DIE RADIKALE RECHTE - Rosa-Lux

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DIE RADIKALE RECHTE AN DER REGIERUNG Sechs Fallbeispiele aus Europa

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REGIERUNGSechs Fallbeispiele aus Europa

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Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, Juni 2018.

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg

Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016E-Mail: [email protected]: +1 (917) 409-1040

Buchdesign und Layout: Saya Signs

Textredaktion: Ethan Earle und Maria Starzmann

Übersetzung: Max Böhnel

Redaktion der deutschen Ausgabe: Albert Scharenberg und Maria Starzmann

Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung benachteiligter Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Verein- ten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG 7Der Aufstieg der radikalen RechtenStefanie Ehmsen & Albert Scharenberg

UNGARN 15Victor Orbáns autoritäres RegimeKristóf Szombati

POLEN 27Nationalismus und Neofaschismus unter Jarosław KaczyńskiBartosz M. Rydliński

TÜRKEI 39Wie unter Recep Tayyib Erdoğan eine „neue Türkei“ entstandPınar Çakıroğlu-Bournous

DÄNEMARK 51Die Dänische Volkspartei und „rechtsradikaler Pragmatismus“Inger V. Johansen

NORWEGEN 63Rechtspopulismus im nordischen StilAsbjørn Wahl

ÖSTERREICH 75Die Normalisierung des RechtspopulismusSebastian Reinfeldt

ÜBER DIE AUTOREN 85

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EINLEITUNG

Der Aufstieg der radikalen Rechten

STEFANIE EHMSEN & ALBERT SCHARENBERG

Wir sind Zeugen einer Zeitenwende in der globalen Politik. Die radikale Rechte, die sich jahrzehntelang auf dem Rückzug zu befinden schien, feiert einen Erfolg nach dem anderen. Von Rodrigo Duterte auf den Philippinen und Narenda Modi in Indien über Jarosław Kaczyński in Polen, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei und Benjamin Netanjahu in Israel bis hin zu Michel Temer in Brasilien und Donald Trump in den Vereinigten Staaten – weit rechts stehende Politiker sind in die höchsten Positionen der Weltpolitik aufgestiegen. Mit neuartiger Macht-fülle ausgestattet, leiten sie in ihren Ländern äußerst verstörende autoritäre Veränderungen ein.

Die neoliberale OffensiveBei diesem Unterfangen sind sie alle Teil desselben (weltweiten) Phänomens: Sie markieren die Kehrseite der neoliberalen Globalisierung. Denn schließlich ist der Neoliberalismus die neueste Form des Kapitalismus, und er vertieft die dem Kapitalismus eigenen Widersprüche nur noch weiter. Wir produzieren heute sehr viel mehr Reichtum als etwa 1980. Aber davon haben die arbeiten-den Klassen nichts. Darüber hinaus führt die Austeritätspolitik zur erheblichen Verschärfung von sozialer Ungleichheit und wirtschaftlicher Unsicherheit. Dabei büßen Begriffe wie Gemeinwesen und Solidarität ihre Bedeutung ein, während Wettbewerb und Individualismus noch mehr in den Vordergrund treten. Selbst

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einem Begriff wie Gesellschaft droht die Sinnentleerung, seit Margaret Thatcher ihrer Politik das berühmt-berüchtigte Credo „So etwas gibt es nicht“ aufstem-pelte und erklärte, es gäbe „keine Alternative“ zu ihrer Politik. Und in der Tat hat die neoliberale Offensive die Gesellschaft grundlegend umgekrempelt – und damit auch unsere Herzen und unseren Verstand, wie wir empfinden und wie wir denken. Der Neoliberalismus hat den alten Hegemon verdrängt und sich als dominantes System unserer Zeit durchgesetzt. Wie kann sich eine Demokratie – mag sie auch, wie die unsrige, noch unvollkommen sein – dieser Frontalangriffe auf ihre Grundfeste erwehren und überleben?

In der jüngsten Vergangenheit – und ganz besonders stark in den Jahren seit der Großen Rezession von 2008 – hat der „progressive Neoliberalismus“, wie Nancy Fraser ihn nannte, zunehmend an Boden verloren. Er war in der politischen Mitte ideologisch dominant, schmückte sich mit liberaler Rhetorik, verfolgte einen technokratischen Ansatz und gab dann immer öfter leere Ver-sprechungen ab. Während die Linke, jedenfalls der größte Teil von ihr, mit dieser Situation nicht wirklich umzugehen wusste, war die autoritäre Rechte schnell zur Stelle. Die Linke sinniert darüber, ob sich für sie eine gute Gelegenheit auftun könnte – aber die Rechte hat sie längst am Schopfe gepackt.

Während wir diese Zeilen schreiben, werden die Institutionen und Abläufe demokratischer Regierungsführung von Rechtsaußenregierungen unterhöhlt oder sogar abgeschafft. Werfen wir einfach einen Blick auf das Treiben von Trump, Orbán, Erdoğan und ihresgleichen: Die Rechenschaftspflicht von Re-gierungen, die Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen stehen unter schwerem Beschuss und muten immer mehr wie Geister der Vergangenheit an. Anders ausgedrückt: Die radikale Rechte verstärkt ihre Angriffe auf den Wesenskern der Demokratie, während bestehende demokratische Institutionen und Prozesse die Menschen zur Vertei-digung ebendieser Demokratie kaum mehr zu mobilisieren in der Lage sind. Genau deshalb ist die Gefahr, die vom Autoritarismus ausgeht, so unmittelbar und existenziell.

Neoliberale Wirtschaft und nationalistische Identitätspolitik: ein ZweckbündnisObwohl der Neoliberalismus, einschließlich seiner „progressiven“ Variante, die Menschen im Stich lässt, machen viele, wahrscheinlich sogar die meisten von

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ihnen den Neoliberalismus nicht selbst dafür verantwortlich. Der Grund liegt in falschen Schuldzuweisungen, mit denen die Rechte höchst erfolgreich operiert. Als Sündenböcke für alles, was neoliberale Politik angerichtet hat – etwa die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen – müssen Minderheiten, Einwanderer, Liberale, Feministinnen, Linke oder die „Elite“ (und dabei keines-falls die Großunternehmen, sondern eher Wissenschaft und Showbusiness) herhalten. Der Trick, wirtschaftliche Ursachen in kulturelle zu verdrehen, zahlt sich für die radikale Rechte aus. Die Tatsache, dass kulturelle Verunsicherung völlig andere politische Lösungen erfordert als eine wirtschaftliche oder soziale Misere, ist ein Hauptgrund für die Anziehungskraft der radikalen Rechten für die wirtschaftlich Mächtigen. Denn so lange Unzufriedenheit und Wut an den Schwachen – und nicht an den Starken – ausgelassen werden, bleiben sie nützli-che Werkzeuge, mit denen sich gleichzeitig Unruhe kontrollieren wie auch eine Politik durchdrücken lässt, die den Reichen nützt und auf Kosten der Armen und der Mittelschichten geht. Man muss sich dazu nur einmal Trumps Kürzungen der Unternehmersteuern vor Augen führen.

Ganz allgemein scheinen sich viele aus den Wirtschaftseliten (exportori-entierte Branchen ausgenommen) für diese Zweckehe zwischen neoliberalem Wirtschaften und nationalistischer Identitätspolitik, für die die radikale Rechte steht, zu erwärmen. Diese Hinwendung zum Nationalismus prägt den Diskurs in der Gesellschaft, und dabei besonders in den Wirtschaftseliten, immer mehr. Dass die radikale Rechte von den wirtschaftlich Mächtigen in zunehmendem Maß unterstützt wird, ermuntert sie und macht sie umso erfolgreicher.

Der europaweite Aufstieg der radikalen RechtenEin typisches Beispiel für dieses weit verbreitete Phänomen ist die politische Situation in Europa. Seit Jahren gewinnen in fast allen Ländern des Kontinents rechtspopulistische Parteien an Stärke. Bei der letzten französischen Präsi-dentschaftswahl im Jahr 2017 überholte Marine Le Pen die Kandidaten der tra-ditionellen Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien und zog in die Stichwahl ein, bei der sie rund ein Drittel der Stimmen erhielt. Im selben Jahr wurde bei den niederländischen Nationalwahlen Geert Wilders Partei der Freiheit (PVV) zweit-stärkste Kraft. Währenddessen verlagerte die Alternative für Deutschland (AfD) ihren Schwerpunkt weg vom Neoliberalismus und wurde zu einer unverblümt populistischen Anti-Einwandererpartei. Sie erhielt bei der Bundestagswahl im

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September 2017 12,6 Prozent der Stimmen und zog damit als erste rechtsra-dikale Partei seit dem Zweiten Weltkriegs in das deutsche Parlament ein. Der europäische Rechtsruck erfasst auch Italien, wo die Lega Nord bei der jüngsten Wahl (2018) mit 17,4 Prozent sehr erfolgreich war, und die Schweiz, wo die Schwei- zerische Volkspartei (SVP) bei der letzten Parlamentswahl (2015) mit fast 30 Prozent der Wählerstimmen zur stärksten Partei im Nationalrat wurde.

Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass die radikale Rechte nicht auf populistische Parteipolitik beschränkt ist. Sie umfasst vielmehr alle Ak-teure und Ideologien rechts vom klassischen Mitte-rechts-Spektrum, das seinerseits in den meisten Ländern seit längerer Zeit ebenso erodiert wie die sozialdemokratischen Parteien des Mitte-links-Spektrums. Vom rechtsradikalen Rand des Spektrums aus sind offen faschistische Organisationen, wie die Gol- dene Morgenröte in Griechenland, und ausgemachte Terroristen, etwa Anders Breivik in Norwegen oder der deutsche Nationalsozialistische Untergrund (NSU), zu ernsthaften Bedrohungen geworden.

An beiden Enden des populistischen Spektrums sind gewisse Überschnei-dungen zu beobachten. So waren viele Anführer der populistischen Rechten, wie etwa Alexander Gauland von der AfD, früher Mitglieder in Mitte-rechts-Parteien; selbst Breivik war einst Mitglied in Norwegens populistischer Fortschrittspartei. Dennoch versucht die populistische Rechte, sich zwischen Mitte-rechts und der offen faschistischen, extremen Rechten zu positionieren. Mit diesem Ziel vor Augen wüten sie gegen Immigranten und vor allem Muslime, kritisieren Glo-balisierung und „Kosmopolitismus“ und geben Liberalismus, Feminismus und Sozialismus die Schuld an allem, was aus ihrer Sicht schiefgelaufen ist. Zusätz- lich macht ihr Nationalismus sie zwangsläufig zu grundsätzlichen Gegnern der Europäischen Union. Das ist der Kitt, der den wachsenden rechtspopulistischen Pol zusammenhält.

Neben diesen Punkten, über die allgemeines Einvernehmen herrscht, gibt es bei den Rechtspopulisten aber auch viele Differenzen, entweder aufgrund nationalstaatlicher Eigenheiten bzw. Pfadabhängigkeiten oder aufgrund unterschiedlicher Radikalisierung. Während die meisten überzeugte Islamgeg- ner sind, machen einige, etwa in Ungarn Jobbik und sogar Fidesz, auch aus ihrem Antisemitismus keinen Hehl. Manche, wie die Schweizer SVP, sind offen neoliberal; andere dagegen kritisieren manche Aspekte des Neoliberalismus, beispielsweise der französische Front National oder die Dänische Volkspartei. Geben sich die einen, wie die niederländische PVV, sozialliberal, treten andere, etwa die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), sozialreaktionär auf.

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EINLEITUNG 11

Das bedeutet, dass sich die einzelnen Parteien trotz ähnlicher Ursachen für ihr Wachstum ideologisch, politisch und in Bezug auf ihre Anhängerschaft stark voneinander unterscheiden.

Die radikale Rechte in der Regierung: sechs europäische Fallbeispiele Der Rechtspopulismus ist ohne Zweifel zu einer nicht mehr zu übersehenden Größe geworden. Todernst wird es, sobald die radikale Rechte in Regierungen einzieht. Dieses Buch will einen Einblick vermitteln in die Länder, in denen Rechtsaußenparteien die Regierung entweder ganz oder teilweise übernommen haben. Wie ist ihnen dies gelungen? Wer sind ihre Wählerinnen und Wähler? Was für eine Politik haben sie, einmal an der Macht, in Kraft gesetzt? Wir hoffen, dass unsere Analysen dem Kampf gegen die radikale Rechte zugutekommen, in Europa und anderswo.

Kristóf Szombati eröffnet unseren Sammelband mit einer Untersuchung von Viktor Orbáns autoritärem Regime in Ungarn. Seit ihrem erdrutschartigen Sieg in 2010 haben Orbán und seine Partei Fidesz unermüdlich daran gearbeitet, li- berale demokratische Werte auszuhöhlen. Sie haben die Landesverfassung um-geschrieben, Kontrollen über die Exekutive abgeschafft und die Unabhängigkeit der Justiz untergraben. Zusammen mit der radikal-nationalistischen „Bewegung für ein besseres Ungarn“, kurz Jobbik, hat Orbán die liberalen Kräfte des Landes als ökonomisch isoliert und kulturell entwurzelt porträtiert. Sie machten es sich in Budapest oder Brüssel gemütlich, während die „echten“ ungarischen Bürger unter der ungezügelten Globalisierung und einer konstanten Bedrohung durch Einwanderer zu leiden hätten. Szombati schließt mit einer düsteren Prognose nach der jüngst erfolgten Wiederwahl Orbáns. Sein autoritärer Populismus wird so lange seine Anziehungskraft entfalten können, wie es für Ungarns Semipe-ripherie keine Aussicht auf eine echte sozioökonomische Transformation gibt.

Bartosz M. Rydliński nimmt diesen Faden auf. Denn der ehemalige polnische Ministerpräsident Jarosław Kaczyński hat explizit den Wunsch geäußert, ein „Budapest in Warschau“ errichten zu wollen. Während sich Kaczyńskis PiS ideologisch nicht rechtsradikal definiert, ist die Partei dennoch explizit gegen Flüchtlinge gerichtet und dezidiert rassistisch. Rydliński sieht PiS als ein Bünd-nis aus Nationalismus und Neofaschismus. Die Situation in Polen ähnelt der ungarischen darin, dass antiliberales Gedankengut und Populismus bei

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ärmeren und ländlichen Wählern Anklang findet. Dass sich diese Politik als anti-neoliberal verkaufen lässt, sollten sozialdemokratische und linke Kräfte mit Sorge zur Kenntnis nehmen. Für Rydliński bleibt angesichts dieser politischen Pirouette abschließend nur die Alternative zwischen Sozialismus und Tod.

In der Türkei hat der rechte Populismus seinen eigenen neoliberalen Touch. Laut Pınar Çakıroğlu verläuft die politische Trennlinie zwischen konservativ-re-ligiösen Gruppen mit Anti-Establishment-Einstellungen und den modernis-tischen, säkularen Reformern, die der herrschenden kulturliberalen Elite ange-hören. Aus diesem seit langem bestehenden Spannungsverhältnis entwickelte sich eine ideologische Synthese zwischen türkischem Nationalismus und islamistischer Rhetorik. Angesprochen fühlen sich insbesondere die unteren sozialen Klassen in wirtschaftlich abgehängten und ländlichen Regionen, die so den fruchtbaren Boden für den Aufstieg der Partei für Gerechtigkeit und Ent- wicklung (AKP) bilden. Neu an der „neuen Türkei“ der AKP, so Çakıroğlu, ist eine besondere Kombination aus rechtsgerichtetem Populismus und kulturellem Konservatismus mit einem wirtschaftlichen Liberalismus, die zusammenge-nommen das Land in ein politisch autoritäres Regime verwandelt haben.

Im Gegensatz zur Türkei gehört rechtsradikales Gedankengut in Dänemark normalerweise zur „Subkultur“ und nicht zum fest etablierten Diskurs. Im Laufe der letzten Jahre ist jedoch in der dänischen Politik rechtsradikale Rhetorik akzeptabel geworden, auch wenn sie sich pragmatisch und nicht ideologisch gibt. Am Beispiel der Dänischen Volkspartei (DF) erklärt Inger Johansen, wie sich dieser „Rechtsaußen-Pragmatismus“ auf seine gleich große Distanz zu Rechtsradikalismus und ökonomischem Neoliberalismus beruft. Ausfälle gegen Einwanderer und Muslime, gepaart mit EU-skeptischer Rhetorik, ermöglichen es der DF, so Johansen, sich als Partei des politischen Mainstreams zu präsentieren. Mit einer politischen Agenda, die konservativen Nationalismus und die Vertei-digung des dänischen Sozialstaats hervorhebt, hat die DF nicht nur enttäuschte Wähler von links wie rechts angezogen. Die breite Zustimmung ermöglichte es der Partei darüber hinaus, das gesamte politische Spektrum Dänemarks nach rechts zu verschieben.

Als Nächstes führt uns Asbjørn Wahl nach Norwegen, ein Land, das einem nicht unmittelbar in den Sinn kommt, wenn es um Rechtsradikale in der Re-gierung geht. Seine Diskussion des „Rechtspopulismus nordischen Stils“ widmet sich der Fortschrittspartei, die sich dank geschickten Manövrierens zwischen populistischer Rhetorik und neoliberalem Realismus in einer zweiten Re-gierungsamtszeit behaupten kann. Im Unterschied zu einigen anderen unserer

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Fallstudien propagiert die Regierungspartei laut Wahl keinen Rassismus im biologistischen Sinne. Stattdessen spricht die Fortschrittspartei von der Hete- rogenität der Kulturen und dem Recht der Völker, ihre Identität zu bewahren, wodurch Einwanderung zu einer allgemeinen Bedrohung wird – verantwortlich für alles, woran die norwegische Gesellschaft krankt. So entsteht eine „neue Konfliktachse“, die sich um Werte und Identität dreht anstatt um wirtschaftli-che Umverteilung und Fairness. Wahl fordert abschließend die Linke auf, die Auseinandersetzung zu suchen und den Konflikt wieder auf Klassensolidarität zu fokussieren.

Im abschließenden Beitrag von Sebastian Reinfeldt geht es um Österreich. Nach der Koalition zwischen der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zu Beginn der 2000er Jahre erfolgte 2017 erneut eine rechte Regierungsbildung. Nach dem scharfen Rechtsruck der ÖVP unter ihrem jungen Parteivorsitzenden Sebastian Kurz besteht die neue Regierung nunmehr aus zwei Parteien, die ihren Wahlerfolg einer rechts- populistischen Agenda verdanken. Davon besonders angezogen fühlt sich die klassische Mitte der österreichischen Gesellschaft – die (untere) Mittelschicht, bestehend aus mittleren Einkommensgruppen von Angestellten und Beamten. Die FPÖ ist also keine Partei der Unterklassen oder des „Proletariats“. Stattdessen nutzt sie die Ängste und Befürchtungen der von Abwärtsmobilität und Prekarisie- rung bedrohten gesellschaftlichen Gruppen. Wenn wir den Rechtspopulismus begreifen und bekämpfen wollen, dann ist Reinfeldts folgende Beobachtung höchst relevant: Während die radikale Rechte mit ihrer Rhetorik gegen Migran- ten, Eliten und Politiker breiten Anklang findet, so ist es die tiefliegende Unzu-friedenheit, verursacht durch die Krise des Kapitalismus, die die Menschen für solche Rhetorik überhaupt erst anfällig macht.

Wir hoffen, dass dieses Buch aufgrund seines ganz besonderen Schwerpunk-tes – die radikale Rechte in der Regierung – eine Bereicherung für die wissen-schaftliche Literatur über die radikale Rechte darstellt und darüber hinaus einen Beitrag für das gemeinsame Ringen um Demokratie leisten kann. Denn um ge-gen den herrschenden Trend erfolgreich anzugehen, müssen wir unbedingt be-greifen, weshalb die radikale Rechte in den letzten Jahren so weit vorangekom-men ist. An vielen Orten – einschließlich derer, um die es in diesem Buch geht – ist die Übernahme von Regierungsmacht, in Teilen oder in vollem Umfang, für sie ein erster Höhepunkt. Dies versetzt sie in die Lage, ihre gegen die Schwachen und Armen gerichtete Agenda in die Tat umzusetzen. Das Momentum dafür ist derzeit auf ihrer Seite.

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Eines jedenfalls ist völlig klar: Wenn wir die radikale Rechte schlagen wollen, müssen wir unsere Gegenstrategien überdenken. Und wir sollten uns nicht täu- schen lassen: Wir sind davon überzeugt, dass wir das Steuer herumreißen kön-nen, wenn wir zusammenkommen und uns zu einer breiten Front vereinigen. Aber wenn wir wirklich gewinnen wollen, dann muss die demokratische Linke zweierlei bekämpfen, den Neoliberalismus und die autoritären Angriffe auf die angeschlagene Demokratie. Vorwärts! ◼︎

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UNGARN

Victor Orbáns autoritäres Regime

KRISTÓF SZOMBATI

Als der Fidesz-Parteichef Viktor Orbán bei den ungarischen Wahlen im Jahr 2010 einen erdrutschartigen Sieg errungen hatte, stellte er klar, dass er sich an die Regeln der liberalen Demokratie nicht gebunden fühlte. Unter seiner Führung machte sich Fidesz daran, im Alleingang die Verfassung umzuschreiben, die eigenständige Kontrolle der Exekutivgewalt zu lockern und die Unabhängigkeit der Judikative zu untergraben. Orbán ging zudem von der neoliberalen zu einer intervenierenden Regierungsform über, die der nationalen Bourgeoisie ver- pflichtet ist. Zwar stießen diese Veränderungen bei Ungarns westeuropäischen Verbündeten und in der Finanzwelt auf Kritik, doch große Teile der Wählerschaft waren mit ihnen einverstanden, was Orbáns Stellung als Ministerpräsident weiter festigte. Aus den Wahlen im Frühjahr 2018 ging Fidesz dann abermals als Siegerin hervor.

Die linksliberale Regierung war 2002 aufgrund ihres Versprechens, einen „Regimewechsel zugunsten eines Wohlfahrtsstaates“ herbeizuführen, ins Amt gewählt worden. Aber da sie nicht in der Lage war, die hohen Kosten des Über-gangs zum Kapitalismus mit Lohn- und Rentenerhöhungen zu dämpfen, fiel sie 2010 auseinander. Das stark angestiegene öffentliche Defizit von über 9% des Bruttosozialprodukts und ein verlangsamtes Wachstum hätten enorme Umschichtungen im Haushalt erfordert. Diese waren jedoch auf die Zeit nach den Wahlen 2006 verschoben worden, um den Wahlsieg der Sozialistischen Partei sicherzustellen.

Nach den Parlamentswahlen sickerten in den Medien Auszüge einer Rede durch, die der damalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány vor

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Parlamentariern der Sozialistischen Partei gehalten hatte. Es stellte sich heraus, dass die Regierung Informationen über die wirtschaftliche Talfahrt des Landes zurückgehalten hatte. Demnach hatte die Sozialistische Partei die Öffentlichkeit „die gesamten letzten anderthalb bis zwei Jahre hindurch belogen“.

Die Rede des Premiers schlug ein wie eine Bombe. Es kam zu beispiellosen Straßenprotesten, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurden. Die Vorfälle erschütterten die Glaubwürdigkeit der Sozialistischen Partei schwer. Im selben Maße ebneten sie einem charismatischen Führer wie Orbán den Weg. Er fing die Proteststimmen der wirtschaftlich und politisch ausgegrenzten Wähler ein, indem er Stimmungsmache gegen die Etablierten betrieb.

Natürlich hätte auf den bodenlosen Popularitätsverlust, den die Regierung hinnehmen musste, eine „Erholungsphase folgen können, aber die Finanzkrise von 2008, die Ungarn besonders hart traf, machte so etwas praktisch unmöglich“, wie Zsolt Enyedi, ein führender ungarischer Politikwissenschaftler, feststellte. Im Oktober 2008 erhielt Ungarn als erstes europäisches Land vom Internationalen Währungsfonds (IWF) ein Garantiepaket von 25 Milliarden Dollar. Als Gegenleis-tung leitete die Regierung scharfe Austeritätsmaßnahmen ein, was sie noch un-beliebter machte und Ungarn auf eine wirtschaftliche Abwärtsspirale schickte. 2009 fiel das Bruttosozialprodukt um 6,8% bei einer öffentlichen Verschuldung von 80% des BSP. Im selben Jahr wurde Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány zum Rücktritt und zur Abgabe der Macht an eine Übergangsregierung gezwungen.

Die Wirtschaftskrise trug zwar maßgeblich zur Diskreditierung der Sozia- listen und ihrer linken Verbündeten bei. Trotzdem hatte sich in der Bevölke- rung die Stimmung „gegen die da oben“ nicht nur deshalb verbreitet, weil das linksliberale Regierungsbündnis sein Versprechen auf einen „Regimewechsel zugunsten eines Wohlfahrtsstaates“ gebrochen hatte. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Frustration der Globalisierungsverlierer, die vor allem auf dem Land infolge von Ungarns EU-Beitritt leer ausgingen. Sie sahen sich einem verschärften wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt. Gleichzeitig ging die kleinbäuerliche Produktion stark zurück. Als Sündenböcke mussten die Ange-hörigen der Roma-Minderheit herhalten, die viele für Günstlinge der freiheitlich demokratischen Regierungspolitik hielten.

