gegründete Schweizerische Alpenclub, der es sich vorgenommen hatte, in seinen Exkursionen auch kartografisch aktiv zu werden. «An der Hand unseres vorzüglichen schweizerisch-topographischen Atlasses würden wir zum Theil systematisch die Hochgebirge bereisen, und un-

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sere Schilderungen würden sich mit der Zeit in einem gediegenen geo-graphischen Compendium, einer notwendigen Ergänzung der Karte gewissermassen, zusammenstellen lassen», hatte Rudolf Theodor Simmler (1833 – 1873) an der Gründungsversammlung des Vereins in Aussicht ge-stellt.

Mit den Höhenkurven zur ReliefomanieDie Dufourkarte weckte vom Moment ihres Erscheinens an neue Begehrlichkeiten. Im Gegensatz zur alten Kartenkunst, wie sie von Hans Conrad Gyger im 17. Jahrhundert betrieben worden war, bestand das neue Kartenwerk nicht nur aus den 25 in Kupfer gestochenen Blättern, also gewissermassen aus sich selbst, sondern es verwies auf ein ganzes

50 Arsenal an vermessungstechnischen Grundlagen, die im Topografischen Büro in Genf gehortet wurden. Als Dufour 1865 in den Ruhestand trat, übernahm Hermann Siegfried (1819 – 1879) nicht nur sein Amt, sondern auch zwei Eisenbahnwaggons voller Instrumente, Datenblätter und Originalaufnahmen. Siegfried sei sich wohl bewusst gewesen, schrieb Dufour an den Bundesrat, welch wichtiges Werk er da übernahm: «Il a bien senti l‘importance de ce document pour lequel la Confédération s‘est imposé de si grands sacrifices pécuniaires.»

In enger Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Alpenclub und mit der Naturforschenden Gesellschaft machte sich der neue Kartenchef um-gehend daran, die erarbeiteten vermessungstechnischen Grundlagen, die bisher erst im Massstab 1:50 000 erschienen waren, nun auch im Massstab 1:25 000 zu publizieren. Der grössere Massstab versprach grössere Übereinstimmung zwischen der Karte und dem Land. Zwar waren wiederum vielfältige Arbeiten im Feld zu organisieren und zu finanzieren. Aber im allmählich etablierten Bundesstaat floss Geld für solche Projekte nun leichter. Das gesamte Triangulationsnetz wurde ab 1863 neu vermessen. Und insbesondere das so genannte «Nivellement», das heisst die Höhenmessungen, waren anzugehen, wofür Siegfried den «Pierre du Niton» im Genfersee als Ausgangspunkt bestimmte. Der Alpenclub verdankte die bundesstaatliche Initiative, indem seine Mitglieder die neuen Landeskarten in 1:25 000 vielfach zur Anwendung brachten. Und besonders gewinnbringend liessen sich die nationalen kartografischen Grundlagen in der neuen Milizarmee einsetzen. 1888 publizierte das Militärdepartement ein eigenes «Handbuch über die Terrainlehre, das Kartenlesen und die Recognoscirungen», in dem es den Offizieren an Hand der Dufour- und Siegfriedkarten das operieren im Terrain näher brachte.

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Die Blätter des «Siegfried-Atlas» wurden ungemein populär, wobei die Höhenlinien, mit denen das Gelände dargestellt war, besonderen Anklang fanden. Mit einfachen Mitteln (Pauspapier, Schere, Karton und Leim) machte sich Jung und Alt ausgehend von der Karte daran, dreidimensio-nale Geländemodelle herzustellen – eine eigentliche «Reliefomanie» er-fasste das Land. Karten wurden nun auch zum Pflichtstoff in den Schulen, 1894 gab der Bund den Auftrag für eine nationale Schulwandkarte aus. Und innerhalb der Kartografenzunft wurde mit Schattenwürfen und Farbschummerungen experimentiert, um möglichst plastische Geländebilder zu erzielen. Die Karte sollte die Erdoberfläche so zei-gen, wie sie sich aus der Luft gesehen präsentierte. Sie sollte möglichst

52 naturgetreu sein. Aus dieser Kartografenschule, die im 20. Jahrhundert massgeblich von Eduard Imhof (1895 – 1986) geprägt wurde, gingen Kartenblätter hervor, die wegen ihrer Plastizität und Anschaulichkeit welt-weit Furore machten.

Fotos von oben

In der kartografischen Gründerzeit des späten 19. Jahrhunderts wurde auch die Verbindung der Landestopografie mit allen anderen amtlichen Vermessungsarbeiten entwickelt. Bereits 1866 hatte ein Geometer festge-halten: «Die Katasterpläne dienen ... den Gemeinden und Staatsbehörden zur Projektirung von Kanälen, Strassen und Eisenbahnnetzen und liefern das beste Material zur Herstellung einer ausgezeichneten Landeskarte, namentlich wenn damit die nöthigen Höhenmessungen verbunden wer-den.» Die Katastergeometer arbeiteten noch weitgehend nach der alten Methode Gygers mit dem Messtisch. Doch 1911 schrieb ihnen das neue Zivilgesetzbuch vor, ihre Grundbuchvermessungen auf die mathemati-schen Grundlagen der Landestopografie zu stellen. Auch die Geometer begannen nun, Zahlen zu liefern, die sich mit den Daten des Bundes verbinden liessen.

Von 1910 bis 1947 wurde das alte Dreiecksnetz erneut überprüft und um rund 67 000 Punkte ergänzt. Zur Absicherung der Arbeit erstellten die Ingenieure metallene Dreieckskonstruktionen, die noch bis in die 1980er Jahre hinein auf vielen Aussichtspunkten der Schweiz standen und diese als eidgenössische Triangulationspunkte auswiesen. Das Netz lieferte die Grundlage für die Übersichtspläne des Katasters, die man in den fol-genden Jahrzehnten im Massstab 1:5 000 bzw. 1:10 000 für die ganze Schweiz herstellte. Dabei kam ab den 1920er-Jahren die neue Technik der Luftbildfotogrammetrie zum Einsatz. Mit Hilfe von Spezialkameras wurde das aufzunehmende Gelände von Flugzeugen aus fotografiert und

53anschliessend im kartografischen Studio auf Papier umgezeichnet. Rund hundert Jahre nachdem unter der Leitung Dufours die erste mo-derne Landesaufnahme begonnen hatte, entstand mit den neuen tech-nischen Möglichkeiten, den verfeinerten Vermessungsgrundlagen und mit der wachsenden Zahl von kartografischen Anwendungsgebieten der Wunsch nach einem neuen offiziellen Landkartenprogramm. In wel-chem Massstab dies geschehen sollte, war allerdings heftig umstritten und wurde zum Gegenstand eines «Kartenkriegs». Er fand sein Ende 1935, als ein Bundesgesetz die Neuausgabe von Landeskarten in der Massstabsreihe von 1:25 000 bis 1:1 000 000 verfügte. Die 1:50 000-Serie wurde als erste in Angriff genommen und 1963 mit der Ausgabe des Blattes «Domodossola» abgeschlossen. Die neuen Blätter 1:25 000 lagen 1979 vollständig vor.

Karten aus dem Automaten

Zu dieser Zeit zeichnete sich bereits eine technische Neuerung ab, die Tief greifende Folgen haben sollte. Der Einzug des Computers führte die Kartografie endgültig vom Papier der Karten weg und hin zur virtuel-len Datenlandschaft. Allerdings sind die «Karten aus dem Automaten», die im Magazin des «Tages-Anzeigers» schon 1972 in Aussicht gestellt wurden, erst in der jüngsten Vergangenheit Realität geworden. Die gros-sen Datenmengen, die zu verarbeiten sind, stellten lange ein technisches Problem dar. Und der Computer wurde im Vermessungswesen einerseits und im Bereich des Kartenzeichnens andererseits zunächst auf völlig un-terschiedliche Weisen eingesetzt.

Die frühesten Anwendungen der Computertechnologie fanden in den 1960er-Jahren im Katasterwesen statt und auf das Jahr 1958 datieren erste Experimente mit digitalen Höhenmodellen (DHM) am Massachusetts Institute of Technology. Es begann ein langer Entwicklungsprozess, in

54 dessen Zug nicht nur die Vermessung digitalisiert wurde, sondern insbe-sondere auch die Kartengrafik bildschirmfähig zubereitet werden musste. Die ersten kommerziellen Geografischen Informationssysteme (GIS), die in den 1980er-Jahren auf den Markt kamen, waren für Kartografen kaum interessant, da sie grafisch wenig boten. Die Landestopografie beschaffte sich stattdessen 1984 ein computergestütztes Grafiksystem, das ursprüng-lich für den Textildruck entwickelt worden war. Mit dieser Anlage führte man ab 1988 einzelne Blätter der Landeskarte 1:25 000 nach. Ebenfalls noch in den 1980er-Jahren wurden erste Versuche mit satellitengestützten Positionierungssystemen (GPS) vorgenommen.

Erst in den 1990er-Jahren fanden die unterschiedlichen Computer-anwendungen zusammen. Mit der Reform der amtlichen Vermessung wurde 1993 der numerische Kataster rechtsverbindlich. Papierauszüge werden seither nur noch zu Anschauungszwecken gemacht. 1994 schloss die Landestopografie die satellitengestützten Messungen an ihrem neuen Referenznetz ab, das zur Basis einer ganzen Reihe von digitalen Produkten wurde. Heute sind neben den guten alten Landkarten - deren analoge Nachführung 2001 eingestellt wurde – auch digitale Höhenmodelle sowie vektorbasierte Datenbanken über die Landschaftsgestalt sowie ein GPS-Positionierungsdienst mit Zentimetergenauigkeit im Angebot. Die Zukunft der digitalen Kartografie liegt wohl bei Produkten wie dem neuen Atlas der Schweiz, der 1999 als Gemeinschaftswerk des Instituts für Kartografie der ETH Zürich, des Bundesamtes für Landestopografie und des Bundesamtes für Statistik publiziert wurde. Der Trend geht weg von fertigen Kartenwerken, immer mehr hin zu individuellen und persona-lisierten Auszügen aus einem allgemeinen Datensystem.

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Die Benutzerinnen und Benutzer digitaler Karten können Ausschnitt, Detailgrad und Karteninhalt nach Bedarf selber auslesen. Sie könnten auch den Massstab 1:1 wählen, wenn sie genug Toner und Papier zur Verfügung hätten. Die «grösste aller Ideen», die noch 1893 absurd schien, hat sich realisiert. Die Karte ist freilich noch nie ausgefaltet worden, son-dern bleibt auf elektronischen Datenträgern Platz sparend verstaut.

58

Die Schweizer sind ein Volk von Wanderern. Das war nicht immer so. Die Begeisterung für das zweckfreie Erleben der Natur entstand aus der Schwärmerei einiger Engländer für die Schweizer Landschaft. Es entspinnt sich eine wechselvolle Geschichte, die verschie-dene Schichten und Volksgruppen erfasst.Von Hans Peter Treichler

59What a wanderful way to see the world!Eine sozialgeschichtliche Exkursion

W enn ich diesen Beitrag mit einem Titel in nicht ganz korrektem Englisch versehe, so hat das seinen tieferen Sinn. Zu den ersten

Fusstouristen im Alpenland gehörten Wanderer (jawohl: praktisch nur Männer!) aus Übersee und den britischen Inseln. William Coxe schrieb um 1800 seine dreibändigen Letters from Switzerland und rühmte darin das Reisen zu Fuss. Lord Byron stapfte auf Bergpfaden durchs Berner Oberland und liess im Versdrama Manfred einen wackeren Gemsjäger auftreten, der sich prompt auf die Heldentaten Wilhelm Tells beruft. Und eine viel zitierte Reisebeschreibung Mark Twains zeigt den Humoristen und Autor des Tom Sawyer bei einem Fussmarsch auf den Rigi. Dabei nehmen er und seine Kollegen sich während ausgiebigen Zwischenhalten so viel Zeit für die anfänglich gut gefüllten Feldflaschen, dass der ange-heuerte Bergführer säuerlich bemerkt, «eigentlich möchte er doch auf dem Berg ankommen, solange er noch jung sei». Fusstouren sind etwas für spleenige Angelsachsen, kein Zweifel; so erhält der junge Zürcher Student Ernst Escher auf die begeisterten Briefe von seiner Wanderung durchs Wallis eine «abkühlende Antwort» von zu Hause, «weil mein Vater in solchen Touren unnütze Engländerei zu erblicken müssen glaubte». Das war etwa 1830, und zu dieser Zeit war man in der Schweiz weder naturliebender noch marschtüchtiger als anderswo. Das lustvolle und

Zwei Einheimische tragen eine ältere Touristin auf einer Sänfte, daneben eine jüngere Begleiterin, Nähe Niederrickenbach NW. Fotografie, um 1895.

60 zweckfreie Erleben der Landschaft zu Fuss, die Wanderschaft als rundum bereichernde und existenzielle Erfahrung: solche Ideale, solche unnütze Engländerei wurde anderswo formuliert und verherrlicht, eben von briti-schen Romantikern wie Byron. Praktiziert wurde sie aber mit Vorliebe in der Schweiz, diesem Land mit seiner Palette rasch wechselnder Landschaften, seinem dichten Netz von alten Säumerpfaden und Alpwegen. Und mit seinem Angebot an Maultiertreibern und Jungbauern, die schnell lernten, dass ein paar Tage unterwegs als Führer schwärmender Naturfreunde mehr einbrachten denn beim Einbringen von Wildheu. Ebenso schnell lernten sie, dass die Schweiz, aller frühen Industrialisierung zum Trotz, als urchig galt, als unberührt – und dass ein gelegentlicher Jutzer, eine alte Trachtenjoppe bei den Fremden sehr gut rüberkamen, genau so wie der Becher mit frischer Ziegenmilch, den man vor der knorrigen Berghütte reichte.

Von der Landschau im Ancien Régime …

Dass die Schweiz heute mit ihrem ausgeschilderten Netz von 50 000 Kilometer Wanderwegen, ihren Hunderten von Herbergen und Berghütten die Wandernation Nummer Eins der Welt geworden ist, hat zum einen Teil mit dieser weitgehend importierten Verklärung von Natur, Bergwelt und Unterwegssein zu tun. Auf hiesiger Seite entsprach der Schwärmerei ein helvetischer Hang zum Augenschein vor Ort, zum Sammeln von Eindrücken und Kenntnissen. Am bekanntesten unter den frühen Wanderberichten: die «Vergnügte Schweizerreise», die der Zürcher Vikar Hansrudolf Schinz im Jahr 1777 mit sieben Patriziersöhnen der Stadt antrat – vielleicht das erste gut dokumentierte Wanderlager der Geschichte. Was beim Reisen zu Fuss zählte (statt hoch zu Pferd oder in der Kutsche), das war die Begegnung mit neuen Spezies, ob Menschen oder Pflanzen, das waren die Erkenntnisschnipsel rund um den Landbau

Schulausflug von Innerschweizer Seminaristen auf die Gemmi; Fotografie, 1914

und die Landessitte, die man später vielleicht als Pfarrherr oder Landvogt nutzbringend anwenden konnte.

Dass in Bern in eben diesem Jahr 1777 eine «kurze Anleitung» im Druck erschien, ist sicher kein Zufall. Hier bot ein Verleger Wagner zahlreiche Tips für die Fusssreise durch die «merkwürdigsten Alpgegenden» rund um Lauterbrunnen und Grindelwald an. Gerichtet war die Broschüre an aus-wärtige Reisende und an die jungen Herren des Ancien Régime, die sich anschickten, die Bewohner ihrer Untertanengebiete ins Auge zu fassen. Dringend ans Herz gelegt wurden diese frühen Wanderern eisenbeschla-gene Bergstöcke und Nagelschuhe, zudem forderte die «Anleitung» un-bedingt Fusseisen für eisige Stellen und Lederstrümpfe zum Schutz gegen Insekten.

