Die Volkssprache in der Liturgie: Chancen und Probleme · promulgatum Ioannis Pauli PP. II cura...
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Die Volkssprache in der Liturgie: Chancen und Probleme
Univ.-Prof. Dr. Basilius J. Groen
Das Thema der Muttersprache im Gottesdienst beschäftigt die christlichen Gemüter oft
heftig.1
Die Frage, welche Sprache wir benutzen, ist ja keineswegs nebensächlich, sondern hat
mit unserer Identität, unseren kulturellen Wurzeln sowie mit unserem religiösen Handeln,
Denken und Fühlen zu tun. Deswegen ist sie auch mit der Einheit und der gewünschten,
beziehungsweise nicht gewünschten Uniformität der kirchlichen Liturgie sowie mit der
Verständlichkeit der liturgischen Texte und Riten verbunden. Eine Veränderung der
Liturgiesprache geht immer mit einer Veränderung im liturgischen Empfinden einher. Vor
allem während des zwanzigsten Jahrhunderts spielte dieses Thema innerhalb der Römisch-
Katholischen Kirche eine wichtige Rolle und am Anfang des dritten Jahrtausends ist es gewiss
noch nicht erledigt.
In einem ersten Schritt werde ich einige unser Thema betreffende Streifzüge durch die
Liturgiegeschichte machen. Dabei konzentriere ich mich auf die Westkirche. In einem
zweiten Schritt schauen wir kurz, wie sich die heutige Sprachensituation bei einigen
christlichen Nachbarkirchen darstellt. In einem dritten Schritt werden Grundsatzfragen
bezüglich der liturgischen Sprache erörtert.
1. Streifzüge durch die westkirchliche Liturgiegeschichte
Jesus, seine Mutter, seine Jünger waren Juden und sprachen Aramäisch. Im Synagogen- und
Tempelgottesdienst war auch das Hebräisch wichtig. Aufgrund des jüdischen Ursprungs des
Christentums kommen in den meisten christlichen Gottesdiensten bis heute nicht nur jüdische
liturgische Strukturelemente, wie zum Beispiel der Psalmengesang und die Schriftlesung vor,
sondern werden auch noch hebräische Wörter, unter anderem Halleluja, Hosanna und Amen,
gesprochen oder gesungen.
Zur Zeit Jesu sprachen jedoch viele Juden, vor allem außerhalb Palästinas, zum
Beispiel in Alexandrien, das Koinê-Griechisch, die damalige Weltsprache im östlichen
1
Antrittsvorlesung an der Karl-Franzens-Universität Graz, 11. Mai 2004. Für die Publikation wurde der Text
leicht überarbeitet und mit Anmerkungen versehen. Ich danke Peter Ebenbauer (Graz) für die sorgfältige
Korrektur. Die Ausdrücke ‚Volkssprache’ und ‚Muttersprache’ werden hier synonym verwendet. Mit dem
Ersteren meine ich also nicht die alltägliche Umgangssprache, die Sprache des ‚einfachen’ Volkes (im Gegensatz
zur Literatursprache).
2
Mittelmeerraum. Sie verwendeten diese Sprache sowohl im Alltag als auch für ihre
Schriftlesung und den übrigen Gottesdienst. Bereits im dritten und zweiten Jahrhundert vor
Christus war in Alexandrien darum der hebräische Tenach ins Griechische übersetzt worden:
die Septuaginta.2
Übrigens verstanden auch im Palästina des ersten Jahrhunderts viele
griechisch. Vielleicht sprach auch Jesus griechisch; ob er es gut oder nur wenig konnte, ist
ebenfalls eine Sache der Spekulation.
Es waren vornehmlich griechisch sprechende Missionare, die die jüdisch-christliche
Frohe Botschaft im ersten Jahrhundert nach Rom, Nordafrika und Südfrankreich brachten.
Darum, und weil in der Reichshauptstadt überhaupt viele Menschen griechisch sprachen,
wurde Griechisch, nicht Latein die erste Liturgiesprache in Rom. Die Situation in Rom
änderte sich, als dort ab der Mitte des dritten Jahrhunderts das Christentum auch die höheren,
lateinischen Gesellschaftsschichten erreichte. Dadurch übertraf die Anzahl der Latein
sprechenden Christen allmählich die der griechisch sprechenden. Dieser Prozess wurde von
der Restauration des Lateinischen durch die kaiserlichen Behörden gefördert. Die Kirche
Roms übernahm nun – also ab der Mitte des dritten Jahrhunderts – immer mehr das Latein in
ihrer Liturgie und passte sich also allmählich den neuen sozialen und kulturellen
Begebenheiten an. Dieser Prozess erreichte am Ende des vierten Jahrhunderts einen
Höhepunkt, als Papst Damasus anordnete, das eucharistische Hochgebet sollte künftig
lateinisch gebetet werden.3
Viel früher als Rom verwendete die Kirche in Nordafrika – d.h. in der römischen
Provinz Africa – das Latein im Gottesdienst. Wahrscheinlich wurde in Karthago um die Mitte
des dritten Jahrhunderts, also zur Zeit des Bischofs Cyprian, die Liturgie lateinisch gefeiert.
Bereits im zweiten Jahrhundert hatte man in Nordafrika auch damit angefangen, die Bibel ins
2
Später erfolgten noch mehr Tenach-Übersetzungen ins Griechische, zum Beispiel die von Aquila, der um das
Jahr 130 n. Chr. eine möglichst buchstäbliche Übersetzung anfertigte.
3
Vgl. A. BASTIAENSEN: Talen, liturgische. Latijn, in Liturgisch Woordenboek II (1965-1968) 2637-2639; H.
CHADWICK: The Early Church (Harmondsworth 19932
= The Penguin History of the Church 1) passim;
DERS.: The Church in Ancient Society. From Galilee to Gregory the Great (Oxford-New York 2001 = Oxford
History of the Christian Church) passim. Vgl. die Kurzübersichten in einigen liturgiewissenschaftlichen
Handbüchern: H. REIFENBERG: Fundamentalliturgie. Grundelemente des christlichen Gottesdienstes. Wesen,
Gestalt, Vollzug. Bd. II (Klosterneuburg 1978 = Schriften des Pius-Parsch-Instituts 3) 107-111; A.
MARTIMORT: Structure et lois de la célébration liturgique, in DERS.: L’Église en prière. Introduction à la
liturgie I. Principes de la liturgie (Paris 19844
) 95-223, S. 169-175; R. VOLP: Liturgik. Die Kunst, Gott zu
feiern. Bd. I. Einführung und Geschichte (Gütersloh 1992) 579-583; A. ADAM: Grundriss Liturgie (Freiburg-
Basel-Wien 19987
) 63-68; T. BERGER: Die Sprache der Liturgie, in H.-C. SCHMIDT-LAUBER, M. MEYER-
BLANCK & K.-H. BIERITZ (Hg.): Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der
Kirche (Göttingen 20033
) 798-806; K.-H. BIERITZ: Liturgik (Berlin-New York 2004 = de Gruyter Lehrbuch)
27-31.
3
Latein zu übersetzen. Es gab übrigens mehrere Versionen lateinischer Bibeltexte in der
Westkirche. Die neue Übersetzung, die Hieronymus ab dem Jahr 383 anfertigte, wurde später
die ‚Allgemeine’ (Vulgata) genannt. Für die gottesdienstlichen Lesungen und die biblisch
inspirierten Gebete und Gesänge wurden jedoch noch lange Zeit mehrere lateinische
Bibelversionen neben einander benutzt.
Das liturgische Latein war nicht die Umgangssprache, sondern eine Mischung von
einerseits christlich-lateinischer Gruppensprache mit vielen aus dem Griechischen entlehnten
Wörtern, wie zum Beispiel evangelium und baptisma, sowie mit neuen Wortbildungen, unter
anderem salvator oder spiritualis, und andererseits klassisch-lateinischen Wendungen. Es war
eine feierliche, getragene und komprimierte Kultsprache, die präzise ausgesprochen werden
musste.4
Diese liturgischen Texte waren keine Übersetzungen aus dem Griechischen, sondern
neue, wenn auch nicht leicht verständliche Schöpfungen. Zunächst herrschte Kreativität bei
der Verfassung neuer Gebete, aber im Laufe des Frühmittelalters trat allmählich Erstarrung
ein, obwohl noch lange Zeit danach neue Hymnen geschrieben und vertont wurden.
Aufgrund der griechischen Einflüsse, die auch später, namentlich vom sechsten bis
zum neunten Jahrhundert, noch stark waren, blieben aber auch einige liturgische Elemente im
Griechischen erhalten. Beispiele dafür sind das Kyrie Eleison im Ordo Missae und das Hagios
o Theos in der Karfreitagsliturgie.5
Wahrscheinlich benutzten jene germanischen Völker, die der arianischen Gestalt des
Christentums beitraten, ihre eigene Sprache im Gottesdienst. Bischof Wulfila (zirka 311-383)
übersetzte die griechische Bibel und Liturgie ins Gotische. Die Franken jedoch, die die Taufe
von Rom annahmen, übernahmen gleichzeitig die ehrwürdige päpstliche Liturgie und das
Latein als Ritualsprache, ein für die spätere Liturgiegeschichte in der Westkirche
folgenschweres Ereignis. Um die politische Einheit ihres Reiches zu gewährleisten, hielten
die Karolinger eine uniforme, aus Rom stammende Liturgie mit einer einheitlichen Sprache
für notwendig.6
Das Latein war aber im früh- und hochmittelalterlichen Abendland nicht nur
Kultsprache, sondern ebenfalls Kultur-, Verwaltungs- und Rechtssprache. Seine Funktion war
mit der des Koinê-Griechischen vergleichbar. Das so genannte ‚einfache Volk’ war allerdings
4
Vgl. H. WEGMAN: Liturgie in der Geschichte des Christentums (Regensburg 1994) 104, 125.
5
Missale Romanum ex decreto sacrosancti oecumenici concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli PP. VI
promulgatum Ioannis Pauli PP. II cura recognitum, Editio typica tertia (Vatikanstadt 20023
) 325, 508-509.
6
Die ‚römische Synthese’ bestand jedoch aus einer Mischung römischer und fränkischer / germanischer
Elemente. Siehe WEGMAN: Liturgie in der Geschichte des Christentums 166-243.