Obwohl die Liberalisierung des Handels und die Emanzipation ethnischer Minderheiten institutionell voneinander getrennt waren, verband sie doch das Projekt „Europäisierung“ – das Kernstück linksliberaler Politik in postsozialis-tischen Staaten. Nun standen linksliberale Eliten im Ruf, jeglichen Bezug zu den Problemen der „hart arbeitenden Mehrheit“ verloren zu haben, während

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die Forderung nach einer Gesellschaft auf dem Prinzip von ehrlich verdientem Brot im Raum stehen blieb. Da außerdem linke Alternativen ausblieben, fühlten sich viele Ungarn gegenüber den „herumlungernden und diebischen Zigeunern“ benachteiligt und gleichzeitig von den „unpatriotischen Eliten“ im Stich gelas-sen. Diese Stimmungslage drückte sich in illiberalen, nationalistischen und rassistischen Redewendungen aus, die direkt der ungarischen Vergangenheit entnommen waren.

Vom Konservatismus zum nationalistischen PopulismusDie radikale nationalistische Jobbik-Bewegung für ein besseres Ungarn war die erste, die diese Stimmung aufgriff. Jobbik war 1999 gegründet worden, fand zunächst aber kaum Zuspruch. Erst im Jahr 2006 konnte die Bewegung in den wirtschaftlich heruntergekommenen, multiethnischen nordöstlichen Landesregionen Fuß fassen, als die Jobbik-Anführer sich des „Zigeunerthemas“ annahmen. Bald wurde die Bewegung im Nordosten Ungarns zu einem ernst zu nehmenden Machtfaktor. Wesentlichen Anteil hatten daran die unter viel Medienbeachtung durchgeführten Mobilisierungskampagnen ihrer paramili- tärischen Organisationen.

In der entscheidenden Phase von 2006 bis 2010 erarbeitete die Partei ihr von unverhülltem Rassimus sowie von blanker Ablehnung der liberalen Demokratie geprägtes Programm. Parteichef Gábor Vona erklärte, er sei kein Demokrat. Ei- nige mit Jobbik verbündete paramilitärische Organisationen traten offen für ein autoritäres Regime ein, das mit den Unwägbarkeiten einer Demokratie Schluss machen sollte. Die Parteiführung erklärte die Schaffung einer neue Elite zu ihrer Aufgabe. Obwohl die Jobbik-Chefs die Partei als die ureigenste Vertreterin ab-gehängter Wähler auf dem Land in Stellung brachten und gegen das korrupte Establishment wetterten, war das Parteiprogramm anfangs doch eher elitär denn populistisch. So stand die Partei den Belangen des Durchschnittswählers oft gleichgültig gegenüber.

Ebenso wie Jobbik war auch Fidesz, der Ungarische Bürgerbund, zunächst keine populistische Partei. Bei ihm handelte es sich bei seiner Gründung um eine antikommunistische Initiative von Liberalen. Zu seinem ideologischen Repertoire gehörte sogar eine ganze Menge Anti-Populismus. Das änderte sich in der Zwischenwahlzeit von 1994 bis 1998, als Parteichef Viktor Orbán Fidesz

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Schritt für Schritt in eine rechte Partei verwandelte. Schließlich sah sie aus wie ein Bollwerk gegen eine am Ausland orientierte Kompradorenelite.

Orbán vertrat eine ideologische Mischung aus Nationalismus und Popu-lismus. Seine Charakterisierung „der Eliten“ als gleichermaßen fremdartig wie abgehoben versetzte ihn in die Lage, von Ungarns Liberalen ein Bild zu zeichnen, das sie als wirtschaftlich isoliert und kulturell entwurzelt darstellte. Für Fidesz waren Linksliberale letztendlich wurzellose Kosmopoliten, „denen die Rechte und das Wohlergehen von Fremden wichtig, die alltäglichen Nöte ihrer nächst- verwandten Brüder und Schwestern aber gleichgültig waren“, so Orbán. Ihre elitäre, auf eine Welt ohne Grenzen abzielende Politik sei damit eine direkte Bedrohung „der ureigensten Verbundenheit mit Nation und Gemeinschaft“.

Trotz ihrer nationalpopulistischen Rhetorik hielt Fidesz an klassisch konser-vativen Werten fest und begrüßte das Vorhaben, in Ungarn eine Mittelstands-gesellschaft zu schaffen. Nach dem Wahlsieg von 1998 bekannten sich die Parteiführer offen zur „Verbürgerlichung“ und machten sich an die Umsetzung ihrer Vorstellung von der Transformation der Gesellschaft in ein „bürgerliches Ungarn“. Während Orbán seine nationalistische und populistische Rhetorik sehr geschickt einsetzte, konnten Teile der Arbeiter- und unteren Mittelschichten mit den Vorschlägen und der Ideologie von Fidesz nicht viel anfangen. Das ist der Grund, weshalb sich diese Wähler den Sozialisten zuwandten, die die Wahlen 2002 dann auch knapp gewannen.

Nach seiner Niederlage verstärkte Orbán die Aktivitäten von Fidesz, um ihre populistische Tauglichkeit unter Beweis zu stellen. Noch im Jahr 2002 initiierte er Bürgerzirkel. Dieses lose Netzwerk von lokalen Bürgerinitiativen sollte die enttäuschte Rechte von Grund auf wieder aufrichten und ihre fragmentierten und zerstrittenen Strömungen zusammenführen. Tatsächlich waren diese Bürgerzirkel ein entscheidender Grundstein für die rechte Hegemonie, denn sie boten den Ungarn neue emotionale und intellektuelle Interaktionsräume und -möglichkeiten. Man konnte sich nun als Mitglieder imaginierter Gemein-schaften – als Nation, als Christenheit oder als Europäer – begreifen. Der spätere Jobbik-Chef Gábor Vona war ursprünglich Mitglied eines Bürgerzirkels, verließ die Runde aber wieder, weil er der Meinung war, der Fidesz-Führer sei ein Zau-derer und Kompromissler, der deshalb der patriotischen Sache keinen guten Dienst erweisen werde. Trotzdem trugen die Zirkel dazu bei, dass bis dahin aneinander vorbei redende Akteure (etwa Priester, Akademiker, Journalisten und Politiker) aufeinander Bezug nahmen. Damit erleichterten die Zirkel den rech-ten Netzwerken die gesellschaftliche Verankerung.

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Als nächsten wichtigen Schritt ersetzte Orbán das Leitmotiv „bürgerlich“ (pol-gár) durch das des „Volkes“ (emberek). Mit einer Reihe von Kampagnen verhalf er Fidesz, sich als Sachwalterin der machtlosen Ungarn – die einer finsteren linksliberalen Elite, die sich das Land unter den Nagel reißen wolle, schutzlos ausgeliefert seien – Geltung zu verschaffen. Fidesz kam bei den Wählern sehr gut an. Jobbik wiederum fand mit seinem rechtsradikalen Wahlprogramm in den am meisten heruntergewirtschafteten Landesregionen großen Zuspruch und erzielte auf dieser Grundlage bei den Wahlen zum Europaparlament 2009 den Durchbruch. Das Land befand sich gerade im wirtschaftlichen Ab-schwung, während das Misstrauen gegen die linksliberale Regierung zunahm. Die wichtigste Initiative von Fidesz, das „Sozialreferendum“ von 2008, zielte auf die Abschaffung von Studiengebühren und der Eigenbeteiligung bei Kranken-hausaufenthalten ab. Es war ein durchschlagender Erfolg.

Orbán gelang mit dem Referendum die endgültige Auflösung des breiten Klassenbündnisses, das die Sozialisten an die Regierung gebracht hatte. Vor allem aber ließ es die enorme Anziehungskraft des rechten Lagers auf unzufrie-dene Wähler aus der Arbeiterklasse erahnen. Das linksliberale Bündnis musste dank der ungarischen Schuldenkrise und der Implosion der Gyurcsány-Re-gierung eine historische Niederlage hinnehmen, während Fidesz aus den Wahlen 2010 mit einer Stimmenmehrheit als Siegerin hervorging.

Orbáns Politik der RegierungsmachtNach seinem Sieg 2010 machte sich Orbán unverzüglich daran, sein offen verkündetes Ziel, über die kommenden 20 Jahre an der Macht zu bleiben, umzusetzen. Mit ihm an der Spitze schaffte Fidesz die Grundlage für ein politisches Mehrheitssystem, das ein gewisses Maß an Meinungsvielfalt au-frechterhält, während es gleichzeitig die politische Macht zentralisiert.

Für diese Art von Regierung hat Orbán den Begriff der „illiberalen De- mokratie“ eingeführt. Als Ausgangspunkt sollen demnach demokratische Prinzipien wie freie (wenn auch nicht rundum faire) Wahlen und die politischen Grundfreiheiten (etwa Meinungs-, Rede- und Versammlungsfreiheit) weiter Gültigkeit haben. In Wirklichkeit aber verlässt sich die Partei auf eine Mischung aus rechten Grundlinien und politischen Manövern, die zusammengenommen keine Wirklichkeit, sondern nur ein Bild herstellen: das eines kohärenten, zweck-orientierten und allmächtigen Staates. Es umfasst folgende Elemente:

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1. Ein wirtschaftspolitisches Rahmenwerk, das auf EU-Transferzahlungen be-ruht und damit die Vorhaben der „nationalen Bourgeosie“ finanziert. Letztere ist der Hauptnutznießer des Regimes und spielt in der Vetternwirtschaft, die die Machtstellung von Fidesz absichert, eine Schlüsselrolle.

2. Ein sozialpolitischer Rahmen, der sich an das Prinzip „Arbeit statt Sozialhilfe“ und „Kombilohn“ anlehnt. Belohnt wird dabei, wer einer Erwerbsarbeit nach-geht, und bestraft, wer als „Sozialhilfeschmarotzer“ gilt. Dadurch verfestigt sich das Bild von Fidesz als Partei der „hart arbeitenden Mehrheit“.

3. Ein medienpolitischer Rahmen, in dem staatliche wie auch private Medien in der öffentlichen Sphäre Regierungspropaganda verbreiten, während kritische Stimmen und eine rationale politische Debatte abgewürgt werden.

4. Experimente mit der Beteiligung von Unternehmen an staatlichen Schlüs-selsektoren, etwa dem staatlichen Bildungssystem, die in den letzten sieben Jahren unterfinanziert wurden, um die Quelle für abweichende Meinungen auszutrocknen.

5. Unnachlässige Bemühungen, Kritiker durch Einschüchterung, Verunglimp-fung und Finanzierung von vermeintlich unabhängigen, in Wirklichkeit aber regierungstreuen NGOs zu zermürben und zu diskreditieren.

6. Informelle Einschüchterung von Bürgern, die direkt oder indirekt für kom-munale und staatliche Behörden arbeiten, zum Beispiel durch die Drohung, ihnen im Fall kritischer Äußerungen oder der Teilnahme an Oppositionsak-tivitäten den Zugang zu staatlich kontrollierten Ressourcen zu verwehren.

Diese Elemente halten das klassenübergreifende Bündnis, das dem recht-en Block an die Macht verholfen hat, aufrecht. Der ungarische Staat verfügt nicht über die notwendigen Gelder, um gleichzeitig die Herausbildung der Mittelschicht zu fördern und die weit verbreitete Armut zu bekämpfen. Da Fidesz genau weiß, dass die ausschließliche Orientierung auf die Bildung einer Mittelschicht weitreichende soziale Unzufriedenheit auslösen würde, ist ihre Herrschaftstechnik mehrspurig. Sie hält demokratische Prinzipien formal auf- recht und nimmt von offen autoritären Maßnahmen Abstand. Die Last der Klassenherrschaft bürdet sie den sozial Schwächsten auf. Die Begünstigung der Bourgeoisie maskiert sie mit nationalistisch-populistischer Propaganda, wobei

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sie die Nöte der Nation den vom Ausland unterstützten Eliten ankreidet. Und schließlich nimmt sie ganz gezielt Elemente des „gesunden Volksempfindens“ in ihre Politik mit auf.

Angesichts der Verallgemeinerung des Klassenkonflikts in einer wirtschaft-lichen und sozialen Krisenphase stellt das Parteiprogramm von Fidesz eine fun-damentale Veränderung des Modus von Regierungsgewalt hin zum autoritären Etatismus dar. Der rechte Block an der Macht ist damit auf der Skala möglicher Regierungsmodi eher bei der Ausübung von Zwang als beim Konsens angesie-delt. Er versucht, die Hegemonie auf die Semi-Peripherie zu gründen, während er die etablierten Formen demokratischer Klassenherrschaft unangetastet lässt. Dennoch stellt der autoritäre Etatismus nur eine Übergangslösung dar. Er sorgt für die Integration Ungarns in die globalen (teilweise von Deutschland kontrol-lierten) Produktionsketten, indem er Illusionen von der angeblich unausweich-lichen Entwicklung der Semi-Peripherie schürt. Jedoch geht er dabei anders vor, als seine linkslinksliberalen Vorgänger sich das vorgestellt hatten. Diese hatten betont, eine vergangenheitsfixierte Gesellschaft müsse ihre rückständige kul-turelle Last loswerden und westliche Werte annehmen, um sich so zu befreien. Der rechte Block verfolgt stattdessen Ersatzstrategien, mit deren Hilfe die Unter-ordnung der Semi-Peripherie unter das Zentrum vernebelt und die Überlegen-heit von Ungarns „auf Arbeit beruhendem Sozialmodell“ betont werden. Die Begleiterscheinungen und Folgen dieser eher grobschlächtigen Art der Klassen-herrschaft bleiben intakt: schwaches Wachstum, schwere soziale Verwerfungen, eine von Pessimismus, Ärger und Ressentiment beherrschte gesellschaftliche Stimmung und großes Misstrauen gegenüber Eliten.

Die Macht der regierenden Fidesz weist entsprechend drei entscheidende Schwachpunkte auf. Da ist zum einen ihre Abhängigkeit von Geldtransfers aus reicheren EU-Mitgliedsstaaten. Westeuropa ist immer weniger geneigt, seine Peripherie im Osten zu finanzieren, während es in zunehmendem Maß auf ein Europa „der zwei Geschwindigkeiten“ orientiert ist. Fraglich ist deshalb, ob sich Ungarn (zusammen mit anderen Ländern wie etwa Polen, die sich dem deutsch-französischen Joch nicht unterwerfen wollen) genug ins Gewicht legen kann, um die für ein Land mit „minderer Geschwindigkeit“ relativ hohen Trans-ferzahlungen so aufrechtzuerhalten. Zwar könnten niedrigere EU-Überweisun-gen mit Geldern aus Russland oder China ausgeglichen werden, doch würde dies nur neue Abhängigkeiten schaffen – und wäre wahrscheinlich auch riskanter. Ungarn hat darüber hinaus ein starkes Interesse an der Aufrechterhaltung des EU-Marktes, der seine überschüssigen Arbeitskräfte aufnehmen könnte.

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Ein Ausstieg Ungarns aus der EU im Jahr 2020 und danach, über den einige Kommentatoren spekulieren, ist der zweite Schwachpunkt. Denn er birgt die Gefahr weitreichende sozialer Unruhen in sich – ein Szenario, das das Regime um jeden Preis ausschließen will. Das langfristige Problem mit dem „auf Arbeit beruhenden sozialen Modell“, das westeuropäischem Kapital kostengünstige Produktionsstandorte zur Verfügung stellt, besteht angesichts zu niedriger Steueraufkommen darin, dass es die Opfer der Automatisierung in der Produk-tion nicht angemessen auffangen kann. Zwar ist die Automatisierung in den meisten Staaten Europas ein Problem, aber dort, wo die Industrieproduktion ein wirtschaftlicher Hauptpfeiler bleiben wird – wie in Ungarn und in den anderen Visegrád-Ländern – tritt es mit besonderer Schärfe auf.

Die dritte Problemzone des Regimes ist sein Anführer selbst. Denn bei Fidesz verfügt niemand über so viel Charisma, Glaubwürdigkeit und Statur wie Orbán. Wenn er in Frührente ginge, wäre nicht nur die Einheit seiner Partei, sondern das gesamte Regime gefährdet. Angesichts von Orbáns Vitalität, Beherrschtheit und nicht zuletzt jungem Alter ist davon aber zunächst nicht auszugehen.

Der Zustand der politischen Opposition Fidesz sorgte für ein Wahlsystem, das die jeweils stärkste Partei oder das stärk-ste Wahlbündnis belohnt. Folglich konnte die Partei die parlamentarische Mehr-heit dank der zwei bis zweieinhalb Millionen loyalen Wähler – also etwa einem Drittel der Wählerschaft – aufrecht erhalten. Möglich wurde dies durch die Frontenbildung innerhalb der Opposition. Jobbik kommt auf ungefähr eine Mil-lion Stimmen, und alle anderen Parteien erhalten zusammengenommen (in der Rangfolge der für sie abgegebenen Stimmen: Sozialistische Partei, die Grünen LMP, das sozialdemokratische Demokratische Bündnis von Ferenc Gyurcsány und die liberalen Parteien Zusammen und Momentum) etwas weniger als eineinhalb Millionen Stimmen. Das politische Programm der Rechtsradikalen ist grundsätzlich anders als das aller Mitte-Links-Parteien. Gleichzeitig dient die antifaschistische, linksliberale Ideologie weiterhin – wenn auch mit abneh-mender Wirkung – als Bollwerk gegen die Abwanderung ihrer Wähler nach Rechtsaußen.

Diese Frontstellung macht es Fidesz leicht, denn sie kann sich in der überwäl-tigenden Mehrheit der Wahlbezirke durchsetzen. Diese werden aufgrund des Mehrheitswahlrechts verteilt und machen die Hälfte aller Parlamentsmandate

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aus. Für die restlichen Mandate gilt im Großen und Ganzen das Verhältniswahl-recht. Das bedeutet, dass die herrschende Partei gegenüber ihren Rivalen immer dann im Vorteil bleibt, wenn sie erstens die stärkste Kraft bleibt, zweitens die beiden Oppositionsblöcke in etwa gleich groß bleiben und drittens die Oppo-sitionswähler nicht taktisch wählen. Während erstere Fälle bis auf Weiteres un-angefochtene Regel sind, gab es im letzterem Fall durchaus Wählerwanderun-gen, bei denen in einzelnen Distrikten aus taktischen Gründen der stärkste Oppositionskandidat gewählt wurde. Das waren fast immer Wanderungen von Jobbik nach Mitte-links oder umgekehrt. Hinweise für eine signifikante Wähler-wanderung zwischen den beiden Hauptblöcken Regierung und Opposition gibt es auf absehbare Zeit nicht.

Zusätzlich zu den Unterstützern der drei Wahlblöcke Fidesz, Jobbik und Mitte-links gibt es rund drei Millionen Nicht-Wähler, die etwas unter 40% der Wahlberechtigten ausmachen. Sie werden mit größter Wahrscheinlichkeit auch an den nächsten Wahlen nicht teilnehmen. Für einige von ihnen ist Politik nichts weiter als ein schmutziges Spiel, das sie anderen überlassen. Andere glauben nicht mehr an eine bessere Zukunft. Für sie gibt es zwischen den Parteien kaum Unterschiede. Viele verfügen schlichtweg nicht über die Zeit und die Mittel, den Politikbetrieb zu entschlüsseln – und bleiben dem Spiel deshalb fern.

Aus dieser Sichtweise stellt sich der gesamten ungarischen Opposition das scheinbar unlösbare Problem der Wählerapathie. Dafür gibt es tatsächlich viele Gründe. Einer davon ist der Mangel an Glaubwürdigkeit, unter dem sowohl Job-bik wie auch die „alte Garde“ der Sozialistischen Partei und des Demokratischen Bündnisses leiden. Der „neuen Garde“ – LMP, Zusammen und Momentum – fehlen dagegen die Mittel. Ein weiterer Grund ist, dass so ziemlich alle Medi-en unter der Kontrolle von Fidesz stehen. Und schließlich wird das politische Geschehen von einem Großteil der Bevölkerung negativ wahrgenommen – als Parteiengezänk und Zwietracht.

An dieser Stelle ist auf Jobbik hinzuweisen. Im herrschenden Klima des Rechtspopulismus ist die rechtsradikale Partei die einzige Oppositionskraft, die außerhalb der Hauptstadt über eine breite Basis verfügt, und deshalb am Ehesten in der Lageist, Fidesz auf mittlere Sicht den Rang abzulaufen und die Macht zu übernehmen. Nach dem Einzug ins Parlament im Jahr 2010 säuberten die Führer Jobbik, indem sie besonders rassistische und extreme Abgeordnete ausschlossen und ihr ein neues Image verpassten – das einer ultranationalis-tischen Volkspartei. Mithilfe dieser Strategie gelang es Jobbik zwar, über die nordöstlichen Bastionen hinaus im gesamten Land Fuß zu fassen, doch dem

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weiteren Zuwachs der Partei stehen zwei Hürden im Weg. Zum einen sind der-zeitige und ehemalige Linkswähler von der angeblichen Entradikalisierung der Partei nicht so recht überzeugt. Zweitens wird Jobbik ständig von rechts her von Fidesz überholt, seit diese an der Macht ist. Die regierende Partei hat die klare Diskurshoheit über die klassischen Themen, die die europäischen Rechts-radikalen aufwerfen: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Euro-Skepsis. Zusammengenommen stellen diese Faktoren eine zu große Hürde dar, als dass Jobbik für Fidesz bei den Wahlen 2018 zu einer ernsthaften Konkurrenz werden könnte.

Blaupause für die Regierung einer geschröpften Semi-Peripherie Ungarn ist im gegenwärtigen politischen Klima in vielerlei Hinsicht das Pa-radebeispiel für die autoritäre, national-populistische Richtung, die Gegner des „undemokratischen Liberalismus“ derzeit in Europa einschlagen. Das Europäi- sierungsprojekt, das neben anderen auch die meisten sozialdemokratischen Parteien nachdrücklich unterstützen, ist Teil eines „progressiven Neoliberalis-mus“, der viele zu Verlierern macht und bedroht. Diese Bevölkerungssegmente tendieren dann zu Bewegungen, die eine Rückkkehr zur überschaubaren na-tionalen Solidargemeinschaft versprechen. Sie suchen Schutz vor Vorhaben, die als elitär wahrgenommen werden, etwa die rechtlich bindende Umvertei-lung von Flüchtlingen innerhalb der EU. Die herrschenden Eliten berufen sich dabei auf die Grundsätze der Solidarität und der gerechten Aufteilung von Verantwortlichkeiten.

Solcherlei Rhetorik wirkt auf die Massen, die von den Transferzahlungen der EU oder der Öffnung der Grenzen nichts haben, wenig überzeugend. Während sie den Mühen der „Anderen“ oft nur Gleichgültigkeit entgegenbringen, fürchten diese Menschen nichts mehr als eine offene Gesellschaft. Aufgrund ihrer Nega- tiverfahrungen mit der Europäisierung verlangen sie die Wiederherstellung von Ordnung und „natürlichen“ Hierarchien. Dies erklärt ihre Unterstützung autoritärer Experimente und ihr Versäumnis, demokratische Institutionen zu verteidigen, die sie als abstrakt und wirkungslos empfinden.

Diese Dynamik hat den gesamten Kontinent erfasst. Ganz besonders in Ost- europa wenden Regierungen Taktiken an, für die Fidesz in ihren sieben Jahren an der Macht der Wegbereiter war. Dabei sticht der Chef der Partei Recht und

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Gerechtigkeit (PiS) Jarosław Kaczyński aus Polen hervor. Die PiS-Regierung ist seit 2015 an der Macht und hat die Fidesz-Rhetorik – gegen Brüssel, gegen Flüchtlinge und gegen alles Linksliberale – übernommen. Gleichzeitig schränkt sie die Machtbefugnisse der Judikative und die Spielräume der Zivilgesellschaft sowie der politischen Opposition ein.

Gemeinsam haben die Regierungen Polens und Ungarns die Macht, sich vor der Kritik der EU-Kommission abzuschirmen und die Verhängung von Bußgeldern und Strafen gegen sie zu verhindern. So ist es kein Wunder, dass zunehmend auch Parteien und Politiker in Rumänien, in der Slowakei, der Tsche- chischen Republik und Kroatien ähnliche Taktiken wie Orbán anwenden. So-lange an der Semi-Peripherie die sozioökonomische Transformation und Mo- dernisierungsprozesse ausbleiben, werden autoritärer Populismus und Etatis-mus ihre Anziehungskraft weiter entfalten können. ◼︎

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Nationalismus und Neofaschismus unter Jarosław Kaczyński

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Wie so viele andere rechte Parteien in Europa behauptet die derzeit in Polen regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość/PiS) von sich, keine rechtsradikale Weltanschauung zu vertreten. So war die PiS im Jahr 2004 im Gegensatz zur nationalkonservativen Liga Polnischer Familien (Liga Polskich Rodzin/LPR) für den Beitritt Polens zur Europäischen Union. Sie führte damals sogar eine Kampagne an, die Wähler zur Zustimmung bei dem entsprechenden EU-Referendum aufrief. In der Frühphase der Partei verzichteten PiS-Politiker auf eine ideologiebeladene Rhetorik, versprachen stattdessen, die Korruption zu bekämpfen, und traten als Verteidiger der Rechtstaatlichkeit sowie des ärmeren Teils von Polen auf. 2005 gewann Lech Kaczyński mit dem gegen die Liberalen gerichteten Slogan „Für ein solidarisches Polen“ die Präsidentschafts-wahl. Von diesem Zeitpunkt an lässt sich beobachten, wie die PiS nach und nach, aber stetig die Sprache und die politische Praxis der extremen Rechten übernahm.