62 … zum republikanischen Empfinden der Berge Aber den mit Eisen und Leder bewehrten Gnädigen Herren blieben für ihre gutgemeinten Wanderungen kaum zwanzig Jahre. Nach dem Einmarsch französischer Truppen in die Eidgenossenschaft (1798), nach dem Sturz des Ancien Régime und der Ausrufung der Republik kamen die Impulse vorerst wieder von aussen. Beispielsweise vom dänischen Modedichter Jens Baggesen, der in einer äusserst sentimentalen Verserzählung die «Wallfahrt» oder «Lustfahrt» oder «Bergreise» dreier junger Bernerinnen schildert (noch bleibt die Wortwahl etwas unklar). Die neun Gesänge von Baggesens Parthenaïs erschienen 1803 und wurden eine Art Trendbuch, das noch etwas zaghaft die neue Vokabel ausprobierte: Wandern, die Wanderung.

«Nur ein Spiel war bisher die Wand’rung, / nur ein Spaziergang», warnt im zweiten Gesang der Führer des Trios, der den etwas albernen Namen Nordfrank trägt. Denn die drei Holden haben zu diesem Zeitpunkt den Aufstieg von Lauterbrunnen nach Wengen vor sich. Zum «Körbchen mit Brod» und zum «binsenumflochtenen Fläschchen mit Kirsch», die als Proviant dienen, werden jetzt «unter die Schuh‘ ankrampende Sohlen» gebunden. «Rings die Gewand aufschürzend, dass nicht solche sie hindre im Gang», nehmen sie den Aufstieg unter die Füsse. Ihr Ziel: der Fuss der Jungfrau, wo sie nach manchen Zwischenfällen ankommen und wo der wackere Führer sich unter freiem Himmel mit einer der Töchter verlobt.

So gezwungen heute die Verse dieses Werkleins anmuten – sie gehö-ren zu den frühen Auslösern der Wanderlust, die alle in den gleichen Zeitraum fallen. Die Unspunnenfeste von 1805 und 1808 brachten dich-tende und schwärmende Wanderer ins Land, unter ihnen den Bühnenautor Zacharias Werner, der sich auf einer Fussreise über die Gemmi zum

63Schicksalsdrama «Der 24. Februar» inspirieren liess. Zeitgleich erschien Josef Weigls Oper «Die Schweizerfamilie», und auch hier wurde ge-schwärmt von der zeitlosen Schönheit der Bergwelt. Und 1807 publi-zierte der Zürcher Heinrich Keller sein Rigi-Panorama samt Beschreibung: zum erstenmal erschien eine Monographie, die ein zentral gelegenes Wandergebiet erschloss. Der Mann, von dem man sich staunend er-zählte, er habe den Berg 32mal erstiegen, trug massgeblich dazu bei, dass hier kurz später ein Berggasthaus eröffnet wurde. «Naturfreunde im ganzen Land» hatten für das einfache Holzchalet Beitragszahlungen geleistet. 1816 kam man auf etwa 300 Gäste im Jahr, zehn Jahre später bereits auf 1500. Die Rigi wurde zum Herz des Schweizer Wanderlands, und Meyers 32 Besteigungen lösten bald nur noch ein Achselzucken aus. Berufsmässige Rigiträger, die wanderunwillige Damen und Herren per Sänfte auf den Gipfel hievten, übertrafen seinen Rekord innert weniger Jahre.

Ob hochgestemmt oder auf eigenen Füssen aufgestiegen – wer oben war, durfte auf keinen Fall den Sonnenaufgang versäumen. Besucher brachen, je nach Temperament, in Verzückung, Bewunderung oder Rührung aus und bestätigten im Gästebuch, dass sie ihren empfindsamen Tribut ge-leistet hatten. Witzelte der Winterthurer Ulrich Hegner («Die Molkenkur», 1812): «Empfindet man denn die Berge? Ja freilich, mein lieber Freund, heutzutage muss das sein.»

Beruf Wanderführer

Die tiefgefühlte Bewegung vor einer hehren Landschaft: sie war in diesem Zeitalter der Empfindsamkeit die Trophäe, die den Fusssreisenden be-lohnte. Rigi-Promoter Keller, der Zeichner und Kupferstecher war, brachte 1813 zudem erstmals eine handliche «Reisekarte der Schweiz» heraus

64 – auch dies ein Stichdatum, im wahren Sinn des Worts. Wanderer fanden sich nun ohne Führer zurecht, selbst wenn (und dies bis zum Ende des Jahrhunderts) sehr oft in geführten Gruppen gewandert wurde, in der Art heutiger Trecks: ein oder mehrere Führer, ein Maulesel für Gepäck und Proviant. Nicht selten auch ein Char-à-banc, ein pferdegezogenes, schmales Gefährt mit einer einzigen Längsbank. Schopenhauer (er war als junger Mann in der Schweiz unterwegs) kam zu Fuss schneller vor-wärts als «in diesem Rüttelding». Da die Sitzbank nur den Blick in eine Richtung erlaubte, hatte der Fusswanderer die unvergleichlich bessere Aussicht. Manche Fuhrhalter bestraften knickrige oder meckernde Gäste, indem sie die bezahlte Fahrt, beispielsweise rund um den Thunersee, zwar absolvierten – aber in die falsche Richtung. So dass ihre sitzenden Gäste während Stunden auf düstere Hanglandschaften starrten, statt sich an der Fernsicht über See und Bergketten zu erfreuen …

Der Erfolgsdramatiker Werner beklagte sich, er habe einen «nicht führen könnenden, groben und eigensinnigen Führer» erwischt, der ihm höchs-tens Material für eine zukünftige Komödie liefere. Dabei unterschätzte er, dass die nach Tag oder Woche bezahlten einheimischen Guides oft zwischen den Mentalitäten vermittelten, dass sie die meist völlig over-dressed anreisenden Wanderer vor Spott und Nepp schützten oder den Einheimischen erklärten, weshalb sich der Fremde mit Klappsitz und Zeichenblock gerade vor diesem unscheinbaren Hüttchen niederlasse. Noch siebzig Jahre später musste Friedrich Nietzsches Hauswirt eine solche Pufferfunktion übernehmen, wenn er den Philosophen auf seinen tagelangen Wanderungen rund um Sils-Maria begleitete. Dieser Mann namens Durisch, immerhin Präsident seiner Gemeinde, hörte sich stoisch die stundenlangen Selbstgespräche und wilden improvisierten Gesänge seines Gasts an. Während Nietzsche seine ersten «Zarathustra»-Notizen

Sonnenuntergang auf Rigi-Kulm, Holzstich nach einer Zeichnung von Gustave Roux, 1876

genialisch mit «6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit» datierte, atmete Durisch jedesmal auf, wenn er den seltsamen Fremden unbeschadet an spottenden Hirtenbuben vorbei nachhause gelotst hatte.

Kritiker …

Führer schützten Wandersleute zudem vor Gefahren – eingebildeten oder realen. Schopenhauer berichtet schaudernd vom jungen Wanderer, der bei Chamonix trotz aller Warnungen des Guides den Gletscherweg ver-liess und in eine Gletscherspalte stürzte, «aus der er todt herausgezogen wurde, mit zerrissenen Nägeln – ein Beweis, dass er nicht sogleich ge-storben». Führer standen, ob am Rigi oder am Weissenstein, mit ihrem Maultier bereit, um dem Gast einen unbeschwerten Aufstieg zu gewähr-

leisten und im richtigen Moment den Regenschirm hervorzuholen. Denn der kundige Wanderer achtete darauf, «dass er nicht in Schweiss gerathe und dann auf der Höhe in einem schneidenden Windzug zu erkälten sich Gefahr laufe. Man nehme ferner immer den Regenschirm mit, der bald gegen die Sonne, bald gegen den Luftzug, bald gegen den Regen schützen kann.»

Das ist Originalton aus dem mehrhundertseitigen schweizerischen Gasthaus- und Kurortführer eines Dr. Meyer-Ahrens, 1860 erschienen. Der Autor war Mediziner und hatte nicht viel übrig für die überhandneh-mende Sitte des Reisens zu Fuss. Nicht nur, dass dergleichen Exkursionen den Wanderer in Schweiss geraten liessen und ihn direkt der Sonne aus-

67setzten; auf Anhöhen wie etwa dem Weissenstein drohten zudem das Bergfieber und Schwindelanfälle. Weshalb sich die nötige Bewegung – so Doktor Meyer – nicht im schattigen Hotelpark verschaffen? Oder auf den gedeckten Wandelbahnen, welche die einzelnen Hoteltrakte miteinander verbanden? Wer unbedingt rustikale Eindrücke sammeln wollte, brauchte sich die Füsse ja nicht einmal in einem widerlichen Alpstall zu beschmut-zen. Kurstätten wie Heinrichsbad oder Rosengarten im Säntisgebiet, dar-auf weist Meyers Kurortverzeichnis ausdrücklich hin, boten «Zimmer zum Einathmen von Kuhstalluft» an. Hier stellte die Direktion Fässer mit Jauche und Kuhmist in einem Anbau bereit; diese Gerüche, «dosiert eingeath-met», stärkten das Nervensystem.

… und Enthusiasten

Hier klingen unüberhörbar Vater Eschers Vorbehalte gegen die «un-nütze Engländerei» der Fusstouren an. Offenbar hatte Meyer-Ahrens noch nichts gehört von den Voyages en zic-zac, den populären Reiseberichten Rodolphe Toepffers. Der 1799 geborene Genfer Autor und Zeichner im Stil eines Wilhelm Busch schildert darin humorvoll und gelassen die Wanderungen, die er mit seiner Frau zusammen während Jahrzehnten unternimmt. Toepffers «Wanderung nach Schwyz» aus dem Jahre 1838 klingt auch für heutige Ohren sympathisch und einleuch-tend: «Gut ist es, auf die Reise ausser dem Rucksack noch eine rechte Portion Mut, Entschlossenheit, Heiterkeit und gute Laune mitzunehmen, für sein Vergnügen nicht auf die Sehenswürdigkeiten der Städte und die Wunder der Landschaft zu rechnen, sondern auf sich selbst und auf seine Kameraden.» Nur der Wanderer, meint Toepffer, ist unter den Reisenden wirklich selbständig. «Es ist gut, alles mit sich zu führen: den Sack auf dem Buckel, damit man nichts aufgeben und vorausschicken muss, und die eigenen Beine, damit man den Fuhrmann nicht braucht.» Wer mit

Seilschaft mit Wanderern und Trägern (Maultieren); endlose Kolonne; Tourismussatire, Zeichnung, 1870.

68 der Kutsche durchs Land reist, verpasst das meiste: «Ach ihr, die ihr im Wagen reist! Ich wollte, das euch zu eurem eigenen Besten ein Rad am Wagen bricht! Dann ruft ihr vielleicht wütend aus: Gehen wir zu Fuss! Ihr lasst euren Koffer da, nehmt eure Börse, etwas Wäsche und die Landkarte und steht mit einem oder zwei Freunden auf der Landstrasse, sucht den Schatten eines Baumes auf und stellt die Reiseroute fest. Und schon geht euch ein Licht auf, ihr betrachtet eure Umgebung mit neuem Interesse, die Orte und Dörfer der Landschaft nehmen Gestalt an! » Die Lust an der Langsamkeit im Industriezeitalter

Veränderte sich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Blick auf die Landschaft? Spielte der Kontrast zwischen den Geschwindigkeiten eine Rolle? Bezeichnenderweise begann sich das Wandern in dem Masse durchzusetzen, als die Schweiz ihr Verkehrsnetz ausbaute: Erst wer mit der Eilpost oder dem Dampfzug durch die Landschaft brauste, realisierte, wie viel deutlicher die Dinge im Sinne Toepffers «Gestalt annahmen», wenn man zu Fuss ging. Entsprechend bauten denn auch die ersten or-ganisierten Cook-Reisen immer wieder einen Wandertag ein, und dieser blieb den Teilnehmenden oft als stärkster Eindruck ihrer Reise.

Solche Zufalls- oder Eintagswanderer brachte die Eisenbahn in immer grösseren Mengen, als die Stammlinien Genfersee-Bodensee und Basel-Luzern erst einmal fertig erstellt waren (1863). Dem passte sich auch die Einwohnerschaft an. Entlang den populärsten Fusswegen postierten sich im Sommer Alphornbläser und Spitzenklöpplerinnen; im Engelbergertal gab es eine Hütte, wo das aus unzähligen Radierungen vertraute Ausschenken eines Glas Milchs an den fremden Wandersmann regelrecht inszeniert wurde. Das bescheidene Gasthaus auf der Rigi hatte sich zum Grandhotel gemausert; als Gustave Flaubert völlig durchgeschwitzt ein-

Terrasse vor Berghotel Faulhorn mit Touristen (Feldstecher, Sonnenschirm etc.)

Stich s/w als Repro, um 1880.

traf, fragte er sich verdutzt, was denn eigentlich Kellner mit Frack, Weste und Manschetten hier oben verloren hätten: «Da sie sehr zahlreich sind, hat man den Eindruck, als würde man von einem Volk der Notare oder von den zahlreichen Gästen einer Beerdigung bedient». Die Inszenierung schien ihm so peinlich, dass er versucht war, «drei Kälber zu umarmen, die ich auf einer Alm sah».

Das Wa-ah-ah-andern

Als Schulbub rätselte ich eine ganze Singstunde lang über die Liedzeile «Wer wollte aber singen, / wenn wir schon Grillen fingen?»; da die besungene Wandergruppe bereits «im Frühtau zu Berge» aufgebrochen war, hatte sie offenbar schon zeitig mit dem Grillenfangen begonnen.

70 Aber wozu, weshalb? Schliesslich dämmerte mir, die Sache müsse mit den in der gleichen Strophe zitierten misstrauischen Alten zu tun haben. Tatsächlich lief sie etwa auf folgendes Argument hinaus: Wenn wir jun-gen Wandersleute uns auch schon mit närrischem Kleinkram abgäben, so wie ihr (Grillenfangen!), würde überhaupt niemand mehr singen.

Vor lauter Verwirrtheit übersah ich damals das eigentliche Paradox dieser «Frühtau»-Lieder: Weshalb sollte eine Gruppe wandernder Naturfreunde überhaupt einen Gesang anstimmen, der wiederum von den Freuden der Fussreise handelte, also gleichsam die Gebrauchsanweisung für etwas darstellte, das man ohnehin tat? Was bedeutete es, wenn verschwitzte Pfadfinder, am Lagerfeuer singend, sich gegenseitig versicherten: «Wir wollen zu Land ausfahren» … «Auf, du junger Wandersmann»? Tatsächlich stellten (und stellen) Fahrten- und Wanderlieder einen ungeheuren Propagandaschub für die Sache dar – und dies vor allem im deutschspra-chigen Bereich. Seit Wilhelm Müllers «Gedichten aus den Papieren eines reisenden Waldhornisten», seit Schuberts Vertonungen seiner «Schönen Müllerin», des «Lindenbaums», seit den ersten Chorsätzen für «Das Wandern ist des Müllers Lust» ist die spätromantische Verherrlichung des Fremd- und Unterwegsseins zum allgemeinen Kulturgut geworden. Wanderlieder steuerte auch Eichendorffs «Taugenichts» bei (1826); und wie bei Müllers neckischem Waldhornisten spielt auch hier die Leitfigur des wandernden Musikanten die Hauptrolle - als Gegenpol zum prosai-schen Bürger oder Bauer.