4
des Lateinischen nicht mächtig. Um das Jahr 500 hörte im Westen das Latein auf,
Umgangssprache zu sein.7
Für die meisten Christen und Christinnen in Westeuropa – auf
jeden Fall für die, deren Muttersprache eine nicht-romanische war – war also das Latein eine
völlige Fremdsprache. Deswegen wurde für sie bereits im karolingischen Zeitalter ein
liturgisches Sonderritual entwickelt: Dieses fand in der Volkssprache statt und bestand aus
Evangelienlesung, Predigt, Glaubensbekenntnis, Dekalog, Vater Unser, Ave Maria und
Segen. Später wurden ein Schuldbekenntnis und Fürbitten hinzugefügt. Zunächst war dieses
Ritual noch Teil der lateinischen Messe – das heißt: während der Priester am Altar die Messe
‚las’, stand auf der Kanzel ein Volksprediger dem Volksritual vor –, später wurde es zu einem
Prädikantengottesdienst verselbständigt, an denen man zum Beispiel in Franziskaner- und
Dominikanerkirchen teilnehmen konnte.
Zudem fanden muttersprachliche Gesangstexte Eingang in die Messe. Im deutschen
Sprachraum sang am Ende des Mittelalters das Volk muttersprachliche Gesänge, zum
Beispiel zum Credo und Pater Noster, entweder als Zusatz oder als Ersatz. Die wichtigsten
Fragen bei der Taufe und der Trauung wurden im Mittelalter ebenfalls in der Volkssprache
gestellt. Die Tatsache aber, dass das Volk den Großteil des vom Priester zelebrierten
Gottesdienstes nicht verstand, trug zur Entwicklung anderer, volksnaher liturgischer
Frömmigkeitsformen, vor allem der Andachten, bei.
Als in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts die aus Thessaloniki stammenden Brüder
Konstantin (nach seiner Mönchsweihe Kyrill genannt) und Method in Mähren missionierten,
war es für sie selbstverständlich, die Petrus-Liturgie, also die römische Messe, ins Slawische
zu übersetzen. Viele westliche Theologen regten sich darüber auf, weil es ihrer Meinung nach
nur drei liturgische Sakralsprachen gäbe, nämlich Hebräisch, Griechisch und Latein, die drei
Sprachen der Kreuzinschrift (vgl. Joh 19,19-20).8
Die erfolgreiche Arbeit der beiden Brüder
war starken Widerständen ausgesetzt. Nach heftigen Auseinandersetzungen genehmigten
jedoch Papst Hadrian II. und Papst Johannes VIII. das kyrillo-methodianische
Übersetzungswerk. Der letztgenannte Papst schrieb im Jahr 880, dass Gott der Schöpfer aller
Sprachen ist und durch sie alle geehrt werden will. Die Franken wollten jedoch verhindern,
dass Byzanz, als dessen Vertreter Kyrill und Method betrachtet wurden, in Mähren Einfluss
7
Vgl. L. DE BLOIS & R. VAN DER SPEK: Een kennismaking met de Oude Wereld (Bussum 20016
) 285-286.
8
Einige Textvarianten von Lk 23,38 erwähnen ebenfalls diese drei Sprachen.
5
gewinnt. Auf ihr Betreiben widerrief Papst Stephan V. wenige Jahre später die Entscheidung
seiner Vorgänger und untersagte die slawische Liturgie. Das Latein siegte und die Arbeit der
Schüler von Kyrill und Method in Mähren kam zu einem jähen Ende: Sie wurden entweder
getötet oder verjagt. Auch im Jahr 1080 lehnte Papst Gregor VII. eine böhmische Bitte, die
Liturgie weiter slawisch feiern zu dürfen, ab. Er argumentierte, die Heilige Schrift solle nicht
zu gewöhnlich werden und falschen Interpretationen mittelmäßiger Leute unterliegen. In
Dalmatien wurde jedoch die römische Messe bis ins zwanzigste Jahrhundert im
Kirchenslawischen (in glagolitischer Schrift) gefeiert, bald mit römischem Einverständnis,
bald gegen den Willen Roms und der Ortsbischöfe.9
Ab dem fünfzehnten Jahrhundert – und immer mehr nach der Erfindung der
Druckpresse in der Mitte dieses Jahrhunderts – wurden Volksmissalien in der Volkssprache
herausgegeben, zunächst nur mit den Texten der Lesungen und einigen Gesängen, dann auch
mit Priestergebeten. Statt des Canon Romanus (das römische eucharistische Hochgebet),
wurden jedoch meistens nur einige fromme Gebete abgedruckt. Diese Missalien dienten Laien
dazu, sich zu Hause für die Messe vorzubereiten oder über sie zu meditieren.
Für die Reformatoren des sechzehnten Jahrhunderts waren die verständliche Lesung der
Heiligen Schrift und eine gute Predigt äußerst wichtige Anliegen: Die in der Bibel bezeugte
Botschaft der Gnade Gottes, der Rechtfertigung der Christenmenschen durch Jesus Christus
sowie der Vergebung ihrer Sünden durch ihn sollte der Gemeinde ja klar gemacht werden.
Darum war für die Reformatoren die Einführung der Volkssprache im Gottesdienst
unentbehrlich. Das war nun etwas leichter als zuvor zu realisieren, weil die soeben erwähnte
Erfindung der Druckpresse zur Verbreitung der reformatorischen Ideen beitrug und weil im
sechzehnten Jahrhundert viele Volkssprachen ein reiferes Stadium ihrer Entwicklung erreicht
hatten.
9
Vgl. G. OSTROGORSKY: Geschichte des byzantinischen Staates (München 19633
= Handbuch der
Altertumswissenschaft XII, I, 2) 191; H.-G. BECK: Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich,
(Göttingen 1980 = Die Kirche in ihrer Geschichte I, D1) 96-118; P. PLANK: Die geschichtliche Entwicklung
der orthodoxen Kirchen im Südosten und Osten Europas, in W. NYSSEN, H.-J. SCHULZ & P. WIERTZ (Hg.):
Handbuch der Ostkirchenkunde. Bd I. (Düsseldorf 1984) 133-208, S. 136-137.
6
Für die protestantischen Liturgieerneuerer des sechzehnten Jahrhunderts war es nicht
notwendig, völlig neue Gottesdienste zu entwickeln.10
Es gab nämlich Modelle, die schon
längst praktiziert wurden. Luther selber und die von ihm beeinflussten Reformatoren – wir
befinden uns hier vor allem in Nord- und Mitteldeutschland – wollten die traditionelle Messe
nur ‚reinigen’. Sie schnitten zum Beispiel den Großteil des Offertoriums und des römischen
Canon Missae weg. Die Reformatoren im süddeutschen Raum, in der Schweiz, den
Niederlanden, Schottland basierten sich auf dem spätmittelalterlichen Prädikantengottesdienst
und auf dem ebenfalls bereits existierenden volkssprachlichen Ritual der
Gemeindekommunion. Im letztgenannten Ritual konnte das Volk, unabhängig von der Messe,
kommunizieren. Dieses Ritual enthielt eine Kommunionansprache, ein Schuldbekenntnis, die
Austeilung selbst, Gebet und Segen, wahrscheinlich auch einige Leisen. Zuvor sollte man
gebeichtet haben.
Diese mittelalterlichen Gottesdiensttypen wurden also von den Reformatoren
übernommen und angepasst. Die einzigartige Bedeutung der Heiligen Schrift hielten die
Reformatoren für das wichtigste Kriterium ihrer Anpassungsarbeit. Aufgrund theologischer
und territorialer Unterschiede entstanden nicht überall die gleichen Agenden, sondern es
entwickelte sich eine große Verschiedenheit. Auch der Gesang wurde von den Reformatoren
betont. Hier gab es ebenfalls die von mir bereits erwähnten mittelalterlichen Vorbilder. Die
protestantische Gemeinde sollte mit gesungenen Psalmen und eventuell anderen Gesängen in
der jeweiligen Volkssprache ihre dankbare Reaktion zum Gehörten zum Ausdruck bringen.
Luther verfasste selber bedeutende und beliebte Lieder, die schweizerische und die
niederländische Reformation hielten jedoch lange Zeit das Psalterium für ausreichend. Das
Lied diente nicht nur als Lobpreis, sondern auch als Katechese und Verkündigung.
Für Luther jedoch war aus Erziehungsgründen das Latein im Gottesdienst wichtig.
Dabei ging es ihm nicht zuletzt auch um die Beibehaltung internationaler Kontakte. Zu seiner
Lebenszeit wurde in Wittenberg oft mehr lateinisch als deutsch gefeiert. Nach seinem Tod
veränderte sich dies allmählich. Aber Latein spielt in der lutherischen Tradition noch immer
eine wichtigere Rolle als in der reformierten. Die Sonntage zum Beispiel tragen oft noch ihre
alten lateinischen Namen.
10
Vgl. I. PAHL: Die Feier des Abendmahls in den Kirchen der Reformation, in H.B. MEYER, Eucharistie.
Geschichte, Theologie, Pastoral (Regensburg 1989 = Gottesdienst der Kirche. Handbuch der
Liturgiewissenschaft 4) 393-430; WEGMAN: Liturgie in der Geschichte des Christentums 312-341.
7
In allen reformatorischen Kirchen fand jedoch später eine Versteinerung statt. Das
‚Lutherdeutsch’, die King James Version, das vom englischen Erzbischof Thomas Cranmer
geschriebene liturgische Englisch, das Niederländisch der Statenvertaling der reformierten
Synode von Dordrecht aus dem siebzehnten Jahrhundert11
und so weiter, wurden immer
antiquierter, und die Entfernung zwischen der liturgischen Sprache und der tatsächlichen
Volkssprache wurde immer größer.
Man muss allerdings hier (sowie in dieser ganzen historischen Kurzübersicht) mit dem
Ausdruck ‚Volkssprache’ vorsichtig sein. Damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass der
weitaus größte Teil der Europäer bis zum neunzehnten Jahrhundert aus Analphabeten bestand
(und dass diese ihre Muttersprache zwar verstehen und sprechen, aber nicht lesen und
schreiben konnten), sondern auch, dass fast alle Volkssprachen aus dem bestanden, das
heutzutage vielmehr als ‚Dialekte’ bezeichnet wird. Noch im Jahr 1789 sprachen 50 % der
Franzosen kein Französisch, nur 12-13 % sprachen es ‚richtig’.12
Drei Viertel Jahrhundert
später, nämlich 1863, sprach noch immer ein Viertel aller Franzosen kaum ein Wort
Französisch.13
Bezüglich der deutschen Sprache verwendete im achtzehnten Jahrhundert nur
eine äußerst kleine Minderheit die deutsche Hochsprache als Alltagssprache.14
Jemand mit
Schwyzerdütsch als Muttersprache konnte eine Person, die eine norddeutsche Mundart
sprach, kaum verstehen. Es gab kaum ‚Nationalsprachen’. Diese wurden bewusst kreiert,
meistens konstruiert aus mehreren Dialekten.15
Es gibt sie eigentlich erst seit der Einführung
der allgemeinen Schulpflicht und dem Aufkommen der Nationalstaaten, in denen eine
einheitliche Sprache für unentbehrlich gehalten wurde.