Die Entwicklung der Rechtsradikalen in Polen muss vor dem Hintergrund des starken Antikommunismus gesehen werden, der seit 1989 die politische Stim-mung im Lande prägt. Zu Beginn der Wende organisierten sich Gruppierungen, die in der Volksrepublik Polen verboten waren, neu. Viele beziehen sich mit ihren Namen, ihrer Symbolik und ihrer politischen Praxis positiv auf nationalistische und faschistische Strömungen von vor 1939. So verstehen sich beispielsweise

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die Allpolnische Jugend (Młodzież Wszechpolska) oder das Nationalradikale Lager (Obóz Narodowo-Radykalny) als Erben der Vorkriegsnationalisten, die sich durch antisemitische Tendenzen und eine feindselige Haltung gegenüber linken Organisationen wie der Polnischen Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei Polens, dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund und den klassen- orientierten Gewerkschaften auszeichneten. Viele rechtsradikale Bewegungen erweiterten in den 1990er Jahren im Zuge der Demokratisierung der polnischen Gesellschaft ihr ideologisches Repertoire, indem sie sich gegen die Rechte von Minderheiten – insbesondere von Angehörigen der LGBTQ-Community – und gegen die „Verwestlichung“ positionierten. Hierzu gehörte auch, den am 1. Mai 2004 erfolgten EU-Beitritt abzulehnen.

Obwohl im polnischen Parlament schon immer rechtsradikale Parteien vertreten waren, taten sich diese in der Regel nicht durch antieuropäische Haltungen hervor. Sie forderten vielleicht ein Abtreibungsverbot oder wollten den Katholizismus in der Verfassung verankern. Aber da es zur schnellen „An-näherung an den Westen“ keine Alternative zu geben schien, wagten selbst die konservativsten Nationalisten nicht, sich offen gegen Europa oder gegen die NATO zu stellen. Sie wussten nur allzu gut, dass sie sich damit ihre politischen Zukunftsaussichten verbauen würden.

Die „nicht extreme Rechte“Entsprechend wirkte der erstmalige Einzug der Liga Polnischer Familien in den Sejm, das Unterhaus des polnischen Parlaments, im Jahr 2001 mit 7,9% der Stimmen wie ein öffentlicher Schock. Nur drei Jahre später erzielte die Partei bei der Europawahl spektakuläre 15,9% und damit zehn von den 54 Sitzen, die Polen im Europäischen Parlament zustehen. Im Jahr 2005 trat die LPR dann in eine von der PiS angeführte Koalitionsregierung ein, konnte davon aber nicht profitieren. Vielmehr verlor sie einen Großteil ihrer Wählerschaft an die PiS mit Jarosław Kaczyński an ihrer Spitze und errang bei den Wahlen 2007 keinen einzigen Par-lamentssitz mehr.

In ihren sechs Jahren im Parlament tat sich die LPR vor allem damit her-vor, dass sie mit offen nationalistischen, fremden- und europafeindlichen Äußerungen das Klima vergiftete. Sie brachte ihren Widerwillen gegen li- berale Lebensentwürfe zum Ausdruck und prahlte mit ihrer besonderen Nähe zur katholischen Kirche. Im Unterschied zu den anderen großen Parteien im

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rechten Lager (einschließlich der PiS), die sich trotz ihres Konservatismus und Nationalismus nicht als Teil der radikalen Rechten in Polen verstehen, sondern lediglich als rechts, ist die LPR im engeren Sinne als rechtsradikale zu bezeichnen.

Und doch waren die politischen Auseinandersetzungen während der Regierungszeiten der PiS (von 2005 bis 2007 und erneut ab 2015) von „Kraft-meierei“ bestimmt. Beispiele für deren illiberales Demokratieverständnis sind spektakuläre Verhaftungen von in Korruptionsskandale verwickelten Politikern, Abstimmungen im Sejm in Abwesenheit der Opposition (was eindeutig gegen die Parlamentsregeln verstößt), die Verhängung von Bußgeldern gegen Politiker anderer Parteien wegen der Überschreitung der Redezeit bei Plenarsitzungen sowie die Nichtanerkennung von Urteilen des Verfassungsgerichts.

Dieses Abrücken von Prinzipien der liberalen Demokratie geht mit einer spezifischen nationalistischen Vorstellung vom demokratischen Rechts- staat einher. Auf den Vorwurf internationaler Organisationen wie der Eu- ropäischen Union und dem Europarat, Polen verabschiede sich gerade von rechtsstaatlichen Grundsätzen, entgegnen PiS-Politiker, die Entwicklungen entsprächen dem Willen der Nation – was für sie als Begründung für solcherlei „Reformen“ herhält. Darüber hinaus wurden die von der internationalen Ge-meinschaft geäußerten Bedenken hinsichtlich des Zustands der Demokratie in Polen unter der Regierung von Beata Szydło als eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten zurückgewiesen.

Die Allianz zwischen Nationalismus und NeofaschismusDie Politik der PiS-Regierung gegenüber Geflüchteten ist extrem restriktiv. Po-len lehnt genauso wie andere Länder der Visegrád-Gruppe – die Tschechische Republik, Ungarn und die Slowakei – die von der EU festgelegten Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika und dem Mittleren Osten ab. Die Begründung lautet: Migration gefährde die Sicherheit des Landes und der polnischen Bevölkerung. Jarosław Kaczyński sprach 2015 in diesem Zusam- menhang von „Anzeichen für die Wiederkehr von höchst bedrohlichen, in Europa längst überwundenen Krankheiten: Cholera auf den griechi- schen Inseln, die Ruhr in Wien.“ Er fügte hinzu, es gebe Hinweise auf noch schlimmere Seuchen.

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Wer Menschen, die nach Europa fliehen oder migrieren, mit der Pest ver- gleicht, der bedient eindeutig fremdenfeindliche und rassistische Vorurteile. Bei anderer Gelegenheit ereiferte sich Kaczyński in einer Rede vor dem Parlament über den Einfluss von Muslimen in Europa. Diese hätten in einigen europäischen Ländern bereits ihre eigenen demokratiefeindlichen Ordnungen durchgesetzt. Als Beispiel nannte er Schweden. Hier, so behauptete er, existierten 54 Gebiete, in denen die Scharia gelte und die schwedische Regierung überhaupt nichts mehr zu sagen habe. Er behauptete außerdem, in Schweden trauten sich Schülerinnen nicht länger kurze Röcke zu tragen, weil sie sich vor Angriffen von muslimischen Männern fürchten müssten, und dass überall in Italien christliche Kirchen von Muslimen in Besitz genommen würden.

Diese Art von Rhetorik, bei der alle „Anderen“ als eine existenzielle Bedro- hung Polens und der polnischen Identität erscheinen, zeigt, wie sehr Islamopho-bie und Fremdenfeindlichkeit zu wesentlichen ideologischen Elementen des politischen Programms von Polens Regierungspartei geworden sind. Auffällig ist, wie stark die ideologischen Ansichten der PiS denen von ultranationalis-tischen und neofaschistischen Bewegungen wie dem Nationalradikalen Lager (Obóz Narodowo-Radykalny), der Nationalen Wiedergeburt Polens (Narodowe Odrodzenie Polski), der Nationalen Bewegung (Ruch Narodowy) oder der Allpol- nischen Jugend (Młodzież Wszechpolska) gleichen. Diese Gruppen organisier- ten am 11. November 2017 den jährlich stattfindenden „Marsch der Unabhän-gigkeit“ in Warschau. Einer der zentralen Slogans dieser Demonstration lautete „Polen ist das Bollwerk Europas!“, womit zur Verteidigung der Identität Polens als „katholischer Nation“ aufgerufen wurde. Auf der Demonstration wurden aber auch noch radikalere Positionen wie die von Jarosław Kaczyński laut. Nationa- listen skandierten: „Ganz Polen stimmt mit uns ein: Flüchtlinge, verpisst Euch!“, „Kein rotes, kein Regenbogen-, sondern ein nationales Polen“, „Für eine Nation über Grenzen hinweg“, „Für Blutreinheit“ und „Europa bleibt weiß“.

Zwar ließe sich darüber sinnieren, ob diese neofaschistischen Parolen direkt auf das politische Narrativ von Jarosław Kaczyński zurückgreifen, also inwieweit die Rhetorik der PiS die extremen Rechten nicht nur inspiriert, sondern ihnen auch noch eine Garantie dafür liefert, strafrechtlich nicht verfolgt zu werden. Doch noch besorgniserregender ist, dass der Ton der nationalistischen Bewe-gungen von Jahr zu Jahr aggressiver wird. Zu Beginn dieses Jahres erklärte ein Sprecher der Allpolnischen Jugend – die den Unabhängigkeitsmarsch von 2017, an dem 60 000 Menschen teilgenommen hatten, mitorganisiert hatte – öffent- lich: „Ethnische Herkunft ist für uns von großer Bedeutung, aber wir sind keine

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Rassisten […]. Wir treten für eine Separierung der Rassen ein […]. Verschiedene Ethnien sollten sich nicht miteinander vermischen […]. Wir betrachten die Na-tion als eine Einheit [und] halten drei Faktoren für besonders wichtig: den kul-turellen und religiösen Faktor, den politischen Faktor und den ethnischen Faktor. Wir denken auch, dass es eine Identifikation von beiden Seiten geben muss. Das heißt, ein Mensch mit schwarzer Hautfarbe kann niemals ein Pole sein“. Diese zunehmende Radikalisierung von Sprache und Praxis in einem EU-Mitglied-sland kann nicht losgelöst von der allgemeinen politischen Situation in Polen verstanden werden.

Die polnische Wirtschaft und die PiSDie übergeordnete Rolle, die der nationalen Identität in Polen eingeräumt wird, die Abwendung von Prinzipien der liberalen Demokratie sowie die politischen Erfolge der nationalistisch-katholischen Rechten in Polen hängen eng mit den wirtschaftlichen Entwicklungen im Land zusammen. Tatsächlich haben die ne- gativen Auswirkungen der Transformation des polnischen Systems – also die von der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska/PO) zusammen mit der Bauern-partei (Polskie Stronnictwo Ludowe/PSL) umgesetzte neoliberale Wirtschafts-politik sowie die unkontrollierte Globalisierung – tiefe Spuren in der polnischen Gesellschaft hinterlassen. So haben sie etwa das Wahlverhalten maßgeblich beeinflusst und sorgten 2015 für den Sieg der PiS in den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen.

Wahlanalysen zufolge schnitt die PiS in den ärmeren Regionen Polens, auch Polen B genannt, überdurchschnittlich gut ab. Die ländlichen Gegenden genau-so wie die kleinen und mittelgroßen Städte im Osten und Süden des Landes sind inzwischen verlässliche Hochburgen der rechten Parteien. Diese Orte und Landesteile sind identisch mit denen, die in der wirtschaftlichen Transforma-tionsphase nach 1989 den höchsten Tribut entrichten mussten. Zunächst stim-mten die Menschen dort mehrheitlich für die postkommunistische Linke. Nach dem Niedergang der Schwerindustrie und der kollektiven Landwirtschaft wan-derten die Menschen allerdings immer mehr zur populistischen Rechten unter Führung der PiS ab.

Ein weiteres Element, das zum politischen Erfolg der PiS beitrug, waren die negativen Folgen, die die neoliberale Politik der von Donald Tusk und Ewa Kopacz angeführten Regierungen hatten. Der wirtschaftspolitische Ansatz der

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früheren Mitte-links-Regierung, der für erhebliche Teile der polnischen Be- völkerung in sozialer Hinsicht katastrophal war, beinhaltete die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters für Männer und Frauen auf 67 Jahre, eine weitere Ökono- misierung des Gesundheitswesens und des Hochschulsystems, eine chronische Unterfinanzierung sozialer Programme, eine empörend niedrige staatliche Un-terstützung von Menschen mit Behinderungen und ihren Betreuungspersonen sowie eine Fokussierung auf die Entwicklung der Großstädte, die mit einer Ver-nachlässigung der kleineren und mittleren Kommunen verbunden war.

Die wirtschaftlichen Entwicklungen während der achtjährigen Regierungs- zeit der marktorientierten, liberalen Bürgerplattform bilden den Hintergrund für die große Popularität der politischen Botschaft der PiS. Sie versprach, ins- besondere die ländlichen Regionen und unteren Klassen zu stärken, unter anderem durch eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung der abgehängten Landesteile. Unmittelbar nach ihrer Machtübernahme löste die PiS zentrale Wahlkampfversprechen ein, darunter die Absenkung des Rentenalters, die Schließung von Schlupflöchern im Steuersystem, die stärkere Regulierung von ausländischem und polnischem Kapital sowie die Einführung von neuen sozialstaatlichen Leistungen für Familien mit zwei oder mehr Kindern. Dass sich die Partei verpflichtet hat, das neoliberale Paradigma, das Polen seit 1989 beherrscht, hinter sich zu lassen, ist zweifelsohne der Hauptgrund für die anhaltend hohen Zustimmungswerte in der polnischen Bevölkerung für die PiS-Mehrheitsregierung.

Budapest in Warschau„Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin überzeugt davon: Der Tag unseres Erfolges, der Tag, an dem wir Budapest in Warschau erleben werden, wird nicht mehr lange auf sich warten lassen“. 2011, ein Jahr nach der Machtübernahme von Viktor Orbán in Ungarn, richtete sich Jarosław Kaczyński, seit 2003 Vorsitzender der PiS, mit diesen Worten an die Anhänger seiner Partei. Die PiS hatte damals gerade die Parlamentswahlen verloren.

Vier Jahre später klang diese Aussage fast prophetisch. Die Rechten in Polen nutzten die Erfahrungen in Ungarn als Orientierung für ihr eigenes politisches Vorgehen und begannen damit, die „Reformen“ von Orbán fast eins zu eins nach- zuahmen. Das, zusammen mit regelmäßigen Treffen zwischen Politikern aus Ungarn und Polen, verweist auf die Existenz einer gemeinsamen internationalen

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Strategie der Rechten sowohl in Bezug auf innenpolitische als auch auf außen-politische Fragen. Victor Orbán und Jarosław Kaczyński sind die Speerspitze einer Oppositionsbewegung gegen die Flüchtlingspolitik der EU. Sie können sich auf die Unterstützung der Regierungen anderer Visegrád-Staaten verlassen, die immer dann geschlossen zusammenstehen, wenn es darum geht, die Quoten-vorgaben für die Aufnahme von Geflüchteten zu unterlaufen.

Viele Parteien in Polen vertreten heute Positionen, die denen der rechts- populistischen Fidesz-Partei sehr ähnlich sind. Dazu gehören die Ablehnung der liberalen Demokratie, Skepsis gegenüber dem politischen und ökono-mischen Establishment und der Glaube an die eigene Unfehlbarkeit. In beiden Ländern versuchen diese liberalismuskritischen Bewegungen, grundlegen- de demokratische Errungenschaften wie die Unabhängigkeit des Justizsys-tems, die Pressefreiheit und die Gewaltenteilung aufzuheben bzw. zurück- zudrängen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass in beiden Län-dern fast alle wichtigen Staatsämter inzwischen mit parteiloyalen Personen besetzt sind.

Bemerkenswert ist: Während in Ungarn das Verfassungsgericht erst ent-machtet wurde, nachdem die Fidesz-Partei die konstitutionelle Mehrheit er-langt hatte, hält sich die PiS in Polen bei ihrem Versuch, das Justizsystem umzu-bauen, erst gar nicht an die bestehenden Gesetzesgrundlagen. Dabei ist es ihr – ohne die für Verfassungsänderungen notwendige Mehrheit im Parlament zu verfügen – bereits jetzt gelungen, die Arbeit des polnischen Verfassungsge- richtshofs zu blockieren, indem sie ganz offen dessen Urteile missachtet. Damit hat Polens Regierungspartei eine Situation des „legalen Dualismus“ geschaffen. Vom Parlament gewählte Richter haben inzwischen den Vorsitz der Institution übernommen. Es ist wahrscheinlich, dass Nachfolgeregierungen die von der PiS durchgesetzten Justizreformen irgendwann als verfassungswidrig erklären und rückgängig machen werden.

Die besondere Freundschaft zwischen den polnischen und ungarischen Reaktionären kommt in einer weiteren Gemeinsamkeit zum Ausdruck. Diese be-trifft die Medienpolitik: Jarosław Kaczyński und Victor Orbán haben das öffent- liche Rundfunksystem und die Presseagenturen in ihren jeweiligen Ländern in Propagandamaschinen der Regierung verwandelt, deren Hauptaufgabe darin gesehen wird, die Sichtweisen und Botschaften ihrer Parteien zu verbreiten und deren Akzeptanz zu erhöhen. Der ungarische und der polnische staatliche Informationsdienst greifen oftmals dieselben Themen auf und neigen dabei zu ähnlichen Zuspitzungen und Übertreibungen. So wurde beispielsweise am

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27. und am 29. Oktober 2017 in beiden Ländern fast identisches Material zu einem angeblichen „Netzwerk von George Soros“ veröffentlicht, dem unter- stellt wird, die Europäische Union mit größeren Summen zu finanzieren. Beide Male hieß es in den Berichten, der US-amerikanische Milliardär und Philanthrop mit jüdisch-ungarischen Wurzeln nutze sein Geld, um damit die Entscheidungen der EU-Gremien zu beeinflussen und das Konzept der „offe- nen Gesellschaft“ zu propagieren. Es wird so getan, als würde sich Soros gegen die souveränen Regierungen von Polen und Ungarn stellen, denen nichts an-deres übrig bleibe, als sich gegen die bedingungslose „Diktatur Brüssels“ zur Wehr zu setzen.

Ungarn diente der polnischen Rechten in einer weiteren wichtigen Hinsicht als Vorbild. Die Orbán-Regierung hatte in kürzester Zeit fast alle Positionen in den öffentlichen Verwaltungen mit Parteianhängern besetzt – eine Praxis, die auch in Polen nicht ganz neu ist. So hatten die Vorgänger der PiS, die Bürgerplatt- form und die Bauernpartei, ebenfalls ihre Macht genutzt, um die eigenen Leute unterzubringen. Allerdings geht die gegenwärtige Regierung entschlossener vor, weil sie eine wesentlich ideologischere Agenda verfolgt. Die PiS macht sich Mi- nisterien und Regierungsaufgaben – wie die Aufsicht über die Steuerbehörden oder die Besetzung von diplomatischen Ämtern – zunutze, um Staatsparteikader aufzubauen. Diese Bürokraten sind nicht nur aus ideologischen Gründen loyal, sondern auch aus pragmatischen Erwägungen: Da sie immer um den Verlust ihrer Posten und Stellen bei den nächsten Wahlen bangen müssen, erweisen sie sich als besonders engagierte Unterstützer der Partei.

Dass die Regierungen von Donald Tusk und Ewa Kopacz in ihren Bemühun-gen, Netzwerke von loyalen Parteifunktionären zu knüpfen, weniger erfolgreich waren, hat auch damit zu tun, dass eine Großzahl ihrer Funktionäre frühzeitig das sinkende Schiff verließ, sobald sich das Ende der politischen Macht dieser Koalition abzuzeichnen begann. Viele heuerten bei internationalen Organi- sationen oder Wirtschaftsunternehmen an. Im Gegensatz dazu geht die auto-kratische Rechte bei der Übernahme des Staates mit einer erstaunlichen Bru-talität vor, nach dem Motto: „Wir sind Polen“. Es ist davon auszugehen, dass in der Transformationsphase die Verbundenheit und Identifikation der polnischen Staatsbediensteten mit ihrer Arbeit abgenommen hat, insbesondere was den öffentlichen Auftrag (unabhängig von parteipolitischen Präferenzen) angeht. Diesen Verlust an Loyalität gegenüber dem Staat und dem Gemeinwesen wie- der gutzumachen und den öffentlichen Charakter staatlicher Verwaltung wieder zu stärken, wird viele Jahre in Anspruch nehmen.

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Neoliberale PolitikDie negativen Auswirkungen der sogenannten Transformation in Polen – drei größere Wirtschaftskrisen in den vergangenen 28 Jahren und die fortschreitende neoliberale Globalisierung – haben zu einer großen Unzufriedenheit unter der Mehrheit der Wähler geführt. Hiervon konnte die PiS bei den Wahlen von 2015 profitieren, so dass sich die gegenwärtige Rechtsregierung auf ein beeindru- ckendes Wahlergebnis berufen kann. Jetzt, gegen Mitte der Legislaturperiode, schreibt sich die Parteiführung zudem stolz auf ihre Fahnen, von dem neolibe- ralen Modell in der Sozial- und Wirtschaftspolitik abgerückt zu sein. So rühmt sie sich damit, neue Sozialleistungen eingeführt zu haben, wie das Programm „500 Plus“ (PLN 500) zur finanziellen Unterstützung von Familien mit zwei oder mehr Kindern sowie einen Mindeststundenlohn.

Die damalige Ministerpräsidentin Beata Szydło präsentierte diese und andere programmatische Reformen als einen Bruch mit der Hegemonie des Neoliberalismus in Polen. Sie verstand dies als Beweis dafür, dass „eine andere Politik möglich ist“ und die polnische Wirtschaft – entgegen anderslauten- der Warnungen „unabhängiger“ Experten – nach der Transformation nicht kollabiert sei. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Manche Maßnahmen wie PLN 500 haben sich bereits positiv ausgewirkt und die Lebensbedingungen insbesondere von kinderreichen Familien verbessert, die oftmals außerhalb der großen Städte wohnen. Es lässt sich zudem eine Steigerung des inlän-dischen Konsums feststellen. Hinzu kommt, dass aufgrund des erhöhten Kindergeldes Frauen es sich nun eher leisten können, Jobs mit skandalös niedriger Entlohnung abzulehnen. Das trägt dazu bei, dass die Unternehmer die Arbeiter nicht länger als reine Untertanen ihrer ökonomischen Diktatur behandeln können.

Die Erfolge der Reformen der PiS-Regierung widerlegen darüber hinaus eine Reihe von Vorhersagen sogenannter Wirtschaftsexperten, darunter die hart-näckig wiederholte Behauptung, die Anhebung des Mindestlohns auf 13 Zloty die Stunde würde zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit führen. Nach den letz-ten verfügbaren Daten von 2017 ist die Arbeitslosenquote in Polen jedoch nicht angestiegen, sondern liegt weiterhin bei 6,8%. Das ist kein Beweis dafür, dass die Wähler, die unter den Folgen der Liberalisierung, der Kommerzialisierung öffentlicher Dienste und der Schwächung des Faktors Arbeit gegenüber dem Kapital leiden, deswegen zur PiS abgewandert sind, weil sie bewusst die neo-liberale Politik der Vorgängerregierungen abgelehnt hätten. Vielmehr basiert

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der Erfolg der PiS wohl darauf, dass die auf einer nationalistischen Agenda be-ruhende Sozial- und Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Regierung auf aktive Zustimmung stößt.

Sozialismus oder TodDie Frage, wie die Rechte in Polen, die eine bedrohliche Nähe zu zeitgenös-sischen rechtsradikalen Bewegungen aufweist, wieder entmachtet werden kann, stellt sich nicht nur den anderen politischen Parteien im Land. Ihr Einfluss gefährdet schließlich die Integrität der gesamten polnischen Zivilgesellschaft und wirkt sich zudem nachhaltig auf die internationale öffentliche Meinung zu Polen aus. Die Letztere ist von besonderer Bedeutung, weil sich die PiS schon mehrmals offiziell dagegen verwehrt hat, als eine radikale oder euroskeptische Partei bezeichnet zu werden. Die gegenwärtige polnische Regierung verschleiert darüber hinaus – auch hier gibt es Parallelen zu anderen rechtspopulistischen Regierungen und Parteien – den Umstand, dass ihre Abkehr vom Neolibera- lismus nur partiell ist. So bleiben in Polen eine Reihe von Programmen und Maßnahmen in Kraft, die nicht nur die ungerechte Sozialordnung in Polen au-frechterhalten, sondern die Grundlage bieten für den Aufstieg noch extremerer Gruppierungen, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht.

Will man die Rechte in Polen bekämpfen, dann bedarf es des Aufbaus einer Basis, auf der sich eine umfassende Vision von einem sozial gerechten Polen in einem sozial gerechten Europa entwickeln ließe. Nur so kann der Europäisie- rungsprozess Polens, dessen Ziel die politische und wirtschaftliche Emanzipa-tion der polnischen Gesellschaft sein sollte, tatsächlich abgeschlossen werden. Solch ein Polen könnte endlich zu einem gleichberechtigten Partner in der EU werden. Doch dies ist nur dann vorstellbar, wenn die polnischen Bürger damit beginnen, in Opposition zur extremen Rechten zu gehen und sich für umfas-sende soziale Gerechtigkeit, wirkliche Demokratie und Frieden statt Nationa- lismus und Faschismus entscheiden. Das Versprechen einer besseren Zukunft wird sich nur dann erfüllen, wenn das Projekt der Integration Europas auf den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und Solidarität zwischen den Staaten gründet und in den internationalen Beziehungen die nationalistischen Interessen in den Hintergrund rücken.

