Die Entdeckung des Ostens und der Humanismus

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Die Entdeckung des Ostens und der Humanismus Niccolö de' Conti und Poggio Bracciolinis Historia de Varietate Fortunae* Von Thomas Christian Schmidt I. Kaum eine Gruppe der Bevölkerung reiste im Mittelalter — und reist noch heute — so viel wie Geschäftsleute. Trotzdem wissen wir über die Handels- reisen des Mittelalters sehr viel schlechter Bescheid als beispielsweise über Mis- sionars- oder Gesandtschaftsreisen. Sei es, daß nur der Profit und nicht das Interesse am Gastland die Händler dazu anhielt, unterwegs zu sein, sei es, daß sie auf Grund mangelnder Ausbildung oder zum Schutz vitaler Geschäftsinter- essen nicht willens oder in der Lage waren, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen: Rei- serouten und Handelsgüter sind oft bekannt, aber die reisenden Händler als Personen treten gewöhnlich völlig in den Hintergrund. Für den Historiker ist dies bedauerlich, aber kaum überraschend, wenn man bedenkt, daß sich an den Voraussetzungen und an dem aus ihnen resultierenden Mangel an literarischen Geschäftsreiseberichten bis heute nichts geändert hat. Der hier zur Debatte stehende Bericht des Niccolö de' Conti, der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Venedig bis nach Java und möglicher- weise noch weiter gelangte, ist insofern in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Conti hatte nicht nur das Glück, nach 25 Jahren von einer solchen Reise, die — wie sich zeigen wird — mit erheblichen Risiken verbunden war (mehr als noch hundert Jahre vorher), überhaupt lebend zurückzukehren; der Zurückgekehrte fiel außerdem, wie es der Zufall wollte, einem ebenso wissensdurstigen wie schreibfreudigen Rezipienten in die Hände. Das Resultat ist ein Schlußkapitel eines humanistischen Traktates über die varietas fortunae, das mit Sicherheit nicht den authentischen Bericht Contis darstellt, wie er ihn ursprünglich dem Humanisten Poggio Bracciolini erzählt hatte, aber zumindest über die Reise ein schriftliches Zeugnis ablegt, das der Reisende selber wohl nie — zumindest nicht in dieser Form — zu Papier gebracht hätte. * Ohne die freundliche Hilfe und den Rat von Prof. Dr. Folker Reichert (Heidelberg/ Stuttgart) gäbe es diese Arbeit nicht — ihm gilt mein herzlicher Dank. MIÖG 103 (1995) Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/22/14 3:33 AM

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Die Entdeckung des Ostens und der Humanismus

Niccolö de' Conti und Poggio Bracciolinis Historia de Varietate Fortunae*

Von Thomas Christian Schmidt

I.

Kaum eine Gruppe der Bevölkerung reiste im Mittelalter — und reist noch heute — so viel wie Geschäftsleute. Trotzdem wissen wir über die Handels-reisen des Mittelalters sehr viel schlechter Bescheid als beispielsweise über Mis-sionars- oder Gesandtschaftsreisen. Sei es, daß nur der Profit und nicht das Interesse am Gastland die Händler dazu anhielt, unterwegs zu sein, sei es, daß sie auf Grund mangelnder Ausbildung oder zum Schutz vitaler Geschäftsinter-essen nicht willens oder in der Lage waren, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen: Rei-serouten und Handelsgüter sind oft bekannt, aber die reisenden Händler als Personen treten gewöhnlich völlig in den Hintergrund. Für den Historiker ist dies bedauerlich, aber kaum überraschend, wenn man bedenkt, daß sich an den Voraussetzungen und an dem aus ihnen resultierenden Mangel an literarischen Geschäftsreiseberichten bis heute nichts geändert hat.