11
Die Synode fand 1618-19 statt, die Staatenbijbel wurde 1637 publiziert.
12
E. HOBSBAWM: Nations and Nationalism since 1780. Program, myth, reality (Cambridge 1990) 60.
13
G. MAK: In Europa. Reizen door de twintigste eeuw (Amsterdam-Antwerpen 2004) 37.
14
HOBSBAWM: Nations and Nationalism since 1780, 61.
15
HOBSBAWM: Nations and Nationalism since 1780, 54: “National languages are therefore almost always
semi-artificial constructs…They are usually attempts to devise a standardized idiom out of a multiplicity of
actually spoken idioms, which are thereafter downgraded to dialects…” Eine ähnliche Beschreibung auf S. 111.
8
Das Konzil von Trient (1545-1563) verurteilte in seiner Auseinandersetzung mit der
Reformation lediglich die Aussage, die Messe dürfe ausschließlich in der Volkssprache
gefeiert werden,16
es verurteilte aber nicht die Teilverwendung der Volkssprache in der
Liturgie. Schon wenige Jahrzehnte später deutete man dies jedoch so, als hätte das Konzil die
Benutzung der Muttersprache als solcher verurteilt. Vier Jahrhunderte lang lehnte Rom die
modernen Volkssprachen im Gottesdienst scharf ab. Sogar Übersetzungen für die persönliche
spirituelle Lektüre wurden untersagt. Versuche französischer Bischöfe im siebzehnten und
achtzehnten Jahrhundert, in ihren Diözesen Teilübersetzungen anzubieten, wurden verurteilt.
Übrigens existierte der damalige Brauch in französischen Kirchen, nach dem
Sonntagsevangelium nicht nur Mitteilungen zu verlesen, sondern auch gemeinsam französisch
das Vater Unser, den Dekalog usw. zu beten, weiter. Dieser prône genannte Teil erinnert uns
an den mittelalterlichen Prädikantengottesdienst.
Die gesellschaftliche Funktion des Latein veränderte sich allerdings in der Epoche der
tridentinischen ‚eisernen Einheitsliturgie’ allmählich. Noch bis ins neunzehnte Jahrhundert
hinein war Latein eine wichtige wissenschaftliche Sprache, aber danach kaum noch.
Außerdem war es immer weniger die Sprache der Kultur und Diplomatie; diese Funktion
übernahmen bestimmte Volkssprachen, wie zum Beispiel das Französische. Das Latein wurde
immer mehr ausschließlich die Sprache der Römisch-Katholischen Kirche. Wie das
Fronleichnamsfest, die Hostienkommunion, der Priesterzölibat und das Papsttum bestätigte
das Kirchen- und Liturgielatein die katholische Identität, auch dem Protestantismus und der
Orthodoxie gegenüber. Freilich trug es ebenfalls zum Antiquiert-Werden der Katholischen
Kirche innerhalb der Gesellschaft bei. Wie die liturgischen Gewänder einst Teil der
Alltagsrealität waren, aber dann antiquiert wurden, so geschah dies auch mit dem Latein.
Es gab jedoch Ausnahmen. Davon gebe ich einige wichtige Beispiele. In Dalmatien wurde,
wie gesagt, die Messe kirchenslawisch gefeiert. Die erste Lesung und das Evangelium der
Messe wurden sogar im modernen Kroatisch vorgetragen. Auch die übrigen Sakramente
wurden kroatisch gespendet. Im Vergleich mit Kroatien spielte die Volkssprache in
Slowenien zwar eine geringere Rolle, aber die Slowenen besaßen seit 1613 ein eigenes
Lektionar und – seit den Dreißigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts – ein vollständiges
Rituale Romanum in slowenischer Sprache. Zwei Jahre nach dem slowenischen Lektionar
16
Si quis dixerit … lingua tantum vulgari missam celebrari debere …: a.s. (Sessio XXII). Siehe J. ALBERIGO
u.a (Hg.): Conciliorum Oecumenicorum Decreta (Bologna 19733
) 736.
9
gestattete Papst Paul V. die chinesisch gefeierte Messe (1615). Das hier betreffende
Chinesisch war allerdings das Mandarinchinesisch, das nur gut ausgebildete Priester verstehen
konnten. Im Zuge des späteren Konfliktes über den chinesischen Ritus nahm Rom diese
Genehmigung zurück (1755). 1624 erlaubte der Hl. Stuhl die Übersetzung der lateinischen
Liturgie ins Persische, 1631 tat er das Gleiche für das Georgische.17
Im deutschen Sprachgebiet entwickelte die katholische Reformbewegung im Zeitalter
der Aufklärung die so genannte ‚Singmesse’: Während der Priester zum Beispiel den
lateinischen Text des Gloria leise betete, sang die Gemeinde ein deutsches Glorialied. Ein
weiterer Schritt in der Aufklärungszeit war die ‚Betsingmesse’: Der Priester sprach die
offiziellen lateinischen Gebete und die Gemeinde sprach deutsche Gebete und sang Lieder
‚zur Messe’. In diesem Kompromiss wurde einerseits das Latein ‚gerettet’ und andererseits
war eine gewisse Form der tätigen Teilnahme aller Gläubigen gewährleistet. Die Aufklärer
förderten auch die Verwendung der deutschen Muttersprache in der Taufe und der Vesper.
Zwei Benediktiner gaben am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Volksmissalien
heraus, die sich rasch verbreiteten: Gérard van Caloen das Missel des fidèles (1882) und
Anselm Schott das Messbuch der hl. Kirche (1884). Neben dem lateinischen Text
beinhalteten sie eine französische bzw. deutsche Übersetzung, aber statt des Canons gab es
wiederum fromme Gebete.18
Nach langem Zögern wurden diese Volksmessbücher von Rom
toleriert. Schott gab 1893 auch ein Vesperbuch heraus. Das später von der belgischen Abtei
Affligem herausgegebene Volksmissaal (1915) wurde jedoch rasch genehmigt. Diese
lateinisch-niederländische Textausgabe beinhaltete sogar den Text des Canons samt
Übersetzung. Mit diesen Büchern konnten die Gläubigen in der Kirche selber die Messe
mitverfolgen und in vielen Teilen zumindest still mitbeten.19
Vor allem seit den
17
Mehr Details dazu u.a. in D. KNIEWALD: Altslawische und kroatische Sprache im Gottesdienst, in
Liturgisches Jahrbuch 13 (1963) 33-42; M. SMOLIK: Muttersprache in der Liturgie. Am Beispiel Sloweniens,
in Liturgisches Jahrbuch 34 (1984) 100-113; J. NIEUWHOF: Talen, liturgische. Volkstaal, in Liturgisch
Woordenboek II (1965-1968) 2639-2646.
18
Der einflussreiche französische Benediktiner Prosper Guéranger (1805-1875) war der Ansicht, dass das
Canongebet nur für Priester bestimmt und für Laien – vor allem für Frauen – schwer verständlich und gefährlich
sei.
19
Het Volksmisboek en Vesperale bevattende al de Missen en gebeden van het Romeinsch Missaal, bewerkt door
de Benedictijnen der Abdij Affligem, versierd naar oorspronkelijke teekeningen van Jos. Speybroeck (Hekelgem
19294
).
10
Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts kamen auch für die übrigen Sakramente
doppelsprachige Ausgaben in Umlauf. Dabei blieb die eigentliche Spendeformel jedoch
meistens nur lateinisch.
Im Kriegsjahr 1943 hatte Rom das seit Jahrhunderten existierende ‚deutsche Hochamt’
– also ein lateinisches Hochamt, in dem der Chor bzw. das Volk deutsche Gesänge ausführt –
für das damalige Deutschland offiziell genehmigt. Es gab ebenfalls ein ‚polnisches Hochamt’,
bei dem der Chor- und der Volkspart aus paraphrasierenden Gesängen bestand; diese Feierart
war, mit Ausnahme der Klöster, in Polen seit dem achtzehnten Jahrhundert üblich. Zudem gab
die polnische Ausgabe des Rituale Romanum aus dem Jahr 1927 der Muttersprache breiten
Raum.
Die Einführung der Muttersprache zeigte sich als ein allgemeines Hauptanliegen in den
Reformbemühungen der so genannten ‚Liturgischen Bewegung’ des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts. Das war unter anderem der Fall im ‚Volksliturgischen Apostolat’,
das vom 1954 verstorbenen Klosterneuburger Augustiner-Chorherrn Pius Parsch gegründet
wurde. Nach dem Jahrhunderte langen, einseitigen Hervorheben des liturgischen Handelns
des Klerus wurden nun immer mehr das aus dem Blick geratene so genannte ‚Volk’ und der
Gemeinschaftscharakter der Liturgie neu betont und man versuchte das Gleichgewicht
innerhalb der Kirche wieder herzustellen. Die römische Kirchenführung betrachtete die
Liturgische Bewegung zunächst mit großem Misstrauen, versuchte sie zu bremsen, tolerierte
sie dann und inkorporierte sie schließlich.20
Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums, Sacrosanctum Concilium (SC), die
am besten vorbereitete der vier Konzilskonstitutionen, die am 4. Dezember 1963 promulgiert
wurde, bestätigte die Liturgische Bewegung auch in Bezug auf die Volkssprache.21
Sie
eröffnete endlich die Möglichkeit, die vielen in der Katholischen Kirche gesprochenen
Volkssprachen auch innerhalb des Gottesdienstes zum Ausdruck zu bringen. Das tat sie aus
pastoralen Gründen, damit auch jene am Gottesdienst Teilnehmenden, die das Latein nicht
verstehen, die Liturgie sprachlich verstehen können. Die Konstitution beabsichtigt, die „volle,
bewusste und tätige Teilnahme“ (participatio plena, conscia et actuosa) aller an der Liturgie
Beteiligten zu ermöglichen. Das christliche Volk hat kraft der Taufe das Recht und die Pflicht
20
Vgl. WEGMAN: Liturgie in der Geschichte des Christentums 348-356.
21
Conciliorum Oecumenicorum Decreta 820-843.