Wandervögel: Mit Hesse gegen den bürgerlichen Mief

Es war dieser Gegensatz zwischen weltoffener Freiheit und dem auf Besitzmehrung erpichten Bürgertum, die selbst einen behäbigen Villenbewohner wie Conrad Ferdinand Meyer dazu verleitete, sich selbst als «Pilgerim und Wandersmann» zu stilisieren. Zu Beginn des neuen

71Jahrhunderts berief sich auch die Wandervogel-Bewegung auf solch malerische Leitbilder wie den mittelalterlichen Pilger, den Landsknecht und den fahrenden Scholaren oder Handwerksburschen. 1901 in einem Berliner Vorort begründet, hatte diese jugendliche Protestbewegung schon zehn Jahre später ihre ersten Ableger in der Schweiz: Gymnasiasten und Seminaristinnen, Lehrtöchter und junge Angestellte. Wandern galt als Protest gegen die Enge der Städte, gegen das Mittelmass des Bürgertums. «Der Wandervogel ist die Empörung», hiess es 1911 im schweizerischen Vereinsorgan, «die Auflehnung, der wilde Aufrausch der reinen Kräfte der Jugend gegenüber dem in Versachlichung und Mechanisierung er-starrten bügrerlichen Leben.» Eine «Landsgemeinde» des gleichen Jahres auf der Zürichseeinsel Lützelau sollte die deutsche und schweizerische Anhängerschaft zu einem «Süddeutschen Gau» vereinigen. Das Vorhaben scheiterte indes, da die Schweizer die Unterteilung in Burschen- und Mädchengruppen ablehnten und auch die persönliche Verpflichtung zur Alkoholabstinenz nicht unterzeichnen mochten.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erreichte der Schweizer Wandervogel mit mehreren hundert Mitgliedern seine grösste Bedeutung. Gemeinsame Wanderungen hiessen «Fahrten», man übernachtete im Heu, feierte alte Bräuche wie die Sommersonnenwende und den Maibaum, sang am Lagerfeuer die alten Volkslieder aus dem «Zupfgeigenhansl» oder aus Otto Greyerz‘ «Röseligarten». Lieblingslektüre waren die Gedichte Hermann Hesses und Hesse-Novellen wie «Knulp» oder «Unterm Rad». Auch wenn die spätromantische Verherrlichung des Unbehaustseins zum geregelten Alltag der meisten Mitglieder in krassem Gegensatz stand, wirkte sich die liebenswürdige Bewegung indirekt weiter aus: Zahlreiche Mitglieder trugen später als Lehrer und Lehrerinnen die Ideale der Naturnähe und Wanderlust «ins Volk».

Und mit ihrem scherenschnittartigen Signet (Waldhaus und Tanne) er-innert noch heute die Jugendherberge-Bewegung, ebenfalls um 1900 begründet, an die Wandervogel-Ästhetik. Überhaupt brachte das erste Jahrhundertdrittel eine ganze Reihe von Zusammenschlüssen, die im Wandern und in der Begegnung mit der Natur ein Gegengewicht gegen Industrialisierung und Vermassung sahen, etwa die Pfadfinderbewegung oder die der SP nahestehende «Freie Jugend». 1905 im verrauchten Restaurant «Schlauch» des Zürcher Niederdorfs gegründet, setzte sich auch der «Touristen-Verein Naturfreunde» das Ziel, die Arbeiterschaft «dem Einerlei des Alltags, der dumpfen Luft der Werkstatt oder Fabrik, der trägen Atmosphäre der Stadt für kurze Zeit zu entrücken.» Vom Wandern als Instrument des Klassenkampfs zeugt das Gründungsmotto:

73«Die Ketten entzwei, zu den Bergen empor / Dort öffnet dem Aug sich das Weltentor.» Als Stützpunkte der Bewegung entstanden in Fronarbeit erbaute Unterkünfte. Bis heute sind daraus rund 100 Naturfreunde-Hütten geworden; an die Gründungsideale erinnert beispielsweise das Motto unter dem Panorama des Passwanghauses bei Laufen: «Frei wollen wir sein wie die Berge, frei soll die Arbeit werden!»

Wandern als Volksbewegung

Als ich vor einigen Jahren im Auftrag eines Westschweizer Verlags rund um die Schweiz wanderte, wurde mir erstmals lebhaft bewusst, wie leicht es Wanderfreunde hierzulande haben. Das im Entstehen begriffene Buch handelte von den Grenzen und Grenzlandschaften der Schweiz, aber wenn mich meine Route – ob im Jura, Wallis oder Tessin – ins benach-barte Ausland führte, harzte es mit dem Vorwärtskommen: ich landete in Sackgassen, geriet auf privates Terrain, musste vor einem Zaun umdrehen. In der Schweiz hatte ich die Landkarte nur gelegentlich konsultiert und mich an die gelb oder rotweiss beschilderten Routen gehalten. Jenseits der Grenze fühlte ich mich im Stich gelassen. Durchgehend markierte Wege waren selten; manche endeten im Nirgendwo, andere auf geteer-ten Strassen mit regem motorisiertem Verkehr. Fragte ich Einheimische um Auskunft, erntete ich skeptische Blicke: Männer mit Rucksack und festen Schuhen ordnete man hier offensichtlich dem Schmugglergewerbe zu. Und Wegweiser waren eine Sache, welche die ältere Generation auf diffuse Weise mit den durchlittenen Weltkriegen verband – sie zeigten auch dem Gegner die richtige Route. Über Entstehung und Ausweitung des Netzes schweizerischer Wanderwege wird in diesem Band an anderer Stelle berichtet. In gewisser Weise verkörpern seine nach Hunderttausenden zählenden gelben Pfeile, die Markierungen an Baumstämmen und Felswänden, aber auch die Raststätten, Feuerstellen und Ruhebänke die

Einheimische Trägerin trägt englischen Wanderer Huckepack über einen Bach. Tourismussatire, Karikatur um 1860.

74 Botschaft der Wandervögel: Es gibt eine Welt ausserhalb der Städte und Fabriken, und hier zählen andere Werte als Bilanzen und Jahresberichte. Gegründet wurde die bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege im Jahr 1934, aber bezeichnenderweise erhielt die Bewegung in den 1960er Jahren neuen Auftrieb. Die unzähligen Wanderbücher und –kar-ten, die neu konzipierten Fernwanderwege, die seither entstanden, bilden die direkte Antwort auf das Autobahnnetz, das innert einer Generation das Land mit Betonbändern überzog. Der motorisierte Verkehr verleugnet die Distanzen und lässt das Verhältnis von Raum und Zeit kippen. Wer zu Fuss reist, stellt die Relationen wieder her, stellt die Tiefenschärfe neu ein. Oder, um es mit dem liebenswürdigen Rodolphe Toepffer zu sagen: «Und schon geht euch ein Licht auf, ihr betrachtet eure Umgebung mit neuem Interesse.»

Stichdaten zur Schweizer Wandergeschichte

1730: Das in ganz Europa erfolgreiche Lehrgedicht «Die Alpen» des Berners Albrecht von Haller preist Schönheit und Unverdorbenheit der Schweizer Berge. Es löst eine Welle der Schweiz-Begeisterung aus.

1773: Vikar Schinz reist mit sieben Zürcher Bürgersöhnen zu Fuss durch die Schweiz.

1777: In Bern erscheint eine «kurze Anleitung» für Fussreisen «durch die merkwürdigs-ten Alpgegenden».

1793: Ein Reiseführer Johann Gottfried Ebels gibt zahlreiche Tipps für Fusswanderer in der Schweiz (mehrere Neuauflagen).

1803: Jens Baggesens romantisches Versepos «Parthenäis» schildert eine Fusswanderung zur Jungfrau.

1805/08: Unspunnenfeste bringen zahlreiche auswärtige Reisende ins Berner Oberland.

1807: Heinrich Kellers Panoramen machen die Rigi bekannt.

Kinder einer Schulklasse mit Lehrer auf einer Wanderung, in Sonntagskleidung, in den Händen mit Sträussen geschmückte Wanderstäbe («Maienstöcke»). Fotografie, um 1900.

1813: Erste gedruckte Reisekarte der Schweiz erscheint.

1816: Gasthaus auf dem Rigi eröffnet, Byrons Manfred schildert Berner Alpen.

1826: Eichendorffs «Taugenichts»-Novelle popularisiert die Figur des romantischen Wanderers.

ab 1838: Der Genfer Rodolphe Toepffer veröffentlicht populäre illustrierte Berichte von Fusswanderungen durch die Schweiz.

1863: Erste Berghütte des Schweizer Alpen-Clubs.

1880: Der Zürcher Fabrikant Adolf Guyer-Zeller lässt ein Wanderwegnetz im Tösstal errichten.

1905: Schweizer «Wandervogel»-Vereinigung und «Touristen-Verein Naturfreunde» begründet; erste Jugendherbergen.

um 1920: Hermann Hesses Novellen «Knulp» und «Wanderung» inspirieren die Wandervögel.

1934: Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Wanderwege begründet.

1982: Die Schweizer Verkehrszentrale schreibt einen Wettbewerb für neue Songs und Chansons zum Thema Wandern aus. Sie propagiert erste Fernwanderwege Bodensee-Genfersee.

78 Weg-Menschen

Fünf Porträts von Susanne Wagner (Text) und Jürg Waldmeier (Bilder)

Fredy Lienhard Betriebsleiter des ETH-Lehr- und Forschungwaldes

Die Mittagsstunden des 26. Dezembers 1999 wird Fredy Lienhard nie-mals vergessen. Es war der Tag, an dem der Sturm «Lothar» mit bis zu 241 Kilometern pro Stunde über die Schweiz brauste und verheerende Schäden anrichtete. Auch im Wald am Üetliberg, den Lienhard in- und auswendig kennt, lagen die entwurzelten Bäume herum, wie wenn ein Riese mit ihnen Mikado gespielt hätte. «Es war plötzlich schwierig, mich im Gelände zu orientieren», erklärt der Betriebsleiter des Lehr- und Forschungswaldes der ETH Zürich. Es tat ihm weh zu sehen, wie langjäh-rige Aufforstungsarbeit über Menschengenerationen mit einer Sturmböe vernichtet worden war. Als auch noch der Holzpreis um 50 Prozent ein-brach, wusste Fredy Lienhard, dass er sich etwas einfallen lassen musste, um den 400 Hektaren grossen Wald weiter finanziell selbsttragend zu bewirtschaften.

Auf einem Helikopterflug am Dreikönigstag sah er jedoch, wieviel vom Wald trotz Lothar stehengeblieben war. Es war ein Schlüsselerlebnis: «Ich realisierte, dass man die gewohnte Sichtweise verlassen und das Visier öffnen muss, um zu einem Ziel zu kommen.» Diese veränderte Perspektive führte ihn gedanklich nach Kalifornien, wo er auf einer Ferienreise das erste Mal dem «Sequiadendron giganteum» begegnet war. Dem

79Mammutbaum, der Tausende von Jahre alt werden, eine Höhe von 90 Metern und ein Durchmesser von von bis zu zwölf Metern erreichen kann. Dieser faszinierende Baum schien Fredy Lienhard genau das Richtige, um die baumlose Fläche bei Ringlikon wieder zu beleben.

«Mammutbäume symbolisieren Kraft und Nachhaltigkeit. Sie sind als Sturmbrecher bekannt, weil sie sehr widerstandsfähig sind. Und ausser-dem sind sie wunderschön», schwärmt Fredy Lienhard. Diese Begeisterung half ihm, bei Industrie und Wirtschaft anzuklopfen und Unterstützung für sein Projekt zu finden: eine Allee von 72 Mammutbäumen am Üetliberg, die 2002 tatsächlich angelegt wurde. Zur Zeit machen die zwei Meter hohen Mammutbäume ihrem Namen noch keine Ehre – es sind eher Mammutbabys, welche die Allee säumen. Dabei sind sie bereits zehn Jahre alt. Bei einem durchschnittlichen Wachstum von 70 Zentimetern pro Jahr wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sie eine stattliche Höhe erreicht haben: Im Jahre 3500 sollen sie über 70 Meter hoch sein. Findet es Fredy Lienhard aber nicht schade, dass er die volle Höhe der Bäume nie erleben wird? «Es gehört zur Arbeit eines Försters, dass man für die nächsten Förstergenerationen plant und arbeitet», räumt er ein. Und er werde das Wachstum der Bäume verfolgen – so lange, wie er könne.

Seit die Allee von 350 m Länge steht, hat er nur positive Reaktionen aus der Bevölkerung erhalten. Das Argument, es sei ein «fremder» Baum, der nicht in die Schweiz gehört, kann er jedoch zurückweisen: Mammutbäume waren vor der letzten Eiszeit auch bei uns heimisch. Neue Wege geht Fredy Lienhard auch bei seiner Arbeit als Betriebsleiter. Hin und wieder führt er Seminare durch, in denen ganze Firmenbelegschaften miteinan-der Wege bauen oder Bäume pflanzen, um den Teamgeist zu stärken. Auch Fredy Lienhard schätzt das Zusammenspiel von administrativer und praktischer Arbeit. Doch ursprünglich war es der Draht zur Natur, den

81Fredy Lienhard auf den Weg zum Försterberuf gebracht hat. Noch heute schätzt er es, die Hälfte der Arbeitszeit draussen im Wald zu verbrin-gen: bei Exkursionen, Besprechungen oder Arbeitsanweisungen. Auch im Büro im Forsthaus Uitikon-Waldegg hat er den Wald stets vor Augen. Wie sieht es aber in der Freizeit von Fredy Lienhard aus? Hat er nicht einmal genug vom Wald? Fredy Lienhard winkt ab: Er könne sich an Bäumen nie satt sehen. Trotzdem meidet er den Wald beispielsweise an Wochenenden, wenn zig-Tausende von Städtern auf die Waldwege des Üetlibergs ausschwärmen. Dann reist er lieber in die Wälder des Reppischtal oder des Berner Oberlandes und pflegt dort seine Hobbys im sportlichen Bereich.

Heinz P. BinderGeschäftsführer und technischer Leiter des Vereins Zürcher Wanderwege ZAW

Nicht immer war das Wandern eine Lust für Heinz P. Binder. Als Kind waren ihm die sonntäglichen Wanderausflüge, die für ihn zu seiner lei-sen Enttäuschung oft nur in die nahe Umgebung führten, manchmal zu eintönig. Viel mehr Spass bereiteten ihm hingegen die Wanderungen einer Jugendgruppe, mit der er als junger Bursche durch Wälder und Landschaft streifte. Damals hätte er wohl nie im Traum daran gedacht, dass er eines Tages selber für die gelben Wegweiser verantwortlich sein würde, die ihm von Kindheit an auf jeder Wanderung begegnet waren. Heute wandert Heinz P. Binder immer noch aus Vergnügen – wobei er für seine Wanderausflüge oder Wanderferien auch andere Kantone oder das Ausland bevorzugt.

«Ich kann es nicht lassen, selbst in der Freizeit Wegweisertafeln und Wege genau anzuschauen und zu vergleichen. Gemessen am Ausland

Fredy Lienhard kann sich an Bäumen nie satt sehen.

82 schneidet die Schweiz punkto einheitliche Markierung sehr gut ab», er-klärt Heinz P. Binder. Seit gut neun Jahren arbeitet der Kulturingenieur als technischer Leiter und seit vier Jahren zudem als Geschäftsführer der Zürcher Wanderwege ZAW; er ist deshalb mit dem 2700 Kilometer langen Wanderwegnetz des Kantons Zürich bestens vertraut. Obwohl die administrative Arbeit einen grossen Teil des Arbeitstages verschlingt, bleibt ihm noch Zeit, um selbst ins Gelände zu gehen. Beispielsweise um mit Mitarbeitern des kantonalen Tiefbauamtes Wanderwege zu besichti-gen, die saniert werden müssen. Doch einer alleine könnte die Übersicht über die 7 000 bis 8 000 Tafeln gar nicht behalten. Deshalb sind über 200 ehrenamtliche Kreisleiter und Ortsmitarbeiter für die Kontrollen der Tafeln und Wege zuständig. Denn die postautogelben Schilder, die uns bei jeder Wanderung immer so sauber entgegenstrahlen, müssen regel-mässig gepflegt, unterhalten und gereinigt werden. Dies kann unterschied-lichen Aufwand bedeuten: Wegweiser am Waldrand sind tendenziell häufiger von Moos befallen, andere werden von Vandalen verschmiert oder sind von der jahrelangen Sonneneinstrahlung ausgebleicht. Hin und wieder macht Heinz P. Binder selber eine Stichprobe und schaut nach, ob in einem Gebiet alles in Ordnung ist: Manchmal ist eine Brücke sanie-rungsbedürftig oder es fehlt eine Zwischenmarkierung.

Was sind nun aber die Kriterien für einen idealen Wanderweg? Heinz P. Binder: «Ein Wanderweg soll ausserhalb des Siedlungsraumes nicht geteert sein, die Wanderer müssen vor Gefahren wie etwa dem fah-renden Verkehr sicher sein, und der Weg soll möglichst an attraktiven Orten vorbeiführen. Das kann ein See, eine schöne Aussicht oder eine schmucke alte Häuserzeile sein.» Natürlich entspreche nicht jeder Weg diesen Ansprüchen. Aber die ZAW gebe sich Mühe, dass auch bei mo-notonen Abschnitten hin und wieder etwas Schönes zu sehen sei. Aus diesem Grund werden pro Jahr ein paar Dutzend Wegabschnitte total

Heinz P. Binder, Herr über 2700 Kilometer Wanderwege.