Zugleich ist davon auszugehen, dass es nicht ausreichen wird, bestehende liberale Bewegungen und Institutionen zu stärken, deren Ziel es ist, den freien

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Markt wiederherzustellen. Wenn wir wirklich die Machtübernahme faschis- tischer Gruppen in naher Zukunft verhindern wollen, müssen wir mehr tun. Genau genommen sind Neoliberalismus und rechter Populismus aus mein-er Sicht nur zwei Seiten derselben Medaille. Deswegen verbleibt auch als einzige Hoffnung für eine egalitäre, progressive und proeuropäische Politik nur die Linke. Zurzeit setzt sich die Linke in Polen aus den beiden größeren sozialdemokratisch orientierten Parteien Bund der Demokratischen Linken (Sojusz Lewicy Demokratycznej/SLD) und Partei Gemeinsam (Razem) zusam-men. Hinzu kommen die Gewerkschaften, von denen die stärkste Kraft der Ge-samtpolnische Gewerkschaftsverband (Ogólnopolskie Porozumienie Związków Zawodowych/OPZZ) ist. Damit diese Linke politisch erfolgreich sein kann, muss sie sich allerdings zusammenraufen und aufhören, ihre Zeit mit internen Strei- tigkeiten über die verschiedenen Schattierungen von Rot zu verschwenden.

Die Linke sollte gemeinsam daran arbeiten, die Unzulänglichkeiten der PiS-Regierung und die destruktiven Folgen ihrer nationalistischen Politik her-auszustellen. Zu den Ersteren gehören das Versäumnis der Regierung, das Steuersystem umfassend zu reformieren (in Polen gelten derzeit nur zwei Einkommensteuersätze: 18 und 32%), ihre aktive Begünstigung von Großun-ternehmen sowie ihre Weigerung, in öffentliche Dienste und Einrichtungen wie Kindergärten oder den sozialen Wohnungsbau zu investieren, um nur einige der Schwachpunkte zu nennen. All dies deutet darauf hin, dass die von der gegen-wärtigen Regierungspartei unter Vorsitz von Jarosław Kaczyński verfolgte Politik weit davon entfernt ist, „dem Volk zu dienen“. Auf das Konto der PiS gehen zum Beispiel auch heftige Einschnitte bei der Gesundheitsversorgung von Menschen im Rentenalter, die den Verwerfungen des modernen Kapitalismus besonders schutzlos ausgeliefert sind.

Die progressiven Bewegungen in Polen sollten diese offensichtlichen Ver- säumnisse in den Mittelpunkt ihrer Angriffe auf die Regierung der PiS stellen. Nur wenn es gelingt, verschiedene Interessen zu vereinen – die der Jüngeren und die der Älteren, die der prekär Beschäftigten und die der gewerkschaftlich Organisierten, die der Bewohner von Kleinstädten und Dörfern und die der Großstädter mit einem politischen Bewusstsein –, wird die Linke in der Lage sein, in Polen die Macht zu übernehmen.

Sozialismus oder Tod? Ich bin davon überzeugt, dass wir am Ende vor diese Wahl gestellt sein werden. Aber der nächste pragmatische Schritt muss da-rin bestehen, eine breite sozialdemokratische Bewegung aufzubauen, deren Grundlage die Arbeiterbewegungen und ein neuerliches Bekenntnis zum

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Internationalismus sein müssen, und der die schwierige Aufgabe zufällt, ein alter-natives sozialökonomisches Entwicklungsmodell zu erarbeiten und umzusetzen. Dieses Konzept muss so beschaffen sein, dass sich damit der entfesselte Neolibe- ralismus und die damit einhergehende soziale und ökonomische Ungleichheit zurückdrängen lassen. Zudem sollte damit der vom System geschaffene Sumpf trockengelegt werden, in dem die antidemokratischen und rechtsradikalen Kräfte so gut gedeihen konnten. Erst wenn das gelingt, können wir darauf hof-fen, an die Wurzeln der gegenwärtigen extremen Rechten zu gelangen, diese Wurzeln auszureißen und für eine frische Saat zu sorgen, aus der eine bessere und gerechtere Zukunft hervorgeht. ◼︎

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TÜRKEI

Wie unter Recep Tayyib Erdoğan

eine „neue Türkei“ entstand

PINAR ÇAKIROĞLU-BOURNOUS

Der Aufstieg der radikalen Rechten in Europa in den letzten Jahren hat für zahl-reiche Debatten gesorgt sowie beträchtliche Bestürzung und Besorgnis insbe-sondere unter fortschrittlichen Gruppen hervorgerufen. In den vergangenen drei Jahrzehnten hatten die meisten Länder Europas relativ stabile Demokratien, doch legt die wachsende Zahl rechtsradikaler Parteien in den Parlamenten nahe, dass die demokratische Regierungsform zunehmend von innen heraus aus-gehöhlt wird.

In der Türkei hingegen ist der Aufstieg einer rechtsradikalen Partei zur Re-gierungskraft weniger außergewöhnlich, spielte doch rechtradikales Gedan-kengut, selbst wenn es nicht zur Regierunsgideologie avancierte, in der Ge-sellschaft stets eine wichtige Rolle. So kam auch der Wahlsieg von Recep Tayyib Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi/AKP) nicht wirklich überraschend. Dennoch ist es beunruhigend zu beobach- ten, wie eine ausgesprochen grobe Form rechtsradikaler Ideologie in der Türkei hegemonialen Charakter erlangte. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat die Herrschaft der AKP sämtliche politische Kontrollmechanismen, die in den Grundprinzipien der türkischen Republik verankert sind, ebenso ausgehebelt

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wie zahlreiche Grundpfeiler der demokratischen Regierungsform. Für das fortschrittliche Lager in der Türkei war das eine irritierende Situation, weil ein System, das lange als stabil galt, nun schweren Angriffen ausgesetzt war.

Der Aufstieg der AKP zu einer Sammlungspartei des rechten Flügels in der Türkei und die Umstände, die dazu geführt haben, bedürfen der sorgfältigen Analyse. Das bedeutet auch, dass man den Charakter der Macht der AKP nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016, der dazu führte, dass die Regierung den Ausnahmezustand verhängte, neu bewerten muss. In gewisser Weise können diese jüngsten politischen Entwicklungen deutlich machen, inwieweit die Macht der AKP, die bei unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft breite Zustim-mung findet, wahrhaft hegemonial ist.

Rechte Parteien in der Geschichte der TürkeiEiner der zentralen Diskurse, der die Haltung der AKP verdeutlicht, ist die Un-terscheidung zwischen „verwestlichten Eliten“ und den „unterdrückten Massen“. Diese Rhetorik, die von der AKP zugespitzt und intensiviert wurde, ist nicht neu, sondern reicht bis in die Endphase des Osmanischen Reiches zurück. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts drängten die herrschenden Kader des Osmanischen Rei- ches, von denen viele aus dem Militär stammten, auf Verwestlichung und Mo- dernisierung. Um mit Westeuropa mithalten zu können, führten sie eine Reihe von Reformen im ökonomischen, technologischen, politischen und gesellschaft-lichen Bereich durch.

Diese Reformversuche erfuhren von Seiten der etablierten Fraktionen unter den herrschenden Eliten jedoch bald Widerspruch. Insbesondere die ulema – die Gemeinschaft islamischer Kleriker, die zur Elite und zur staatlichen Bürokratie des Osmanischen Reiches gehörten und die in Gestalt von Orden und Bru- derschaften auf die Gesellschaft einwirkten – widersetzte sich dem Modernisie- rungsdrang. Die Religionsgelehrten der ulema befürchteten nicht nur, unter ei-nem neuen, reformierten System ihre privilegierte Stellung zu verlieren, sondern betrachteten die Reformen auch als antiislamisch, als Erfindung der Ungläubi-gen und als Verrat an der Tradition. Seither stehen in der türkischen Politik die Differenzen zwischen denjenigen, die für Verwestlichung und Modernisierung eintreten, und jenen, die sich dem widersetzen, im Vordergrund. Tatsächlich erinnert die antiwestliche und gegen Eliten gerichtete Rhetorik der AKP auf er-staunliche Weise an diesen spätosmanischen Diskurs.

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Nach dem Untergang des Osmanischen Reichs gründeten Mustafa Kemal Atatürk und seine Freunde die neue Republik. Atatürk, der aus dem Militär stammte, gehörte zu den Reformern der vorangegangenen Epoche, die radikale Schritte gegen das alte Lager der ulema unternommen hatten. Im Zuge ihrer Reform schafften sie das Kalifat ab, schlossen alle Religionsschulen (Medressen) und Bruderschaften (Tarikat), ersetzten das arabische durch das lateinische Alphabet und wandelten das Amt des seyh ül-islam (Oberhaupt des religiösen Establishments der Sunniten und einer der ranghöchsten Staatsbeamten) in ein „Präsidium für Religionsangelegenheiten“ um, das dem Ministerpräsidenten unterstellt ist.

Die moderne, säkulare Ideologie der türkischen Republik wurde häufig da-hingehend kritisiert, dass sie der Bevölkerung einen von oben verordneten Na-tionalismus aufzwinge. Eine berühmt gewordene Studie aus den 1970er Jahren machte deutlich, dass die politische Mitte des Landes mit ihrer herrschenden Elite aus Staatsbeamten, Armeeangehörigen, städtischen Akademikern und dem neuen Bürgertum treu an den Prinzipien des Kemalismus festhielt, während die Peripherie, die aus den Massen auf dem Land bestand, sich weiter an traditionellen Werten orientierte und der Modernisierung gegenüber hoch-gradig misstrauisch war. Als 1950 die ersten Wahlen unter Beteiligung mehrerer Parteien abgehalten wurden, errang die Demokratische Partei (Demokrat Parti/DP), die einzige Oppositionspartei zur Republikanischen Volkspartei (Cumhuri-yet Halk Partisi/CHP) der Staatsgründer, einen erdrutschartigen Sieg. Ihre libe- rale Mitte-rechts-Agenda war gegen die CHP gerichtet, die das Land seit der Grün- dung 1923 in Gestalt eines Einparteienregimes regiert hatte. Die gegen das Es- tablishment gerichtete Haltung der Demokratischen Partei – für die ein „Eintre-ten für privates Unternehmertum, Mehrheitsdemokratie mit einem Hauch von kulturellem Konservatismus, eine populistische Klientelpolitik und eine westlich orientierte Außenpolitik“ charakteristisch waren – und das Profil ihrer Wähler-schaft, die überwiegend aus den Provinzstädten und ländlichen Gegenden kam, legten den Grundstein für die rechte Tradition in der türkischen Politik.

Entstehung und Erfolgsbilanz der AKPDas zeigt: Obwohl die AKP erst 2001 gegründet wurde, hat die rechte Politik, für die sie steht, eine weitaus längere Geschichte. Entscheidend geprägt wurde das Phänomen AKP durch die neoliberale Transformation der Türkei, die durch das

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Militärregime 1980 in Gang gesetzt wurde. Hinter dem Ziel, „alle potenziellen Bedrohungen für die Konsolidierung des marktorientierten Reformprozesses zu beseitigen“, stand ein neues ideologisches Bezugssystem – eine „türkisch-isla-mische Synthese“. Diese von der Militärjunta verordnete Mischung aus rechtem Nationalismus und Islam prägt seither die politische Landschaft in der Türkei. Dieser Rahmen, der als Bollwerk gegen potenzielle Quellen der Instabilität wie auch gegen eine radikalisierte linke Ideologie gilt, begünstigte das Auftreten von rechtsliberalen oder Mitte-rechts-Parteien auf der politischen Bühne. Die Regierung der Mutterlandspartei (Anavatan Partisi/ANAP) unter Turgut Özal beispielsweise, die später zu einem der wichtigsten ideologischen Einflüsse der AKP wurde, trieb die neoliberale Umstrukturierung des Landes zwischen 1983 und 1989 voran. Eine islamistische Politik, wie sie etwa die Wohlfahrtspartei (Re-fah Partisi/RP) von Necmettin Erbakan betrieb, aber auch informelle islamische Gemeinschaften oder Bruderschaften gewannen in dieser Zeit ebenfalls an Be-deutung. Auf diesem ideologischen Vermächtnis fußt die AKP.

In ihrer Frühzeit lehnten die Kader der AKP die unmittelbare Verbindung der Partei mit dem wiedererstarkten Islamismus ab und wollten lieber als „konser-vative demokratische“ Partei betrachtet werden. Da die AKP zum Teil aus einer „modernistischen“ Fraktion der Wohlfahrtspartei entstanden war, die liberalere Ansichten vertrat und mitte-rechts orientiert war, bestand einer der ersten wich-tigen Schritte der AKP darin, sich von der eng gesteckten Ausrichtung der isla-mistischen Parteien zu distanzieren, die vom säkularen Establishment attackiert wurden. Stattdessen versuchte die AKP, ein stärker inklusives Bild von sich zu zeichnen und betonte ihr Eintreten für liberale Werte wie Demokratie, Men-schenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Vielfalt, wirtschaftliche Ent- wicklung und freie Marktwirtschaft. Schon ein Jahr nach ihrer Gründung 2001, als die Türkei nach mehreren politischen Krisen sowie den Wirtschaftskrisen von 1994, 2000 und 2001 dringend der Stabilität bedurfte, gewann die AKP ihre erste Wahl mit absoluter Mehrheit.

Nach diesem Wahlsieg erlebte die AKP ein „goldenes Zeitalter“, das sich durch ein hohes und umfassendes Wachstum, wichtige demokratische Refor-men, einen außenpolitischen Ansatz des „null Probleme mit den Nachbarn“ und zunehmende regionale wie internationale Bedeutung auszeichnete. Doch von 2007 bis 2011 erlebte die Partei eine Phase der relativen Stagnation, die nicht zuletzt mit der Weltwirtschaftskrise zu tun hatte. Zwar traf diese Krise die Türkei weniger schwer als die vorangegangenen Krisen der Jahre 1994, 2000 und 2001, doch die Wirtschaftsleistung des Landes war weitaus eingeschränkter als in

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der vorangegangenen Phase. Zudem fielen die Demokratisierungserfolge der Regierung durchwachsen aus, während gleichzeitig die Außenpolitik, in deren Mittelpunkt nun der Nahe und Mittlere Osten standen, mit deutlich mehr Nach-druck betrieben wurde.

Seit 2011 lässt sich in allen oben genannten Bereichen ein echter Nieder-gang bei den Erfolgen der Partei verzeichnen, der bis zum Putschversuch 2016 reicht. Die Wirtschaftsleistung des Landes hat einen sehr riskanten, wenig nach- haltigen und fragilen Punkt erreicht. Die Demokratisierungsbemühungen sind zum Erliegen gekommen, während der Autoritarismus zugenommen hat. Und schließlich hat die hoch ambitionierte Außenpolitik der Regierung zahlreiche ernsthafte Sicherheitsrisiken geschaffen und die Beziehungen der Türkei zu ihren Nachbarn und zur internationalen Gemeinschaft destabilisiert.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Aufstieg der AKP zur Macht auf ökonomischer wie politischer Instabilität beruhte. Zu einer Zeit, als die Gesellschaft wirtschaftlicher und politischer Krisen müde war und sich nach Veränderung sehnte, entstand die AKP mit dem Versprechen wirtschaftlicher Entwicklung und soziopolitischer Stabilität. Die Partei, die sowohl von der rechten wie von der islamistischen Tradition lebte, war in der Lage, eine breite Wählerschaft zu bedienen, indem sie als eine rechtspopulistische Sammlungs- partei fungierte – kulturell konservativ, politisch demokratisch und wirtschaft-lich liberal. Diese Strategie zeigte unmittelbar Wirkung, wie daran zu erkennen ist, dass die Vertreter des alten politischen Systems – die Demokratische Links- partei (Demokratik Sol Parti/DSP), die Nationalistische Aktionspartei (Milliyetçi Hareket Partisi/MHP) und die Mutterlandspartei – praktisch von der Bildfläche verschwanden. Bis heute nutzt die AKP ihre Erfolge der Vergangenheit als Ein-schüchterungstaktik, mit der sie den Wählern drohend zu verstehen gibt, dass im Land wieder Chaos herrschen werde, falls die AKP verlieren sollte.

Eine politisch-ökonomische Analyse der AKPObwohl die Leistungsbilanz der AKP von einem „goldenen Zeitalter“ und „rela-tiver Stagnation“ zu einem „echten Niedergang“ führte, verzeichnete die Partei weiterhin Wahlsiege (siehe Grafik). Es ist offensichtlich, dass die Wirtschaftsleis-tung für den Erfolg der AKP entscheidend war. Tatsächlich ging der wirtschaft-liche Niedergang des Landes mit der Demokratisierung einher, was bedeutet, dass nicht nur die Wirtschaftsleistung zurückging (aus welchen Gründen auch

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immer), sondern auch die Demokratisierungsbemühungen nachließen. Aus anderer Perspektive betrachtet hatte die AKP jedoch nie wirklich Demokratie für alle im Sinn, denn trotz ihres rhetorischen Eintretens für Demokratisierung bedeutete Demokratie für sie im Grunde Mehrheitsherrschaft. Mit anderen Worten: Die Partei fühlte sich dazu legitimiert, ohne einschränkende Kontroll-mechanismen zu regieren, solange sie in der Lage war, sich die Mehrheit im Parlament zu sichern.

Die unverminderte Unterstützung, die die AKP in der Bevölkerung genießt, lässt sich nicht einfach nur mit dem äußeren Erscheinungsbild der Partei erklären. Natürlich spielt in einer Gesellschaft, die für konservative und selbst-gerechte islamistische Rhetorik empfänglich ist, das Charisma von Recep Tayyib Erdoğan, der sich gern als starker und vertrauter Herrscher präsentiert, eine nicht unwesentliche Rolle für den dauerhaften Erfolg der Partei. Gleiches gilt für die zunehmende soziale Manipulation der AKP mittels ihrer Kontrolle der

Erdoğans Gewinnsträhne bei WahlenEr und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung haben nun zwölf Wahlen hintereinan der gewonnen

0

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80 %

Nov.2002

März2004

März2009

Sept.2010

Juni2011

Juni2015

Aug.2014

Nov.2015

April2017

März2014

Juli2007

Okt.2007

% Stimmenanteil

51,4 %*

Quelle: YSK (Hoher Wahlausschuss). 99,5% der Stimmen ausgezählt

Hinweis: Die orangefarbenen Säulen in der Grafik stehen für Parlamentswahlen, die grauen Säulen für lokale Wahlen und die dunklen Säulen für Referenden. Die rote Säule vom August 2014 bezeichnet die türkische Präsidentschaftswahl. Sie stellte insofern einen politischen Wen-depunkt dar, als damals der Staatspräsident erstmals direkt vom Volk gewählt wurde.

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Medien, des Bildungssystems und lokaler Netzwerke einer Gesellschaft, in der man sich in der Regel dem Gruppendruck beugt.

Größtenteils aber hat der Erfolg der AKP damit zu tun, dass es der Partei gelungen ist, die politisch-ökonomische Basis des Landes zu verändern und dadurch die Gesellschaft im Kern umzustrukturieren und Macht zu monopoli- sieren. Jüngste Proteste und andere schwerwiegende Zwischenfälle in der Türkei hatten so gut wie keine Auswirkung auf die politische Stellung der AKP. 2013 beispielsweise breiteten sich die Gezi-Park-Proteste – eine Graswurzelbewe-gung gegen den wachsenden Autoritarismus der Regierung – auf die gesamte Türkei aus. Im Verlaufe von nur drei Monaten kam es zu 5000 Protestkundge-bungen, an denen sich mindestens vier Millionen Menschen beteiligten. Die AKP-geführte Regierung reagierte mit einer brutalen Niederschlagung der Proteste: Die Polizei tötete elf Bürger und verletzte mehr als 8000. Von der Regierung und den Medien dargestellt als „ein Versuch der säkularen Minder-heit, sich wieder der türkischen Politik zu bemächtigen und die Erfolge, die von der religiös-konservativen Mehrheit im Hinblick auf ihre politischen Rechte wie auch die ökonomische Situation erzielt wurden, zunichte zu machen“, war diese Massenbewegung nicht in der Lage, die Politik der AKP nennenswert zu beeinflussen.

Im gleichen Jahr vollzog die AKP auch einen Bruch mit ihrem langjährigen politischen Partner, der Gülen-Bewegung, einer islamischen Gemeinschaft mit ausgedehnten, weltweiten Netzwerken im Bildungs- und zivilgesellschaftlichen Bereich. Zu diesem Bruch kam es, nachdem die Gülen-Bewegung schwere Kor-ruptionsvorwürfe unter anderem gegen den Ministerpräsidenten und andere führende AKP-Politiker erhoben hatte. Doch nachdem die AKP einige Minister ersetzt hatte, hatte der Vorfall keine weiter reichenden Folgen und die Partei blieb für einen Großteil der Bevölkerung weiterhin attraktiv.

In der neu gestalteten politischen Landschaft konnte sich die AKP als einziger politischer und wirtschaftlicher Machtfaktor wie auch als gesellschaftlicher und kultureller Hegemon etablieren. Gleichzeitig wurde die Opposition in allen Bereichen des Lebens in der Türkei auf gefährliche Weise marginalisiert. Angesichts der Tatsache, dass sich die meisten Menschen – ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Herkunft – nach wirtschaftlicher und politischer Stabilität sehnen, machte ihre breit angelegte politische Agenda die AKP schon bald zu einer Sammlungspartei.

Gleichzeitig jedoch richtete sich die AKP gezielt an bestimmte Gruppierun-gen. Ihr neoliberales Eintreten für wirtschaftliche Entwicklung, Privatisierung

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und Globalisierung beispielsweise war insbesondere für die Oberschicht und die obere Mittelschicht attraktiv, aber auch für das Kleinbürgertum, die allesamt die Chance auf Erfolg witterten. Die reformerische, gegen das Establishment gerichtete Einstellung der Partei spricht vor allem die marginalisierten unteren Schichten an, die in ländlichen Gegenden oder an den Rändern der urbanen Zen- tren leben. Schließlich war das islamistisch-nationalistische Erbe für die konser-vativen Massen besonders attraktiv. Doch aufgrund der umfassenden formellen Machtausübung auf der Ebene der Regierung und später der Präsidentschaft verwandelte sich diese Attraktivität in ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem die Angehörigen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten ihre Existenz mit der der AKP verknüpften.

Ein Paradebeispiel dafür sind die Verteilung von Grundrenten und der Aufstieg eines islamischen Bürgertums. Es gab verschiedene Kanäle, über die seit den 1980er Jahren Platz für das Aufkommen eines islamischen Bürger-tums geschaffen wurde, und zwar dergestalt, dass eine bestimmte Gruppe anatolischer Konservativer bei der Verteilung von Grundrenten über staatliche Mechanismen bevorzugt wurde. 1990 gründete diese Gruppe ihren eigenen Wirtschaftsverband MÜSİAD (Vereinigung unabhängiger Industrieller und Geschäftsleute), auch als Vereinigung muslimischer Geschäftsleute bekannt, der einen Bruch mit dem etablierten TÜSİAD (Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute) der alten säkularen Eliten markierte. MÜSİAD und das isla-mische Kapital seiner Mitglieder sorgten dafür, dass die AKP reichlich finanzielle Unterstützung erhielt.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Türkei selbst während der neoliberalen Öffnung des Landes weiterhin die ausgeprägte etatistische Tradition pflegte, Grundrenten zu verteilen. Betrachtet man den ursprünglichen Anspruch der AKP – dieses System zugunsten der Vielen zu ändern, die unter dem alten Eliten-system des kemalistischen Staates an den Rand gedrängt worden waren –, ist es ironisch, dass die Partei in Wirklichkeit die Machtmechanismen ausschließlich in den eigenen Händen konzentriert. Deshalb konnte das islamische Bürgertum seine Macht nur dank der AKP festigen. Die islamischen Eliten „betrachteten die AKP nunmehr als primäres Vehikel gesellschaftlicher und ökonomischer Mobi- lität“, das es ihnen ermöglichte, „ihre Außenseiterstellung in einer Gesellschaft, die früher von den säkularen Eliten in Wirtschaft und Politik bestimmt war, zu überwinden“.

Die lokalen Machthaber der AKP waren ebenfalls an den Mechanismen der formalen Verteilung von Grundrenten beteiligt, insbesondere in den

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konservativeren Städten oder Kommunen. An solchen Orten betrieben örtliche Regierungen verschiedene philanthropische Aktivitäten – von Suppenküchen und der Verteilung von Nahrungsmitteln bis zur Förderung der Bildung für Kinder –, die oftmals zusammen mit islamischen Bruderschaften durchgeführt wurden. Dieses System übte nicht nur einen enormen ideologischen Einfluss auf die untersten Schichten der Gesellschaft aus, sondern vertiefte auch deren enge Verbindung zur AKP. Gleichzeitig schuf die Ausweitung islamischer Erziehung – ob in staatlichen Institutionen oder in privaten, von islamischen Bruderschaften geführten Einrichtungen – eine neue Mittelschicht, deren Angehörige heute die staatliche Bürokratie stellen. Und es sind entsprechend auch die unteren und mittleren Schichten, die am stärksten von den Verbesserungen bei der Gesund-heitsversorgung, bei der Bildung, im Verkehrs- und im Kommunikationwesen profitieren, insbesondere auf lokaler Ebene.