11
zu dieser Teilnahme (SC 14). Natürlich werden auch die Priester und die anderen liturgischen
Funktionäre zu einem bewussten liturgischen Handeln aufgefordert. Die aktive Teilnahme ist
jedoch nicht auf die Menschen beschränkt und nicht mit Aktionismus zu verwechseln. Es ist
ja Gott, der einlädt; es ist Christus selbst, der zelebriert (SC 7). Es ist wichtig zu betonen, dass
der theologische Hauptgrund für die Einführung der Volkssprache das Anliegen ist, den Kern
des Glaubens, nämlich die Hinwendung Gottes zu den Menschen und die Hingabe Jesu
Christi erfahren und feiern zu können, das „Geheimnis (Mysterium) des Glaubens“ leben zu
können, und zwar in unseren konkreten Umständen, hier und jetzt.22
Damit das Gottes- und Christusmysterium in den liturgischen Texten und Riten besser
zum Ausdruck kommen kann und die Teilnehmenden diese Riten verstehen können, ist es,
laut der Konstitution, erforderlich, die Liturgie zu revidieren und der Muttersprache in ihr
Raum zu geben (SC 21, 34; in Bezug auf die Eucharistie: 48). Auch mit der hervorragenden
Stellung, die das Konzil der Bibel und den Schriftlesungen gewährt (SC 7, 24, 35, 51, 92,
106), sowie mit der Bedeutung der Inkulturation und Variation (SC 37-38) geht die
sprachliche Verständlichkeit einher.
Für die Konzilsväter selbst war jedoch die allgemeine, uneingeschränkte Einführung
der Volkssprache noch ein Schritt zu weit. Sie bestimmten, „der Gebrauch der lateinischen
Sprache soll in den lateinischen [also in den westlichen] Riten erhalten bleiben“ (SC 36). Die
Erneuerung lag darin, dass die Muttersprache bei den Lesungen und Hinweisen sowie einigen
Gebeten und Gesängen nun offiziell erlaubt wurde. Bei der Eucharistie zum Beispiel sollten
die Lesungen, die Fürbitten und jene Teile, die das Volk betreffen, in der Muttersprache
stattfinden können. Die Veränderungen betrafen also vor allem den Wortgottesdienst der
Messe (damals ‚Vormesse’ genannt), kaum den eucharistischen Gottesdienst. Das ‚Volk’
sollte jedoch die ihm zukommenden Teile künftig auch lateinisch sprechen oder singen
können (SC 54). Auch bei den übrigen Sakramenten und bei den Sakramentalien ist der
Gebrauch der Volkssprache (linguae vernaculae usurpatio) sehr nützlich, so das Konzil, und
soll das Römische Rituale – auch in Bezug auf die Sprache – den Bedürfnissen des jeweiligen
Gebiets angepasst werden (SC 63, 79). Bei den Weiheriten dürfen die Ansprachen des
Bischofs zu Beginn der Feier in der Volkssprache gehalten werden (SC 76). Der Brautsegen,
der so revidiert werden soll, dass er die Verpflichtung zur gegenseitigen Treue beider
22
Vgl. A. REDTENBACHER: „Sacrosanctum Concilium“. Eine notwendige Hinführung nach 40 Jahren, in
DERS. (Hg.): Die Zukunft der Liturgie. Gottesdienst 40 Jahre nach dem Konzil (Innsbruck-Wien 2004) 25-40, S.
28.
12
Eheleute ausdrückt, kann ebenfalls in der Muttersprache erteilt werden (SC 78). Was das
Stundengebet betrifft, wird unterschieden: Die Kleriker, also Männer, sollen es lateinisch
beten, obwohl hier Ausnahmen möglich sind. Die Ordensfrauen und einige andere
Gruppierungen dürfen jedoch das Stundengebet in der Landessprache abhalten (SC 101).
Weiters soll innerhalb des römischen Ritus der (lateinisch gesungene) Gregorianische Choral
die wichtigste Stelle einnehmen. Für andere Gesangarten bleibt jedoch auch Raum und der
religiöse Volksgesang soll gepflegt werden (SC 116, 118; vgl. 113).
Die einzelnen Bischofskonferenzen sollen – so das Konzil – den Umfang des
Gebrauches der Landessprache sowie die Übersetzungen aus dem Lateinischen approbieren
(SC 36, 39). In Bezug auf die Eucharistie dürfen die jeweiligen Bischofskonferenzen über den
weiteren Umfang der Verwendung der Volkssprache entscheiden (SC 54). Nur der
Apostolische Stuhl und die Bischöfe dürfen Richtlinien für die Liturgie erlassen (SC 22,
§1-2). Übrigens behandelt das Konzil nicht nur die liturgische Sprache, sondern es erwähnt
auch die Wichtigkeit des heiligen Schweigens (SC 30).
Die liturgiepraktische Realität in den Diözesen und Pfarrgemeinden überholte jedoch die
Konzilsentscheidungen. Es erwies sich pastoral als schwierig, in ein und derselben Feier
immer sowohl Latein als auch die Landessprache zu benutzen. So genannte
‚Pioniergemeinden’ spielten eine Vorreiterrolle. In einigen davon kam es zu Zwischenfällen,
weil sie sich nach der Ansicht der römischen Kurie überhaupt nicht an die kirchlichen
Richtlinien hielten.23
Innerhalb weniger Jahre jedoch war die Landessprache in sehr vielen
Pfarrgemeinden allgemein eingeführt. Im Jahr 1967 kam dann die offizielle römische
Erlaubnis, für sämtliche gesprochenen und gesungenen Texte die jeweilige Landessprache zu
23
Ein besonderes Beispiel betrifft die Praxis, dass in der Amsterdamer Studentenekklesia bereits ab Dezember
1964 das eucharistische Hochgebet nur noch niederländisch vorgetragen wurde. Es handelte sich dabei jedoch
nicht um den römischen Kanon, sondern um Neuschöpfungen. Diese Praxis wurde im November 1965 von der
vatikanischen Kurie abgelehnt. In einem Brief forderte diese, dass ab 1. Dezember 1965 das Hochgebet, nämlich
der römische Canon Missae, wieder lateinisch gesprochen wird. Während einer Zusammenkunft (Anfang
Februar 1966) einiger niederländischer Bischöfe mit mehreren Pfarrgemeinden, in denen liturgische
Experimente stattfanden, entschieden sich die Teilnehmenden, dass der Kurienbrief ‚verloren gegangen’ war und
dass die Studentenekklesia gemeinsam mit den anderen betreffenden Gemeinden künftig den Status
‚Pilotpfarren’ (paroisses pilotes) erhalten sollte. Siehe H. OOSTERHUIS: Licht dat aan blijft. 30 jaar liturgie-
vernieuwing. Kees Kok in gesprek met Huub Oosterhuis (Kampen-Kapellen 1990) 40-46; K. KOK: De vleugels
van een lied. Over de liturgische poëzie van Huub Oosterhuis (Baarn 1990) 124-125. Das wichtigste damals neu
geschaffene eucharistische Gebet von Oosterhuis findet sich in H. OOSTERHUIS: Bid om vrede (Bilthoven
1966) 105-108. Übrigens hatte Oosterhuis auch – im Auftrag der niederländischen Bischöfe – gemeinsam mit
dem flämischen Jesuitenpater Desmet den römischen Kanon ins Niederländische übersetzt, aber diese
Übersetzung ist in der Amsterdamer Studentenekklesia erst in den Neunzigerjahren (sic!) benutzt worden.
13
verwenden. Gebete, einschließlich des Hochgebetes, Schriftlesungen, Gesänge: Alle hörten
sie in der eigenen Sprache. Es handelte sich dabei allerdings um aus dem Latein übersetzte
Texte. Die tätige Teilnahme von Ministranten, Lektorinnen und Lektoren und allen anderen
Anwesenden war nun besser realisierbar als zuvor.24
Liturgiekreise konnten Teile des
Gottesdienstes sogar selber gestalten. Es wurden neue liturgische Texte in der jeweiligen
Muttersprache verfasst, teilweise von hohem Niveau. Es herrschte eine Aufbruchstimmung.
Die Einführung der Volkssprache bedeutete nicht, dass es nun keine lateinischen
Gottesdienste mehr gab. Es wurden noch immer lateinische Hochämter zelebriert und in
vielen Pfarrgemeinden sang der Chor das Messordinarium noch – ganz oder teilweise –
lateinisch. Manche trauerten jedoch dem Verlust des Latein als der offiziellen Liturgiesprache
par excellence nach und idealisierten zu Unrecht die vorkonziliare Vergangenheit.
Auf der einen Seite war also die Rolle des Latein als (fast tote) Sprache der ‚sichtbaren
Einheit der Weltkirche’ viel geringer geworden, auf der anderen zeigte die Einführung von
Hunderten lebendigen Muttersprachen erst recht die gegenwärtigen mondialen Züge der
Katholischen Kirche.
Die nach dem Konzil erschienenen revidierten liturgischen Bücher waren zwar wieder in
Latein verfasst, sie wurden aber als Modellbücher verstanden, die in die jeweiligen
Muttersprachen übersetzt werden sollten. Nach welchen Kriterien musste man sie aber
übersetzen? Wörtlich oder frei? Viele lateinische Begriffe stammten aus einer bestimmten
nicht mehr bestehenden Kultur und Zeit, zeigten einige nicht mehr relevante theologische
Akzente oder waren schwierig übersetzbar, wie zum Beispiel die Begriffe sacramentum und
mysterium. Laut einer römischen Instruktion aus dem Jahr 1969 (25. Januar 1969) mit dem
Titel Comme le prévoit, sollte man die lateinischen Texte gedanklich freilegen und ihren
Inhalt in die gehobene Umgangssprache der jeweiligen Landessprache übertragen. Die
Instruktion betonte also das Übertragen statt des buchstäblichen Übersetzens und fügte hinzu,
Neuschöpfungen seien notwendig.25
Außerdem war in den lateinischen Modellbüchern die
24
Vgl. Interview mit Kardinal Franz König. Wie es zur Liturgiekonstitution kam – aus der Sicht eines
Zeitzeugen und Konzilsteilnehmers, in Zukunft der Liturgie 14-24, S. 17, 22. W. HAUNERLAND: Lingua
vernacula. Zur Sprache der Liturgie nach dem 2. Vatikanum, in Liturgisches Jahrbuch 42 (1992) 219-238 legt
dar, dass die uneingeschränkte Einführung der Volkssprache eine theologische Folge der ‚tätigen Teilnahme’
aller ist.
25
R. KACZYNSKI (Hg.): Enchiridion documentorum instaurationis liturgicae. I (1963-1973) (Turin 1976)
421-430.