84 verlegt. Beispielsweise wenn ein Weg plötzlich durch ein neu entstande-nes Wohnquartier führt.

Es bleibt die Frage nach den Zeitangaben auf den Wegweisern. Wohl so manchem Wanderer, so mancher Wandererin sind sie schon zu kurz oder zu lang erschienen. Heinz P. Binder lächelt – er weiss, dass die Angabe der Wanderzeit individuell wahrgenommen wird. «Grundsätzlich sind die Zeiten so angegeben, dass ein beschauliches Wandern möglich ist und die Wanderer den Anschluss an Bus und Bahn besser planen können. Im horizontalen Gelände gehen wir von einer Wandergeschwindigkeit von 4,2 Kilometern in der Stunde aus. Wir berücksichtigen damit auch ältere Wanderer und Familien, die nicht gleich schnell sind wie die Sportwanderer. Somit haben alle ein Erfolgserlebnis.»

Monika Melzer Kundenberaterin bei Transa

«Am häufigsten fragen mich Schuhkunden, wie sie es vermeiden kön-nen, beim Wandern Blasen zu bekommen», erklärt Monika Melzer. Die Kundenberaterin beim Travel-Outdoor-Geschäft Transa weiss nur zu gut, wovon die Leute sprechen, wenn sie von Blasen an den Füssen reden oder davon, körperlich total an die Grenzen zu kommen. Denn sie war früher jedes Wochenende in den Bergen unterwegs: auf Klettertouren, Wanderungen oder Schneeschuhwanderungen. Wenn es um den Klettersport geht, kommt sie ins Schwärmen: «Am Klettern reizt es mich, den Fels zu spüren, draussen zu sein. Der Bergwelt habe ich meine allerschönsten Erlebnisse zu verdanken. Das Klettern gibt ein wunder-bares Körpergefühl, jeder Muskel ist dabei nötig, und es schult den Gleichgewichtssinn. Und manchmal musst du deine Grenzen akzeptieren und umkehren, weil der Weg nicht machbar ist.»

85Früher, als ihre heute dreijährige Tochter noch nicht auf der Welt war, ging Monika Melzer auch oft auf Sport-Klettertouren, bei dem man sich den schwierigsten Weg in der Wand heraussucht. Hatte sie es wäh-rend solchen Touren niemals mit der Angst zu tun? «Doch, ich kenne solche Situationen, in denen man überfordert ist. Der Kopf geht zu, und die Muskeln sind wie gelähmt. Aber ein verantwortungsbewusster Seilpartner oder Seilpartnerin – inzwischen klettern auch viele reine Frauenseilschaften – wählt einen Weg, den man immer auch zurückge-hen kann.» Heute bezeichnet sich Monika Melzer als Genussklettererin, der es nichts ausmacht, unter ihrem eigentlichen Niveau zu klettern. Sie geht gerne eine Woche lang bergsteigen, aber ebenso viel Spass macht ihr eine leichte Wanderung im Toggenburg. Breit ist auch das Spektrum der Kunden von Transa. Monika Melzer berät auch Senioren, die täglich zwei Stunden mit ihrem Hund unterwegs sind, Stadtmenschen, die was-serfeste Schuhe für die Asphaltwanderung suchen, und junge Leute, die es in ferne Länder zieht. Als besondere Herausforderung betrachtet es die Kundenberaterin, wenn jemand einen «Wanderschuh für alle Fälle» sucht. Wenn ein Schuh beispielsweise für eine Weltreise gekauft wird und wo-chenlange Regenfälle ebenso aushalten soll wie steinige Wanderwege und heisse Temperaturen. «Multifunktionell sind gut gedämpfte, leichte Trekkingschuhe mit trittsicherem Profil, die auch schlechtes Wetter aus-halten», erklärt Monika Melzer, die sich wundert, dass manche Kunden zehn Minuten vor Ladenschluss noch schnell einen Wanderschuh erste-hen wollen: «Dafür soll man idealerweise eine bis zwei Stunden einpla-nen.» Monika Melzer schickt ihre Kunden mit den Probeschuhen treppauf, treppab und rät ihnen, die Schuhe an der schrägen Bodenfläche auszu-probieren, mit dem Transa einen Steilhang simuliert. Weil sich unbe-queme Stellen manchmal erst nach stundenlangem Wandern bemerkbar machen, hat Monika Melzer einen weiteren Tipp auf Lager: «Es ist sinnvoll, die Schuhe nach dem Kauf solange wie möglich zuhause in der Wohnung zu tragen, die Treppe zum Keller hinauf- und hinunter zu

87steigen, damit man mögliche Druckstellen spürt. Die Kunden können die Schuhe innert zehn Tagen umtauschen, falls sie nicht im Freien auspro-biert worden sind.»

Auch wenn Monika Melzer davon spricht, wie man sich beim Wandern am besten kleidet, damit man nach dem Schwitzen nicht friert, klingt es zu hundert Prozent authentisch, weil sie alles schon mal selber er-lebt hat. «In die Welt des Kunden eintauchen», nennt sie die optimale Kundenberatung. Sie schwört auf das Zwiebelprinzip, bei dem die Luft zwischen die Schichten für Wärme sorgt. Und wie war das noch mal mit den Blasen an den Füssen? Monika Melzer lächelt und verrät: «Der Trick ist simpel: Mir helfen immer dünne Socken aus Polypropylen unter den Wandersocken anziehen. Das verhindert die direkte Reibung auf der Haut und hält diese durch die minimale Feuchtigkeitsaufnahme weit-gehend trocken.»

Peter LanzWegebauer und Wanderer aus Leidenschaft

Für Peter Lanz gibt es zwei Arten, zu wandern. Die eine ist das Wandern in der Gruppe und die andere das Wandern mit sich selbst. Missen möchte er keine dieser Varianten, denn beide bieten Vorzüge: «Wenn ich mit einer Gruppe von Freunden wandern gehe, wählt immer wieder je-mand anderer die Route aus. So lerne ich neue Wege und Landschaften kennen. Alleine gehe ich gerne die Wege, die ich schon kenne.» Wenn er ohne Menschenseele (höchstens mit seinem Hund) unterwegs ist, gehen ihm in der ersten halben Stunde zahlreiche Gedanken durch den Kopf, die ihn gerade beschäftigen. Doch je länger er wandert, desto weniger denkt er. Auf die Frage, ob dieser Zustand meditativ sei, winkt er ab. Er

Monika Melzer, selbst Genussklettererin, schickt ihre Kundschaft auf den Steilhang.

drückt es lieber so aus: «Das Wandern lüftet den Geist. Wenn ich al-leine wandere, konzentriere ich mich besser auf das Sehen, Riechen und Hören.» Einsame Wanderungen verschaffen ihm auch die Möglichkeit, inne zu halten, mitten im Gehen stehen zu bleiben und die Umgebung zu betrachten. «Das muss nicht unbedingt an einem schönen Ort sein. Es gibt überall Dinge, die sehenswert sind. Sei es ein mit Moos bewachsener Stein oder ein bestimmter Lichteinfall durch die Bäume im Wald.»

Peter Lanz ist aber nicht nur als Privatmann ein Wanderer aus Leidenschaft, der täglich mindestens zwei Stunden mit seinem Hund auf den Beinen ist. Er ist auch Mitinitiator eines der bekanntesten Wanderwege un-seres Landes. Der Weg der Schweiz wurde 1991 zum Jubiläum der Eidgenossenschaft erstellt. Das Besondere dabei ist, dass jeder Kanton für einen Teil des insgesamt 35 Kilometer langen Wanderweges rund um einen Teil des Vierwaldstättersees verantwortlich war. Weil der Weg der Schweiz der Bevölkerung gehören sollte, widmete man jedem Bewohner und jeder Bewohnerin des Landes fünf Millimeter. Jeder Kanton hat einen Weganteil, der sich nach der Anzahl Einwohner richtet.

Den gelernten Architekten Peter Lanz, der sich zuvor vor allem mit der Gestaltung von Innenhöfen und Wohnstrassen einen Namen gemacht hatte, reizte besonders die Vielseitigkeit der Aufgabe: «Teilweise über-nahmen wir bestehende Wegstrecken, teilweise legten wir den Weg neu an. Dazu gehörten auch kleine Felssprengungen, die Sanierung eines Kanalisationsnetzes in einem Dorf, der Bau eines Treppenweges und der Totalumbau eines alten Bunkers in ein Ferienlagerhaus.» Mittlerweile haben unzählige Menschen das Zürcher Teilstück des Weges der Schweiz bewandert, das von Seelisberg bis zum Dorf Bauen führt und prächtige Aussichten bietet. Den gesamten Weg der Schweiz, der 35 Kilometer lang ist, hat Peter Lanz schon einige Male bewandert. Heute ist er vorwie-

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Peter Lanz, Wanderer aus Leidenschaft und Mitiniator des «Weg der Schweiz»

90 gend in seiner Wahlheimat Mallorca zu Fuss unterwegs, wo er mehrere Monate im Jahr verbringt. Wenn er in der Schweiz ist, zieht es ihn hin und wieder in die Gegend um Fischental, wo er vor neun Jahren den Jubiläumsweg der Zürcher Kantonalbank anlegte und unter anderem mit Hilfe von Banklehrlingen eine Holzbrücke über den Weissenbach baute.

Als junger Mann wanderte er einmal mit zwei Kameraden und zwei Hunden von Tarasp nach Venedig und legte die Strecke in einer Woche zurück: «Zu Fuss sieht man einfach viel mehr. Bis in die Poebene be-wegten wir uns immer durch Alpenwiesen und Wälder, aber dann kamen auch Asphaltstrassen. Am Schluss mussten wir die Bahn nehmen, weil die Hunde wunde Pfoten hatten.» Peter Lanz ist jedoch nicht nur ein Naturwanderer, sondern er gewinnt auch Stadtwanderungen lust-volle Augenblicke ab. «Wenn ich in einer fremden Stadt bin, gehe ich gerne stundenlang durch die Strassen, das ist unglaublich spannend. Ich durchquere immer neue Quartiere und entdecke andere Winkel. Eine Landschaft muss nicht grün sein, um begehenswert zu sein.»

Walter OgiLeiter der Blindenwandergruppe «Sohleblitz»

«Eigentlich ist das Begleiten von Blindenwanderungen ganz einfach. Die Begleiter stellen ihre Augen zur Verfügung. Nicht mehr», stellt Walter Ogi fest, der selber ein leidenschaftlicher Wanderer ist. Als er vor drei-zehn Jahren das erste Mal blinde und sehbehinderte Menschen auf einer Wanderung begleitete, war er beeindruckt davon, wie natürlich und lo-cker es zu und her ging. Er und seine Ehefrau waren von einer blinden Frau spontan angefragt worden, einmal auf eine Blindenwanderung mit-

zukommen. «Es überraschte mich, dass die Blinden mit einer Begleitung einfach loswandern, ohne auf den Weg achten zu müssen. So frei und unbeschwert, wie wenn sie etwas sehen könnten.» Das Ehepaar Ogi begann regelmässig mit Blinden zu wandern. Seit 1994 ist Walter Ogi ehrenamtlicher Leiter der Wandergruppe Sohleblitz und leitet, sofern das Wetter mitspielt, rund zwei Wanderungen pro Monat.

Die Fähigkeit, unbekannte Leute zu motivieren, konnte er schon als ne-benberuflicher Zivilschutzinstruktor und später als Feuerwehrkommandant unter Beweis stellen. «Ich bin es gewohnt, etwas anzupacken. Eine Blindenwanderung ist nicht viel anders als eine Zivilschutzübung. Es braucht viel Organisation und Planung.» Ursprünglich hatte Walter Ogi Innendekorateur gelernt. Später übernahm er eine Stelle als Verantwortlicher für Zivilschutz, Sicherheit und Feuerwehr für eine in-ternationale Firma. Heute arbeitet Walter Ogi hauptberuflich als Leiter des technischen Dienstes in einem Heim für geistig Behinderte. Viel Verantwortung trägt Walter Ogi auch wenn er mit seiner Wandergruppe unterwegs ist. «Die sehbehinderte Person hängt sich beim Begleiter ein, und die beiden gehen nebeneinander. Bei schmalen Wegen wandert man hintereinander, wobei der Blinde sich am Rucksack des Begleiters festhält.» Zur Aufgabe der Begleiter gehören auch Hinweise auf Wurzeln, Äste oder schwieriges Gelände. Ungewöhnlich lange brauchte die Wandergruppe «Sohleblitz» einmal für einen Weg entlang der Sihl. «Der Weg führte durch das trockene Flussbett, das wie eine Geröllhalde war. Die Begleiter mussten den blinden Personen jeden Schritt voraussagen. Das klang ungefähr so: ‹Jetzt kannst du den linken Fuss anheben und einen Schritt nach vorne machen.›» Schwierigkeiten ergeben sich hie und da auch aus der mangelnden Kondition einzelner Teilnehmer. Doch grundsätzlich sind die Wanderer der Gruppe Sohleblitz so gut trainiert, dass sie problemlos vier bis fünfstündige Touren bewältigen können. Weil

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92 das Führen und Geführt-werden ein sensibles Miteinander ist, das viel Vertrauen erfordert, muss die «Chemie» zwischen den beiden Menschen stimmen. Als Leiter hat Walter Ogi deshalb stets ein Auge auf die einzel-nen Teams. Achten muss er auch auf die herumtollenden Führhunde, die auf Blindenwanderungen nicht «im Dienst» sind sowie auf die unbeglei-tenden Sehbehinderten, wenn sich das Licht plötzlich ändert. Das soziale Engagement von Walter Ogi kommt aus seiner Jugend, als jeweils ein geistig behinderter Mann in den Coiffeursalon seines Vaters kamen und er sich in der Wartezeit um den Behinderten kümmern musste.

Am Anfang seiner Karriere als Wanderleiter pflegte Walter Ogi noch his-torisch interessante Ort und Tafeln vorzulesen, doch nicht alle sind an sol-chen Details interessiert. Wenig nützt es auch, von der schönen Aussicht oder den bunten Laubbäumen zu erzählen – blind Geborene können mit diesen Beschreibungen wenig anfangen. Wer das erste Mal hört, dass Blinde gerne wandern, fragt sich sogleich naiv, was denn der Reiz an einer Wanderung sein könnte, wenn man nichts sieht. Walter Ogi: «Neben der schon erwähnten Freiheit, sich ohne Führhund oder Stock sicher zu bewegen, freuen sich Blinde in erster Linie an der Bewegung, der frischen Luft, den Geräuschen, den Gerüchen und am Erlebnis in der Gruppe.»

Walter Ogi leiht blinden Wanderinnen und Wanderern seine Augen.

Wer kennt sie noch, die versteckten Schätze im Schweizerland, in den Zeiten von Baller-mann und Billigflug, Schnorchelkurs und Wüstentrip? Dabei liegen die Perlen direkt vor der Haustür. Zu entdecken gibt es den besten Käse im Pays d´Enhaut, ein Biosphären-reservat in der Innerschweiz oder die alte Seebadi in Zollikon. Ein Plädoyer fürs Nahreisen. Von Erich Grasdorf

97Das Lob der Nähe

A ls ich meine erste grosse Reise machte und in Sydney landete, fragte ich mich, ob ich sicher sein könne, am andern Ende der

Welt zu sein. Ich war in Frankfurt in einen Jumbo gestiegen, hatte eine Zwischenlandung in Abu Dhabi erlebt, durfte bei einer zweiten in Colombo das Flugzeug nicht verlassen und war 28 Stunden später an einem Ort, von dem ich annehmen musste, er sei die grösste Stadt Australiens. Kontrollieren, ob das stimmte, konnte ich nicht.