Im Laufe der Zeit verwandelte sich die Verteilung von Grundrenten in eine wechselseitige Abhängigkeitsbeziehung. Der gegenwärtige Zustand des Landes macht es ausgesprochen schwer, ohne Verbindungen zur Partei oder zu von ihr begünstigten Gemeinschaften, von denen die meisten islamischer Natur sind, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Bis zum Korruptionsskandal und dem anschließenden Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung profitierten die Gülenisten am stärksten von den verschiedenen Verteilungs- und Beset- zungsmechanismen. Tatsächlich war die Bewegung allein aufgrund dieser engen Beziehung zur AKP in der Lage, ihre Macht so weit zu festigen, dass sie von vielen als alleiniger Drahtzieher des Putschversuchs gegen die AKP im Juli 2016 betrachtet wurde.

Anstelle einer Conclusio: Erdoğans „neue Türkei“Entsprechend ihrem mehrheitsorientierten Ansatz war die AKP der Überzeu- gung, sie könne, sobald sie ihre Kontrolle über eine legitime Basis gefestigt hatte, sämtliche Kontrollmechanismen der Regierung beseitigen und ihre au-toritäre Herrschaft ausdehnen. Selbst der Putschversuch vom 15. Juli 2016, der die Herrschaft der Partei gefährden, wenn nicht sogar beseitigen sollte, wurde dazu genutzt, die allmächtige Position der AKP zu rechtfertigen. Erdoğan hat es so formuliert: „Der Putsch war ein Geschenk Gottes.“ Für die AKP rechtfertigte er die Verhängung eines dauerhaften Ausnahmezustands, der der Regierung

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anhand der exzessiven Nutzung von Notstandsdekreten uneingeschränkte Macht verleiht.

Diese Macht wurde nicht nur dazu genutzt, den Staat von denen zu „säu-bern“, die mit der Gülen-Bewegung in Verbindung standen und als Kollabo-rateure des Putschversuchs verfolgt wurden. Ins Visier gerieten auch sämtli-che Oppositionskräfte, darunter Parlamentsabgeordnete, unzählige lokale Volksvertreter, Journalisten, Akademiker und selbst Menschenrechtsaktivisten. Mehr noch: Die Macht des Präsidenten wurde erheblich gestärkt, während andere Regierungszweige, darunter das Justizsystem, enorm geschwächt wurden. Demokratische und wirtschaftliche Rechte wurden ebenfalls deutlich eingeschränkt, und die Wirtschaft des Landes, deren Wachstum in den ersten Jahren der AKP eine so wichtige Rolle gespielt und zu ihrer wachsenden Macht beigetragen hatte, ist jüngst in eine alarmierende Rezession geraten. Angesichts dieser Entwicklungen und der übermäßigen Macht der Regierung bezeichnet die politische Opposition die Zeit nach dem Umsturzversuch auch als „zivilen Putsch“, der von der AKP ins Werk gesetzt worden sei.

Die politischen Aktivitäten von Präsident Erdoğan sind im Augenblick in erster Linie auf die Präsidentschaftswahl 2018 ausgerichtet. Er hat gute Sieges-chancen und würde bei einem Wahlgewinn zum ersten Präsidenten der von der AKP ausgerufenen „neuen Türkei“. Der Ausgang des Referendums im April 2017 wurde bereits als das Ende des alten Regimes und de jure als Beginn einer „neuen Türkei“ unter der Präsidentschaft Erdoğans gefeiert. Zwar ist noch immer nicht klar, wie die Struktur dieses neuen Systems genau aussehen soll und wie die AKP regieren will, doch am wahrscheinlichsten ist eine Art „Superpräsiden-tialismus“, der dem amerikanischen Präsidialsystem ähnelt. Allerdings wird dem türkischen Staatspräsidenten deutlich mehr Macht zukommen und das System insgesamt über weniger Kontrollmechanismen verfügen. In dieser Hinsicht ist eine entscheidende Frage, welche Machtbefugnisse Erdoğan erhalten wird, die er nicht schon jetzt unter der Notstandsgesetzgebung ausüben kann.

Angesichts der Ausweitung von Erdoğans Machtbefugnissen unter dem gegenwärtigen System – das sich durch die Undurchsichtigkeit staatlicher Vorgänge, eine zum Schweigen gebrachte und an den Rand gedrängte Opposi-tion sowie die absolute Kontrolle des Staates über Medien und Massenkommu-nikation auszeichnet – ist das wahrscheinlichste Szenario für die Zeit nach der Präsidentschaftswahl 2018, dass der gegenwärtige Ausnahmezustand legalisiert wird. Dies kann erreicht werden, indem die de facto bestehende Situation auch rechtlich verankert wird, woran bereits gearbeitet wird. Die Tatsache, dass nach

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dem Referendum von der herrschenden Partei kein Signal der Entspannung kam – obwohl sie nur knapp gewonnen hatte –, lässt vermuten, dass die AKP keinerlei Absicht hat, im neuen System eine konsolidierende Rolle zu spielen. Vielmehr, so scheint es, will die Partei weiter entlang der bestehenden tiefen Bruchlinien regieren. Diese starke Polarisierung spielte von Anfang an eine zentrale Rolle in der Politik der AKP, doch hat sich diese Strategie inzwischen einem gefährlichen Punkt genähert, an dem das innere Gleichgewicht des Landes zu brechen droht.

Über all die Jahre der AKP-Herrschaft hat die Türkei eine tragische Veränderung erlebt. Was sich von außen mit einiger Distanz beobachten lässt, hat für die Menschen im Innern, die mit den oftmals kleinen, aber symbolisch wirkungsvollen Veränderungen zurechtkommen müssen, unmittelbare und gefährliche Folgen. Zu solchen de facto bestehenden Erscheinungsformen der „neuen Türkei“ gehören die wachsende Unterdrückung von Frauen und die Durchsetzung eines islamischen Lebensstils, ob über das Bildungssystem oder einfach durch nachbarschaftlich ausgeübten Druck. Selbst wenn man den Op-positionskräften in der Türkei eine gewisse Mitschuld an diesen Entwicklungen geben kann, weil es ihnen nicht gelungen ist, an bestimmten entscheidenden Wendepunkten Widerstand zu leisten und gemeinsam zu handeln, so gilt doch, dass der Rechtspopulismus in mancher Hinsicht im Vorteil war. Denn der Populismus der AKP konnte die Basis auf eine Weise erreichen, die es der Partei ermöglichte, ihre Macht gerade wegen ihrer ideologischen „Flexibilität“ zu festigen.

Und schließlich dürfen wir nicht außer Acht lassen, welch entscheidende Rolle die weltpolitischen Entwicklungen für die inneren Angelegenheiten der Türkei spielen. Während die globale Wirtschaftskrise traditionelle gesellschafts-politische Bündnisse und Klassenstrukturen zerstört, ist die Politik zunehmend polarisiert. In den letzten Jahren ist der zunehmende Rechtspopulismus auch für Europa zum Problem geworden: Rechtsradikale Parteien sind entweder an die Macht gekommen – wie beispielsweise in Polen, Ungarn, Bulgarien oder Öster-reich – oder sie dehnen ihren Einfluss fortwährend aus – wie man es in Deutsch-land, Frankreich, Schweden usw. beobachten kann. Vor noch nicht allzu langer Zeit war der Abstand der Türkei zu den demokratischen Grundprinzipien der EU das größte Hindernis für eine EU-Mitgliedschaft des Landes. Heute nähert sich die Geltung genau dieser Grundsätze einem Krisenpunkt, während über die EU-Mitgliedschaft der Türkei im Grunde überhaupt nicht mehr diskutiert wird – weder in der EU noch in der Türkei. Vor noch nicht allzu langer Zeit galten die

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Demokratiedefizite der Türkei als Gefahr für ihre regionale und internationale Rolle. Im Zeitalter eines wachsenden Rechtsradikalismus (wir könnten auch vom „Trump-Zeitalter“ sprechen) wie eskalierender internationaler Konflikte ist die Türkei dagegen keine Ausnahme mehr. Sie erscheint vielmehr als ein Frühin- dikator dessen, was rasch zur neuen Norm wird. ◼︎

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DÄNEMARK

Die Dänische Volkspartei und „rechtsradikaler Pragmatismus“

INGER V. JOHANSEN

Da nazistische und faschistische Strömungen in Dänemark nur als subkulturel-ler Untergrund existieren, sticht die Dänische Volkspartei (Dansk Folkeparti/DF) am rechten äußeren Rand hervor. Sie ist im rechtsradikalen Spektrum Europas eine der am wenigsten ideologisierten Parteien. Obwohl sie geschickt an Ängste in der Bevölkerung, etwa vor mehr Einwanderern und Terrorangriffen, anknüpft, nimmt sie, was die Erhaltung des Wohlfahrtsstaates angeht, eine durchaus pragmatische Position ein. Dies ist insofern bemerkenswert, als dieser in der heu- tigen Zeit von rechts wie mitte-links mit Austeritätsmaßnahmen unter Beschuss genommen wird. Indem die Partei die Interessen der Arbeiterklasse vor ihren nationalistischen Karren spannt, kann sie zum Rechtsradikalismus auf Distanz gehen und sich gleichzeitig auf die politische Mitte Dänemarks zubewegen.

Wie andere rechte Parteien in Europa kann die Dänische Volkspartei auf beachtliche Wahlerfolge zurückblicken. 2014 gewann sie bei den Wahlen zum Europaparlament in Dänemark mit 26,7% die meisten Stimmen. Ein Jahr später wurde sie bei den dänischen Parlamentswahlen die größte Rechtspartei. Seitdem bewegt sie sich laut Umfragen zu den nächsten Parlamentswahlen konstant bei 18 bis 20%. Besonders auffällig ist diese hohe Zahl angesichts

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der Tatsache, dass die DF die Beteiligung an der neuen rechtsbürgerlichen Re-gierungskoalition aus Venstre-Partei, Konservativer Volkspartei und Liberaler Allianz ablehnte.

Das Wachstum der Dänischen Volkspartei Die Dänische Volkspartei wurde 1995 gegründet und spielt heute in der dänischen Politik eine Hauptrolle. Ihre Gründer, Pia Kjærsgaard und drei weitere führende Parlamentsmitglieder, waren bereits vorher in der 1972 von dem Anwalt Mogens Glistrup gegründeten ultraliberalen Fortschrittspartei (Fremskridtspartiet/FRP) aktiv. War die FRP im Jahr 1973 aus den dänischen Parlamentswahlen mit 15,9% der Stimmen als zweitstärkste Partei hervorgegan-gen, so musste sie in den Jahren danach einen Mitgliederschwund hinnehmen. Interne Meinungsverschiedenheiten und unüberbrückbare Konflikte trugen zu ihrer Marginalisierung bei und führten 1999 schließlich zu ihrer Auflösung.

Seit 1998, innerhalb kürzester Zeit also, erzielte die DF einen beachtlichen Stimmenzuwachs. Dem ersten Durchbruch bei den Wahlen 1998 mit 7,4% der Stimmen beziehungsweise 13 Sitzen folgten drei Jahre später 12% beziehungs-weise 22 Sitze. Im Jahr 2015 wurde die Partei mit 21,1% die zweitgrößte Partei im dänischen Parlament sowie die größte aller rechtsbürgerlichen Parteien.

Dass die DF weltanschaulich mit der Fortschrittspartei brach, war die entscheidende Voraussetzung für ihren landesweiten Erfolg. Sie distanzierte sich vom Ultraliberalismus und von dem albernen Protestpartei-Getue der FRP, fasste als ernst zu nehmende rechte Partei Fuß und betrieb schließlich Realpo-litik. Obwohl ihr eine langfristige Strategie fehlt, kann sie Wähler mit einem politischen Profil an sich binden, in dem konservativer Nationalismus, Fremden-feindlichkeit und sozialstaatliche Garantieversprechen miteinander verknüpft sind. Sie betont ihre Unterstützung für soziale Dienstleistungen, etwa für Alte und Kranke, und hebt sich dadurch nicht nur vom Ultraliberalismus der FRP, sondern auch vom „sanften“ Neoliberalismus der Sozialdemokratie ab. Da letz-tere die Rolle der „Partei des Sozialstaats“ aufgab, strömten der DF von links wie von rechts immer mehr unzufriedene Wählerinnen und Wähler zu.

Neben den laufenden Kampagnen gegen Bürokratisierung, Sozialabbau und nationalen Souveränitätsverlust – die allesamt der Europäisierung angekreidet werden –, fordert die DF schärfere Beschränkungen bei der Zuwanderung, vor allem aus islamischen Ländern. Dass die Partei den Erhalt des Wohlfahrtsstaates

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und der dänischen Demokratie zu ihren Aufgabenstellungen erklärt hat, weist auf eine kleinbürgerliche und -unternehmerische Anhängerschaft hin. Zugleich übt sie aber auch große Anziehungskraft auf eine riesige Zahl von Wählern aus der Arbeiterklasse aus. Folglich genießt die Partei jetzt Unterstützung aus allen Teilen der Bevölkerung, einschließlich vieler Gewerkschaftsmitglieder.

Parteimitglieder scheuen sich mittlerweile nicht mehr, ihre Zugehörigkeit zu Dänischen Volkspartei zuzugeben. Laut einer Studie von 2016 ist die DF jetzt die Partei mit der größten Unterstützung aus der Arbeiterschaft – mehr noch als die beiden großen etablierten Parteien. Sie wird von rund einem Drittel (33,7%) der Wähler aus der Arbeiterklasse unterstützt. Im Vergleich dazu kommen aus diesem Wählerspektrum die Sozialdemokraten auf 26,3% während die Ven-stre-Partei nur 14,8% erreichte. Auch nach Altersgruppen erfolgte ein demo- graphischer Wandel. Hatte die DF die meiste Zeit als Partei der Alten gegolten, so verliert sie in jüngster Zeit Rentner (seit 2014 hat die Partei bei Rentnern 4,8% eingebüßt), was die Tatsache widerspiegelt, dass das sozialpolitische Pro-gramm der Partei weiter gefasst wurde und sich auf den Schwerpunkt Sozialhilfe verlagert hat.

In die Mitte und darüber hinaus Breite Bevölkerungsschichten anzusprechen, steht für die Dänische Volkspartei im Mittelpunkt. Dieser Anspruch spiegelt sich nicht nur im Parteiprogramm, sondern auch in der Parteistruktur wieder. Da sie eine der am meisten zentrali- sierten Parteien Dänemarks ist, sind internes Hickhack, Strömungspolitik, Streit und der sofortige Parteiausschluss von Abweichlern keine Ausnahme. Steckt dahinter der Versuch, die Fehler ihrer Vorgängerin, der Fortschrittspartei, nicht zu wiederholen, so kritisieren Parteimitglieder an der Führung doch gelegent- lich die übertriebene Steuerung von oben und den Mangel an parteiinterner Demokratie.

Den Versuch, breite Wählerschichten zu erreichen, verknüpfte die Partei mit einem politischen Richtungswechsel hin zur politischen Mitte. Die be-wusste Abkehr von rechtsradikalen Positionen bedeutete aber auch, dass sich die Partei mit den Biographien mehrerer hochrangiger Parteipolitiker, die rechtsradikalen Organisationen angehört hatten, befassen musste. Dazu gehörte unter anderem ein politischer Stilwechsel, wie ihn der neue Parteivor-sitzende Kristian Thulesen Dahl darstellte, der 2012 Pia Kjærsgaard ablöste.

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Um der neuen Mitte-links-Regierung ihre Koalitionsfähigkeit unter Beweis zu stellen, ging die DF ein „loses“ Bündnis mit den Sozialdemokraten ein und tanzte somit auf zwei Hochzeiten. Selbst als sich nach den Wahlen 2015 die Gelegenheit zu einem Bündnis mit der Venstre-Partei ergab, entschied sich die DF zum Verbleiben in der Opposition. Durch die gezielte Zusammenarbeit mit bestimmten Parteien im Parlament übte sie lieber von außen her auf die Regierung Druck aus.

Folglich ist der Einfluss der DF in der dänischen Politik enorm gewachsen. Noch vor 20 Jahren sagte der Parteichef der Sozialdemokraten und damalige Ministerpräsident Poul Nyrup Andersen in einer Parlamentsrede im Oktober 1999: „Deshalb sage ich zur Dänischen Volkspartei: Aus meiner Sicht könnt ihr euch noch so verbiegen, aber aus den Windeln werdet ihr nie herauskommen.“ Heute sind sich die beiden Parteien in den Bereichen Sozialpolitik und Zuwanderung weitgehend einig. Die Sozialdemokraten stellten sich vor Kurzem sogar hinter die Einführung einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen – was einen schockierenden Bruch mit den seit Langem geltenden Grundsätzen dänischer Immigrationspolitik darstellt. Zum ersten Mal seit 1978 lehnt Dänemark die von den Vereinten Nationen beschlossene Quote aufzunehmender Flüchtlinge (500 Menschen pro Jahr) ab.

Auch die links von den Sozialdemokraten stehende Sozialistische Volks- partei (Socialistik Folkeparti/SF) betreibt gegenüber der DF eine Öffnungs- politik, die bis zur Zusammenarbeit geht. Wie die Sozialdemokraten ver-folgt sie eine Verschärfung der Einwanderungs- und Integrationspolitik. Obwohl die SF den Sozialdemokraten weiterhin politisch sehr nahe steht und in der Green European Free Alliance des Europaparlaments Mitglied ist, zeigt die Annäherung der beiden Parteien, wie stark das DF-Parteiprogramm die nationale Politik prägt. Dies lässt sich nicht nur an der Zuwanderungs- und Islam-feindlichen Politik ablesen, sondern ist auch bei Diskussionen in den Massenmedien und generell am immer stärker vergifteten politischen Klima spürbar.

Auch wenn die DF den Sozialstaat lautstark verteidigt, liegen ihre Prioritäten doch in anderen Bereichen. Ihre Kompromissbereitschaft in der Sozialpolitik und bei Haushaltsentscheidungen zeigt, dass sie einem gerechten Sozialwesen nur sekundäre Bedeutung einräumt. Vor allem auf kommunaler Ebene, wo die DF oftmals eine pragmatische Haltung einnimmt, ist sie in puncto Sparpolitik von den anderen Parteien kaum zu unterscheiden. Dies hat die Partei nicht nur auf kommunaler Ebene geschwächt, sondern ihre Zustimmungsraten auch im

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nationalen Durchschnitt absinken lassen. Die Beteuerungen der Partei, gegen Sozialkürzungen zu sein, stimmen mit ihrer politischen Praxis schlichtweg nicht überein.

Rechtsradikale Politik in Mainstream-ParteienIndem die DF den etablierten Parteien Stimmen abnahm, konnte sie das ge-samte politische Spektrum nach rechts verschieben. Sie schuf damit auch rechtsaußen Platz für Parteien, die eine ultraliberale oder extrem immigra-tionsfeindliche Programmatik – oder eben eine Mischung aus beiden – ver-treten. So haben beispielsweise die Nye Borderlige (Neue Bürgerpartei) oder die Danskernes Parti (Partei der Dänen) Verbindungen zu Nazi- und anderen rassistischen Gruppierungen. Letztere löste sich zwar wieder auf, weil sie die für Kandidaturen erforderlichen 20 000 Unterschriften nicht zusammenbekam. Aber die Nye Borderlige konnte an den Gemeindewahlen 2017 teilnehmen. Zur- zeit ist sie für den Eintritt ins dänische Parlament noch zu schwach, doch das könnte sich bei den Wahlen im kommenden Jahr ändern.

Der Rechtsruck spiegelt sich darüber hinaus in der immer schärfer werden-den Einwanderungs- und Flüchtlingsgesetzgebung wieder. Statt für ihr sozial-politisches Programm zu werben, konzentriert die DF ihre Anstrengungen auf anti-muslimische Kampagnen, etwa mit der Forderung nach einem Burka-Ver-bot in Dänemark. Es ist in greifbare Nähe gerückt, seit sich der Europäische Menschenrechtshof mit einem Urteil hinter das belgische Nikab-Verbot in der Öffentlichkeit stellte. Nach einer hitzigen Debatte, die besonders stark in der Venstre-Partei ausgetragen wurde, lag ein „Parlamentarischer Resolutions- entwurf für das Verbot von Vermummung und Ganzkörperbekleidung in der Öffentlichkeit“ zur Abstimmung vor. Da er eher den Anschein eines generellen Vermummungsverbots erweckte und weniger nach einer Attacke auf islamische Kleidung klang, wurde das neue Gesetz 2017 von einer großen Mehrheit verab-schiedet. Zustimmung erhielt es nicht nur von der Venstre-Partei und der DF, sondern auch von der Konservativen Volkspartei, der Liberalen Allianz und be-merkenswerterweise von den Sozialdemokraten. Trotz seines Namens zielt das neue Gesetz zweifellos auf die Kriminalisierung der schätzungsweise 150 bis 200 dänischen Muslimas ab, die Burkas oder Nikabs tragen.

Als Anti-Einwanderer-Partei drängt die DF auf Dänemarks Austritt aus der UN-Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention

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und den UN-Abkommen über die Verringerung der Staatenlosigkeit. Hinter die Behauptung der DF, die Konventionen würden „die Verschärfung der Ein-wanderergesetzgebung verhindern“, hat sich auch die dänische Ministerin für Immigration und Integration, Inger Støjberg (Venstre), gestellt. Mit ihrer gegen Einwanderer und Muslime gerichteten Rhetorik übertrifft sie manchmal sogar den Extremismus der DF.

Die Gesetzesverschärfungen haben die Zahl illegaler Einwanderer nach Dänemark von 23.000 im Jahr 2013 auf etwa 18 000 in den Jahren 2014 und 2015 sinken lassen. Trotzdem ist das politische Klima weiterhin angespannt. Die Regierung hat ihren Versuch, die UN-Flüchtlingskonvention zu „modernisieren“, fallen gelassen und strebt stattdessen die Reform der Europäischen Menschen-rechtskonvention (ECHR) an. Das Ziel besteht laut Inger Støjberg in einem „ausgewogeneren Verhältnis zwischen dem Schutz von Menschenrechten und unserer Fähigkeit zu entscheiden, wie wir unsere Gesellschaft organisieren.“ Die DF beantragte im Parlament vor Kurzem die Nichteinhaltung der EHCR durch Dänemark, der das Land 1953 beigetreten war, mit der erklärten Absicht, die Aus-weisung strafrechtlich verurteilter Ausländer zu erleichtern, die Familienzusam-menführung zu erschweren und die Rechte von „Ausländern mit geduldetem Aufenthaltsstatus“ (das heißt von strafrechtlich verurteilten Ausländern, die nach Absitzen ihrer Gefängnisstrafe nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können, weil ihnen dort Verfolgung droht) zu beschneiden.

Zwar befinden sich fortschrittliche Kräfte, die gegen die DF und ihre Politik auftreten, angesichts dieser zunehmenden Xenophobie in der Defensive, aber immerhin: Es gibt sie. Ein Beispiel dafür ist die Einheitsliste – Die Rot-Grünen, die als wichtigste linke Partei im dänischen Parlament konsequent gegen wei- tere Zuwanderungsbeschränkungen Opposition betreibt. Außerdem sind neue Bürgerinitiativen entstanden, etwa Bedsteforældre for Asyl (Großeltern pro Asyl) und Venligboerne (Freundliche Bürger). Sie widersetzen sich dem ausländer-feindlichen rechten Trend und leisten großartige Arbeit bei der Unterstützung und Verteidigung der vielen Flüchtlinge, die 2015 in Dänemark ankamen.

Populismus und Realpolitik Dennoch ist die DF im Vergleich zu anderen rechtsradikalen Parteien in Eu-ropa nicht besonders „populistisch“. Angesichts der Tatsache, dass sie bei den Parlamentswahlen 2015 vor allem bei ehemaligen liberalen Wählern der

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Venstre-Partei und der Sozialdemokraten auf Zustimmung stieß, ist sie vielleicht sogar als die am wenigsten populistische der rechtsradikalen europäischen Parteien zu bezeichnen. Als sie bei den Wahlen zum Europaparlament 2014 auf 26,7% der abgegebenen Stimmen kam, fand sie bei linken EU-Skeptikern keinerlei Zustimmung. Interessanterweise schloss sich die DF nach den Wahlen nicht der weit rechts stehenden, EU-kritischen Parlamentariergruppe Europe for Freedom and Direct Democracy (EFDD) an, bei denen auch die britische UKIP Mitglied ist, sondern trat den konservativen European Conservatives and Reformists (ECR) bei. Dieser Schritt sollte einem politischen Imageschaden zu-vorkommen und einen möglichen Strategiewechsel abwenden.