14
Möglichkeit vorgesehen, lokale Anpassungen vorzunehmen. Diese Möglichkeit wurde in
einigen Sprachgebieten stark, so etwa im deutschen und im englischen, und in anderen, wie
zum Beispiel im niederländischen, kaum in Anspruch genommen.26
Eine kurze Erläuterung zur international stark beachteten Situation in den
Niederlanden ist angebracht. Dort wurde nicht nur die offizielle Erneuerung zügig
durchgeführt, sondern es gab auch Experimente mit neuen liturgischen Texten, Gesängen und
Formen. Diese Experimente wurden von einer von den Bischöfen in den Sechzigerjahren
eingesetzten Nationalkommission gefördert, um eine zeitgemäße niederländische Liturgie zu
entwickeln. Dabei spielte die Amsterdamer Arbeitsgruppe für volkssprachliche Liturgie
(Werkgroep voor Volkstaalliturgie) eine Pionierrolle. Vor allem die liturgischen Dichtungen
des in der Amsterdamer Studentenekklesia tätigen Huub Oosterhuis (nicht nur seine Liedtexte
und Fürbitten, sondern auch seine Hochgebete) riefen große Anerkennung und – bei einigen
anderen - starke Ablehnung hervor, im In- und Ausland. Es entstanden viele neue Gesänge für
alle in der Kirche Anwesenden, vor allem im Rahmen von Jugendgottesdiensten (so genannte
‚Beatmessen’). Dies führte zur Koexistenz zweier unterschiedlicher Liturgietypen, nämlich
des römischen und des niederländischen. Es kam auch zur Polarisierung zwischen
Befürwortern und Gegnern dieser Erneuerung. Weil die Letztgenannten von Rom kräftig
unterstützt wurden, gelang es ihnen schließlich, die in Gang gesetzten Experimente und
Reformen zu stoppen, oft sogar zu desavouieren. In der heutigen Praxis beobachtet man
jedoch, dass für die Feier der Sakramente unterschiedliche Formulare benutzt werden: sowohl
26
Vgl. ADAM: Grundriss Liturgie 67-68; A. VERHEUL: De vertaling van de liturgische boeken in de landen
van Europa, in Tijdschrift voor Liturgie 63 (1979) 178-201, S. 198-199.
15
die ‚offiziellen’, ins Niederländisch übersetzten römischen Bücher als auch ‚nicht-offizielle’,
von niederländischen Priestern und Theologen verfasste Formulare.27
Das niederländische Beispiel macht anschaulich, dass in Rom die Aufbruchstimmung
schon bald einem Bremsprozess Platz gemacht hatte. Vatikanische Dokumente aus den
Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahren warnen vor einer zu weit durchgeführten
Erneuerung, bedauern den Mangel an liturgischer Bildung, zeigen oft Ängstlichkeit vor
liturgischen Missbräuchen und betonen die liturgische Disziplin. Eine Offenheit für neue
Entwicklungen sucht man in diesen Dokumenten meist vergebens. Laut der Instruktion
Liturgiam authenticam aus dem Jahr 2001 sollen alle in die jeweiligen Muttersprachen
übersetzten liturgischen Bücher überprüft werden. Damit sie als ‚authentisch’ betrachtet
werden können, brauchen sie die Anerkennung (recognitio) der vatikanischen
Liturgiekongregation.28
Dadurch erobert sich die römische Kurie eine größere
Kontrollbefugnis als von der Liturgiekonstitution selbst vorgesehen ist.29
Einige weitere Entwicklungen machen klar, dass das Latein in der katholischen Liturgie ein
gewisses Comeback feiert. Im Jahr 1984 wurde die lateinische tridentinische Messe in
bestimmten Fällen wieder zugelassen. Weiters sieht man am Äußeren der dritten Ausgabe des
Missale Romanum aus dem Jahr 2002, dass dieses Buch nicht nur als zu übersetzendes
Modell, sondern auch für den regelmäßigen feierlichen Gebrauch gedacht ist. In vielen
Ländern gibt es noch immer die Möglichkeit, an bestimmten Orten die vom Konzil erneuerte
Liturgie nicht in der Volkssprache, sondern lateinisch zu feiern. Für die Teilnehmenden an
27
Vgl. J. ROES: R.K. Kerk Nederland 1958-1973. Een encyclopedisch overzicht (Nijmegen 1974) 33-41, 59-65;
A. SCHEER: De liturgievernieuwing sinds Vaticanum II, in Balans van de Nederlandse Kerk. Kritische
evaluatie van wetenschap en praktijk (Bilthoven 1975 = Annalen van het Thijmgenootschap 63, 1) 103-136,
255-260; H. OOSTERHUIS: Twee of drie. Voor en over kritische gemeenten. Nederlandse kerkgeschiedenis
sinds bisschop Bekkers (Baarn 1980) passim; DERS.: Licht dat aan blijft; H. WEGMAN: Riten en mythen.
Liturgie in de geschiedenis van het christendom (Kampen 19952
) 355-356. Im Januar 1980 fand in Rom eine
damals in der Katholischen Kirche einzigartige, von den vatikanischen Behörden organisierte Sondersynode der
niederländischen Bischöfe gemeinsam mit dem Papst, Kurienkardinälen und einigen anderen statt. Laut
Synodenbeschluss 40 soll die Liturgie nur nach den offiziellen Büchern gefeiert werden, wobei allerdings die in
diesen Büchern vorgesehenen Anpassungsmöglichkeiten wahrgenommen werden können. Siehe Bijzondere
Synode van de Bisschoppen van Nederland, Rome, 14-31 januari 1980. Documenten (Utrecht, Sekretariat der
römisch-katholischen Kirchenprovinz 1980) 43. Es ist aber sehr fragwürdig, ob die Synodenbeschlüsse
Veränderungen in der niederländischen liturgischen Landschaft bewirkt haben.
28
Een-twee-een. Kerkelijke Documentatie 30 (2002) Nr. 7.
29
Siehe auch M. KLÖCKENER: Die Zukunft der Liturgiereform. Im Widerstreit von Konzilsauftrag,
notwendiger Fortschreibung und ‚Reform der Reform’, in Die Zukunft der Liturgie 70-118, S. 85-86, 93, 107.
16
diesen Feiern sind Verbundensein mit der ‚Weltkirche’, Rechtgläubigkeit und Erkennung der
Vergangenheit besonders wichtig.
Gleichzeitig gibt es auf der anderen Seite des kirchlichen Spektrums Klagen über die
„abgehobene“, „zeitlose“, „überholte“ Liturgiesprache.30
Klagen, dass Menschen von heute
Begriffe, wie zum Beispiel ‚Heil’, ‚Erlösung’, ‚Opfer’, ‚Sühnetod’ und so weiter, nicht
verstehen.31
Frauen- und Jugendgruppen verlangen eine ihrer konkreten Situation
angemessene Liturgiesprache, eine ‚inklusive Sprache’.32
Bevor über die Muttersprache in der Liturgie weiter zu reflektieren ist, wende ich mich nun
der Situation in einigen Nachbarkirchen zu.
2. Entwicklungen in den Orthodoxen Kirchen und in den Kirchen der Reformation
Das ambivalente Thema der Muttersprache in der Liturgie ist gewiss kein exklusiv
katholisches Problem. Es spielt auch in anderen Kirchen, vor allem in den Ostkirchen, eine
bedeutende Rolle. Was die Ostkirchen betrifft, muss man nuancieren. In vielen ostkirchlichen
Liturgien wird ein älteres Stadium der Muttersprache verwendet: Innerhalb der griechischen
und der russischen Orthodoxie zum Beispiel das Alt- und Byzantinisch-Griechische,
beziehungsweise das Altkirchenslawische.33
Für viele Gläubige ist diese historische Schicht
ihrer Muttersprache nur sehr schwer fassbar. Viele Psalmtexte, Lesungen aus dem Corpus
Paulinum und zahlreiche Hymnen sind sogar fast völlig unverständlich. Zudem haben einige
30
F.-J. ORTKEMPER: Ist unsere Liturgiesprache noch zeitgemäß?!, in Bibel und Kirche 56 (2001) 60, siehe
auch 114-115; DERS.: Zwischen Tradition und Spontaneität, in M. KLÖCKENER u.a. (Hg.): Gottes Volk feiert
…. Anspruch und Wirklichkeit gegenwärtiger Liturgie (Trier 2002) 80-91, S. 80-84; K. RICHTER:
Gottesgeheimnis der Worte. Warum wir dringend eine neue Liturgiesprache brauchen, in Christ in der
Gegenwart 53 (2001) 157-158.
31
Über den Opferbegriff und das katholische Amtsverständnis im Besonderen siehe z.B. die Kritik in P.
TRUMMER: “…dass alle eins sind!”. Neue Zugänge zu Eucharistie und Abendmahl (Düsseldorf 2001). Eine
umfassende liturgiewissenschaftliche (und interdisziplinäre) Behandlung des Opferthemas findet sich in A.
GERHARDS & K. RICHTER (Hg.): Das Opfer. Biblischer Anspruch und liturgische Gestalt (Freiburg-Basel-
Wien 2000 = Quaestiones Disputatae 186).
32
Siehe z.B. T. BERGER & A. GERHARDS (Hg.): Liturgie und Frauenfrage. Ein Beitrag zur Frauenforschung
aus liturgiewissenschaftlicher Sicht (St. Ottilien 1990 = Pietas Liturgica 7); A. GERHARDS: “Einschließende
Sprache im Gottesdienst“. Eine übertriebene Forderung oder Gebot der Stunde?, in Liturgisches Jahrbuch 42
(1992) 239-248; T. BERGER: Sei gesegnet, meine Schwester. Frauen feiern Liturgie. Geschichtliche
Rückfragen, praktische Impulse, theologische Vergewisserungen (Würzburg 1999); G. RAMSHAW: Inclusive
language, in P. BRADSHAW (Hg.): The New SCM Dictionary of Liturgy and Worship (London 2002) 243-244;
M. PROCTER-SMITH: Women and Worship, in New SCM Dictionary 476-478.
33
Vgl. Ph. HARNONCOURT: Ausdrucksformen des Glaubens. Liturgie, Ikonen, Kirchenbau, Gesang, in D.
WINKLER & K. AUGUSTIN: Die Ostkirchen. Ein Leitfaden (Graz 1997) 135-143.
17
in den Evangelien benutzte Wörter im Lauf der Zeit eine andere Bedeutung bekommen.
Berüchtigt ist das folgende Beispiel: Das griechische Wort malakia bedeutet in Gebeten sowie
in den Evangelien ‚Schwäche’ oder ‚Krankheit’. Im heutigen Griechenland wird dieses Wort
im Alltagsleben oft verwendet, bedeutet nun aber ‚sexuelle Selbstbefriedigung’ oder –
verzeihen Sie mir den Ausdruck – ‚Schweinerei’. Darum ersetzen viele Priester das Wort in
den Gebeten durch ein anderes Wort für Krankheit, nämlich astheneia. Sie wagen es jedoch
nicht immer, das gleiche bei den heiligen Evangelien zu tun, was bei einigen Gläubigen zum
Schmunzeln führt.