Wer sagte mir denn, dass der Kontrollturm, die Hangars, die Empfangshalle nicht zu einem anderen Flugplatz gehörten oder Teile eines Potemkinschen Dorfes waren: Kulissen einer Inszenierung – wie die Flickenteppiche der Felder, der mäandernde Fluss im Hochland von Dekhan und die Spinifex-Ödnis der Nullarbor-Plains, die unter mir vorbei gezogen waren? Oder vorbei gezogen worden waren? Bestanden die Spielzeugstädte dort unter vielleicht wirklich aus Spielzeughäusern? War das alles nur aufgebaut, um mich zu foppen? Wurde nicht alles wieder hinter mir abgebrochen, so wie die Fassaden der Mainstreet, wenn der Western abgedreht ist?

Obwohl ich inzwischen an allen erdenklichen Ecken der Welt gelandet bin, hat sich dieses Gefühl bei mir immer wieder sachte gemeldet. Bei einer Bahnreise ins Tessin oder Autofahrt ins Wallis nie. Dabei nähert man sich seinem Ziel zwar in einem für unsere Grosseltern noch unvorstellbar

Wie wäre es, zur Abwechslung, mit etwas Nahweh, mit einer Reise in die Nähe?

98 hohen, aber für unser Seelenleben doch zuträglichen Tempo. Man fährt durch Dörfer, über- oder durchquert die Berge, mach Rast oder muss umsteigen. Begegnet Menschen. Und selbst, wenn man im Stau steht – was vermeidbar wäre – ist alles handfest und nachvollziehbar. Ganz klar: Das Flugzeug ist in manchen Fällen für mich unersetzbar. Doch wenn ich Ferien mache, verzichte ich lieber darauf. Da will ich nicht in knallvollen Flughäfen hocken und auf verspätete Flieger warten.

Aber sagen Sie das jemandem, der mit etwas Glück für 39 Franken plus Flughafentaxe zum Shopping nach London jetten kann, wenn die Bahnfahrt von Zürich nach Bern retour (1.Klasse/Halbtax) 69 Franken kostet. Und wer kann schon widerstehen, wenn er für eine Woche Badeferien in Djerba nur 845 Franken (alles inbegriffen) auf den Tisch des Reisebüros zu blättern hat? Also ich kann da ziemlich locker wider-stehen. Und das nicht allein wegen des ausufernden Fluglärms und der katastrophalen Ökobilanz der Jumbos, sondern – ganz egoistisch – mir selbst zuliebe. Ich reise gern ohne Stress und Hetze. Darum vorzugsweise in die Nähe. Sagen wir ins Entlebuch. Noch nie dort gewesen? Aber auf Bali schon, oder? Da kennt man inzwischen jedes Sandkorn mit Vor- und Nachnamen. Aber vielleicht muss man zuerst auf Ibiza, Kreta oder Kuba gewesen sein, um das Entlebuch zu schätzen.

Im wilden Westen von Luzern

Das Entlebuch nämlich ist seit Kurzem ein von der Unesco anerkanntes Biosphärereservat. Das heisst, dass dort Naturschutz, Landwirtschaft und Tourismus traulich nebeneinander gedeihen. Und zwar dermassen, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass es mit dieser vordem danieder liegenden Region bergauf geht. Nicht nur, dass ich solche Entwicklung gern unterstütze, ich finde es schlicht paradiesisch im Entlebuch: ruhig,

Ruhig, geruhsam – und überwältigend schön: das Entlebuch.

geruhsam und überwältigend schön. Wenn ich schon dort bin, kaufe ich gleich Käse und Wurst mit dem Label «Echt Entlebuch». Denn wenn das drauf steht, kann ich sicher sein, dass 90 Prozent der Wertschöpfung aus dem Entlebuch stammen. Das gilt übrigens auch für die regionalen Dienstleistungen, wie sie unter anderem von Restaurants und Hotels er-bracht werden. Und die haben sozusagen unter dem Unesco-Protektorat spürbar zugelegt – allein die Übernachtungszahlen um 5 Prozent. Das scheint wenig, doch die Kurve zeigt nach oben. Zudem ist das Entlebuch ein beliebtes Ziel für Tages-Exkursionen geworden. Sie haben sich ver-doppelt. Als «Wilder Westen von Luzern» lockt das Reservat inzwischen selbst Touristen aus Asien an.

Da stellt sich natürlich die Frage, warum ein Land wie die Schweiz, des-sen Besuch ausländischen Touristen jährlich gut 12 Milliarden Franken wert ist, von den Einheimischen oft links liegen gelassen wird? Fernweh? Einverstanden. Aber wie wäre es zur Abwechslung mit etwas Nahweh? Dann würde mehr Geld in dem Land bleiben, in dem es verdient wurde. Um bei den Zahlen zu bleiben: Schweizer spendieren jährlich gut 10 Milliarden Franken für Auslandsferienreisen. Für Ferien in der Schweiz knapp 10 Milliarden Franken. Bereits eine leichte Verschiebung zugunsten der Inlandferien würde für ein so kleines Land wie die Schweiz einiges bewirken. Davon würden nicht allein Restaurants und Hotels profitieren, sondern das ganze Gewerbe, inklusive des bäuerlichen. Und damit ein guter Teil der Volkswirtschaft. Das als kleine Anregung.

Grandiose Landschaft: das Pays-d‘Enhaut.

Natürlich ist das Entlebuch nur eine der Randregionen, der man touris-tisch unter die Arme greifen kann. Ich denke da zum Beispiel ans Pays-d‘Enhaut. Breiten Sie eine Schweizer Karte aus und lassen Sie einen Besucher tippen, wo sich das Waadtländer Oberland befindet. Er wird wohl etwas zu suchen haben. Gefunden?

Auf der Suche nach dem besten Käse der Schweiz

Also dann: Bis ins frühe 20. Jahrhundert führten äusserst beschwerli-che Wege ins und aus dem Tal. Die Menschen im Pays-d‘Enhaut führ-ten ein abgeschiedenes Leben als Selbstversorger. Sie ernährten sich vom Holzhandwerk, Milch- und Käsewirtschaft. Die Frauen spannen, woben und stickten. Manche verstanden sich auf die hohe Kunst des

mehrfach komplizierten Scherenschnitts. Irgendwie mussten die Abende herum gebracht werden. So viel zur Idylle, die so idyllisch wohl nicht war. Doch obwohl die Bauernhöfe modernisiert, Strassen und Bahnlinie gebaut wurden, hat sich vieles aus alter Zeit noch erhalten. Käse und Scherenschnitte werden immer noch hergestellt. Genau das macht – zu-sammen mit der grandiosen Landschaft – den Reiz des Pays-d‘Enhaut aus. Und wer in Rougemont den Tommes vaudoise vom Käser Michel Beroud entdeckt, in Château-d‘Œx das kleine Musée du Vieux Pays-d‘Enhaut oder dann die Heissluftballonwochen besucht, in Rossinière das grösste aller Waadtländer Châlets bewundert hat, der sollte einen Abstecher in Richtung Col des Mosses machen und bei der Ortseinfahrt von L‘Etivaz halten. Denn von dort aus geht es in das Tal, von dessen der – meiner

103Meinung nach – beste aller Schweizer Käse stammt. L‘Etivaz eben. Und je nachdem wie man an- oder abreist, liegt das Schloss Gruyère oder dann Gstaad am Wege.

Auf dem Sattel durch den Velokanton

Aber natürlich gibt es für Zürcherinnen und Zürcher weit näher gelegene Ferienregionen. Eine davon lockt mit verträumten Seelein und dem Südufer des «Schwäbischen Meers», mit Mooren und Riedlandschaften, flachge-zogenen Feldern und eindrücklichen Obstbaumkulturen in den Ebenen, sowie Weiden und Weingärten an sanften Hängen. Dazu malerische Schlösser, Dörfer und Kleinstädte. Trotzdem ist diese Gegend all jenen un-bekannt, für welche die Schweiz gleich hinter Winterthur aufhört. Dabei war der Thurgau einmal Zürcher Untertanenland. Für besonders nahrei-senswerten Teile des Kantons halte ich das Thurtal und den Seerücken. Dort wiederum schätze ich die Gegend um das Dorf Ottoberg mit seinen Riegelhäusern am meisten. Und das nicht nur, weil sich gleich nebenan eines meiner Lieblingsweingüter befindet: das Schlossgut Bachtobel. Übrigens wirbt der Thurgau für sich selber als Velokanton. Das hat was. Und als überaus zweiradgängig erweist sich eine andere nahe gelegene Region: das Zürcher Weinland. Schon einmal nach Andelfingen pedalt?

Weil wir gerade beim Velofahren sind: Ich wohne im Zürcher Oberland und habe erfahren müssen, warum es so heisst. Weil es immer berg-auf geht. Zum Beispiel auf den Bachtel. Die Tour nach Girenbad ist im doppelten Sinn nahrhaft, weil dort Paul Bieri seinen Senne Flade käst – ein würziges Mitbringsels für die Daheimgebliebenen. Für Geiss- und Schafsmilchkäseliebhaber bieten sich Oberländer Alternativen: beim «Geisse-Walti» Odermatt in Güntlisberg oder gleich gegenüber beim

Flachgezogene Felder, sanfte Hänge, Weiden: Der (vielen) unbekannte Thurgau.

Franz Koster in Faltigberg. Doch der Genuss will erstrampelt werden – es sei denn, man kaufe die «natürli»-Käse im Zürcher HB beim Marinello. Ich habe mir ein rechtes Stück Schweiz vom Velo aus angeschaut. Am liebsten entlang der Flusstäler: Rhein, Aare, Tessin. Wobei zu sagen ist, dass es Rhone abwärts mühsam werden kann. Der Gegenwind gleicht das ohnehin leichte Gefälle mehr als aus. Bei Martigny musste ich wind-bedingt absteigen. Natürlich kannte ich die Strecken alle schon von der Bahn oder dem Auto her. Aber ich kann glaubhaft versichern: Vom Sattel aus betrachtet präsentiert sich die Landschaft ganz anders. Auch so ge-sehen: viel näher.

105Ich weiss nicht, was Sie so machen, wenn es zu Fuss bergauf und immer weiter bergauf geht. Ich zähle dann meine Schritte so für mich hin. Oder ich mache blöde Abzählverse wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandrill, Hai, Muni, Muli, Langust und dann weiss ich nicht weiter, ausser, dass alles Folgende sowieso auf -bär endet. Ich bin kein begnadeter Berggänger. Für mich meinen es viele Wege sehr schnell ernst. So die Strasse vom Ufer des Wägitalersees hinauf ins Dorf Innerthal und von da aus wei-ter nach oben zu den Bauernhöfen. Ich gehe diese Strasse trotzdem gern. Vor allem im Winter. Dann komme ich mir vor, wie weit weg von Zürich. Obwohl die nebelverhangene Stadt nur dreiviertel Autostunden entfernt liegt. Am Wägitalersee kann ich winters die Basis für künftige Gesichtsbräune legen. Das auch auf der Sonnenterrasse des Restaurants Stausee. Der Imbiss und das Glas Wein gehören ins abschliessende Relax-Programm.

Das Wägital ist das, was man ein Naherholungsgebiet nennt. Ein ziem-lich unbekanntes. Im Sommer kann man um den See herum laufen oder sich mit zwei PS vorneweg kutschieren lassen. Oder dann über die Sattelegg hinüber ins Einsiedlerische wechseln. Aber mir gefällt es dort im Winter am besten: Schnee, Sonne, Berge, See – Postkarte pur. Vielleicht verschicken Sie eine an die Urlaubsadresse ihrer Nachbarn, die gerade in der winterlichen Karibiksonne der neuen DDR, der Deutschen Dominikanischen Republik, schmoren.

Die Stadtwanderung

Wobei für mich das In-die-Nähe-Reisen schon innerhalb der Zürcher Stadtgrenzen beginnt. Ich schätze das von meinem Kollegen Benedikt Loderer erfundene Stadtwandern extrem. Wenn ich in einem Quartier zu tun habe, das ich längere Zeit vernachlässigt habe, nehme ich mir

Entdecken, was vorher nicht da war: Auf einer «Wanderung» durchs Stadtquartier

106 die Zeit, die Nebenstrassen zu erkunden. Jede Wette, dass man dort etwas entdeckt, was vorher nicht da war. Auf jeden Fall eine neue Beiz. Eine Stadt ist ja nie fertig gebaut. Nicht nur Zürich, auch andere Städte habe ich mir erlaufen, selbst solch fussgängerfeindliche wie Los Angeles. Und man verachte mir die Stadtrundfahrten nicht. Die durch Zürich ist gerade für Zürcherinnen und Zürcher höchst erbaulich. Und sei es wegen der Kommentare der überseeischen Gäste. «Nothing to write home about», hörte ich eine Amerikanerin sagen, als wir am Opernhaus vor-beifuhren. Das hätte dem Herrn Perreira aber gar nicht erfreut. Doch die Wasserkirche fand die gleiche hochtoupierte Dame dann «very nice». Na, wenigstens das.

Eine weitere Möglichkeit, seine Stadt mit andern Augen zu sehen, ist es, sich für ein langes Wochenende dortselbst in ein feines Hotel ein-zuquartieren. Sich sein Frühstück am Bett servieren zu lassen. Sich in aller Ruhe in der Badewanne zu aalen. Einen Schaufensterbummel zu machen. Abends ins Theater oder Kino zu gehen. Danach ohne Rücksicht auf Strassenkontrollen einen Schlummerbecher oder mehr an der Bar zu kippen. Am anderen Morgen ... da capo. Und was der Annehmlichkeiten mehr sind, die eine rechte urbane Herberge zu bieten hat.

Eine Ausweitung dieser Idee heisst Wellnesswoche. Wobei man da nicht im Städtischen verbleiben muss, sondern ins Ländliche ausweichen kann. Angebote gibt es reichlich. Und was geboten wird, ist nicht ohne. Da gibt es Solarien, Whirlpools. Massagen, Thalasso mit Wickel, Solebad, Fitnessraum, Ayurveda, Saunalandschaft. Gewünschtes bitte ankreuzen und ein Hotel danach aussuchen.

Warum nicht, zum Beispiel, das malerische Elm besuchen?

Seebadi an der Costa dorada

Es folgt mein nahe liegender Geheimtipp für sommerliche Badeferien: die alte Seebadi in Zollikon. Die muss man einfach schätzen. Was heisst schätzen? Lieben muss man die. Renoviert, wo es nötig war. Ansonsten den Charme der Vorkriegszeit verströmend. Wenn dort kein mediterranes Ambiente herrscht, dann weiss ich nicht, wo sonst. Da verzichtet man gerne auf den Bagnino, der einem einen Liegestuhl in der drittletzten Reihe am Strand von Rimini aufs Auge drückt – soweit man ihm nichts in die Hand drückt. Und die Zolliker Seebadi ist wahrlich nicht die ein-zige attraktive Badegelegenheit rund um den See. Erholsamer als in der Nähe, können Badeferien nicht sein.

108 Wie bereits geschrieben: für Ferienreisen ins Ausland geben die Schweizer jährlich gute 10 Milliarden Franken aus. Im Gegenzug Ausländer in der Schweiz etwas über 12 Milliarden Was einen touris-tischen Devisenbilanzüberschuss – äxgüsi, so heisst das nun mal - von rund 2 Milliarden Franken ergibt. Diese Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2002. Wenn Schweizer im Ausland also ferienhalber weniger aus-geben, als Ausländer in der Schweiz – warum dann mein Lob der Nähe? Sicher nicht, um Ihnen Ihre Ferien in sagen wir Thailand, Neuseeland oder Griechenland zu vermiesen. Ich weiss: Das könnte ich gar nicht. Und ich will niemanden davon abhalten, sich den Sandstrand von Phuket durch die Zehen rieseln zu lassen.

Aber ehrlich, haben Sie sich nach einer langen Rückreise nicht auch schon so nudelfertig gefühlt, dass Sie gleich wieder Urlaub gebraucht hätten? Und haben Sie sich nicht insgeheim gefragt, ob der Aufwand in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stand? Ich könnte hier des weiteren den Zeigefinger heben und über die Ökonomie und Ökologie der Fernreisen und Badeferien an entlegenen Stränden dozieren. Mache ich nicht. Obwohl es nicht verboten ist, sich ein paar tiefere Gedanken über die Folgen der touristischen Globalisierung zu machen. Inzwischen kann zum Flugschein freiwillig ein Ökoticket gepostet werden. Mit dessen Erlös werden dann Umweltschäden behoben. Das schmeckt stark nach Ablasshandel und verhilft den Menschen, die unter den Anflugschneisen siedeln, zu null Phon weniger Lärm.