Damit bleibt die Partei ihrer Absicht treu, sich in der politischen Mitte mehr Einfluss zu verschaffen. Dasselbe gilt für die gezielt verfolgte Strategie, aus der weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien Kapital zu schla-gen. Denn diese stehen hinter der Austeritätspolitik, lassen die nationale Sou-veränität außer Acht und haben zur EU ein unkritisches Verhältnis. Tatsächlich gelang der DF die geschickte Verknüpfung zwischen der Unzufriedenheit der Wähler und dem Sozialdumping, das von der Zuwanderung aus Osteuropa – ein Ergebnis der Freizügigkeit der Arbeitnehmer auf dem EU-Binnenmarkt – herauf-beschwört worden war. Die DF hängte sich schlicht und einfach an die generelle EU-Skepsis an, die bei vielen aus der dänischen Arbeiterklasse stammenden und anderen Wählern herrschte.

Die Widersprüche zwischen den Verlautbarungen und der tatsächlichen Politik der Partei verdeutlichen dies. Wie gesagt, die DF ist nur auf rhetorischer Ebene EU-skeptisch. Weder lehnt sie die EU als Institution ab, noch ist sie anti-kapitalistisch orientiert. Tatsächlich befürwortet sie den EU-Binnenmarkt mit der Einschränkung, dass es die Möglichkeit geben müsse, aus der Sozialfürsorge auszusteigen. Beim Sozialdumping folgt die Partei demselben Schema. Sie lehnt es lautstark ab, opponiert aber kaum dagegen. Oft stimmt sie sogar gegen Ge-genmaßnahmen. Ihre gewählten Gemeinderäte zeigen sich dabei immer wieder zu Kompromissen bereit, etwa bei Einsparungen bei Sozialhilfeprogrammen. Während sich die DF also als Partei der politischen Mitte und Verfechterin des Sozialstaats geriert, agiert sie in Wirklichkeit als rechte Partei. Die Spannung zwischen dieser zentristischen Programmatik und ihrer rechten Rhetorik spiegelt sich in ihrer populistischen Taktik wieder, womit das Bild, das sich die Wähler von der Partei gemacht haben, aufrechterhalten wird.

Aus dieser Taktik heraus erklärt sich auch der enorme Einfluss der DF auf das politische Geschehen in Dänemark. Von 2001 bis 2011 tolerierte sie die

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bürgerliche Regierung, als sie bei Wahlen zwischen 12 und 13,9% erzielte. Dabei konnte sie mit ihrer Stellung im Parlament Druck auf die Regierung ausüben, die Zuwanderungspolitik zu verschärfen. Als Resultat verschlechterten sich die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für Immigranten und Flüchtlinge dramatisch. An diesem Zustand änderte auch die Nachfolgeregierung, eine Koalition unter der Führung der Sozialdemokraten, kaum etwas. Während der Mitte-links-Regierung (2011-2015), deren Austeritätsmaßnahmen bei großen Teilen der Bevölkerung auf Ablehnung stießen, konnte die DF viele Wähler, die für die Sozialdemokraten gestimmt hatten, für sich gewinnen.

Seitdem ist die DF die stärkste Rechtspartei im dänischen Parlament. Sie unterstützt weiterhin die rechtsbürgerliche Regierung. Nach dem enormen Stimmenzuwachs bei den Wahlen zum Europaparlament im Jahr 2014 ging ihre Strategie, diese Wähler auf Dauer an sich zu binden, allerdings nicht auf. Liegt es daran, dass ihre Taktik, bei den anderen Parteien einwandererfeindliche Stimmungen auszulösen, auf sie zurückfiel? Anders gesagt, wenn sich weitere Parteien die Gegnerschaft zur Zuwanderung auf die Fahnen schreiben, geht der DF dann ihr eigenes Profil verloren? Oder sind es eher die von mir beschriebenen Widersprüche zwischen dem „offiziellen“ Parteiprogramm und ihrer tatsächli-chen Politik, die ihren Erfolg schmälern?

Die radikale Rechte in NordeuropaDer Erfolg der Dänischen Volkspartei hat offenbar damit zu tun, dass in der däni- schen wie in der europäischen Politik die Karten neu gemischt werden. Während viele neue politische Gruppierungen entstehen, verlieren Altparteien an Boden. Das trifft sogar auf die radikale Linke in Europa zu, deren beeindruckender Aufschwung nach der Krise von 2007 bis 2009 wieder zum Stillstand gekommen ist. Dagegen wächst die radikale Rechte auf dem gesamten Kontinent weiter.

Dennoch muss die Untersuchung von Rechtsparteien in Europa berücksich-tigen, dass es von Land zu Land und in Taktik wie Politik deutliche Unterschiede gibt. Die wichtigste Trennlinie ist dabei wohl die Nähe beziehungsweise Ferne zu Nazismus und Faschismus. Eine weitere verläuft entlang der ultra- und neo-liberalen beziehungsweise sozialpolitischen Ausrichtung einer Partei.

Zwar weisen mehrere extremistische Parteien in Europa nazistische oder faschistische Charakteristika auf – vor allem in Ländern mit einer faschistischen Vergangenheit –, doch programmatisch haben sich die meisten Rechtsparteien

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der Abschottung vor Zuwanderung und der Eindämmung der „Kontaminierung“ durch andere Kulturen verschrieben. Während dies in gewisser Weise darauf abzielt, Neueinwanderer und Flüchtlinge zu vergrämen, sind in Westeuropa Vorurteile gegen osteuropäische Migranten, die in der EU auf Arbeitssuche sind, schon länger weit verbreitet. Dass sich in diesen Ressentiments die Ängste vor Lohn- und Sozialdumping ausdrücken, wurde in seinem ganzen Ausmaß vor Kurzem in England deutlich.

Die Dänische Volkspartei und andere rechtsradikale europäische Partei-en legen anscheinend keinen besonders großen Wert auf internationalen Beziehungen. Dennoch pflegen sie ihre eigenen inner-europäischen Netz- werke. Nach den Wahlerfolgen populistischer und anderer Rechtsparteien in Österreich und in einer Reihe von osteuropäischen Staaten entsandte die DF Glückwunschschreiben. Distanziert hat sie sich lediglich vom französischen Front National wegen dessen Antisemitismus. Verbindungen bestehen auch zwischen mehreren skandinavischen Rechtsaußenparteien, besonders auf der interparlamentarischen Ebene. Im Jahr 2012 richteten die Dänische Volks- partei, die finnische Perussuomalaiset (Wahre Finnen) und die schwedische Sverigedemokraterne (Schweden-Demokraten) im Nordischen Rat einen sozi-alkonservativen politischen Verbund namens „Nordic Freedom“ ein. Die Schwe-den-Demokraten stehen der DF nahe, sind aber weit von der Regierungsmacht entfernt, weil die anderen schwedischen Parlamentsparteien die Zusammenar-beit mit ihr verweigern. Die Wahren Finnen beteiligten sich zwar zusammen mit anderen Parteien an der Regierung, doch die Koalition hielt nicht lange und die Partei musste innerlich geschwächt eine Spaltung hinnehmen.

Die Beziehungen zwischen den nordischen Rechtsparteien verlaufen nicht ohne Komplikationen. Die DF hat beispielsweise ein schwieriges Verhältnis zur norwegischen Fremskrittspartiet (Fortschrittspartei), die 2017 zum zweiten Mal in Folge in der Regierung vertreten ist und als bisher erfolgreichste skandina-vische Rechtspartei gilt. Die Beziehung leidet wahrscheinlich darunter, dass die norwegische Partei mehr neoliberal denn rechts orientiert ist und sich damit von der Programmatik der DF unterscheidet.

Strategische Perspektiven Am Beispiel der Dänischen Volkspartei zeigt sich, dass radikal rechte Parteien in Europa kein neues Phänomen sind. In den jüngsten Krisenjahren sind sie

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allerdings strategisch erfolgreicher und sichtbarer geworden. Zweifellos geht das Wachstum der DF neben anderen Faktoren auf die wachsende Zuwan-derung zurück, die wiederum eine Folge westlicher Einmischung und Kriegs-führung im Nahen Osten ist. Heute zehrt die radikale Rechte in Westeuropa von Krisen, Turbulenzen, Zuwanderung, Terroranschlägen, zunehmender Ungleich- heit, sozialer Unsicherheit, Bevölkerungsängsten und dem Argwohn gegen Poli-tiker etablierter Parteien, die unfähig oder unwillig sind, sich der Situation zu stellen.

In diesem Zusammenhang hat eine Reihe von Faktoren der DF zum Erfolg verholfen: die Anpassungsfähigkeit der Partei; ihre Behutsamkeit im Umgang mit Taktik und Strategie; ihre Fähigkeit, der Entfremdung von Wählern durch die Distanzierung von extremistischen Positionen wie Faschismus und Nazismus zuvorzukommen; sowie ihre Zurückweisung von Ultraliberalismus bei gleich-zeitiger Betonung einer sozialen Politik. Mithilfe dieser Kombination hat die DF viele Ziele erreicht, die andere rechtsradikale Parteien in Europa ebenfalls haben. Das oberste besteht in der verstärkten Einflussnahme auf die staatliche Zuwanderungspolitik und betrifft insbesondere muslimische Einwanderer. Weitere Ziele sind die Herstellung eines noch fremdenfeindlicheren Klimas so- wie die Stärkung von Nationalismus und EU-Skepsis.

Über die Zukunft der DF Prognosen abzugeben fällt nicht leicht. Bei den Ge-meindewahlen im November 2017 musste sie mit 8,8% einen starken Stimmen-verlust hinnehmen, während es 2013 noch 10,1% gewesen waren. Das Ergebnis schockierte die Partei, da sie gehofft hatte, ihre Erfolgssträhne bei den Parla-mentswahlen auch auf kommunaler Ebene fortsetzen zu können. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich das lose Bündnis mit den Sozialdemokraten für die DF bei den Gemeindewahlen nicht auszahlte. Tatsächlich hatten sich viele Wähler nach der Einleitung scharfer Austeritätsmaßnahmen von der regierenden Ven-stre-Partei abgewendet und dann den Sozialdemokraten zum Sieg verholfen.

Dagegen hinterließ die DF in der Gemeindepolitik, bei der es konkret und pragmatisch zugeht, keinen guten Eindruck. Um das „Haushaltsgesetz“ – den EU-Fiskalpakt, dem Dänemark 2012 zustimmte, obwohl es kein Euro- bzw. EMU-Mitgliedsland ist – einzuhalten, setzte das dänische Parlament den Kom-munen enge Grenzen bei öffentlichen Ausgaben. Das Ergebnis sind unpopuläre Kürzungen sozialer und anderer Leistungen sowie damit verbundene Privati- sierungsmaßnahmen. Der Pakt lässt der großen Mehrzahl der Parteien inklusive der DF auf der kommunalen Ebenen keine andere Wahl, womit sie ihre eigene Haltung gegen die Austeritätspolitik zwangsläufig kompromittieren.

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Die Niederlage der DF bei den Kommunalwahlen wirkt auf nationaler Ebene nach. Meinungsumfragen von Oktober bis November 2017 weisen auf einen kleinen, aber eindeutigen Abschwung hin. Dass es sich dabei um einen Wen-depunkt in der Parteientwicklung handelt, darf jedoch bezweifelt werden. Denn schon früher gab es solche Höhen und Tiefen. Außerdem sind alle Vorausset- zungen, die zur Entwicklung dieser rechtsradikalen Parteien führten, weiterhin gegeben. Nichts deutet in Europa auf ein baldiges Krisenende hin.

Und doch gibt es zum „Extremismus“ hin anscheinend eine Obergrenze, die die dänische radikale Rechte nicht überspringen darf, wenn sie weiterhin auf die Gunst der Wähler zählen will. So blieb der Neuen Bürgerpartei bei den jüngsten Kommunalwahlen der Durchbruch versagt. Trotz des Medienwirbels, der sie umgab, kam sie auf gerade einen einzigen Sitz. Die Lektion daraus ist, dass ein fremden- und zuwanderer feindliches Programm wahrscheinlich nicht länger ausreicht, um so erfolgreich wie die DF zu werden. Da viele Europäer trotz der Beschränkungen für Zuwanderer immer weniger wirtschaftliche Aufstiegs- möglichkeiten haben, wird die DF einiges überdenken müssen. Das gesamte nach rechts gerückte politische Spektrum findet keine Antwort mehr auf die heikle wirtschaftliche Lage der Mehrzahl der dänischen Wähler. Auf jeden Fall wird die wachsende Kluft zwischen einer größer werdenden Arbeiterklasse und einer kleinen, aber immer reicher werdenden europäischen Oberschicht nicht von Zuwanderung, kultureller „Überfremdung“ oder von durchlässigen Grenzen verursacht, wie die Rechten gerne behaupten, sondern von einem unbarmherzi-gen Neoliberalismus. ◼︎

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Rechtspopulismus im nordischen Stil

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Die westliche Welt befindet sich im politischen Umbruch: Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus sind auf dem Vormarsch. Sozialdemokratie und die Reste der politschen Linken verharren in einer schweren politischen und ideolo- gischen Krise. Doch nicht nur die Sozialdemokratie hat schwer zu kämpfen. Die gesamte politische Ordnung, die nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweitem Weltkrieg entstand, ist heute sowohl links wie rechts am Bröckeln. Es handelt sich um eine Folgeerscheinung der Auflösung des historischen Kompro-misses zwischen Kapital und Arbeit, der die politische Entwicklung der Nach-kriegszeit geprägt hatte.

Es ist wohl kaum überraschend, dass dies in einer Zeit der neoliberalen Offensive des Kapitals erfolgt, deren Ziele die Arbeiterklasse und die Bevölke- rung ganz allgemein sind. Es handelt sich um einen massiven Angriff auf die Gewerkschaften sowie auf die sozialen Rechte der Bevölkerung. Da die So-zialdemokratie und die politische Linke die Krise nicht ausreichend verstehen bzw. konfrontieren, sind sie zu ihrer Bekämpfung nicht in der Lage. Die daraus resultierende Unzufriedenheit, Unsicherheit und Angst unter weiten Teilen der Bevölkerung sind zum großen Teil in eine politische Wende nach rechts gemün-det. Die extreme Rechte und rechtspopulistische Parteien haben diese Situation schnell ausgenutzt und konnten sie in einer Reihe von europäischen Ländern in Wahlerfolge ummünzen.

Um dieser politischen Herausforderung gerecht zu werden, müssen wir uns zunächst über das Wesen des Rechtspopulismus, die externen Bedingungen für sein Wachstum sowie die gescheiterten Lösungsansätze der Linken klar werden.

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Wie der norwegische Fall zeigt, nehmen nicht alle rechten Parteien extremis-tische Formen an, sondern geben sich stattdessen gemäßigt rechtspopulistisch. Die Fortschrittspartei, die nun zum zweiten Mal mitregiert, manövriert gekonnt zwischen populistischer Rhetorik und neoliberaler Realpolitik, um an der Macht zu bleiben.

Historischer HintergrundIn den letzten dreißig bis vierzig Jahren haben sich in Europa rechtsradikale und rechtspopulistische Parteien in verschiedenen Ausformungen entwickelt. Sie be-sitzen unterschiedliche Eigenschaften und länder- bzw. regionalspezifische Ei-genheiten. Die Norwegische Fortschrittspartei, die seit ihrer Gründung 1973 viele Wandlungen durchgemacht hat, hat viele Gemeinsamkeiten mit anderen recht-en Parteien in Europa. Ihre Gründung wurde von der ein Jahr zuvor von Mogens Glistrup gegründeten Dänischen Fortschrittspartei inspiriert und beeinflusst. Es gibt jedoch auch wesentliche Unterschiede zwischen der Norwegischen Fortschrittspartei und anderen rechten Bewegungen in Europa, darunter partei-interne Auseinandersetzungen und Spaltungen. So hat die Partei seit Jahren mit Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen und politischen Tendenzen zu kämpfen.

Die Fortschrittspartei begann als Ein-Mann-Vorstellung und unter einem anderen Namen, dem ihres Gründers Anders Lange – als Anders Langes Partei für eine starke Senkung von Steuern, Zöllen und öffentlichen Eingriffen (ALP). Anders Lange war ein reaktionärer politischer Aktivist, Agitator und Journalist. Den Großteil der 1930er Jahre über hatte er das rechte politische Bündnis Vater-landsliga geleitet, das viele als faschistische Organisation bezeichneten. Trotz- dem schloss er sich im Zweiten Weltkrieg der Widerstandsbewegung gegen die Besatzung Norwegens durch die Nazis an.

Die neue Partei brach mit dem starken politischen Konsens der Nach-kriegszeit, der den Sozialstaat befürwortete, und kritisierte die hohen Kosten und die Bürokratie der staatlichen Sozialleistungen. An deren Stelle sollten laut der Partei mehr Bedürftigkeitsprüfungen treten. Die Botschaft der Partei war simpel: billiger Schnaps; keine Entwicklungshilfe für „die Schwarzen“; Frauen sind für die politische Arbeit ungeeignet; Steuer- und Gebührenkürzungen; Kampf dem Missbrauch von Sozialhilfeleistungen. Das politische Programm bestand ganz einfach aus vierzehn Punkten, die alle mit dem Halbsatz „Wir

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haben genug von...“ begannen. Weithin bekannt war die Unterstützung des südafrikanischen Apartheid-Staates durch den Parteichef. Mehreren Quellen zu-folge erhielt die Partei umgekehrt finanzielle Unterstützung aus Südafrika und Rhodesien.

Nur fünf Monate nach ihrer Gründung erhielt die APL 5,1% der Stimmen und vier Abgeordnetensitze. Nun gab es ganz eindeutig eine wachsende Zahl von Menschen, die mit dem norwegischen Sozialstaat unzufrieden waren. 17% der für die APL abgegebenen Stimmen kamen von Erstwählern, 12% waren vormalige Nichtwähler, 46% kamen von der Konservativen Partei und 30% von der Arbeitspartei. Was die soziale Stellung dieser Wähler angeht, so waren 22% Selbständige, 32% Angestellte und 46% Arbeiter.

Die ALP entstand inmitten starker politischer Turbulenzen, während gleich- zeitig interne Auseinandersetzungen die etablierten norwegischen Parteien erschütterten. 1972 fand in Norwegen das erste Referendum über eine Mitglied-schaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) statt. Die Debatte darüber polarisierte die Parteien und viele zivilgesellschaftliche Organisationen wie kaum eine andere zuvor, führte gleichzeitig aber auch zu einer gesamtge-sellschaftlichen Politisierung. Der Streit machte eine tiefe Kluft zwischen der Bevölkerung und den Eliten deutlich. Letztere befürworteten die EWG-Mitglied-schaft Norwegens. Die Ablehnung der EWG-Mitgliedschaft löste ein politisches Erdbeben aus, das die politische Entwicklung in Norwegen bis heute prägt. Da die Gegnerschaft hauptsächlich links verortet war, nutzte die EWG-Debatte dann auch der Linken am meisten.

Ein Ergebnis dieser Streitigkeiten und Debatten war die Gründung des so-zialistischen Wahlbündnisses, bestehend aus der Sozialistischen Volkspartei, der Kommunistischen Partei, einer Fraktion der Arbeitspartei und einer Gruppe von unabhängigen Abgeordneten. Heute heißt dieses Bündnis Sozialistische Linkspartei (SV). Dieselbe Wahl, die der ALP zum ersten Mal Sitze im Parla-ment bescherte, verhalf der Sozialistischen Linkspartei zu einem noch größeren Durchbruch von 11,2% beziehungsweise 16 Abgeordneten. Zweifellos hatte diese Stärkung der Linken einen gewissen Anteil an der Gründung der neuen rechtspopulistischen Partei, denn was die Frage des EWG-Referendums angeht, war man im linken Bündnis gespalten. So befürwortete die Parteiführung der Arbeitspartei den EWG-Beitritt, während die meisten Mitglieder ihn ablehnten. Als Ergebnis gehörte die Partei bei der Wahl 1973 zu den großen Verlierern und rutschte von 46,5% der Stimmen bei der vorangegangenen Wahl auf nunmehr 35,3% ab.

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Die beiden Neuen handelten sich allerdings 1977 schwere Niederlagen ein. Der SV ging fast unter und verlor 14 ihrer 16 Abgeordneten. Die ALP unter ihrem umstrittenen Führer hatte sich den Ruf einer Partei von „Dorftrotteln“ eingehandelt, erhielt nur 1,9% der Stimmen und verlor sämtliche Sitze. Die Neugründung der Partei war jedoch bereits im Gange. Im Januar 1977 erhielt sie den Namen Fortschrittspartei. Als Nachfolger des Parteigründers, der 1974 gestorben war, übernahm Carl I. Hagen 1978 den Vorsitz. Als Gesicht und Mo-tor der Partei war er gleichsam zu ihrem alles dominierenden „Besitzer“ ge-worden, bis er 2006 seinen Vorsitz abgab und 2009 seine Abgeordnetenkarriere beendete.

Unter Hagens Führung war die Fortschrittspartei von einer Protestpartei der Unzufriedenen zu einem zweimaligen Koalitionspartner der Regierung geworden. Im Jahr 2013 erhielt die Fortschrittspartei bei den Wahlen 16,3% der Stimmen, 2017 waren es 15,2%. Nur wenige Regierungsparteien, ob rechts oder links, können auf eine so konstante Wählerschaft zurückgreifen.

Neoliberale Wirtschaft und reaktionäre KulturIn den 1980er und 1990er Jahren trat in der Fortschrittspartei eine Reihe von Konflikten zwischen verschiedenen Strömungen an die Oberfläche. Zum einen ließ sich der unangefochtete Parteichef Carl I. Hagen ideologisch vom Neoli- beralismus Margaret Thatchers und Ronald Reagans inspirieren. Die Ideologie der sogenannten wirtschaftlichen Globalisierung und des Freihandels wurde von der Partei bereitwillig übernommen – mehr noch als von der Konservativen Partei. Zweitens entwickelte sich eine rechtspopulistische Strömung, die sich der Gegnerschaft gegen das „Establishment“, die Bürokratie, den Staat und zunehmend auch gegen die Einwanderer verschrieb. Zum Dritten bildete sich eine sozialkonservative christliche Strömung heraus. Zur Existenz dieser Strö-mungen kam eine Serie von Polit- und Sexskandalen hinzu, die Carl I. Hagens Hauptziel, der zersplitterten Partei zur Regierungsmacht zu verhelfen, zu einer großen Herausforderung machte. Er musste nicht nur für den Ausgleich der drei Strömungen sorgen, sondern auch für die Entschärfung der manchmal für über-zogen geltenden Rhetorik der Liberalen und der Rechtspopulisten, was jedoch nur teilweise von Erfolg gekrönt war, nicht zuletzt weil der Parteichef manchmal selbst rhetorisch über die Stränge schlug. In der Partei arteten Meinungsver-schiedenheiten regelmäßig in offene Kämpfe aus, was sowohl Ausschlüsse als

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auch Abspaltungen zur Folge hatte – eine Entwicklung, mit der die Konservative Partei weiterhin nichts zu tun haben wollte.

Anfang der 1970er Jahre, als die Partei gegründet wurde, war die Einwan-derungsrate nach Norwegen sehr niedrig. 1975 wurde ein generelles Einwan-derungsverbot verhängt. Trotzdem kamen in den 1980er Jahren mehr Immi-granten ins Land. Bei den Kommunalwahlen 1987 machte die Fortschrittspartei mit einer einwanderungsfeindlichen Rhetorik erstmals wieder auf sich auf-merksam – mit großem Erfolg: Die Partei verdoppelte in diesen Wahlen ihren Stimmenanteil auf 10,4%. Seitdem spielt einwandererfeindliche Politik in nahezu jedem Wahlkampf (vielleicht mit Ausnahme der Wahl von 1993) eine wichtige Rolle.

Im Vorfeld der Kommunalwahlen war eine relativ große Gruppe von jungen, gut ausgebildeten und ehrgeizigen Liberalen in die Partei eingetreten. Sys-tematisch arbeiteten sie sich innerhalb der Parteiorganisation hoch, zunächst durch die Übernahme der Jugendorganisation und dann weiterer wichtiger Parteiposten. In einer frühen Phase hatte sich der Parteichef mit den Liberalen verbündet, um einige der Anti-Immigrations-Extremisten zu „jagen“ und aus der Partei auszuschließen. Nach getaner Arbeit stellten die erstarkten Liberalen eine Bedrohung für das parteiinterne Gleichgewicht dar, weshalb der Parteichef gegen sie vorging. Die Folge war ein mit harten Bandagen ausgetragener Macht-kampf. Auf dem Parteitag 1994 löste die Parteiführung die Jugendorganisation auf. Die Liberalen wurden ausgeschaltet und verschwanden nach und nach. Nach dem Ausschluss einiger weiterer Extremisten mit immigrationsfeindlichen Ansichten konsolidierte sich die Partei auf einer gemeinsamen Grundlage, deren Hauptelemente eine neoliberale Wirtschaftspolitik und eine konservativ-reak-tionäre Auffassung von Kultur und Wertvorstellungen sind. Hinzu kommt, dass sich die Partei, trotz aller Wandlungen und Brüche, geschlossen feindselig gegenüber der Gewerkschaftsbewegung sowie gegenüber Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechten verhält.