Der hier zur Debatte stehende Bericht des Niccolö de' Conti, der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts von Venedig bis nach Java und möglicher-weise noch weiter gelangte, ist insofern in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Conti hatte nicht nur das Glück, nach 25 Jahren von einer solchen Reise, die — wie sich zeigen wird — mit erheblichen Risiken verbunden war (mehr als noch hundert Jahre vorher), überhaupt lebend zurückzukehren; der Zurückgekehrte fiel außerdem, wie es der Zufall wollte, einem ebenso wissensdurstigen wie schreibfreudigen Rezipienten in die Hände. Das Resultat ist ein Schlußkapitel eines humanistischen Traktates über die varietas fortunae, das mit Sicherheit nicht den authentischen Bericht Contis darstellt, wie er ihn ursprünglich dem Humanisten Poggio Bracciolini erzählt hatte, aber zumindest über die Reise ein schriftliches Zeugnis ablegt, das der Reisende selber wohl nie — zumindest nicht in dieser Form — zu Papier gebracht hätte.

* Ohne die freundliche Hilfe und den Rat von Prof. Dr. Folker Reichert (Heidelberg/ Stuttgart) gäbe es diese Arbeit nicht — ihm gilt mein herzlicher Dank.

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Contis Reiseweg selbst ist schon mehrfach rekonstruiert und beschrieben worden1, und das Ziel dieser Arbeit ist insofern weniger eine Rekonstruktion des Reisewegs als eine Untersuchung, was Poggio Bracciolini dazu bewogen haben könnte, diese Reiseerzählung in seine Historia de Varietate Fortunae auf-zunehmen, und wie seine Weltanschauung und Zielsetzungen mit in das Werk einflossen; komplementär dazu sollen das „Handelstypische" des Berichtes sowie seine Stellung in der Gesamttraditon der Reiseberichte untersucht werden. Schließlich soll die Aufnahme, Überlieferung und Rezeption des Buches dargestellt werden — es wird sich zeigen, wie sich hier eine humanisti-sche Tradition und eine „Reisetradition" unterscheiden lassen, wobei letztere wiederum in verschiedenen Kontexten auftreten kann.

II.

Die Rekonstruktion des Lebenslaufes von Niccolö de' Conti beruht zu großen Teilen nicht auf dokumentarischen Zeugnissen, sondern auf Schlußfol-gerungen und Schätzungen, da das erste gesicherte Datum, das überhaupt über-liefert ist, die Zeit seiner Rückkehr aus Ostasien ist. Er kam zwischen 1439 und 1442 nach Florenz, is [Eugenius pontifex] tum secundo Florentie erat, also wäh-rend des Florentiner Konzils2. Bei der angegebenen Reisedauer von 25 Jahren wäre er etwa 1415 abgereist, und da Conti zu dieser Zeit ein adolescens war, müßte er etwa zwischen 1395 und 1400 geboren sein3. Sein Geburtsort war Chioggia, eine Hafenstadt in der Republik Venedig (daher auch die Bezeich-nung „Nicolaus Venetus" [VF IV/10], die auch schon zu der unpräzisen Schlußfolgerung geführt hat, Conti stamme in Wirklichkeit aus der Stadt Venedig selbst)4. Erst nach der Rückkehr in die Heimat sind Lebensdaten sicher belegt: 1451 wurde Conti auf Empfehlung des venezianischen Dogen Mitglied

1 Ζ. B. Waldemar S e n s b u r g , Poggio Bracciolini und Niccolö de' Conti in ihrer Bedeu-tung für die Geographie des Renaissancezeitalters. Mitteilungen der Kaiserlich Königlichen Geographischen Gesellschaft in Wien 49 (1906) 257—372; Viaggi in Persia, India e Giava di Niccolö de' Conti, con Prefazione, Note, Carte e Incisioni (ed. Mario Longhena, Viaggi e scoperte di navigatori ed esploratori italiani 6, Milano 1929); Dietmar H e n z e , An. Conti, Niccolö de'. Enzyklopädie der Entdecker und Erforscher der Erde 1 (1978) 636—642.