Um dem Problem der Unverständlichkeit einigermaßen zu begegnen, ist es
mittlerweile in einigen slawischen Kirchen, unter anderem in der Russisch-Orthodoxen
Kirche, üblich geworden, die Schriftlesungen nicht nur während des Wortgottesdienstes im
Altkirchenslawischen, sondern kurz vor der Kommunion auch in der Muttersprache zu
verlesen.
Die genannten orthodoxen Kirchen wenden selber das althergebrachte orthodoxe
Prinzip, man solle in der Liturgie die jeweilige Landessprache verwenden, nicht mehr an. Es
gibt wohl eine Diskussion, ob man das heutige Stadium der Muttersprache statt des veralteten
verwenden soll. Im Allgemeinen wehrt sich die Kirchenführung dennoch sehr dagegen. In
Griechenland sind für den Heiligen Synod wichtige Argumente, dass die Septuaginta die
maßgebende Version des Alten Testamentes ist, das Neue Testament selbst im Griechischen
verfasst worden ist, die großen Kirchenväter und liturgischen Dichter sowie die sieben
ökumenischen Konzilien sich dieser Sprache bedienten, und dass in den byzantinischen
Troparien Text und Melodie sich gegenseitig bedingen und daher der Text nicht verändert
werden kann, ohne die Melodie zu schädigen. Umsetzung in eine modernere Sprachgestalt
wäre Untreue der heiligen Tradition und den Urtexten gegenüber. In dieser Hinsicht hat die
griechische Kirche ein wunderbares, aber auch schweres, und der Erneuerung oft im Wege
stehendes literarisches Erbe bekommen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass die
griechisch-orthodoxe Bibelübersetzung, die nach sehr langer Zeit endlich in den Achtziger-
und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zu Stande gekommen ist, im Gottesdienst
18
nicht verwendet werden darf.34
Laut der griechischen Verfassung ist es sogar verboten, ohne
Genehmigung der orthodoxen Kirchenführung die Bibel offiziell ins Neugriechische zu
übertragen (Art. 3, Nr. 3).35
Aber weil auch in Griechenland das Problem der
Unverständlichkeit der Texte akut ist, überlegt sogar der griechische Heilige Synod zurzeit,
als Experiment künftig Epistel und Evangelium nicht nur in der Originalfassung, sondern
auch in der Volkssprache vortragen zu lassen. Man hofft, dass so die Beteiligung der
Gläubigen, vor allem der Jugendlichen, verbessert werden kann. Neue
Gottesdienstordnungen, zum Beispiel für neue Heilige, werden übrigens noch immer in der
alten Liturgiesprache verfasst.
Die rumänische, die serbische und die georgische Orthodoxie dagegen benutzen das
Rumänische bzw. das Serbische und das Georgische als Liturgiesprache. In der Ukraine ist
die Lage kompliziert. Die mit dem Moskauer Patriarchat verbundene Ukrainisch-Orthodoxe
Kirche benutzt, wie ihre Mutterkirche, das traditionelle Kirchenslawische. Die beiden anderen
orthodoxen Kirchen in der Ukraine, die jedoch erstens bedeutend kleiner sind und zweitens
von der weltweiten Orthodoxie nicht als kanonisch anerkannt werden, verwenden im
Allgemeinen bereits das Ukrainische – das macht die Autokephale Ukrainisch-Orthodoxe
Kirche seit den Zwanzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts –, oder sie fangen gerade
damit an, wie es in der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche / Patriarchat Kiev der Fall ist. Dadurch
möchten diese beiden Kirchen zeigen, dass nur sie die Nationalidentität des orthodoxen Teils
der Ukraine verkörpern. Das hat aber zur Folge, dass, in Reaktion dazu, die kanonische
Ukrainisch-Orthodoxe Kirche zusätzliche Argumente gegen die Einführung des Ukrainischen
als Liturgiesprache vorbringt: Sie will ja nicht mit den ihrer Ansicht nach ‚schismatischen’
Kirchen identifiziert werden.36
In der mit Rom unierten Ukrainischen Griechisch-
Katholischen Kirche ist die Situation sehr unterschiedlich. Viele Pfarren und Klöster feiern im
Ukrainischen, aber es gibt von einander abweichende Übersetzungen. Andere Kommunitäten
34
Hê Hagia Grafê (Palaia kai Kainê Diathêkê). Metafrasê apo ta prôtotupa keimena (Athen 1997) XI und Brief
des Konstantinopler Patriarchen Bartholomaios an die Übersetzer des Neuen Testaments (ohne Seitenangabe,
vor dem Text des Neuen Testaments). Siehe jedoch dort den Brief des Patriarchen von Alexandrien, Parthenios,
der weitere Schritte befürwortet.
35
G. & G. (Hg.): To Syntagma tês Helladas (Athen 2001) 20.
36
Ich danke Sophia Senyk (Rom) für ihre Auskunft über dieses Thema. Siehe auch Religious Information
Service of Ukraine 19. September 2003.
19
feiern noch im Kirchenslawischen. In der Frage, wer welche Sprache und welche Übersetzung
verwendet, spielen oft divergierende kirchliche Positionen und andersartige Spiritualitäten
eine ausschlaggebende Rolle.37
Aus dieser kurzen, unvollständigen Übersicht einiger bedeutender Ostkirchen in Ost- und
Südosteuropa wird auf jeden Fall klar, dass die Frage, welche Liturgiesprache verwendet
wird, eng mit der Eigenidentität der jeweiligen kirchlichen Gruppierung zusammenhängt.
Die Kirchen der Reformation feiern im Allgemeinen in der jeweiligen Muttersprache.
Allerdings steht auch hier oft die Sprachenfrage im Mittelpunkt der Diskussionen. Es handelt
sich dann vor allem darum, welche Ebene der Muttersprache benutzt wird: Die im hohen
Ansehen stehende, aber jetzt versteinerte Sprache der großen Vorfahren, wie Martin Luther
oder Thomas Cranmer, oder spätere Versionen? Und wenn die moderne Umgangssprache
schon verwendet wird, welches Niveau ist dann erforderlich? Illustrativ für dieses Thema sind
die Diskussionen in der Anglikanischen Kirche. Nachdem The Book of Common Prayer
Jahrhunderte lang das einzige offizielle Gottesdienstbuch der Kirche Englands gewesen war
und das Englisch des literarisch so begabten Erzbischofs von Canterbury, Thomas Cranmer,
die englische Sprache mit bereichert hatte, bot im Jahr 1980 zunächst das Alternative Service
Book Alternativfeiern an und ist seit Ende 2000 eine neue anglikanische Agende, Common
Worship, in Gebrauch. Der Hintergrund dieser neuen Agenden ist der Wunsch, im
Gottesdienst gegenwärtiges Englisch zu verwenden und den Anforderungen der modernen
Zeit besser zu entsprechen. In Common Worship findet man sowohl alte Formulare aus The
Book of Common Prayer als auch neue. Diese Agende versucht also, ein Gottesdienstbuch für
alle Angehörigen der Anglikanischen Kirche zu sein. Die Meinungen sind dennoch geteilt.
Für einige kommt jegliche Nicht-Benutzung der alten Formulare dem Verrat an der eigenen
Tradition gleich. Andere finden die neue Agende auch sprachlich recht gut gelungen. Wieder
andere behaupten, die in der neuen Agende verwendete Sprache sei noch immer altmodisch
und entspreche nicht dem modernen Lebensgefühl, und befürworten ein weiteres Wach-
Küssen der Liturgiesprache durch das veränderte Menschen- und Weltbild.
37
Ich danke Markiyan Filevich (Graz und Lemberg / Lviv) für seine Auskunft über dieses Thema.
20
Nach diesem Blick auf die liturgische Praxis in anderen Kirchen möchte ich nun in einem
dritten Schritt auf einige (knappe) fundamentale Punkte zu sprechen kommen, die unser
Thema betreffen.
3. Grundsätzliche Überlegungen
Erstens: Das Mysterium Gottes ist für uns Menschen verschleiert. Obwohl Gott sich im Lauf
der Geschichte, namentlich in seinem Bund mit Israel und in Jesus von Nazareth, erkennen
ließ und sich auch heute den Menschen zu erkennen gibt, ist unser Erkennen unvollkommen.
Sämtliche Versuche – mittels Riten, Mythen, Zeichen, darstellender Künste, Musik und
Sprache – sich dem Gottesmysterium anzunähern, mögen wirkungsvoll sein, aber sie sind
nicht vollkommen. Auch die christlichen Kernriten, die Sakramente, unterliegen dieser
Ambivalenz: In ihnen berührt uns Gott und bleibt uns zugleich doch verschleiert. Sprache ist
daher nicht das Ziel, sondern ein (holpriges) Medium auf dem Weg zur Begegnung von Gott
und Mensch. Auch die beste liturgische Sprache ist also ein unzulängliches Mittel, um das
Geheimnis Gottes und die Vision einer neuen Erde und eines neuen Himmels zum Ausdruck
zu bringen. Sie stammelt, holpert und stockt. Sie spricht über Gott als ‚Alles und Nichts’,
‚Ursprung und Ende’. Gleichzeitig – wiederum paradoxerweise – vermag gerade die Sprache,
wie die übrigen Künste, Funken von Licht, Spuren des Unsichtbaren zu zeigen.38
Zweitens: Sprache ist immer Teil einer bestimmten Kultur. Sie ist nicht einzeln erhältlich,
sondern mit einem bestimmten Denken, Fühlen und Benehmen verbunden. Die lateinische
Sprache ruft eine andere kulturelle Umwelt hervor als zum Beispiel die englische. Wenn es
zutrifft, dass Gott sich immer von konkreten Menschen in ihrer Eigensprache finden lässt,
dass der Heilige Geist sich in konkrete Kulturen herablässt, dann sind alle Sprachen und
Kulturen im Prinzip gleichberechtigte Kommunikationsmittel des Glaubens und der
Liturgie.39
Außerdem ist, wie auch Paulus sagt (1Kor 14,10-19), die sprachliche
38
Vgl. B. SIERTSEMA: “Hoger woord dan klanken kunnen dragen“. De taal van de dichter, in A. VAN
HEUSDEN, K. KOK & C. VAN DER VEN (Hg.): Liedje dat ik niet kan laten. Verzamelde opstellen over de
liederen van Huub Oosterhuis, doctor theologiae (Kampen 2002) 71-79.