Wiederholt wurde der Fortschrittspartei Rassismus vorgeworfen, was sie jedoch scharf zurückweist. Dies ist insofern in gewisser Weise berechtigt als die Partei zumindest vordergründig nicht für einen biologistisch begründeten Rassismus steht. Allerdings besteht sie auf die „Heterogenität der Kulturen“ und das angebliche „Recht eines Volks auf Identität“. So malt die Partei ein Szenario an die Wand, in dem Einwanderung per se eine weltweite Bedrohung darstellt und für einen Großteil der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturel-len Übel in der Gesellschaft verantwortlich sein soll. Fremdenfeindlichkeit

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und Islamophobie stehen dabei inzwischen im Mittelpunkt, während gleich- zeitig norwegische Kultur und Tradition verrherrlicht werden. Um parallel dazu ihre Regierungsfähigkeit zu unterstreichen, distanziert sich die Partei von den schlimmsten fremdenfeindlichen Auswüchsen, indem beispiels-weise Parteimitglieder, die eine unsichtbare rote Linie überschritten haben, ausgeschlossen werden.

Um nicht als rassistische oder extremistische Partei zu gelten, sucht sich die Führung außerdem ihre europäischen Kooperationspartner mit besonderer Vorsicht aus. Zu rechtsradikalen Parteien wie dem französischen Front National, der Freiheitlichen Partei Österreichs oder der niederländischen Partei für die Freiheit hält sie Abstand. Die Fortschrittspartei unterhält darüber hinaus keine formalen Beziehungen zu den extrem rechten oder rechtspopulistischen Partei-en in Schweden, Finnland und Dänemark. Der langjährige Vorsitzende Carl I. Hagen hat sogar darauf bestanden, dass sich die Partei irgendwo zwischen der Arbeitspartei und der Konservativen Partei ansiedelt – eine Aussage, die für viele freilich nicht besonders überzeugend klang. Dennoch gilt die Norwegische Fortschrittspartei – in vielerlei Hinsicht zurecht – als eine der gemäßigteren rechtspopulistischen Parteien in Europa.

Parallel zu ihren Bemühungen, manche (aber beileibe nicht alle) Extremisten aus der Partei auszuschließen, bemühen sich die Parteiführer um die Anerken-nung durch andere Parteien, insbesondere denen von Rechts und Mitte-rechts, die nach wie vor nichts mit ihnen zu tun haben wollten. Anfang der 1980er Jahre hatte Norwegen eine Minderheitsregierung unter Führung der Konservativen Partei, der später zwei kleine Mitte-rechts-Parteien beitraten. Obwohl es kein formales Abkommen mit ihr gab, war diese Regierung in Wirklichkeit auf die Unterstützung der Fortschrittspartei angewiesen, die diese aber nicht mehr wie bisher ohne Gegenleistung gewähren wollte. Das machte sie 1986 bei einem relativ unbedeutenden Votum über höhere Benzinpreise deutlich, als sie die Op-position gegen die Mitte-links-Regierung unterstützte und diese zu Fall brachte. Sobald die Arbeitspartei die Regierungsgeschäfte übernahm, war den Konserva-tiven deutlich geworden, dass sie die Unterstützung durch die Fortschrittspartei fortan nicht mehr für bare Münze nehmen durften und mit ihr das Gespräch suchen mussten.

Als weiteren wichtigen strategischen Schritt erklärte die Partei, sie würde eine Regierung nur als Koalitionpartner unterstützen. Auf diese Weise verschaffte sie sich mehr Bedeutung und wurde in einer politischen Situation, in der eine rechte Regierung nur in einer Koalition eine Stimmenmehrheit erzielen konnte,

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letztendlich unverzichtbar. Nach außen hin leicht aufgehübscht, mit einem nach allen Seiten hin offenen Parteiprogramm und mithilfe einer modernisierten PR-Strategie verschaffte sie sich allmählich mehr Unterstützung. Seit Mitte der 1990er Jahre bewegt sie sich bei Parlamentswahlen auf einer Schwankungsbrei- te zwischen 15 und 23%. Damit ist die Fortschrittspartei neben der Arbeitspartei und der Konservativen Partei zu einer der drei großen norwegischen Parteien geworden (siehe Tabelle Wahlergebnisse). In einer Meinungsumfrage von 2000 kam sie auf 33% Zustimmung und war damit die stärkste Partei Norwegens – und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als das Land von der am meisten rechts stehenden sozialdemokratischen Regierung seiner Geschichte unter Jens Stoltenberg regiert wurde. 2006 trat Siv Jensen vom gemäßigt-liberalen Flügel die Nachfolge von Carl I. Hagen als Parteichef an. Damit entfiel ein weiteres Hin-dernis auf dem Weg zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien. 2013 wurde ihr Traum wahr: Die Fortschrittspartei war regierungsfähig.

Jahr ‘73 ‘77 ‘81 ‘85 ‘89 ‘93 ‘97 ‘01 ‘05 ‘09 ‘13 ‘17

Prozent 5,0 1,9 4,5 3,7 13,0 6,3 15,3 14,6 22,1 22,9 16,3 15,2Abge-ordnete 4 0 4 2 22 10 25 26 38 41 29 27

Tabelle: Die Fortschrittspartei – Ergebnisse der Parlamentswahlen

Die Fortschrittspartei: Symptom oder Ursache?Wie war es nur möglich, dass eine rechtspopulistische Anti-Establishmentpartei zu einer der drei größten politischen Kräfte in Norwegen werden konnte – in einem hoch entwickelten, friedlichen Sozialstaat, der seit Langem auf den internationalen Ranglisten der „besten Länder, in denen es sich zu leben lohnt“ steht?

Ein Grund für den Aufstieg des Rechtspopulismus in Norwegen ist die Partei selbst: ihre provokante Rhetorik, ihre Sündenbock-Politik, ihre einfachen Antworten auf alle Probleme und ihre verführerischen Botschaften. Darüber hinaus ist jedoch auch auf die wirtschaftlichen und politischen Änderungen hinzuweisen, die die Spielräume für Rechtsradikalismus und Populismus erst geschaffen haben. Zwei wichtige Entwicklungen seien an dieser Stelle an- geschnitten: Zum einen ist die stabile Nachkriegsordnung mit einem

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wirtschaftlichen Aufschwung, der für den sozialen Frieden sorgte, nicht mehr gegeben. Ihre Voraussetzung waren ein starkes Wachstum sowie Machtverhält-nisse, die die Teilhabe am Wohlstand möglich machten. Zum anderen verändert sich die politische Landschaft als Folge von wirtschaftlicher Krise und Stagna-tion, die kapitalistische Ökonomien seit den 1970er Jahren kennzeichnen.

Das Ende der Nachkriegszeit war von wirtschaftlichen und sozialen Um-brüchen geprägt. Die Ölkrise, der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Sys-tems fester Wechselkurse, die Zunahme von Inflation und Stagflation so- wie wachsende Arbeitslosigkeit – kurz, eine neue Krise der kapitalistischen Wirtschaft – riefen Veränderungen hervor, die bei den Menschen wiederum Verwirrung, Unsicherheit und Angst auslösten. Auch wenn die Krise in Norwe-gen milder ausfiel als in den meisten anderen westeuropäischen Ländern, so waren ihre Auswirkungen doch spürbar und wiesen in dieselbe Richtung. Mit einer keynesianischen Wirtschaftspolitik waren sie nicht mehr abzuwenden. Der Sozialstaat wurde heftig dafür kritisiert, dass er die an ihn gestellten Er-wartungen nicht mehr erfüllen konnte sowie überbürokratisiert, hierarchisiert und zu kostspielig war. Der relativ stabile Klassenkompromiss zwischen Kapital und Arbeit, der die westeuropäische Nachkriegsperiode geprägt hatte, begann sich aufzulösen. In Reaktion darauf griffen kapitalistische Interessensgruppen und ihre Vertreter in der Politik nach der Ideologie des Neoliberalismus, von dem man sich Hilfe bei der Krisenbewältigung und die Rückkehr zu stabilen Profitraten erhoffte.

Zugleich jedoch hingen große Teile der Arbeiterbewegung weiterhin der Sozialpartnerschaftsideologie an in dem Glauben, dass Kapitalisten Vernunft angenommen hätten und, wie norwegische Gewerkschaftsführer noch heu-te behaupten, „erkannt haben, dass Kooperation auch für sie selbst besser ist als Konfrontation“. Die Krise und die ihr folgende neoliberale Offensive in den 1970er und 1980er Jahren überraschten die sozialdemokratischen Partei-en, die sich in der Nachkriegszeit entpolitisiert und entradikalisiert hatten. In den meisten Fällen hatten sich diese Parteien von Massenbewegungen, die Arbeiter repräsentiert und mobilisiert hatten, in Verwalter eines im-mer loser werdenden Klassenkompromisses verwandelt und entsprechend auch ihre soziale Basis verändert. Genau das traf auch auf die norwegische Arbeitspartei zu.

Statt für fortschrittliche Antworten auf die Krise zu sorgen, etwa durch mehr demokratische Kontrolle der Wirtschaft, ließen sich diese Parteien von der neoliberalen Offensive überrollen, der sie sich ideologisch mehr und mehr

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anpassten. Davon stark betroffen war auch die der Arbeitspartei eng verbundene Gewerkschaftsbewegung. Das war der Anfang vom Ende des Klassenkompro-misses in Europa und bedeutete – statt der Weiterentwicklung des Sozialstaats – den Auftakt zu einer neuen Phase des Angriffs auf ihn. Einen Anteil an dieser Entwicklung haben auch die politischen Parteien links der Sozialdemokratie. Sie sind nicht in der Lage, Zukunftsvorschläge zu machen und Lösungsansätze zu entwickeln. Damit tragen sie zur Entmutigung der jüngeren Generation bei und machen es denen schwer, die alternative linke Antworten auf die Krise suchen.

Angesichts der schweren politischen und ideologischen Krise links der politischen Mitte konnte die radikale Rechte aus dem Gefühl von Unsicherheit, Angst und Sorgen in Teilen der Bevölkerung Kapital schlagen. Dabei geht die Norwegische Fortschrittspartei recht geschickt vor. Sie greift die Unzufriedenheit der Menschen auf und kanalisiert sie gegen „die Anderen“ – seien es alleiner-ziehende Mütter, Sozialhilfeempfänger oder Einwanderer. Zu den wirklichen Ursachen und den treibenden Kräften hinter den Problemen hat sie dagegen nichts zu sagen. Die Partei stellt sich vielmehr als die Partei der einfachen Leute dar – und somit als Partei gegen das Establishment und die Eliten sowie gegen die alten regierenden Mainstreamparteien.

Einfluss auf die nationale Politik und ParteienDie Fortschrittspartei verlor zwar zusammen mit ihrem Koalitionspartner, der Konservativen Partei, bei den Parlamentswahlen im September 2016 Stimmen, aber es reichte trotzdem für eine zweite Amtszeit als Regierungskoalition. In vielen politischen Medienkommentaren sowie von Seiten der Linken wurden der Fortschrittspartei mehr Probleme prophezeiht als dann wirklich eintraten. Offensichtlich trug die steil ansteigende Zahl syrischer Einwanderern im Jahr 2015 dazu bei, dass die Unterstützung für die Fortschrittspartei wuchs. Vor die- ser Krise hatte sie sich in einem Abwärtstrend befunden und beispielsweise bei den Kommunalwahlen 2015 nur 9,5% erhalten, das heißt sieben Prozentpunkte weniger als bei den vorhergehenden Parlamentswahlen. Ein weiterer Grund war die ausbleibende Opposition der Arbeitspartei. Weder war sie zu fortschrittli-chen, alternativen Politik- und Lösungsvorschlägen in der Lage, noch konnte sie die Fortschrittspartei entlang ihrer Schwachpunkte, der Wirtschafts- und Sozial-politik, vorführen.

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Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Fortschrittspartei der Übergang vom rauhbeinigen Populismus zur „Verantwortung in der Regierung“ nicht leicht fällt. Dabei sticht etwa die Diskrepanz zwischen den alternativen Haushaltsentwürfen der Partei in der Opposition und ihren offiziellen Budget-vorschlägen als Regierungspartei hervor, wobei erschwerend hinzukommt, dass der Parteichef Finanzminister wurde. Die Bagatellisierung der Politik dagegen fällt der Partei ausgesprochen leicht. Gegenüber ihren Wählern bemüht sie eine Rhetorik, die sich auf Nebensachen wie Mautgebühren, Zollfreiheit an Flughäfen oder den Gebrauch von Wasserscootern im Meer versteigt, während grundsätzliche Wirtschafts- und Strukturfragen in Hinterzimmern ausgehan-delt werden. Um die gelegentlich aufkommende Unzufriedenheit in den eigenen Reihen aufzufangen, üben sich die Parteichefs gerne in einer Art Dop-pelkommunikation – so, als sei die Partei eine Straße mit zwei entgegengesetzen Fahrtrichtungen. Ein politischer Vorschlag und sein genaues Gegenteil haben dann eben unter demselben Parteidach ihren Platz. Die Partei scheint hinter beiden Inhalten zu stehen. Auf diese Weise können die Regierungsmitglieder der Fortschrittspartei einen Entwurf einhellig unterstützen, während ihre Mit-glieder im Parlament ihn ablehnen und in die Änderungsausschüsse verweisen. Ein politischer Kommentator bezeichnete dies als eine neue Art von Parlamen-tarismus, in dem die Partei „nur teilweise in der Regierung sitzt.“ Zweifellos ist dieses Vorgehen der Fortschrittspartei aufwändig und mit Risiken verbunden, vor allem auf lange Sicht.

Die Konservative Partei hat das politische Manövrieren der Fortschrittspartei dennoch längst akzeptiert. So bringt die konservative Ministerpräsidentin überraschend großes Verständnis für die Doppelzüngigkeit ihrer Minister aus der Fortschrittspartei auf. Dies ging bis hin zur Aufnahme eines der schärfsten immigrationsfeindlichen Politiker in ein Ministeramt – als zuständiger Minister für Immigration. Auf diese Weise wird die Unzufriedenheit mit der bestehenden Ordnung verstärkt und gleichzeitig Angst vor „den Anderen“ – den Einwander-ern und Muslimen sowie vor allem, was fremd und unbekannt ist – verbreitet. Polarisierung und Stigmatisierung gehören zum politischen Instrumentarium der Fortschrittspartei. Weil ihr die scharfe Anti-Einwanderungsrhetorik aufstößt, lehnt die Christdemokratische Partei, auf die die koalierende Minderheitsre-gierung für Mehrheitsbeschlüsse angewiesen ist, einen Regierungsvertrag mit der Fortschrittspartei, wie sie ihn in der ersten Regierungsperiode noch unter- zeichnet hatte, bis auf Weiteres ab. Stattdessen stimmt sie von Fall zu Fall ab. Die Regierung ist deshalb schwächer als vor der jüngsten Wahl.

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Erstarken einer neuen KonfliktachseDie Fortschrittspartei hat sich im Lauf der Jahre stark verändert. Anfangs op-ponierte sie gegen hohe Steuern und staatliche Bürokratie. Dann kritisierte sie mit einigem Recht Missstände im Sozialstaat, etwa sinnlose Regeln oder Hie- rarchiegehabe in Amtsstuben. Spätestens Ende der 1980er Jahre war jedoch aus der Steuerprotestpartei eine Anti-Einwandererpartei geworden, wobei sie ihre Grundlage, ein neoliberales Wirtschaftsprogramm und die Unterstützung für wirtschaftliche Globalisierung und Freihandel, beibehielt. Sie wühlte die bestehende Parteienlandschaft auf und konnte sich so bis zu den Stammwähler-schaften bestehender Parteien vorarbeiten.

Von Anfang an war die Fortschrittspartei mit verantwortlich für die zuneh-mende politische Polarisierung in Norwegen. Sie hat Segmente der norwe-gischen Gesellschaft gegeneinander ausgespielt und in Wahlkämpfen eiskalt kalkulkierend die Migrationskarte gezückt. Zweifellos ist nichts anderes als die Einwanderungspolitik der Hebel, mit dem die Fortschrittspartei bei anderen politischen Parteien, einschließlich der Konservativen und der Arbeitspartei, am Wirkungsvollsten ist. In dieser Hinsicht war die Lücke zwischen den Rechts- populisten und der Arbeitspartei nie besonders groß. Letztere begab sich mehr oder weniger folgerichtig mit nicht allzu weitem Abstand in deren Fußstapfen. Der große Unterschied besteht auf der rhetorischen Ebene, wo die Arbeitspartei eine gemäßigte Sprache spricht, während die Fortschrittspartei eine offene harte Linie fährt. Die politischen Differenzen zwischen beiden Parteien dagegen sind in dieser Frage unwesentlich.

Tatsächlich gibt es bei der sozialen Basis der Fortschrittspartei mit der Ar-beitspartei größere Überschneidungen als mit den Konservativen, auch wenn der Fortschrittspartei die meisten Wähler von der Konservativen Partei zuwan-derten. Nach einer Umfrage von 2013 wurde die Fortschrittspartei zu 61% von Männern und zu 39% von Frauen gewählt. 22% ihrer Wähler waren lohnabhän-gige Arbeiter. Die Wählerschaft der Arbeitspartei kam dagegen auf nur 14% Arbeiteranteil. Der größte Unterschied zwischen den Parteien hinsichtlich ihrer sozialen Basis besteht zwischen den öffentlich und den privatwirtschaftlich Be- schäftigten. Die in Zahlen gerechnet größte Unterstützung für die Arbeitspartei kommt von Angestellten der staatlichen und anderer öffentlicher Sektoren. Die Fortschrittspartei kann sich dagegen mehrheitlich auf Lohnabhängige in der Privatwirtschaft stützen. Beide bewegen sich bei etwa 40%. Der enorme Zuwachs an Wählern mit höherer Bildung in der Fortschrittspartei – von 14%

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im Jahr 2001 auf 27% in 2013 – geht auf die Modernisierungsschritte und „Säuberungen“ der Partei zurück, mit denen sie sich auf den Regierungseintritt vorbereitete. Darüber hinaus konnte die Partei eine hohe Anzahl von Nicht-Wählern mobilisieren. Einige Kommentatoren, die darauf bestehen, dass die Partei sich „normalisiert“, haben insofern recht, als sie im Vergleich zu früher ihre extremsten Politikvorschläge zurückfährt. Allerdings ist die sehr scharfe einwan-derungsfeindliche Rhetorik, wie sie von einigen aus dem populistischen Lager vorgebracht wird, nach wie vor nicht nur intern umstritten, sondern auch ein Problem für die Beziehungen zu anderen Parteien.

Die Fortschrittspartei fördert in der norwegischen Gesellschaft einen sozio-kulturellen Umbruch, aus dem sie schließlich selbst schöpft. Es handelt sich um eine neue gesellschaftliche Konfliktachse, auf der es nicht mehr wie früher um Wirtschaft und Verteilung, sondern um Wertvorstellungen und Identitäten geht. Diese Verschiebung hat großen Einfluss auf das Verhältnis zwischen der Fortschrittspartei und der Arbeitspartei. Viele Wähler der Arbeitspartei posi-tionieren sich auf der redistributiven Achse links, auf der identitären aber rechts. Wer letztere für wichtiger erachtet, zieht die Fortschrittspartei als Alternative zur Arbeitspartei in Betracht. In anderen Worten: Wenn die Arbeitspartei zu einer an Klasseninteressen orientierten Politik – mit einer direkten Bezugnahme auf Verunsicherung, sozialen Abstieg, Verlust von Macht und Einfluss am Arbeits- platz sowie im täglichen Alltag – nicht mehr in der Lage ist und sich stattdessen von der Fortschrittspartei in eine moralistische Diskussion über Einwanderung verwickeln lässt, dann ist es längst zu spät. Große Teile der Arbeitnehmerschaft werden auch weiterhin so lange in die Arme der radikalen Rechten getrieben, wie die Linke nicht begriffen hat, dass der Klassenkompromiss nicht mehr existiert. Sie muss sozialen Kämpfen Priorität einräumen und Zukunftsentwürfe, Programme sowie eine Politik entwickeln, die Begeisterung und Optimismus hervorrufen. Sie muss willig sein, gegen ihre Gegner zu mobilisieren und vorzugehen. Dann wird auch eine Lösung des „Problems ganz rechts“ – darauf deutet vieles hin – in der Linken zu finden sein. ◼︎

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ÖSTERREICH

Die Normalisierung des Rechtspopulismus

SEBASTIAN REINFELDT

Österreich ist seit 1986 die Fertigungsstätte einer politischen Maschinerie, die tagtäglich scharfe Entgegensetzungen, innere und äußere Feinderklärungen und Deutungsbrocken der Gesellschaft produziert. Ihr Prototyp ist die FPÖ unter dem verstorbenen Parteiführer Jörg Haider. Im Jahr 2000 brachte diese politische Maschinerie genügend Wählerstimmen für eine erste Regierungs-beteiligung der rechtspopulistischen Partei. Im Dezember 2017 wurde nun die nächste Regierung angelobt, in der die FPÖ den Vizekanzler und mehrere Mi- nister stellt.

In der Zwischenzeit ist allerdings etwas Bemerkenswertes passiert: Der kon-servative ÖVP-Parteiführer und neue Bundeskanzler, Sebastian Kurz, hat wesent- liche Teile dieser Methode erfolgreich kopiert und im Wahlkampf eingesetzt. Mit der Wahl im Oktober 2017 übernimmt somit eine neue politische Formation aus zwei rechtspopulistischen Parteien die Regierungsgeschäfte.

Indessen kann diese neue Regierung kaum an die Erfahrungen der ersten Zusammenarbeit beider Parteien von 2000 bis 2005 anknüpfen. Denn damals entstand die Koalition durch einen überraschenden Verhandlungstrick, der die stimmenstärkste SPÖ überging, während es sich 2017 um eine geplante und lange vorbereitete Machtübernahme handelt. Da es für die Koalition im Jahr 2000 zudem praktisch keine Vorbereitungszeit gab, zwangen die anfänglichen Sanktionen der Europäischen Union die Regierung wegen der Zusammenarbeit mit der rechtsradikalen FPÖ in monatelange Abwehrkämpfe.

Diesmal ist die Neuauflage der Rechts-Koalition in beiden Parteien gut vorbereitet worden. Gerade im Wahlkampf erschien vielen Menschen

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„Schwarz-Blau“ als einzige Alternative zur bisherigen großen Koalition aus SPÖ und ÖVP. Mit zusammengerechnet 58% Unterstützung der Wählerinnen und Wähler kann die neue Regierung auf einen komfortablen Mandatsvorsprung im Parlament und auf erheblichen Rückhalt in der Bevölkerung zählen. Entspre-chend verhalten sind die außerparlamentarischen Proteste gegen die schwarz-blaue Regierung bislang verlaufen.

Von langer Hand vorbereitetFür die Vorbereitung der neuen Koalition war der aufeinander abgestimmte Wahlkampf beider Parteien von großer Bedeutung. Zugleich spielte auch die Politik der Vorgänger-Regierung eine Rolle bei der Akzeptanz einer schwarz-blauen Zusammenarbeit. Die große Koalition hatte immer wieder Forderungen der Rechtspopulisten aufgegriffen, bis hin zu Regierungsentscheidungen und Gesetzesinitiativen aus dem Ministerrat, so dass um den typisch rechtspopu-listischen Themenkanon herum eine Atmosphäre der Normalität geschaffen wurde, auf welche die neue Regierung aufbauen kann. Eine rechtspopulistische Regierung gilt in Österreich nunmehr als „normal“.

Die FPÖ selbst ist weder ein Newcomer noch eine politische Eintags-fliege. Die Wahlresultate der Rechtspopulisten in den vergangenen dreißig Jahren beeindrucken. Von 1986 bis 2000 stiegen ihre Ergebnisse bei Wahlen konstant an, von 9,7% 1986 (dem Jahr der innerparteilichen Machtüber-nahme Jörg Haiders) bis zu 26,9% im Jahr 1999. Nach der anschließenden Regierungsbeteiligung (2000-2005) brachen die Wahlergebnisse kurzfristig ein, erholten sich anschließend aber rasch wieder. In den Prognosen für die Wahl im Oktober 2017 lag die FPÖ lange bei 30% Zustimmung – bevor dann Sebastian Kurz, Außenminister und frisch gewählter ÖVP-Vorsitzender, auf den Plan trat, der sich ebenfalls aus der rechtspopulistischen Trickkiste be-diente. Kurz erreichte 31,5% der Stimmen und ist nun Bundeskanzler einer konservativ-rechtspopulistischen Koalition.

Doch schon als der rechtspopulistische Aufschwung in Österreich im Jahr 1986 begann, erzielten die Parteien rechts der Mitte, ÖVP und FPÖ, nach einer nur kurzen Wahlkampagne gemeinsam bereits 51% der Stimmen. So große Zustimmung wie im Oktober 2017, als beide Parteien zusammen über 58% erhielten, hatten die Rechten jedoch in der Geschichte der Zweiten Republik zu-vor noch nie an der Wahlurne erzielen können.