Bei Vreneli und Vreni

Ich frage mich: Warum denkt, wer an seine nächsten Ferien denkt, nicht ans Entlebuch? Oder ans Pays-d‘Enhaut? Wobei ich das Malcantone, die Freiberge, die Bündner Herrschaft, die beiden Appenzell und die vielen

109anderen erlebenswerten Schweizer Landschaften und Seen nicht einmal erwähnt habe. Auch die Naturparks nicht. Denkt man beim Ferienplanen nicht daran, weil die Nähe nichts hermacht? Zu wenig Prestige abwirft? Weil man da nichts zu erzählen haben könnte? Es ist doch genau anders herum. Wen interessieren schon die abendfüllenden Schilderungen des Kamelritts vor der Kullisse der Pyramiden von Gizeh? Die hat man doch von verschiedenen Personen bereits in etlichen Versionen gehört - sie liefen immer aufs Gleiche hinaus. Aber wer hat Ihnen je davon berich-tet, wie ihr oder ihm am Ufer des Rheins ein Glas Wein vom Eglisauer Stadtberg geschmeckt hat? Oder wie der Aufstieg zum Vrenelisgärtli war.

Oder der Besuch beim Zigerkäser Werner Elmer auf der Alp Obererbs ganz hinten im Glarnerland – dort, wo im Dorf Elm sowieso alle Elmer heissen? Oder dann Vreni Schneider. Eben.

112 Die GeburtstagswanderungEine Kurzgeschichte von Peter Zeindler. Illustrationen: Herbert Seybold

E r stand da und strahlte über das ganze Gesicht. Hinter ihm die Hügelketten und stolzen Erhebungen des Zürcher Oberlands.

«Mit seinen knapp 1300 Metern handelt es sich beim Hörnli um den eindrücklichsten Aussichtsberg unseres. An klaren Tagen, so wie heute, kann es dort oben aufregend schön sein. Der Blick aufs Appenzellerland und aufs Toggenburg ist atemberaubend. Und im Norden könnt ihr den Schwarzwald sehen, im Süden die Alpen und ganz weit unten den Zürichsee.»Egon liess das Blatt mit dem Ausdruck aus dem Internet sinken und be-trachtete die Wandergruppe mit einem kleinen hinterhältigen Lächeln, das auch die wenigen Wandergesellen, denen es auffiel, nicht zu deuten vermochten. Egon feierte seinen 50. Geburtstag, und wenn auch ein Teil der Gäste diesem Jubiläum vorläufig noch mit einer gewissen Skepsis gegenüberstand, liess sich keiner der Geladenen etwas anmerken.«Happy Birthday!» schrieen seine Wanderkameraden. Der Himmel über dem Zürcher Oberland leuchtete in einem makellosen Blau. Die Wanderschuhe waren geschnürt. Die Gesichter glänzten fettig. Es konnte losgehen.«Muss es denn ausgerechnet eine Bergwanderung sein?», habe ich Egon gefragt, als vor drei Wochen die Einladung zu dieser ganztägigen Geburtstagsaktion bei mir eintraf. «Das Leben ist eine Wanderung. Und eigentlich geht es immer bergauf»,

hatte er mir am Telefon erklärt. «Und später, einmal auf der Karriereleiter oben angekommen, versucht man die Höhe zu halten und steuert einen neuen Gipfel an. Ein symbolischer Akt.»«Das behauptest du», gab ich verärgert zur Antwort und erinnerte mich an mein schrumpfendes Bankkonto. «Ich stehe im Zenith meines Lebens!» sagte Egon pathetisch. Ein Hustenanfall unterbrach seine Behauptung. «Du zahlst noch immer Alimente. Du hast kürzlich Dein Auto zu Schrott ge-fahren. Du hast nicht mit dem Rauchen aufgehört. Das nennst du Zenith!», wandte ich spöttisch ein. «Das ist doch bereits der Abstieg.»Er schnaufte. Es tönte kurzatmig. «Man muss in seinem Leben Zeichen setzen, mein Lieber», sagte er end-lich mit fester Stimme. «An meinem 50. Geburtstag höre ich mit dem Rauchen auf. Zwei Wochen später wird mein Sohn volljährig, und die

114 Alimentszahlungen werden eingestellt, und...» Er machte den Satz nicht zu Ende. Er hüstelte. Ich schwieg. Er kam auf das Thema zurück.«Du bist doch dabei?»«Selbstverständlich. Ich bin zwar beinahe zehn Jahre älter als du, aber dir konditionell durchaus gewachsen. Wie lange soll die Wanderung dauern?»«So ungefähr fünf Stunden. Zwei Stunden von Steg auf das Schnebelhorn. Dann zwei Stunden zum Hörnli. Und eine Stunde zurück nach Steg.»»«Und wie viele Freundinnen und Freunde werden dir auf dieser Geburtstagswanderung folgen?» fragte ich weiter. Er zögerte, hüstelte dann und seufzte.«Fünfunddreissig!» murmelte er.«Fünfunddreissig? Du wirst doch fünfzig. Fünfunddreissig ist einfach eine beliebige Zahl.» gab ich zu Bedenken. «Ein bisschen Symbolik stünde einem runden Geburtstag nicht schlecht an. Das ist doch deine Vorgabe.»«Was soll das heissen?»«Dass du zu deinem Fest fünfzig Mitwanderer hättest einladen sollen. Das wäre doch sinnvoll. Oder mindestens die Hälfte. Wenn schon. fünf-undzwanzig!»Er grinste, dann seufzte er theatralisch.«Wie soll ich fünfzig Mitwanderer verköstigen?» fragte er schroff. «Bei meinem Einkommen!»«Du wirst dir doch wohl noch fünfzig Salamibrote und ein paar Flaschen Eistee leisten können! Oder etwa nicht?»«Mein Lieber», sagte er nach einer langen Pause beinahe feierlich. «Es geht doch nicht um den Zwischenproviant. So verarmt bin ich denn doch noch nicht. Es geht um das Abendessen, das ich bereits in einem feinen Restaurant im Tösstal bestellt habe. Die Belohnung für die Anstrengungen des Tages. Und ich habe mich nicht lumpen lassen, das kannst du mir

115glauben. Vier Gänge. Erlesene Weine.» Egon war nicht bekannt für seine Grosszügigkeit! Und so überraschte mich die Tatsache schon etwas, dass er sich seinen Geburtstag etwas kosten liess. Aber dass er sich auf die Zahl 35 festgelegt hatte, wunderte mich schon. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass es gar nicht so viele Leute in seinem Leben gab, die er als seine Freunde bezeichnen konnte. Fünfunddreissig war eine stolze Zahl. So viele echte Freunde hatte nicht einmal ich. Ich schüttelte den Kopf. Egon hatte sich übernommen. In jeder Hinsicht. «Wir brechen auf, Freundinnen und Freunde!» rief Egon und hielt wie ein Offizier, der seine Soldaten zum Angriff aufforderte, seinen Spazierstock in die Luft.Ich musterte meine Reisegefährten und versuchte, bekannte Gesichter zu identifizieren. Ein paar vertraute Köpfe waren schon darunter, einige von Egons Berufskollegen vom Fernsehen und vom Radio, die ich auch kannte, seine zwei Schwestern und ein Schwager, seine Tennisclubpartnerinnen – und Partner und dann natürlich ein paar Menschen, die er ausserhalb dieser Kategorien als seine wahren Freunde oder Freundinnen bezeichnen durfte. Zu dieser Gruppe zählte er auch mich, kannten wir uns doch schon seit Jahren, hatten uns bei diversen Umzügen geholfen, hatten zusammen gekocht oder uns in den Höhen literarischer Diskurse verirrt, dorthin, wo die Luft dünn wird und die Argumente gewichtig.Aber ich entdeckte auch ein paar Gesichter, die mir unbekannt waren oder an die ich nur eine vage Erinnerung hatte. Vielleicht hatte ich sie in einer Zeitung abgebildet gesehen oder ich kannte sie vom Bildschirm. Möglicherweise aber war ich ihnen auch im Foyer des Opernhauses oder der Tonhalle begegnet. Warum Egon jedoch diese Leute eingeladen hatte, die mit ihm scheinbar gar nichts zu tun hatten, war mir schleierhaft. Vielleicht wollte er sich ja auch nur mit ein paar prominenten Namen

schmücken. Dieser Gedanke kam mir erst, als ich nach langem Nachden-ken das Gesicht eines bekannten Schauspielers identifizierte. Vielleicht wollte er sich mit diesen Leuten nur schmücken.Freunde?Wir setzten uns in Bewegung. Es war zwar erst zehn Uhr, aber der Schatten des Waldes, in den wir eintauchten, war uns willkommen«Wo ist da ein Weg?» rief plötzlich eine helle Frauenstimme.Die Wandergruppe kam zum Stillstand. Alle schauten auf Egon, der sich jetzt umdrehte.«Erste Rebellion?» fragte er mit sanfter Stimme. «Keine Rebellion», antwortete eine blondhaarige junge Frau, deren Brillengläser beschlagen waren. Sie atmete bereits schwer. «Eine Frage.» Ich war froh, dass die Frau diese Frage gestellt hatte. Auch mir war aufge-fallen, wie mühsam dieser Anstieg war, dass Egon nicht dem Wanderweg

117mit den gelben Markierungsrhomben folgte, sondern das Schnebelhorn anscheinend im Sturm nehmen wollte. Immer wieder rutschte man auf einem Ast, einer oder auf dem dürren Laub vom Vorjahr aus, das wie ein dichter Teppich den Abhang bedeckte. «Wo ein Wille, ist auch ein Weg», sagte Egon und zwinkerte der blon-den Frau zu.«Auf solche Lebensweisheiten haben wir gewartet!»Dieser bissige Kommentar stammte ausgerechnet von Egons Radiokollegen, der für Kirche und Religion zuständig war.«Wandern bedeutet doch nicht, sich zu quälen», fügte er hinzu und wischte sich mit einem schneeweissen Taschentuch über die Stirn.«Wollt Ihr meutern?» fragte Egon. «Schon zu Beginn meiner Geburtstagswanderung?»«Da ist also kein Weg», konstatierte die Blonde ärgerlich. «Es gibt das hier nicht, was ihr als Weg bezeichnet. Irgendwo unter dem Laub windet sich eine Art Pfad den Abhang hinauf. Aber wir wählen doch die Diretissima. Wie im richtigen Leben.»Egon wandte sich ab und stapfte weiter.«Vielleicht will er uns einfach nur umbringen», murmelte der Kirchenverantwortliche vom Radio. «Hast du diese Wanderung vorher schon einmal gemacht, Egon?» tönte es von hinten.Egon gab keine Antwort.«Haben Sie wenigstens rekognosziert?» rief ein älterer Herr mit roten Wollstrümpfen und einem Kinnbart, der mir bisher nicht aufgefallen war und den Schluss der Gruppe bildete. Und ich hätte mich vielleicht trotz seines konventionellen Wanderoutfits auch später nicht an ihn erinnert, wenn er Egon nicht gesiezt hätte. Ich liess mich zurückfallen. Eine Weile gingen wir stumm Seite an Seite. Er rutschte trotz seines robusten Schuhwerks immer wieder aus.

118 «Ich hätte die Einladung nicht annehmen sollen», sagte er verbittert, als er einmal mehr ausgelitten war, den Sturz mit den Händen auffangen wollte und sich dabei ausgerechnet auf einer stacheligen Brombeerranke auf-stützte. Er stiess einen spitzen Schrei aus, aber niemand reagierte. Alle waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hielten sich an Baumstämmen und Ästen fest, um das Gleichgewicht zu halten. «Gehören Sie zu Egons Freundeskreis?» fragte ich und half dem Mann wieder auf die Beine. Er betrachtete mit weinerlichem Gesichtsausdruck seine rechte blutende Hand, in der noch ein paar Stacheln steckten.«Ich hasse die Natur!»«Dann allerdings.»«Ich bin Verleger. Ihr Freund Egon hat bei mir ein Manuskript liegen.»«Ach!» sagte ich überrascht. «Egon schreibt also heimlich.»«Naturgedichte.»«Ausgerechnet. Da ist er ja an der richtigen Adresse.»Ich klaubte ihm die kleinen Dorne aus dem Fleisch.«Und?»Der Verleger wirkte verlegen. «Ich habe sie gestern gelesen. Sie wirken etwas antiquiert. Und überhaupt. Naturgedichte sind out. Und solche Massenwanderungen auch.»«Und das weiss Egon schon?»Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Ein Geburtstag ist nicht der Zeitpunkt, einem Lyriker ohne Talent eine Absage zu erteilen.»Wir stapften weiter. Das heisst, ich stapfte weiter. Der Verleger, dessen Gesicht jetzt so rot war wie seine Socken, war stehen geblieben. Ich merkte es erst nach einer Weile, als ich mich nach ihm umschaute. Er stand keuchend an einen Baum-stamm gelehnt und winkte mir matt zu.«Kann ich Ihnen helfen?» fragte ich.Er schüttelte den Kopf.

119«Ich kehre um» rief er mir zu. «Wegen der Naturgedichte?»«Auch!»«Dann gute Heimfahrt.»Ich beeilte mich, wieder zu der Wandergruppe aufzuschliessen, die allerdings nicht mehr kompakt war, sondern sich in einzelne Grüppchen aufgelöst hatte. An der Spitze aber legte weiterhin Egon ein forsches Tempo vor, das nur wenige mithalten konnten. Noch bevor wir das rutschige Waldstück hinter uns gebracht hatten, stiess ich auf ein zweites Opfer von Egons flottem Marschtempo. Die blonde Frau mit der beschlagenen Brille lehnte erschöpft an einem Baum. Als sie mich erkannte, versuch-te sie sich in einem Lächeln, das Hilflosigkeit signalisieren sollte.«Möchten Sie etwas trinken?» fragte ich die mir unbekannte Frau. «Ich habe Tee in meinem Rucksack.»Sie schloss die Augen und begann leise zu sprechen.«Der du von dem Himmel bist, / Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, / Doppelt mit Erquickung füllest. Ach, ich bin des Treibens müde! / Was soll all der Schmerz und Lust / Süsser Friede, Komm, ach komm in meine Brust.»Sie weinte jetzt lautlos.«Sind Sie Schauspielerin?» fragte ich beeindruckt. «Ist dieses Naturgedicht etwa von Egon?»«Egon? Ich habe nur zitiert», sagte sie mit ersterbender Stimme. Goethe: Wanderers Nachtlied .»Ich war beschämt, dass ich das Gedicht nicht gleich wieder erkannt hatte.«Und jetzt?»«Ich kann nicht mehr. Ich kehre um», murmelte sie. «Sie sind nicht der erste. Egons Verleger hat auch schon aufgegeben.

120 Wenn Sie sich beeilen, holen Sie ihn noch ein.»«Das passt. Danke.»«Passt? Wie meinen Sie das?»«Literatur und Musik. Ich bin Egons Klavierlehrerin.»Ich war überrascht. Egon war nicht nur unter die Literaten gegangen, er nahm also heimlich auch Klavierstunden. Er war offensichtlich unterwegs zu neuen Horizonten. «Egon wird es bedauern.»Sie stiess sich vom Baumstamm ab und ging mit vorsichtigen kleinen Schritten talwärts. «Er? Ich jedenfalls nicht», sagte sie verärgert. «Er ist leider sehr unmusika-lisch», sagte sie zum Abschied. «Er sollte es lassen.»Ich ging weiter. Egon hatte eine erste Rast angekündigt, und so war die Gruppe denn auch endlich wieder kompakt. Aber dieses Schulreisegefühl, das ich eigent-lich ganz gern wieder einmal, wenn auch nur ansatzweise, gespürt hätte, wollte nicht aufkommen. Die Wanderer wühlten eher lustlos in ihren Rucksäcken, bissen ohne Appetit in ihre Brote, und es wurde auch kaum gesprochen. Dieser erste Teil von Egons Geburtstagswanderung, der letzte Anstieg hatte Spuren hinterlassen.«Deine Parforcewanderung hat erste Opfer gefordert», sagte ich zu Egon, der seinen Rucksack über die Schulter schwang, ein Zeichen, dass der Stundenhalt zu Ende war.«Ach?» sagte er gleichgültig. «Wer ist denn auf der Strecke geblie-ben?»«Dein Verleger und deine Klavierlehrerin.»Ich grinste. Egon nahm es nicht zur Kenntnis.«Ich wusste nicht, dass du Naturgedichte schreibst», fügte ich nach einer kurzen Pause hämisch hinzu. «Wir befinden uns jetzt ja gewissermassen am Busen derselben. Und dein Verleger hat sich aus dem Staub gemacht. Er will deine Gedichte nicht.»