39
Vgl. P. PLANK: Liturgische Sprachen, in Religion in Geschichte und Gegenwart 5 (2002)4
470-472, S. 470:
„Prinzipiell ist jedes literaturfähige Idiom als liturgische Sprache geeignet.“
21
Verständlichkeit im Gottesdienst ein sine qua non. Sie ist die Bedingung, um „zu deinem
Dankgebet das Amen sagen“ (V. 16) zu können.40
Natürlich spielt das lateinische Erbe für die Identität der Römisch-Katholischen Kirche
eine wichtige Rolle, auch in ihrer Liturgie. Die schönen biblisch inspirierten Hymnen des
lateinischen Stundengebetes sowie die übrigen gregorianischen Choralgesänge geben
manchen Klosterbesuchern, die sich eine ‚Auszeit’ gönnen,41
innere Ruhe und wirken
meditativ. Wäre es nicht auch schade, wenn eine jahrhundertealte Tradition, die die
katholische Identität so sehr bestimmte, völlig verschwindet? In Österreich zum Beispiel wird
heutzutage der Gregorianische Choral vor allem in Klöstern der Zisterzienser gepflegt, er hält
sich bei den Benediktinerinnen mühsam und ist aus den meisten anderen Klöstern sowie aus
den Pfarrgemeinden verschwunden. Allerdings vermag der Gregorianische Choral auch als
Inspirationsquelle für neue volkssprachliche Gesänge zu dienen, wie zum Beispiel mehrere
Schöpfungen des niederländischen liturgischen Komponisten Bernard Huijbers zeigen. In
Österreich singen aber Pfarrchöre noch regelmäßig Messen von Haydn, Mozart und so weiter.
Das ist einerseits schön und Teil der reichen kirchenmusikalischen Tradition dieses Landes,
andererseits führt es leider gelegentlich dazu, dass die Liturgie zum Konzert wird. Liturgie
beinhaltet Ästhetik, aber sie ist viel mehr als Ästhetik und letztere soll die
Verkündigungsdimension des Gottesdienstes nicht überschatten.
Für den pastoralen Alltag gilt aber, dass die heutige, jeweils unterschiedliche Kultur
berücksichtigt werden muss, wie es auch die bereits genannte Instruktion Comme le prévoit
vorsieht. Das trifft übrigens auch für Westeuropa und Nordamerika zu, nicht nur für Afrika,
Asien und Südamerika. In dieser Hinsicht greift die Instruktion Liturgiam authenticam zu
kurz. Außerdem krankt in dieser Instruktion das Verhältnis zwischen den Ortskirchen und der
römischen Kurie. Die Rechte der Bischofskonferenzen, die von der Liturgiekonstitution
ausdrücklich festgelegt sind (SC 22b), werden beschnitten. Ist es nicht die Hauptaufgabe der
römischen Zentralstellen, zu koordinieren und zu ermutigen, statt jede Zeile der
muttersprachlichen, meistens sehr sorgfältig erarbeiteten liturgischen Bücher zu überprüfen?
40
Vgl. A. GERHARDS: Theologische Aspekte des volkssprachlichen Gottesdienstes, in Liturgisches Jahrbuch
34 (1984) 131-144.
41
Es betrifft hier nicht nur Katholiken, sondern gelegentlich auch Protestanten und der ‚offiziellen’ Kirche
Entfremdete.
22
Der emeritierte Erzbischof von Wien, Franz Kardinal König betonte im Jahr 1999 die
Notwendigkeit der Dezentralisierung der Katholischen Kirche.42
Die Frage, wann die
Bischofskonferenzen ihre Rechte und Befugnisse zurückfordern werden, ist berechtigt. Zu
diesem Thema gehört auch das gesunde katholische Subsidiaritätsprinzip: Das, was auf einer
niedrigeren Ebene geschehen kann, soll dort passieren und nicht anderswo. Wichtig ist hier
die Zusammenarbeit zwischen Bischöfen und Liturgiewissenschaftlern. Heutzutage
beobachtet man, dass die Letztgenannten in offiziell-kirchlichen Gremien eine immer
geringere Rolle spielen. Beim Zweiten Vatikanum arbeitete das Lehramt des Papstes und der
Bischöfe eng mit dem Forschungs- und Lehramt der akademischen Theologie zusammen.
Nicht zuletzt deswegen war dieses Konzil ein Erfolg.43
Daher ist für die Wiederaufnahme
dieser engen Zusammenarbeit zu plädieren.
Drittens: Liturgische Bücher, auch die offiziellen römischen, sind Behelfe im Gottesdienst.
Sie sind sehr wichtig – eine Feier braucht ein gutes ‚Drehbuch’ – aber sie dürfen nicht
verabsolutiert werden. Es geht um die konkrete Feier,44
um die Verkündigung des Wortes
Gottes an hier und jetzt lebende Menschen, um das heutige Gedächtnis – hodie, sêmeron – der
einmal geschehenen Hingabe Christi. Nicht die liturgischen Texte an sich sind sakrosankt,
sondern der drei-eine Gott ist es. Weil die Menschen sich ständig ändern, ihr Weltbild sich
verändert und sie, je nach Kultur, einen anderen Zugang zu Gott, auch zu Jesus haben, sind
auch die liturgischen Bücher ständig reformbedürftig, damit die Frohe Botschaft zeitgemäß
rituell begangen werden kann.45
Nicht nur die Kirche ist semper reformanda, auch die
Liturgie. Was heute genau die religiösen Gefühle ausdrückt, kann in zehn Jahren schon
42
Vgl. CARDINAL FRANZ KÖNIG: My vision for the Church of the future, in The Tablet, 27. März 1999,
424-426: „ … the curial authorities … have appropriated the tasks of the episcopal college. It is they who now
carry out almost all of them … Today … we have an inflated centralism.” Siehe auch KLÖCKENER: Die
Zukunft der Liturgiereform 91-118.
43
Vgl. H. KRÄTZL: Im Sprung gehemmt. Was mir nach dem Konzil noch alles fehlt (Mödling 19994
) 202: „Der
Fortschritt des Konzils in so vielen Fragen ist wohl nur zu erklären, weil die Bischöfe mit den besten Theologen
gearbeitet haben.“
44
Vgl. BERGER: Sprache der Liturgie 802: „Die liturgische Rede ist im Kern … vor allem Vollzug, Handlung,
Redegeschehen. Bei einem Blick auf liturgische Texte nähert man sich deshalb nur einem kleinen Teil der
Wirklichkeit der Sprache der Liturgie.“ Siehe auch S. 805.
45
Das wird auch dargelegt in W. HAUNERLAND: Liturgiesprache, in Lexikon für Theologie und Kirche 6
(1997)3
988-989; DERS.: Lingua vernacula 232-236; M. KLÖCKENER: Die Zukunft der Liturgiereform
106-108.
23
wiederum veraltet sein. Hier ähnelt das Ritual den darstellenden Künsten. Gotik, Barock usw.
wurden in ihrer Zeit als zeitgemäße Gestaltungen der Annäherung zum Gottesmysterium
empfunden. Was die moderne Kunst betrifft, sagt der Grazer Bischof Egon Kapellari mit
Recht, dass sie Freiheit braucht, um das Religiöse ausdrücken zu können. Er plädiert für eine
zeitgemäße Kunst, für die es auch in Sakralräumen Platz gibt. Die liturgische Sprache ist auch
eine Kunst, nämlich die der Dichtung. Wir brauchen gute neue Dichtungen, in Gebeten und
Gesängen. Das Schaffen neuer liturgischer poetischer Gebetstexte ist Jahrhunderte lang in der
Katholischen Kirche vernachlässigt und unterdrückt worden, es muss neu erlernt werden.
Zudem lässt die Arbeit guter Dichtung sich nicht zwingen, man sollte jedoch förderliche
Bedingungen für sie kreieren.46
Dabei geht es nicht darum, alte Wahrheiten durch neue zu ersetzen, sondern sie
sozusagen ‚in neuen Worten zu kleiden’.47
Es geht mir allerdings nicht um ein oberflächliches
‚neue Worte finden’. Es ist äußerst wichtig, zu versuchen, altbewährte
Glaubensüberzeugungen und -erfahrungen – neu, in unserer Zeit inkarniert – in uns selber zu
empfinden und ihnen dann einen authentischen Ausdruck zu verleihen. Wenn dafür neue
verbale Ausdrucksweisen erforderlich sind, soll man davor nicht zurückschrecken. Aber man
sollte sich gleichzeitig anstrengen, alte Texte wirklich zu verstehen. Wenn wir heutzutage
solche Texte nicht sofort verstehen, denken wir oft, dass sie daran schuld sind und viele von
uns neigen dazu, sie zu streichen. Stattdessen sollten wir zunächst versuchen, die im Text
festgelegten religiösen und anderen Lebenserfahrungen auszuloten und sie uns anzueignen.
Diese Aneignung kann jedoch nur geschehen, wenn wir uns selbst – mit unserer ganzen
Person, mit all unseren Lebenserfahrungen – mit dem Text auseinandersetzen.
Ich plädiere hier also nicht für die Abschaffung aller traditionellen liturgischen
Elemente. Das Ritual braucht ja Kontinuität, damit es überhaupt Ritual sein kann. Wir
brauchen Rhythmus und Strukturen, die fest (aber nicht unbeweglich) sind. Nicht nur wir
tragen die Liturgie, sondern sie trägt auch uns. Zudem basieren die Sakramente auf dem
biblischen Befund und der späteren kirchlichen Tradition, wobei der biblische Kern
normierend zu sein hat. Die Liturgie muss zwar zeitgemäß sein, aber die daran
46
A. CHUPUNGCO: Inculturation, in New SCM Dictionary 244-251, S. 248: “It would be an irresponsible act
on the part of church authorities to deprive the worshipping community of prayers concerning current issues by
minimizing the composition of original texts.”
47
T. VAN DER STAP: De lyriek van het verlangen. Over „Ander, ouder“, in Liedje dat ik niet kan laten 96-99,
S. 98.
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Teilnehmenden müssen auch liturgiegemäß sein. Es geht darum, ein richtiges Verhältnis
zwischen dem Festhalten an Traditionellem und alten Formen einerseits und jeweils
zeitgenössischen Ausdrucks- und Sprachformen andererseits, zu finden.48
Das gilt übrigens
nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Architektur, die Einrichtung des
Kirchenraumes und die ‚Regie’ der Feier.
Viertens: Die Liturgiesprache soll in der biblischen Botschaft verwurzelt sein. Aber immer
aktualisierend, denn Tradition und heutiges Empfinden müssen mit einander verknüpft
werden. Also in einem ständigen Aggiornamento, klagt die Liturgie Unrecht und Chaos an,
thematisiert sie die Erfahrung der Befreiung durch Gott aus dem Sklavenhaus, aus Armut und
Hunger, und vermittelt die Vision von Freiheit, Essen und Unterkunft für alle, Leben in
Frieden und Gesundheit, Zusammenleben in Solidarität, Versöhnung, Erbarmen und Treue,
die Vision von einer neuen Welt und einem neuen Bund.49
Liturgieerneuerung geht nicht ohne
biblisch-theologische Erneuerung. Das im Lehrhaus gehörte Schriftwort, das im Gottesdienst
gefeierte Wort sowie das in der Diakonie und Caritas gelebte Wort sind untrennbar mit
einander verbunden. Wenn sie getrennt werden, wird die Liturgie nur ‚dröhnendes Erz’ (vgl.