1 P o g g i o B r a c c i o l i n i , De Varietate Fortunae (ed. Outi Merisalo, Annales Acade-miae Scientiarum Fennicae Β 265, Helsinki 1993) (im folgenden zitiert als VF), Buch IV, Z. 10—11 (im folgenden immer zitiert nach der Zeilenzählung der Ausgabe); vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 325. Auch Anselm von Adorno, der ein halbes Jahrhundert nach der eigendichen Reise den Bericht Contis zusammenfaßt, setzt die Rückkehr Contis auf ärca annos domini 1440 fest: Itineraire d' Anselme d ' A d o r n o en Terre Sainte (1470) (ed.Jacques Heers-Georgette de Groer, Paris 1978) 430.

3 Vgl. VF IV/6—7. Bei Pero Tafur ist Conti zum Zeitpunkt seiner Abreise „diez e ocho afios": Pero T a f u r , Andan(as e viajes de Pero Tafur por diversas partes del Mundo avidos (1435 — 39) (ed. Jimenez de la Espada, Collecciön de libros espaüoles raros e curiosos 8, Madrid 1874) 96. Als Geburtsjahr ergäbe sich also 1397. Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 326; Henze (wie Anm. 1) 636.

4 Vgl. Longhena (wie Anm. 1) 34; für Venedig als Geburtsort plädiert Sensburg (wie Anm. 1) 326.

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des Minor consiglio von Chioggia, 1453 procurator der Kirche S. Francesco und 1456 giudice di proprio. In der Folgezeit war er auch Mitglied mehrerer Han-delsgesandtschaften5. 1469 wurde Contis Testament eröffnet — es ist anzu-nehmen, daß in dieses Jahr auch sein Tod fiel. Nachdem er also bereits als ganz junger Mann seine Reise antrat, blieben ihm nach seiner Rückkehr nach Europa (und dem Diktat seines Reiseberichts) noch knapp dreißig Jahre, um in seiner Heimatstadt als „Handelsexperte' zu nicht unbeträchtlichem Ansehen zu gelangen.

Als adolescens hielt sich Conti in Damaskus auf — sehr wahrscheinlich hatte ihn sein Vater, der ebenfalls Geschäftsmann war4, dorthin mitgenommen; es handelte sich dabei um eine ganz gewöhnliche Geschäftsreise in eine Stadt, die gerade für Venedig ein Hauptumschlagplatz des Levantehandels war. Trotz des theoretisch immer noch bestehenden Verbots der Kirche, Handel mit den isla-mischen Ländern zu treiben (verhängt als Reaktion auf den Fall von Akkon 1291), blühte der Handel mit dem ägyptisch-syrischen Sultanat, was eine starke italienische, speziell venezianische Präsenz in Beirut, Damaskus und Alexandria zur Folge hatte7. Der weitergehende Handel mit Persien und Indien war den Europäern jedoch versperrt, da die arabischen Sultane den Profit, den sie aus dem lukrativen Handelsmonopol mit den begehrten indischen Waren zogen, nicht verlieren wollten, daher keine europäischen Händler nach Indien ließen und sowohl an den besagten Umschlagplätzen nach Europa, als auch an denen nach Indien (Ormuz, Dschidda, Aden) beträchtliche Zölle erhoben8.

Der — ebenfalls sehr umfangreiche — Handel zwischen Arabien und Indien war seinerseits zwischen mehreren Nationen aufgeteilt: die persischen Handelsschiffe befuhren die Strecken Ormuz—Cambay und Aden—Calicut, und die indischen die weitergehenden Routen nach Malakka und darüber hinaus (Sumatra, Java, Sunda, Banda), wie zum Teil ebenfalls die Routen nach Aden und Ormuz' . Eine Ladung Gewürze, die von Sumatra nach Europa gelangen sollte, mußte also in der Regel dreimal umgeladen, verzollt und wei-terverkauft werden — entweder in Cambay, Ormuz und Damaskus oder aber in Calicut, Aden/Dschidda und Alexandria.