«Dann eben nicht» sagte Egon gleichgültig. «Er kann mit meiner Lyrik ja ohnehin nichts anfangen, der Banause. Auf geht‘s, Freundinnen und Freunde. Der Gipfel ruft.»Die Wandergruppe, die um zwei Einheiten reduziert worden war, machte sich murrend auf den Weg. Die Sonne brannte jetzt unbarmherzig auf die gebeutelte Truppe, die sich wie Moses Gefolgsleute, die jetzt den letzten steilen Aufstieg über den Weidehang zur baumlosen Gipfelkuppe des Schnebelhorns in Angriff nahmen. Aber ohne göttliche Hilfe. «Es gibt hier oben ein paar schöne Varianten», sagte Egon oben ange-kommen, und Stolz schwang in seiner Stimme mit. «Was willst di damit sagen?» fragte seine älteste Schwester besorgt. «Für Wanderer mit etwas Trittsicherheit stellt der voralpin anmutende Hörnligübelweg eine besondere Herausforderung dar.»«Was verstehst du unter Trittsicherheit?» fragte der Religionswissenschaft

122 ler. Misstrauen klang in seiner Stimme mit. «Das fragst ausgerechnet du, der du dich immer auf wundersamen Pfaden bewegst?» wunderte sich Egon. «In unserm Fall macht die Nagelfluh die Westflanke des Hörnlis besonders interessant. Wer mich liebt, folgt mir.»Er wandte sich ab und schritt wacker aus, ein paar seiner Getreuen folg-ten ihm. Egons älteste Schwester hob abwehrend die Hand in die Höhe. «Wir wählen die gefahrlosere Variante», sagte sie und scherte aus dem Pulk aus. Ihr Schwager und der Kirchenmann folgten ihr, und nach eini-gem Zögern schlossen sich noch weitere Wanderer dieser Gruppe an. Ich stellte fest, dass sich diese Einheit aus eher älteren Leuten und Frauen zusammensetzte, die nicht sehr berggängig wirkten. «Es gibt noch eine eine weitere Variante über die von Nagelfluh durch-setzte Westflanke,» sagte ich zum Rest der Wandergruppe, die, ich inbe-griffen, noch aus vier Frauen und sieben Männern bestand. Unter ihnen befand sich auch der bekannte Schauspieler, der demnächst die Rolle des Hamlet spielen würde, wie er während der Rast beiläufig angemerkt hatte. So eine Wanderung sei eine gute Gelegenheit, in der freien Natur, nicht abgelenkt vom Alltagskram, den Text zu memorieren. «Also?» fragte ich und faltete die Karte zusammen.Die andern nickten stumm. Sie hatten mich anscheinend als Führer ak-zeptiert, denn Egon und seine Gefolgsleute waren schon ausser Sicht. Wir brachen auf. Mit gesenkten Köpfen und vorsichtigen Schritten taste-ten wir uns vorwärts. Nur manchmal blieb ich stehen und vergewisserte mich, dass alle das Marschtempo mithalten konnten. Der Schauspieler schien am meisten zu leiden, jedenfalls hatte er sich offensichtlich in einer Textpassage verfangen, die zum europäischen Bildungsgut gehörte und die nicht einmal ein Banause auswendig lernen musste. «Sein oder nicht Sein, das ist hier die Frage», murmelte er vor sich hin. Und dann fiel er hin und war nicht mehr dazu zu bewegen, aufzustehen. Eine junge Frau, eine Kindergärtnerin, die mit Egons Neffen befreundet war, kümmerte

123sich umgehend um den Hamletdarsteller, öffnete seinen Hemdkragen und die obersten Knöpfe, kraulte sein Brusthaar und flösste ihm Tee ein. «Soll ich dich einem Sommertag vergleichen? Holdseliger und milder noch bist du ...» flüsterte der Schauspieler und schlug die Augen auf. Die Kindergärtnerin errötete. «Shakespeare?» fragte sie.Er nickte: «Ein Sonett.»«Meine schönste Wanderung», sagte sie beinahe tonlos. Der Schauspieler schloss die Augen. Ich schaute die Kindergärtnerin fragend an. Sie nickte versonnen. Wir setzten unsere Wanderung fort. Weit hinten, wie ich durch mein Fernglas erkennen konnte, beugte sich der Kirchenexperte vom Radio über Egons ältere Schwester, die auf einem Felsbrocken sass und die Arme hängen liess. Ihr Helfer fächelte ihr mit seinem Taschentuch Kühlung zu, dann stand er auf und schwenkte weit sichtbar sein weisses Tuch. Egons Jubiläums-Wandergruppe bereits war bereits ordentlich geschrumpft. Wenn man den Verleger und die Klavierlehrerin dazu zählte, die bereits frühzeitig resigniert hatten, waren bis dahin bereits sechs Personen auf der Strecke geblieben. Als meine Gefolgschaft einen schmalen Grat passierte und wir mit steigen-der Temperatur, als auch meine Kräfte schwanden, und ich, erlahmend, einen kurzen Blick über meine Schulter riskierte, musste ich feststellen, dass sich auch meine Gruppe dezimiert hatte. Ausser dem Schauspieler und der Kindergärtnerin hatten noch zwei weitere Expeditionsmitglieder resigniert, eine Frau, die für Radiowanderungen zuständig war und Egons Hausmeister, der immer wieder umsonst kleine Reparaturen in der Wohnung erledigt hatte und wohl nur deshalb eingeladen worden war. Alles in allem waren nur noch 27 Geburtstagswanderer auf dem Weg zum Hörnli.

Der Hausmeister befand sich mit der Frau vom Radio bereits wieder auf dem Abstieg, vereinte sich weiter untern mit dem Kirchenspezialisten und

124 Egons älterer Schwester, als wir uns dem erlösenden Hörnligipfel näher-ten. Dort stand vor der altehrwürdigen Bergwirtschaft Egons Tochter zusam-men mit ihrem Freund und winkte röhlich mit Proseccoflaschen. «Herrlich diese Aussicht!» rief Egon begeistert, als er mit seiner Gruppe, aus der noch zwei weitere Elemente eliminiert worden waren, neben uns stand, das Glas in der Hand, den Blick in die Ferne gerichtet, hinunter ins Appenzellerland und ins Toggenburg. Er holte zum zweiten Mal an diesem Tag seinen Computerausdruck aus dem Rucksack und las sei-nen 25 übrig gebliebenen Gefolgsleuten daraus laut vor: «Dieser klassi-sche Höhenweg im Zürcher Oberland ist vom Charakter her eine leichte Wanderung im Wald und auf freiem Kammrücken zu zwei der schönsten Aussichtspunkten unseres Kantons.»Er schaute stolz in die Runde. Aber er erhielt keinen Applaus. Man war zu erschöpft. Und der Geburtstags-Prosecco zeigte ebenfalls seine Wirkung. «Wir haben zehn Einheiten eingebüsst», flüsterte ich Egon zu. Er strahlte. «Siehst du! So ganz ohne Symbolik verläuft mein Geburtstag nicht. Fünfundzwanzig – die Hälfte von fünfzig ist übrig geblieben.»Ich schaute ihn überrascht an.«Du hast mit dieser Ausfallquote gerechnet?» fragte ich.«Natürlich! – Wahrscheinlichkeitsrechnung. Erfahrungswerte ...»«Dann geht‘s jetzt also wieder talwärts. Rechnest du mit weiteren Verlusten?» Egon schüttelte den Kopf. «Der Verleger, der nichts für die Natur übrig hat, ist weg. Der aufgeblasene Schauspieler, die Klavierlehrein, die mich quält, der Hausmeister, der keinen Nagel gerade einschlagen kann. Sie haben es nicht verdient, in unserer Mitte zu tafeln. Es reicht.»«Aber auch deine Schwester und ...»«Das tut mir zwar leid, aber es war nicht zu vermeiden. Auch

125Nahestehende müssen manchmal Opfer bringen. Besonders an Geburtstagen.»Er leerte sein Glas in einem Zug und schleuderte es weit von sich ins Tal.«Was für Opfer?» fragte ich mit Verspätung.«Ich bin finanziell nicht auf Rosen gebettet, das weisst du. Ich habe im Restaurant nur für 25 Personen reservieren lassen. Zehn mehr hätten mein Budget gesprengt.»«Ein perfider Plan?» «Perfid? Ich habe mich an denen gerächt, die meine musischen Fähigkeiten unterschätzen. Und ich weiss jetzt, wer zu mir hält, wer ein echter Freund ist, auf den ich im Alter zählen kann.»«Bravo!» murmelte ich.«Los geht‘s!» rief er.Die Wandergruppe, jetzt auf fünfundzwanzig Häupter reduziert, begann den Abstieg. Egon marschierte an der Spitze, eine Zigarette zwischen den Lippen. Die guten Vorsätze hatten sich in Rauch aufgelöst. Trotzdem freute ich mich auf das viergängige Abendessen und auf einen guten Tropfen. Es durfte selbst im Tösstal auch ein französischer Grand Cru oder ein Nebbiolo d‘Alba aus dem Piemont sein.

Ein Gespräch zwischen Theo Bächtold, reformierter Pfarrer an der Kirche St. Jakob in Zürich Aussersihl, passionierter Pilger und Daniel Ambühl, früher Medienmann, heute Künstler und unter anderem Gestalter der Bildwege. Protokolliert von Othmar Köchle. Bilder Jürg Waldmeier

129Wege zu sich selbst

Aufbrechen

Theo Bächtold: Aufbruch ist immer wieder ein grosses Thema; mein per-sönliches Aufbrechen auf den Pilgerweg war aber eigentlich eine banale Sache. Ich hatte nach 16 Jahren Dienst als reformierter Pfarrer einen Studienurlaub zugute. Ich war sportlich, wollte mit meiner Frau schon länger zu Fuss durch Europa und war seit meiner Studienzeit interessiert an Kirchengeschichte. Irgendwann sind wir auf die Pilgerwege gestossen. Ich begann Bücher zu lesen, Karten zu studieren, und am 23. Juli 1991 machten wir uns auf. Ich ging zuerst mal als «Student», wollte das Pilgern verstehen lernen und wurde unvermittelt selber zum Pilger. Plötzlich wurde der Jakobsweg gewissermassen mein Weg.

Daniel Ambühl: Was macht eigentlich ein reformierter Pilger?

Theo Bächtold: Seit etwa 1987 ist das Pilgern wieder an die Oberfläche gekommen und gerade bei Reformierten auf viel Interesse gestossen. Vor allem deshalb, weil die «Altlasten» des Pilgerns wie das Busse tun, Ablass gewinnen etc. heute wegfallen. Die Reformierten haben das dank-bar angenommen und das Auf-dem-Weg-Sein neu für sich entdeckt. Als Religionslehrer im Kreis 4 hatte ich manchmal vielleicht zwei Reformierte in der Klasse, der Rest war katholisch, orthodox oder Muslim. Erstaunlich war, dass über das Pilgern alle sofort mitreden konnten. Pilgern, Auf-dem-Weg-Sein, hat in allen Konfessionen und Religionen eine sehr greifbare Bedeutung.

Für viele der Beginn einer Reise zu sich selbst: Jakobsweg von Rapperswil nach Hurden.

130 Daniel Ambühl: Das Spannende am Wandern oder auch Pilgern ist doch auch, dass man sich nicht kompetitiv oder sportlich betätigt, sondern «müssig geht» im positiven Sinn. Indem man einfach nur unterwegs ist, wird man offen für Erlebnisse, Begegnungen, ist bereit für Neues. Das hat mich auch als Künstler interessiert, bei der Konzeption der Bildwege. Ich wollte diese Leere beim Unterwegssein nutzen und mit der Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, spielen. Dabei geht es mir im weitesten Sinn um Bildung – Bildwege sind auch Bildungswege – indem ich Erlebnisse mit Mitmenschen oder der Natur herbeiführe, die aus der Musse heraus entstehen statt in der gewohnten Leistungsumgebung.

Theo Bächtold: Wie bist du zu den Bildwegen gekommen?

Daniel Ambühl: Es ist eine Krux mit den Bildern. Das Kunstwerk, wenn es einmal in der Ausstellungshalle hängt, ist für die Betrachter völlig sta-tisch. Er betrachtet es und geht zum nächsten. Die Geschichte, die ein Kunstwerk zu erzählen hat, geht dabei verloren. Der Betrachter schafft keinen Bezug zum Bild. Die Auseinandersetzung findet in der Ausstellung nur auf der Oberfläche statt. Jedes Kunstwerk hat einen Anfang und ein Ende. Bei Musik oder Literatur ist das leicht nachvollziehbar. Bei Bildern muss die Geschichte freigelegt werden. Ich habe versucht, einen Weg zu finden, damit die Betrachter in die Entstehung der Bilder miteinbe-zogen werden. Deshalb habe ich 1995 in Ascona den ersten Bildweg geschaffen. Sieben Kupferplatten wurden einem Weg entlang verteilt. Auf jeder ist ein Bild, das die Menschen, die sich auf den Weg machen, mit Kreide auf ein Blatt Papier übertragen können. In Ascona waren es sieben vollständige Bilder. Überlagert man die Bilder, sieht man nur noch ein «Rauschen» – ausser der, der die Bilder kopiert hat, denn er kennt die Bilder und kann sie im Rauschen wieder erkennen. Auf dem zwei-ten Bildweg in Berlin funktioniert es mit sieben Teilbildern, die sich nach

Pilgern ist keineswegs zweckfrei. Pilgern ist sehr zielgerichtet, man hat jeden Tag seine Etappe zu absolvieren. Theo Bächtold

Abschluss des Weges zu einem ganzen Bild zusammenfügen. In Zürich, auf dem dritten Weg, waren wieder verschiedene Bilder auf den Platten. Einzelne Linien der Bilder fügten sich aber beim Übereinanderlegen zu einem neuen Bild zusammen, dass man nur sehen konnte, wenn man alle Bilder übertragen hatte.

Unterwegs sein

Theo Bächtold: Dein Anliegen ist mir sehr nah. Auch ich als Pilger möchte, dass sich die Menschen, denen ich von meinem Weg erzähle, aufmachen. Ich möchte nicht nur, dass sie von mir hören, was ich erlebe, sondern sie sollen erleben, was der Weg mit ihnen macht. Ein Wort noch zum müssi-gen, zweckfreien Unterwegs-Sein. Das würde ich vielleicht als Spazieren

bezeichnen. Pilgern ist keineswegs zweckfrei. Pilgern ist sehr zielgerich-tet, man hat jeden Tag seine Etappe zu absolvieren. Aus der Herberge wird man am Morgen durchaus «hinausgeschossen», auch wenns regnet. Es ist also eher Aufgabe und «Geh-Arbeit» als Müssiggang. Ich wehre mich auch gegen den Satz «Der Weg ist das Ziel», der ja bei jeder Gelegenheit zitiert wird. Da könnten wir ja im Kreis gehen. Pilger haben aber durchaus sowohl ein geografisches als auch ein spirituelles Ziel, wenn sie unterwegs sind.