1Kor 13,1).50
Die Heilige Schrift soll immer wieder aktualisiert werden: Gott befreit auch hier
und jetzt durch uns, lebende Menschen.
Weiters soll das Niveau der Muttersprache die gehobene Umgangssprache sein: gut
zugänglich, aber nicht die Sprache der Zeitungen oder des Computers. Sie soll dichterisch
sein. Sie ist ‚die zweite Sprache’ (de tweede taal; Huub Oosterhuis), die Sprache der
Visionen, Bilder und Gleichnisse, die Sprache des Betastens und der Rührung, die Sprache
der Sehnsucht und des Verlangens, eine verletzbare Sprache, die wesentlich anders ist als ‚die
48
Laut M. VAN LEEUWEN: De onalledaagse taal van de liturgie, in M. BARNARD u.a. (Hg.): Nieuwe wegen
in de liturgie. De weg van de liturgie. Een vervolg (Zoetermeer 2002) 65-81, S. 72, ist die Wechselwirkung
zwischen Wiederholung des Alten und neuen Schöpfungen die Kraft der liturgischen Sprache.
49
Vgl. K. KOK: De kunst van de liturgie (Kampen 2004) 34.
50
Vgl. KOK: De kunst van de liturgie 17-18, 24-37.
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erste Sprache’, die Sprache der Tatsachen, Begriffe, des genauen Beschreibens, der
Wissenschaft.51
(Natürlich braucht auch die Theologie als wissenschaftliche Disziplin diese
‚erste Sprache’, aber ihre Quelle und ihr Strömen soll die ‚zweite Sprache’ sein. Das ist leider
oft nicht der Fall und dann dominiert auch im wissenschaftlichen Sprechen von Gott die erste
Sprache die zweite.) Zudem soll, wie Kunst, auch liturgische Sprache nicht glatt, nicht banal
sein, sondern eher der Banalität Widerstand leisten. Gute performative liturgische Sprache
bewirkt Veränderungen, eine Katharsis bei den Teilnehmenden. Sie trägt zum Verbundensein
mit einander sowie zur Begegnung der Gemeinde mit dem Unsichtbaren bei. Sie ist der Atem
der ‚Schule’ der Liturgie, die auf ein anderes Fühlen und Denken, auf die innere Umkehr der
Teilnehmenden hinzielt.52
Es gibt zwei Urpolen, die für menschliches Glück und die
christliche Spiritualität notwendig sind: Geborgenheit und Herausforderung (comfort and
challenge). Die liturgische Sprache bewegt sich vom einen Pol zum anderen, bezieht beide
Pole ein. Sie ‚meistert’ ihre Aufgaben in allerlei Arten des Sprechens: in der Klage genauso
wie im Lobpreis, im tastenden Zweifel wie im festen Wissen, flehend oder verkündigend,
verzweifelt anrufend oder segnend.
Die liturgische Sprache muss nicht unbedingt nur gesprochen werden. Gerade das
Singen kann – mehr als das gesprochene Wort – Gefühle hervorrufen oder Verbundenheit
forcieren. Obwohl der Text den Primat haben soll, unterstützt eine gute Melodie den Text, sie
interpretiert ihn und verleiht ihm Flügel. Mehr als ein gesprochener Text, ist es ein
gesungener, ein Lied, das uns in Bewegung hält.53
Es ist richtig, dass es nicht selten an liturgischer Bildung fehlt, dass es Unwissenheit
und einen Mangel an kulturellem Niveau gibt. Uferloses Gerede, Phrasendrescherei,
Moralisieren kommen in unseren Gottesdiensten regelmäßig vor. Hier ist noch viel
51
Vgl. H. OOSTERHUIS: In het voorbijgaan (Utrecht 19684
) 236-244. Deutsche Übersetzung: DERS.: Du bist
der Atem und die Glut. Gesammelte Meditationen und Gebete (Freiburg-Basel-Wien 1994) 242-254. Eine
Überarbeitung des Textes über ‘die zweite Sprache’ findet sich in DERS.: In het voorbijgaan (Bilthoven 19755
)
151-158. Für liturgische Sprache als ‚zweite Sprache’ siehe auch A. GOVAART: Taal. Een omgangsregeling
met de Onuitsprekelijke, in M. BARNARD & P. POST (Hg.): Ritueel bestek. Antropologische kernwoorden van
de liturgie (Zoetermeer 2001) 131-138; DERS.: Taal. Voorbeelden, in Ritueel bestek 139-144; H. WIERSINGA:
De omgangstaal van Huub Oosterhuis, in Liedje dat ik niet kan laten 80-89. Laut G. RAMSHAW: Language,
Liturgical, in New SCM Dictionary 270, neigen einige Kirchen dazu, eine möglichst einfache Sprache im
Gottesdienst zu verwenden und bevorzugen andere Kirchen dagegen eine außergewöhnliche, ‚sakrale’ Sprache.
52
Vgl. H. HILLENAAR: Het lied als leerschool. Over het „Lied aan het licht“, in Liedje dat ik niet kan laten
117-132.
53
Vgl. OOSTERHUIS: Licht dat aan blijft, passim. Vgl. den Titel des von Kok verfassten Buches: De vleugels
van een lied.
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Bildungsarbeit zu leisten. Aber gleichzeitig muss festgestellt werden, dass in zahlreichen
Pfarrgemeinden begeistert Liturgie vorbereitet und gefeiert wird, dass neben Pfarrern und
Diakonen auch Pastoralassistentinnen und -assistenten sowie viele ehrenamtliche Frauen und
Männer mit großem Einsatz und Zeitaufwand an Liturgiekreisen teilnehmen und liturgische
Sonderfunktionen verrichten. Eine umfassende Liturgieerneuerung, wie die vom Zweiten
Vatikanum veranlasste, braucht einige Generationen, um realisiert werden zu können. Die
Tatsache, dass vierzig Jahre nach dem Konzil noch nicht alles gut ‚läuft’, ist kein Grund, die
Notbremse zu ziehen. Ängstlichkeit und fast ausschließliche Sorge um liturgische Disziplin
sind hier nicht die Lösung, sondern weiteres Aufgeschlossen-Sein sowie gute Betreuung und
Bildung. Der Großteil der Liturgieerneuerung liegt noch vor uns.
Fünftens: Die unterschiedlichen Sprachformen von Jugendlichen, Frauen und anderen
Gruppen verdienen es, honoriert zu werden. Im Allgemeinen muss Liturgie inklusiv sein, darf
das Sprechen von Gott zum Beispiel nicht einseitig maskulin sein. Sie darf weder andere
christliche Gruppierungen noch den von Gott zuerst gerufenen Partner, das jüdische Volk,
ausschließen. Es empfiehlt sich, im liturgischen ‚Angebot’ stärker zu differenzieren. In
Jugendgottesdiensten können die spezifischen Jugendanliegen besser zum Ausdruck kommen.
Bistümer sollten sich dazu entschließen, dass in bestimmten Kirchen Gottesdienste in einer
modernen Sprache, mit einer freieren Struktur als gewöhnlich gefeiert werden. Die Erfahrung
lehrt, dass Menschen, die am Rand oder außerhalb der Kirche stehen, diese Art von
Gottesdiensten oft attraktiv finden. Gute Beispiele dafür sind die ‚Thomas-Feier’ für
‚Zweifler’ und die im Erfurter Dom gefeierten Segnungsgottesdienste für der Kirche
Entfremdete und ‚Nicht-Glaubende’. Der so genannte ‚Gottesdienst für Liebende’ am
Valentinstag zieht Paare der verschiedensten kirchlichen und nicht-kirchlichen Schattierungen
an. Es empfiehlt sich ebenfalls, neben der Eucharistie weitere Gottesdienstformen zu fördern.
Damit meine ich nicht nur das Stundengebet, das ja auch für die Pfarrgemeinden gedacht ist,
sondern bestimmte Andachten, in denen eine freiere Sprache möglich ist, und besondere
Gottesdienste, wie zum Beispiel ‚Gottesdienste für Trauernde’.54
54
Ein ähnliches Plädoyer findet sich in KLÖCKENER: Die Zukunft der Liturgiereform 112-116.
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Es ist vielleicht ein Paradox, dass einer, der Deutsch nicht als seine Muttersprache hat, den
Gebrauch einer lebendigen, volksnahen deutschen Sprache in der Liturgie befürwortet. Ich bin
mir meiner Beschränkungen in dieser Hinsicht wohl bewusst und strenge mich an, mir die
sprachlichen Feinheiten und die emotionale Bedeutung des deutschen Wortschatzes zueigen
zu machen und mich im allgemeinen Sinn in diesem Alpenland zu inkulturieren. Aber auch
wenn ich fließend deutsch sprechen könnte, heißt das noch nicht, dass ich gut Österreichisch
kann. Und wenn ich auch das beherrschen würde, dann kann ich noch nicht Steirisch, das
Summum. Ähnliches ließe sich in Bezug auf das Ostfriesisch, Schwyzerdütsch usw.
feststellen. Die angesprochene Problematik betrifft übrigens nicht nur den Gottesdienst,
sondern auch beispielsweise die Bibelübersetzungen. Hochsprache und Mundarten sind nicht
identisch. Bibelübersetzungen in einzelnen Dialekten werden von denen, die diese Dialekte
sprechen, oft sehr geschätzt. Die Volkssprache hat also viele Schichten.
Wir berühren damit auch ein aktuelles pastorales Kernproblem, nämlich die
Beschäftigung ausländischer Priester für Einheimische zum Beispiel in Österreich und in den
Niederlanden. Die Tatsache, dass viele dieser Priester die Volkssprache oft nur bruchstückhaft
beherrschen, erzeugt pastorale Probleme. Das Aussprechen liturgischer Texte in der
Landessprache ist eine Aufgabe, die die meisten von ihnen schon meistern können, aber in der
Landessprache lebensnah zu predigen, in der Alltagsseelsorge die echten Nöte und Anliegen
der Menschen zu verstehen und ihnen entsprechen zu können, ist vielen kaum möglich. Wenn
man schon ausländische Priester einsetzt, sollte man sich in ihrer Ausbildung um eine
gründliche Inkulturation kümmern.