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Während der rechte Populismus der FPÖ im Verlauf ihrer Ablösung aus dem traditionellen deutschnationalen „dritten Lager“ durch Jörg Haider entstand, wird der Populismus von der ÖVP im Kampf um die politische Macht strategisch eingesetzt. Bevor ich der Frage nachgehe, ob bzw. wie sich dieser „strategische Populismus“ auch in eine „populistische“ Regierungsweise übersetzt, soll die soziale Basis, die für den Aufstieg der FPÖ verantwortlich ist, näher betrachtet werden.

Die soziale Basis des RechtspopulismusBereits vor der Wahl 2017 konnte die FPÖ einen durchschlagenden Erfolg für sich verbuchen, nämlich als im Jahr zuvor ihr Präsidentschaftskandidat, Norbert Hofer, in zwei Wahlgängen fast die Hälfte der Wählerschaft für sich zu mobili-sieren vermochte. Die Nachwahlbefragungen verzeichneten dabei knapp 85% Zustimmung bei Arbeitern – gemeint sind damit Menschen in sozialversi-cherungspflichtigen Normarbeitsverhältnissen – für den rechtspopulistischen Kandidaten. Bei der folgenden Nationalratswahl 2017 lag die FPÖ mit 59% der Stimmen bei Arbeitern weiterhin klar vor der sozialdemokratischen SPÖ (19%) und der ÖVP (15%). Das Forschungsinstitut SORA konstatierte in seiner Analyse, dass die FPÖ die Stimmung in dieser Wählergruppe am besten zu nutzen wisse, weil über 80% der Arbeiter mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden sei-en und 54% Österreich „als ‚eher ungerechtes‘ Land“ betrachteten.

Dennoch ist die FPÖ keine „proletarische Partei“, denn ihre Funktionäre kommen überwiegend aus dem gehobenen Bürgertum und sind oftmals in Burschenschaften organisiert und sozialisiert worden: Rechte und rechtsradikale intellektuelle Gesinnungstäter führen in der Partei das Kommando. Die auch in der öffentlichen Diskussion immer wieder kritisierten deutsch-nationalen Bur-schenschaften dienen der FPÖ dabei als „Personalreserve“ für politisch wichtige Positionen in den Ministerien.

Trotz der großen Zustimmung unter Arbeitern stammt die Kernwähler-schaft der FPÖ vor allem aus der bürgerlichen Mitte. So erreicht die Partei in erster Linie eine Klientel, die als Kleinbürgertum bezeichnet werden kann – und damit ein Milieu, das rund ein Viertel der Gesellschaft umfasst. Von der sozialen Lage her umfasst es den traditionellen Mainstream der Gesellschaft: Mittlere Bildungsabschlüsse, mittlere Einkommensgruppen, viele kleine bis mittlere Angestellte und Beamte sowie kleine und mittlere Selbstständige finden sich

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in dieser Gruppe. Diese Menschen haben soziale Abstiegserwartungen und Existenzängste. Da sie selber brav ihre Ziele verfolgen – Schule, Ausbildung, Beruf und dann mittlere Karriere –, machen sie für ihre Ängste „die Anderen“ ver- antwortlich. Die FPÖ wiederum mobilisiert konsequent gegen „Andere“, gegen „Fremde“ – und im selben Atemzug gegen „die da oben“.

Widerstand und Opposition gegen rechten Populismus wurden bis in die 1980er Jahre hinein durch das Machtdispositiv der großen Koalition wirksam neutralisiert und auf verschlungenen Pfaden immer wieder an das kritisierte System rückgebunden. In der Tat entzog sich die politische Kaste, die sich in Österreich vornehmlich aus SPÖ und ÖVP konstituiert, immer wieder wirksa-mer demokratischer Kontrolle. Sie verlangte stattdessen eine aktive politische Unterwerfung der Subjekte; immer musste ein politisches Bekenntnis abgeben werden, um irgendwo dazu zugehören. Über das österreichische System der So-zialpartnerschaft – Arbeiterkammer und Wirtschaftskammer – reicht der Zugriff politischer Macht und Unterwerfung auf diese Weise bis in die Mikrophysik der Macht, bis in die Kleingartensiedlungen, in die Betriebe und Büros. Das ist einer der Gründe, warum eine unabhängige und radikale Linke in Österreich bis heute vergleichsweise schwach und politisch bedeutungslos blieb.

Erfüllungsgehilfen des RechtspopulismusDie FPÖ war – und das ist ein wesentlicher Faktor ihres Wahlerfolgs – bereits politisch wirksam, bevor sie in die Regierung eintrat, weil sie sich als Alternative zu diesem „System“ präsentieren und mit ihren Themen die politische Agenda bestimmen konnte. Die Vorgänger-Regierung aus SPÖ und ÖVP, die dadurch zunehmend unter Druck geraten war, setzte entsprechend autoritäre, restriktive und repressive Maßnahmen durch – gerade in der Sozial- und Flüchtlingspolitik –, die auf Forderungen der FPÖ zurückgehen. Sie beschloss etwa eine Verschärfung des Asylrechts, die selbst Internierungen von Asylwerbern (in sogenannten Re- gistrierzentren) vorsieht. Die alte Regierung änderte auch die „Sicherheitsge- setze“, mit denen grundlegende bürgerliche Freiheiten eingeschränkt werden können. So hatte sie ein Vermummungsverbot im öffentlichen Raum beschlos-sen, das als „Burkaverbot“ gehandelt wird. Betroffen sind bisher allerdings in erster Linie Radfahrer und Fußgänger, die einen Schal im Gesicht tragen, und verkleidete Werbefiguren. Dieses Gesetz ist einerseits ein Beispiel bloß sym-bolischer Politik – es ist ein Gesetz, das real wirkungslos ist und nichts kostet.

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Andererseits wurde mit dem „Burkaverbot“ eine der wichtigsten Forderungen der oppositionellen FPÖ umgesetzt.

Weiterhin haben mehrere Bundesländer den Zugang zur sozialen Mindestsi-cherung deutlich erschwert. Solcherlei politische Initiativen finden den unein-geschränkten Beifall der Boulevardmedien, eines Teils der Bevölkerung – und natürlich der FPÖ. Denn es ist in nuce ihre Politik; schließlich hatte die FPÖ (und in ihrer Folge dann auch die ÖVP) seit Jahren Kampagnen gegen die „soziale Hängematte“ organisiert, die die Mindestsicherung angeblich darstellt.

Die Krise des Fordismus und ihr AuswurfIm Hintergrund dieser politischen Verwerfungen spielt sich die Krise des Fordis- mus ab: Der neoliberale Ausweg aus der Krise überzog die Produktionsver- hältnisse mit Prämissen von Selbstverantwortlichkeit, Teamarbeit, Freiheit und Unternehmungsgeist – und baute sie dementsprechend um. Neue Machtver-hältnisse entstehen, werden gelebt und inkorporiert.

Dabei fallen – nicht nur in Österreich – mehr und mehr Menschen aus den ehemals sichernden sozialen Institutionen heraus. Sie wurden in den großen Wettlauf um knapper werdende Vollzeitjobs mit ihren sozialen Sicherungen ge-worfen. So ist etwa die Zahl der Ein-Personen-Unternehmen sprunghaft gestie-gen. Die Statistik der österreichischen Wirtschaftskammer verzeichnet aktuell 305 000 Ein-Personen-Unternehmen mit über 500 000 Mitarbeitern, die vor allem in den Branchen Bau, Gewerbe, Handel und Consulting tätig sind.

Vor diesem Hintergrund breitet sich die rechtspopulistische Diskurs-maschine immer weiter im Land aus und saugt Kritik und Unzufriedene auf. Zwar tönt sie selbst mitunter ebenso neoliberal wie die Vorgängerre-gierung, doch richtet sie sich zugleich grundsätzlich gegen die „leistungslosen politischen Versorgungsposten“ der Politiker, die nicht arbeiten, sondern bloß abkassieren würden. Das gleiche Argument wie gegen „die da oben“ wird aber auch gegen sozial Schwache und Flüchtlinge gewendet. Dann wieder klingt die selbst erklärte „Heimatpartei“ FPÖ sozial, etwa wenn sie proklamiert: „Unser Geld für unsre Leut‘“.

Dennoch wird der Kreis derer, die durch das soziale Netz abgesichert werden sollen, von der Partei immer enger definiert, wodurch sich der neoliberale „Wettlauf aller gegen alle“ weiter zuspitzt. Dies macht die Strategie eines „popu-listischen Antipopulismus“ deutlich, der „die Spaltung der Gesellschaft beklagt

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und zugleich befördert“. Das wiederum trifft nicht nur auf den FPÖ-Vorsitzenden HC Strache zu, sondern auch auf Sebastian Kurz, den ÖVP-Vorsitzenden und neuen Bundeskanzler. Somit ist nun das neoliberale Projekt in seine autoritäre, rechtspopulistische und „post-politische“ Phase eingetreten.

Der Marsch der ÖVP nach rechtsDie Sebastian-Kurz-Partei ist mit einer interessanten Zielgruppendefinition ans Werk gegangen: Sie mobilisiert die Provinz gegen das Zentrum, die ländlichen Gegenden und kleinen Städte gegen die Hauptstadt. Besonders wenn es um den Umgang mit Flüchtlingen geht, wird hier eine geographisch-politische Front eröffnet. Die Frontstellung bildet dabei eine Art Deckerzählung für ein klassisch neoliberales Sparprogramm.

Dies war Sebastian Kurz’ Ausgangspunkt. Anfang 2017 bestand eine breite Unzufriedenheit mit der Regierung, der er selbst als Außenminister angehörte. Nun brachte der 31-jährige das politische Kunststück fertig, einen Oppositions-diskurs gegen die eigene Regierung zu beginnen und bis Oktober 2017 schadlos durchzuhalten. In der politischen Vorstellungswelt Österreichs traten also zwei Oppositionsparteien an: die FPÖ, die im Parlament auch tatsächlich die Oppo-sition stellte, und die langjährige Regierungspartei ÖVP, die sich im Wahlkampf einen neuen Namen und eine neue Parteifarbe verpasste. Aus der schwarzen ÖVP wurde die türkisfarbene „Bewegung für Sebastian Kurz“, deren zentrales Thema die Flüchtlingspolitik war. Hier ging es in erster Linie darum, die in Ös-terreich verbreitete „Willkommenskultur“ aus dem Jahr 2015 zu zerstören und durch autoritäre gesetzliche Regelungen zu ersetzen. Seine Rolle als Außen-minister nutzte Sebastian Kurz, um sich als Bewahrer der nationalen Grenzen in Szene zu setzen – und das, obwohl das EU-Land Österreich gar keine EU-Außen-grenzen zu schützen hat.

Rechtspopulisten in der RegierungDie erste schwarz-blaue Regierung hielt seinerzeit fünf Jahre, von 2000 bis 2005 (wobei in den letzten Monaten Jörg Haiders FPÖ-Abspaltung „Bündnis Zukunft Österreich“ die Regierungsgeschäfte betrieb, während die FPÖ in die Opposi-tion ging). Diese Regierungsbeteiligung war durch vier Ziele gekennzeichnet:

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Fortführung von Traditionen, Radikalisierung von Politikbereichen, Verstärkung von Entwicklungstrends und versuchter politischer Umbau.

Im Kontext des damals propagierten „Neu-Regierens“ ist es bemerkenswert, dass kein Bruch mit den vorherigen Regierungen erfolgte – weder vom Stil noch von den Inhalten her. Tatsächlich änderte sich lediglich die Verhand-lungspolitik, die von einem gesellschaftlichen Grundkonsens hin auf medial inszenierte Großkonflikte umgelenkt wurde. Dies betrifft besonders das Sys-tem der Sozialpartner, das dennoch im Kern erhalten blieb und bis heute die eigentümliche soziale Stabilität (und damit auch Konfliktarmut) der öster-reichischen Gesellschaft garantiert. Substanziell wurden, im Vergleich zur vorangehenden SPÖ-ÖVP-Regierung, auch die Haushalts-, Renten- und Fami-lienpolitik verändert. Im Ergebnis führten die einzelnen Maßnahmen zu einer steuerpolitischen Umverteilung von unten nach oben. Außerdem wurde die einem traditionellen Familienbild entsprechende Rollenverteilung in der Fami-lie gefördert. So wird neuerdings für die häusliche Betreuung von Kleinkindern in den ersten drei Lebensjahren ein „Kinderbetreuungsgeld“ in Höhe von 400 Euro gezahlt.

Die vollmundige Ankündigung eines Endes der staatlichen Neuverschul-dung mutet hingegen – insbesondere im Rückblick – als vornehmlich propa- gandistische Maßnahme an. Auch in anderen Politikbereichen wurden Ent- wicklungstrends, die bereits zuvor erkennbar gewesen waren, weiter verfolgt – obgleich die rechtspopulistische Rhetorik gerne über Kontinuitäten mit der Politik der Vorgängerregierung hinwegtäuschte. Diese betreffen an wesentlicher Stelle die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die zugleich in die größten Bestechungsskandale der Zweiten Republik mündeten. Bis heute wird deshalb auch an den Strafgerichten eine Bilanz der ersten Regierungszusammenarbeit von ÖVP und FPÖ gezogen. Auf der Anklagebank: Politiker aus ÖVP und FPÖ und Führungskräfte und Lobbyisten aus der Wirtschaft. Auch bei der Vergabe größerer staatlicher Aufträge (wie etwa die Abfangjäger Eurofighter oder die Privatisierung der bundeseigenen Immobiliengesellschaft Buwog von 2002 bis 2004) kam es zu gravierenden Korruptionsvorwürfen, die bis heute gerichtlich behandelt werden.

Diese eigentümliche und bislang nicht angetastete Sozialpartnerschaft war dann auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die europaweite Wirtschafts-krise ab 2008 in Österreich vergleichsweise milde ausfiel. Die Wirtschaftsdaten weisen im Überblick kurzfristige Einbrüche auf, die jedoch nicht zu solchen Verwerfungen führten wie beispielsweise in Süd- und Südosteuropa. Lag die

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Arbeitslosenquote in Österreich 2016 noch bei 6% (und erreichte damit den im Beobachtungszeitraum 1995-2016 höchsten Wert), erreichte sie bereits im Laufe des Jahres 2017 (also parallel zum Wahlkampf) einen Tiefstand. Die Auftrags-bücher der Unternehmen sind derzeit voll, die Konjunktur verzeichnet einen überraschend deutlichen Aufschwung.

Die neue Regierung aus ÖVP und FPÖ tritt also in einer ökonomischen Situation an, die so gut ist wie lange nicht mehr. Die Ursachen dafür, dass der rechtspopulistische Diskurs angenommen wird, liegen demnach weniger in einer „Verelendung“ als in einer allgemeinen Verteidigungshaltung, einem „Be-wahren-Wollen“. Bewahrt werden sollen der erreichte Wohlstand und das solide Sozialsystem, deren Zukunft – so die durchaus zutreffende Einschätzung – in Frage stehen. Gravierende negative Veränderungen, die besonders die Arbeits-welt betreffen, werden damit von der Bevölkerung antizipiert.

Die Verschiebung der Verantwortung bzw. „Schuld“ für den Sozialabbau auf Flüchtlinge und Migranten ist dabei als größter Erfolg der schwarz-blauen Dis- kursmaschine zu verbuchen. Sie verarbeitet nachvollziehbar negative Zukunfts- erwartungen und verwandelt sie in ein ideologisches Konstrukt. Die Flücht-lingspolitik, die immerhin das zentrale Thema des Wahlkampfs war, rückt wohl nicht zufällig im Regierungshandeln der ersten Monate in den Hintergrund (sieht man von öffentlichkeitswirksamen Auftritten wie dem Kurzschen Schul-terschluss mit Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán in der Flüchtlingsfrage Ende Januar 2018 ab). Im Gegenteil zu ihren Ankündigungen stockte die Re-gierung nämlich die Mangelberufsliste auf, die handwerkliche Berufe aufführt, für die derzeit Fachkräfte fehlen. Bis zu 150 000 Personen aus sogenannten Drittstaaten (also Nicht-EU-Ländern) erhalten auf diese Weise die Möglichkeit, legal in Österreich Arbeit zu finden. Mit ideologischen Konstrukten allein lässt sich eben nicht regieren.

Zudem wird seit der Angelobung der schwarz-blauen Regierung im Dezem-ber 2017 die politische Diskussion vom langen Schatten des Nationalsozialismus geprägt. Die oben genannte „Personalreserve der FPÖ“ aus den deutsch-natio-nalen Burschenschaften mit ihrer Nähe zu nationalsozialistischer Ideologie prägt die öffentliche Debatte. So musste Udo Landbauer, der Spitzenkandidat der niederösterreichischen FPÖ, kurz nach der Landtagswahl seine politischen Mandate niederlegen, weil er verantwortlich war für ein Liederbuch der deutsch-nationalen Burschenschaft „Germania“. In den dort abgedruckten Lied-texten finden sich offen antisemitische und zutiefst rassistische Texte. Weitere Enthüllungen dieser Art sind zu erwarten.

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Fest steht, dass die neuen Regierungspartner, ausgestattet mit einer sta- bilen Mehrheit in Parlament und Bevölkerung, sich auf eine lange Dauer des Regierens einstellen.

Was sie politisch umsetzen wollen, lässt sich bislang in erster Linie anhand ihres veröffentlichten Regierungsprogramms beurteilen. Dabei ist der Kontrast zur ersten rechtspopulistischen Regierung 2000-2005 augenfällig. Anders als damals werden jetzt Veränderungen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik an-gekündigt, die ein stramm neoliberales Profil aufweisen. Dieses Profil erwächst direkt aus der Politik der Vorgängerregierung unter SPÖ und ÖVP – und spitzt diese weiter zu. So ist beispielsweise eine Art „österreichisches Hartz IV“ geplant, das eine eingeschüchterte Arbeitslosenreserve erzeugen soll, die künftig für Bil-ligjobs zur Verfügung stünde. In Österreich schließt sich bisher an den Bezug des Arbeitslosengeldes eine Notstandshilfe an, die für Langzeitarbeitslose eine gute Sicherung bietet. Wer länger arbeitslos ist, soll nach den Plänen der Regierung nur noch die soziale Mindestsicherung erhalten, die Notstandshilfe wird ersatz- los gestrichen. Für die Mindestsicherung muss man aber sein Auto und alles Ersparte bis auf rund 4000 Euro „verwerten“, um weiter Unterstützung zu er- halten. Gekürzt wird auch bei der sozialen Mindestsicherung: Eine Familie soll, wie bereits in einigen Bundesländern beschlossen wurde, höchstens 1500 Euro im Monat erhalten. Die Mindestsicherung für Asylberechtigte soll auf 365 Euro (plus 155 Euro „Integrationsbonus“) gekürzt und künftig als Sach- statt Geldleis-tung ausgezahlt werden können.

Zugleich sollen alle Arbeitenden mehr und länger verfügbar sein. Unter ge-wissen Voraussetzungen sollen ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag und eine 60-Stun-den-Arbeitswoche ermöglicht werden (bisher bilden 10 Stunden pro Tag und 48 Stunden pro Woche den gesetzlichen Rahmen).

Das Stichwort „Sicherheit“ kommt im Regierungsübereinkommen mehr als 100 Mal vor, dient aber vor allem dazu, Überwachungs- und soziale Kontroll-maßnahmen in allen Lebenssituationen zu rechtfertigen. Es bezieht sich also nicht auf die soziale, sondern auf die öffentliche Sicherheit, die als pars pro toto eingesetzt wird.

Die Opposition gegen diese Regierungspläne ist bislang eher schwach und konzentriert sich zudem auf den Nachweis der Nähe der FPÖ zu Ideologemen aus der NS-Zeit. Das ist wichtig, reicht aber bei weitem nicht aus, um die Re-gierung aus dem Sattel zu werfen. Denn solche extremen Positionen werden ja erst möglich, weil sie von einem viel weiter verbreiteten und zunehmend gesellschaftsfähigen rechten Populismus getragen werden, der das neoliberale

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Regierungsprogramm mit seinen Einschnitten in das Sozialwesen – die alle außer die Reichsten nachteilig betreffen – kaschieren soll. Gegen den vermut-lichen Kern des Regierungsprojektes – die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die durch eine autoritäre Innen- und Sicherheitspolitik flankiert wird – regt sich bislang kaum Widerstand außerhalb der etablierten politischen Kanäle. Die zentrale Frage, wie solide und dauerhaft diese Regierung tatsächlich sein wird, entscheidet sich aber an ebendieser politischen Konstellation. Das lässt ange-sichts der breiten Unterstützung, die die Regierung einstweilen genießt, für die nähere Zukunft wenig Gutes ahnen. ◼︎

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Über die AutorenPinar Çakıroğlu-Bournous ist Postdoktorandin an der Universität Kreta in Griechenland, wo sie zu Wirtschaftsgeschichte und politischer Ökonomie forscht. Sie ist zudem Beraterin des Präsidenten des International Center for Sciences and Hellenic Values in Griechenland. Zusätzlich zu ihren Abschlüs-sen in Politikwissenschaft (M.A.) und Geschichte (Ph.D.) hat sie einen B.Sc. (METU, Türkei) sowie einen M.Sc. und Ph.D. (SOAS, University of London, UK) in Wirtschaftswissenschaften.

Stefanie Ehmsen ist seit 2012 Ko-Direktorin des New Yorker Büros der Rosa-Lu- xemburg-Stiftung. Sie hat an der Freien Universität Berlin in Politikwissen-schaften promoviert und war von 2009 bis 2011 als Gastprofessorin für Gender und Diversity an der Beuth Hochschule in Berlin tätig. Von 2006 bis 2011 war sie Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Ihr zuletzt veröffentlichter Aufsatz, „How The Women‘s Movement Changed Academia: A Comparison of Germany and the United States“, erschien 2017 in dem Buch „The Women‘s Liber-ation Movement“ (hrsg. von Kristina Schulz, Berghahn Books).

Inger V. Johansen hat einen Doktorgrad in irischer Geschichte erworben und hat als Assistenzprofessorin an der Universität Kopenhagen gelehrt. Politisch ist sie tätig als Koordinatorin des European Affairs Committee in der linken Einheits- liste/Rot-Grüne Allianz. Sie vertritt ihre Partei außerdem in der Europäischen Linken (EL) und ist Teil des Netzwerks transform! europe.

Sebastian Reinfeldt promovierte 1997 in Frankfurt a.M. in Politikwissenschaft mit einer Arbeit über Populismus in Österreich. Seit 1998 lebt er in Österreich, wo er u.a. an der Universität Graz, der Universität Innsbruck und der Universität Wien lehrte. Seit Anfang 2016 betreibt er zusammen mit Christoph Ulbrich den Blog „Semiosisblog“; das Themenspektrum umfasst Politik, Analyse und Recherchen. Seit Dezember 2017 ist er Parlamentarischer Mitarbeiter beim Österreichischen Nationalrat für den Abgeordneten Peter Kolba (Liste Pilz).

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Bartosz M. Rydliński arbeitet am Institut für Politikwissenschaften der Kardi-nal Stefan Wyszynski Universität in Warschau. Er ist Mitbegründer des Ignacy Daszyński Center und Mitveranstalter des Kongresses der polnischen Linken sowie des Poland Progressive Forum. Er ist außerdem ehemaliger EASI-Hurford Next Generation Fellow des Carnegie Endowment for International Peace.

Albert Scharenberg leitet seit 2012 als Ko-Direktor das New Yorker Büro der Ro-sa-Luxemburg-Stiftung. Zuvor war er Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“. Er erwarb einen M.A.-Abschluss in Geschichte und einen Dr. phil. in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Zwischen 2008 und 2011 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxem-burg-Stiftung. Sein Buch „Martin Luther King: Ein biografisches Porträt“ ist im Verlag Herder erschienen.

Kristóf Szombati ist Istvan Deak Gastprofessor für Politikwissenschaft an der Co-lumbia University in New York. Er ist Mitbegründer der ungarischen Partei Lehet Más a Politika (LMP, „Die Politik kann anders sein“) und war bis 2010 gewähltes Mitglied des Führungskomitees der Partei. Er verließ die Partei, um an der Cen-tral European University (CEU) seine Dissertation zur Entstehung der rechten Hegemonie in Ungarn abzuschließen. Sein Buch „The Revolt of the Provinces“, das im Juni 2018 von Berghahn Books veröffentlicht wird, ist die erste umfas-sende Ethnographie der Neuen Rechten in Zentral- und Osteuropa.

Asbjørn Wahl arbeitet als Berater der Gewerkschaft Norwegian Union of Mu-nicipal and General Employees sowie als Sonderberater der Kampagne für den Wohlfahrtsstaat in Norwegen. Er ist zudem Präsident des ITF Urban Transport Committee sowie Vorsitzender der ITF Working Group on Climate Change. Er ist Mitglied der Global Advisory Group des Netzwerks Trade Unions for Energy Democracy (TUED) sowie des Expert Advisory Board for the European Power Project. 2011 publizierte er „The Rise and Fall of the Welfare State” (Pluto Press, London). Derzeit ist er Research Fellow am Parkland Institute in Edmonton in Kanada.

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Kristóf Szombati zu Ungarn

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Inger Johansen zu Dänemark

Asbjørn Wahl zu Norwegen

Sebastian Reinfeldt zu Österreich