Daniel Ambühl: Als Wanderer bin ich – vielleicht im Gegensatz dazu – ausschweifend. Ich lasse mich gern ablenken. Habe ich keine Zeit und muss pünktlich irgendwo eintreffen, sehe ich unterwegs viel weniger, als wenn ich mich mit Musse fortbewege. Beim Wandern, so glaube ich, werden wir auch wieder geerdet. Heute, wo wir uns fortlaufend in vir-tuellen Räumen bewegen, verlieren wir den Bezug zu den alltäglichen realen Dingen. Mir fällt auch auf, dass wir uns ständig in abgeschlosse-nen Räumen, in Kabinen aufhalten: die Wohnung, das Büro, das Auto, die Gondelbahn, das Restaurant. Das alles ist bequem, und man friert und schwitzt nicht. Die Sinnlichkeit und unser Bedürfnis nach echten Erlebnissen wird aber nicht mehr befriedigt. Erstaunlich ist doch, dass Kinder beispielsweise die Namen von allen Dinosauriern kennen, die vor x Millionen Jahren ausgestorben sind, aber den Baum, der gerade vor dem Fenster blüht, nicht benennen können. Man müsste den Menschen vermehrt dazu verführen, die Dinge, die ihn umgeben, wieder mit dem Namen zu kennen und ihre Geschichte zu erforschen.

Theo Bächtold: Beim Pilgern sind wir nicht gar so ausschweifend, da wir natürlich immer unser Ziel vor Augen haben, aber es hat dennoch Platz, dass man sich ob den kleinen Dingen am Wegesrand, sei es eine schöne Blume oder ein Käfer, erfreut. Am Ende des Tages stellt sich dann oft das

Pilger suchen das Im-Gehen-zur-Ruhe-Kommen, das Bei-sich-Sein.

134 ein, was wir die Pilgertrance nennen. Der Schritt wird rund und der Atem rhythmisch. Man gerät in einen Fluss, einen Trott und geniesst das. Dabei kehrt sich der Blick nach innen. Die Aussenwelt fliesst vorbei, ohne dass man sie ins Bewusstsein holt. Das sind die Momente, wo man das Gefühl hat, dass man bei sich ist. Viele Pilger suchen das, dieses Im-Gehen-zur-Ruhe-Kommen, dieses Bei-sich-Sein.

Daniel Ambühl: Mir kommt es so vor, als ob man sich ein Stück weit vom Körper entfernt. Man fliegt quasi mit. Wenn man Blattern hat an den Füssen, spürt man sie nicht oder erst nachher wieder.

Theo Bächtold: Es gibt Strecken, die geeignet sind, in so einen Fluss zu kommen. Zum Beispiel, wenn der Weg auf einer Krete verläuft. Da glaubt man mit der Zeit zu fliegen. Oder in der Meseta, der endlosen Ebene, wo es tagelang 40 Kilometer nur gerade aus geht. Als ich einmal mit einer Konfirmandengruppe unterwegs war und wir auch einer Krete entlang lie-fen, wurden die sonst sehr gesprächigen Jungen plötzlich alle still. Nach einiger Zeit kam so ein Bursche zu mir und meinte: Herr Kunz, ich glaube ich habe einen Rausch. Das war ein starkes Erlebnis, wo sie erfahren konnten, dass es Räusche geben kann, ohne dass man sich Rauschmittel wie Alkohol oder andere Drogen zuführt.

Daniel Ambühl: Ich denke, dass das Wandern, die Begegnung mit der Natur in gewisser Weise auch eine Begegnung mit dem Numinosen ist, einfach ohne religiöses oder kirchliches Ritual. Die Wanderbewegung ist ja noch nicht sehr alt, sie hat zu tun mit einer Rückwendung hin zur Natur, weg von der industriellen Welt, in der wir uns bewegen. Sie hängt damit eng mit der Sehnsucht nach dem Ursprünglichen zusammen. Was für mich auch wichtig ist beim Unterwegs-Sein, sind die Geschichten, die sich uns am Wegesrand präsentieren. Man wünscht sich häufig einen per-

sönlichen Führer, wenn man unterwegs ist, der die Geschichten erzählt, die hinter allem versteckt sind. So werden dann aus den zweidimensio-nalen Bildern, die sich – ich benutze jetzt ein Klischee – die Japaner auf der Europatour machen, zu Erkenntnissen, und man nimmt Anteil an der Umgebung, man eignet sich die Dinge geistig an.

Theo Bächtold: Da fällt mir das Gedicht von der Wegwarte ein, das ich vor Jahren einmal auf einer Pilgerreise vortrug. Die Wegwarte ist ja ei-gentlich nur eine kleine Blume, ein Unkraut könnte man fast sagen, aber sie begleitet uns von hier bis nach Spanien. Eine Frau hat mir neulich erzählt, dass sie sich noch genau an den Moment erinnere, als ich das Gedicht rezitierte, und beim Anblick der Blume häufig daran zurück-denke. Durch das Gedicht hat sie sich die Blume, die sie vielleicht vor-her nicht beim Namen kannte und wohl kaum wahrgenommen hatte, zu eigen gemacht.

Daniel Ambühl: Man bewegt sich beim Wandern auch in einem dem Menschen und der Umwelt angemessenen Tempo. Wenn ich mit dem Auto an einem Baum vorbei rase, bekomme ich von seiner Grösse, vom Schatten, den er wirft, von all den sinnlichen Eindrücken, die er vermittelt gar nichts mit. Durch unser Tempo wollen wir Zeit gewinnen, leben aber immer mehr in einer grossen Entfernung zur Natur und der Welt, die uns umgibt. Das wird im heutigen Tourismus besonders anschaulich. Reist man mit dem Flugzeug zum Beispiel nach Indien, so kommt man körper-lich zwar dort an, aber man ist gar nicht richtig darauf vorbereitet, weil man noch den ganzen Alltag mit sich dabei hat und nicht offen ist. Man stelle sich vor, wir müssten, um nach Indien zu reisen, zu Fuss gehen. Wir würden ganz anders auf dieses Erlebnis vorbereitet, man näherte sich quasi behutsam an. Man wird aber schnell einmal als romantischer Spinner abgestempelt und als Wanderer in der modernen Medienwelt

136 auch belächelt und abgewertet.

Theo Bächtold: Mit dem beschleunigten Lebensstil versuchen wir wohl mehr in die uns gegebene Lebensspanne von Geburt bis Tod hinein zu pressen, indem wir alles möglichst schnell tun. Beim Pilgern merkt man, dass gerade durch die Langsamkeit mehr Erlebnisse möglich werden als beim Pressieren. Tempo und Rhythmen sind beim Gehen ohnehin sehr wichtig. Wer nicht in seinem eigenen Tempo geht, kann Kopfschmerzen bekommen. Dies geschah mir einmal, als ich mit meiner Frau eine lange Strecke einem Bahngeleise entlang ging. Der Schwellenabstand zwang mich zu einem Rhythmus, der nicht meinem eigenen natürlichen Gehrhythmus entsprach. Nach kurzer Zeit fühlte ich mich elend, während es meiner Frau blendend ging.

Gehen und Rasten

Theo Bächtold: Zum Rhythmus gehört auch das Rasten. Mit meinen Gruppen versuche ich, auf den Pilgerreisen immer auf eine Stunde Marsch zehn Minuten zu pausieren. Ich lege grossen Wert auf diese Regelmässigkeit. Wir legen auch sonntags immer einen Ruhetag ein, was vielen Pilgern zuwider läuft. Alle natürlichen Vorgänge laufen ja in Rhythmen ab: das Wachen und Schlafen, das Atmen, das Blühen und Vergehen. Findet man einen regelmässigen Rhythmus zwischen Ruhen und Gehen, stellt sich auf natürliche Weise ein Wohlbefinden ein.

Daniel Ambühl: Dieses natürliche Wohlbefinden, diese ausgleichende Wirkung führt in meinen Augen auch dazu, dass Pilgern oder Wandern ganz allgemein eine therapeutische Wirkung entwickeln kann. Das war ja schon beim frühen Pilgern Teil der Idee: Der Straffällige, der sich nach Santiago aufmacht, um von seinen Sünden befreit zu werden. Man ver-

Entschleunigung statt Beschleunigung: Die beiden Wanderer auf dem Holzsteg zwischen Rapperswil und Hurden.

traute auf die Läuterung, die so ein Weg auslöst. Heute wird das in mo-derner Form auch wieder eingesetzt, indem man Therapien anbietet, die genau auf den Rhythmus, die Wiederholung, das Sich-aus-dem-Körper-Lösen, das wir angesprochen haben, setzen. Ich bin mir auch sicher, dass das funktionieren kann, dass Wandern diese befreiende, reinigende Wirkung auf Körper und Geist haben kann.

Theo Bächtold: Sören Kierkegaard schreibt darüber, dass er Krankheiten quasi «wegwandern» konnte. Ich habe diesen Winter so einen Fall erlebt. Ein Mann besuchte mich. Er war bleich, sah sehr schlecht aus und sagte, er sei in letzter Zeit depressiv, habe von den Pilgerwegen gehört und müsse jetzt einfach gehen. Dazu konnte er sich noch aufraffen. Er ist im Winter losmarschiert und kam etwa vor vierzehn Tagen wieder zurück,

138 braun gebrannt, der Körper voller Spannkraft. Er habe einen weiten Weg gemacht, es sei super gewesen. Er wollte sofort an den Pilgerstamm, um seine Erlebnisse mit anderen zu teilen.

Daniel Ambühl: Was du erzählst, zeigt doch schön, wie man sich beim gehen selber wider nahe kommt. Man spürt sich und seinen Körper und merkt: ich mag mich eigentlich. Gerade für Drogensüchtige, die total entfremdet sind und sich nur noch in ihrem Elend wahrnehmen, kann es extrem wichtig sein, sich selbst wieder positiv zu erfahren, sich selbst wieder lieben zu lernen.

AnkommenTheo Bächtold: Ankommen in Santiago ist für viele Pilger, vor allem für Einzelpilger, ein wunder Punkt. Es stellt sich nicht selten eine Katerstimmung ein und die Frage taucht auf: Was nun? Einige gehen noch bis Finis terrae, das Kap am «Ende der Welt», was das Problem aber nur noch um ein paar Tage verschiebt. Wir in der Gruppe versuchen es zu thematisie-ren, schon bevor wir ankommen. Wir sind ja bis zu sechs Jahren immer wieder miteinander unterwegs. Da können viele gar nicht aufhören und beginnen auf einer anderen Strecke wieder von vorn.

Daniel Ambühl: In Künstlerbiografien scheint das Problem auch auf. Ein erfolgreicher Künstler läuft Gefahr, sich ständig zu reproduzieren. Die Offenheit für Neues, andere Stilarten kann so verloren gehen. Die Zeit, wenn etwas zu Ende geht und noch nichts Neues in Sicht ist, diese Katerzeit, ist schwierig zu überstehen.Theo Bächtold: Die Frage ist auch, was man nach dem Unterwegs-Sein in den Alltag übersetzen kann. Wer über Jahre hinweg zu Fuss unterwegs ist, nimmt eine gewisse Gelassenheit in den Alltag mit. Man lernt, die

Ein Pilgerer und ein Wanderer unterwegs: Theo Bächtold und Daniel Ambühl

Probleme Schritt für Schritt zu nehmen. Das gibt eine Ruhe. Durch das Aufbrechen, Sich-Aufmachen und In-Bewegung-Sein, können sich Dinge auch klären, kann ein Bewusstsein reifen und man kann Dinge im Leben anpacken, die immer schon unter der Oberfläche lagen. Bei mir selber hat das Pilgern ja bewirkt, dass ich ein schönes Landpfarramt im ältesten Pfarrhaus des Kantons – eine tausendjährige Burg – aufgegeben habe und in den Kreis 4 gezogen bin, mitten ins «Gheu», und die Pfarrei St. Jakob übernommen habe. Ich habe den Jakobsweg zu meinem Weg gemacht. Ich wollte, dass am St. Jakob auch ein Jakobspilger Pfarrer ist. Meine Frau hat mit 47 Jahren nach dem 100tägigen Pilgerweg gemerkt, dass sie noch ein Studium beginnen will. Andere beginnen für sich zu schreiben, nachdem sie auf dem Weg ein Tagebuch führten. Wieder andere beginnen zu malen.

Daniel Ambühl: Wenn wir vom Unterwegs-Sein zu sich selber sprechen, heisst ankommen ja auch bei sich selber ankommen. Ich glaube, man darf das nicht so verstehen, dass man weiss, wer man ist, nachdem man unterwegs war. Unser Sein lässt sich nicht mit dem Bewusstsein fassen. Es geht eher darum, sich selber nah zu sein, in seinen Entscheiden, im Tun und Lassen. Ich würde deshalb lieber von einer Annäherung sprechen.

Theo Bächtold: Man kann das Pilgern auch als Suche verstehen. Die Suche nach sich selbst, nach Sinn. Jetzt fällt natürlich das Erreichen des geogra-fischen Ziels nicht mit einer Erleuchtung zusammen. Mit anderen Worten: Die Suche und die Sehnsucht, die hinter dieser Suche steht, ist am Ziel nicht zu Ende. Man hat vielleicht wertvolle Erkenntnisse für sich gewon-nen in Teilaspekten seines Lebens. Die Sehnsucht treibt einem aber weiter, man bleibt Suchender und ist immer auf dem Weg zu sich selber.

141Zu Theo BächtoldTheo Bächtold wurde 1945 in Heiden geboren. Ab 1954 lebte er in Zürich. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer am Seminar Unterstrass in Zürich und zwei Jahren Berufspraxis in Primar- und Realschulen Theologiestudium am Baptist Theological Seminary in Rüschlikon und an der Universität Zürich. Nach Abschluss des Studiums Heirat mit Annelis Frei und dreijähriger Aufenthalt in Australien. Hier ist er Lehrer an einer High School und ist als postgraduate student an der University of Queensland eingeschrieben. 1975 kehrt er in die Schweiz zurück und nimmt eine Pfarrstelle in Rümlang an. Schwerpunkt seiner Arbeit ist Religionsunterricht und Jugendarbeit (Aufbau einer Jugendberatungsstelle und eines Jugendhauses). 1982 Wechsel nach Schlatt b. Winterthur. Mit dieser Stelle ist das Übernehmen von Aufgaben in der Kantonalkirche verbunden: zunächst in der Seelsorge an der Psychiatrischen Klinik Rheinau, später als Leiter eines Theologiekurses für Erwachsene. 1991 begeht er in seinem Studienurlaub zusammen mit seiner Frau den Jakobsweg und wird vom Pilgervirus angesteckt. Als Jakobspilger wechselt er 1996 an die Kirche St. Jakob am Stauffacher und baut in der Folge das Pilgerzentrum St. Jakob auf. Daneben bis 2002 Präsident des Trägervereins Boldern und Synodale. Mehr auf www.jakobspilger.ch

Zu Daniel AmbühlDaniel Ambühl wurde 1958 in Zürich geboren. Die Konstante in seinem Leben ist die Neu-Orientierung. Nach der Matur studierte er Pädagogik an der Universität Zürich gründete aber bereits ein Jahr später eine Software-Firma, arbeitet als freier Redaktor bei der NZZ und begann 1981 als Redaktor und Moderator beim Piratensender Radio 24 in Cernobbio. Daneben ist er als Bassist und immer auch künstlerisch tätig. 1988 wechselt er als Redaktor, Autor und Moderator zum Schweizer Fernsehen, wo er bis 1990 bleibt und den Telepreis für die Eins:zu:Eins-Sendung vom Matterhorn erhält. Er wechselt wieder zu Radio 24 als Moderationschef und macht eigene Sendungen aus dem Atelier Ompfl. Ab 1994 ist er als freischaffender Künstler tätig in verschiedensten Projekten tätig, unter anderem erfin-det er den Bildweg. Der Bildweg ist ein neuartiges Medium der Kunstvermittlung und des Kunsterlebnisses im öffentlichen Raum. Die Ebenen von Zeit und Ort, Bild und Sprache, Künstler und Betrachter werden im Bildweg zu einem Gesamtkunstwerk gefügt, welches durch jeden Teilnehmer individuell vollendet wird. 1995 entsteht der erste Bildweg in Ascona. An der Expo 02 begehen 30‘000 Personen den «Artwalk». Inzwischen sind be-reits 16 Bildwege realisiert worden. Momentan sind vier Bildwege auf dem Schweizer Jakobsweg und ein weiterer am Walensee geplant. Mehr auf www.danielambuehl.ch.

Zum Rhythmus gehört auch das Rasten, das Gespräch jedoch ruht nicht.

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Autoren- und Bildnachweis(3 Seiten)

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