Die Verlockung für einen europäischen Händler, selbst nach Ostasien zu reisen und, wenn nicht die Zölle, so doch wenigstens die Gewinnspannen der indischen, persischen und arabischen Händler zu umgehen, muß beträchtlich gewesen sein10. Conti jedenfalls war offenbar bereit, das Risiko, enttarnt zu werden, auf sich zu nehmen; er brach, nachdem er Arabisch gelernt hatte —

5 Vgl. Longhena (wie Anm. 1) 14 ff. ' Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 274. 7 Vgl. Wilhelm H e y d , Histoire du Commerce du Levant au Moyen-Age (Leipzig

1885 — 86, repr. Amsterdam 1959) II 458, 462—64. • Vgl. Heyd 439 f.; Heyd spricht von Zöllen, die den Preis der Waren zwischen Indien

und Europa mehr als verdoppelten (448); einen anderen Weg, an die begehrte Ware zu kommen, gab es nicht, da die nördliche Handelsstraße nach Ostasien (die „Seidenstraße") seit dem Fall des Mongolenreiches nicht mehr offenstand.

' Vgl. Heyd 497 ff. 10 Vgl. Robert Sabatino L o p e z , L' extreme frontiere du commerce de l'Europe medie-

vale. Le Moyen Age 69 (1963) 479—490; hier 483, 485 f.

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und vermutlich auch wie ein Araber gekleidet — mit einer arabischen Karawane nach Osten auf. Auf der persischen Handelsroute (ab Ormuz/Kalhat) wech-selte er die Verkleidung und zog, mittlerweile auch das Persische beherrschend, mit persischen Händlern weiter11.

Auch wenn Contis Reise sicher kein Einzelfall war, wissen wir außer von ihm von kaum einem Europäer, der noch im 15. Jahrhundert zu Handels-zwecken ins östliche Asien reiste; Contis Bericht steht praktisch allein12. Zur all-gemeinen Abgeneigtheit von Geschäftsreisenden, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen (auch Conti hatte das ja wohl ursprünglich nicht vor, und nur zufällig blieben seine Erfahrungen der Nachwelt erhalten), kam das extreme Risiko einer sol-chen Unternehmung, dem auch Conti fast zum Opfer gefallen wäre: Auf der Rückreise durch Arabien flog seine Tarnung als arabischer oder persischer Händler auf, und unter Bedrohung seines Lebens (wie auch dem seiner Frau und Kinder13) mußte er sich zum Islam bekehren, was ihn später dazu zwang, beim Papst um Absolution nachzusuchen. Er selbst schrieb in seinem Testa-ment, daß „in Wahrheit von hundert kaum einer zurückkommt"14, und riet Pero Tafur dringend davon ab, eine ähnliche Reise zu unternehmen1*.

Es erscheint müßig, über weitere Motive zu spekulieren, die Conti zur Fahrt bewogen haben könnten — die Gewinnmöglichkeiten einer Reise nach Ostasien waren bekannt, und ein junger, unternehmungslustiger, risikofreudiger und wohl auch sprachbegabter Händler konnte in einer solchen Unternehmung durchaus einen Reiz sehen. Es ist insofern unwahrscheinlich, daß Contis Reise die große Ausnahme war; wenn auch „von hundert kaum einer zurückkehrte", so müssen doch viele aufgebrochen sein, und etliche auch zurückgekehrt. Von Entdeckungsdrang kann bei Conti nicht die Rede sein — wie sein Reisebericht zeigt, wich er von den üblichen Handelsstraßen nicht ab.

Über weitergehende Motive oder Anlaß der Reise gibt auch der Text selber keinen Aufschluß; überhaupt tritt (wie noch im Detail zu zeigen sein wird) Conti als Person im Bericht völlig in den Hintergrund. Ebensowenig wie über Motive ist etwas über Reisebedingungen zu erfahren — keinerlei Hinweise auf

11 Vgl. VF IV/26ff. 12 Vgl. Heyd (wie Anm. 7) 499 f.; er nennt außer Conti nur den Russen Athanasius

Nikitin und den Italiener Girolamo di Santo Stefano sowie Bonajuto Albani und Bartolomeo Florentino, von denen die beiden letzteren keine Berichte hinterlassen haben; bezeichnend ist auch, daß im vierten Band von Richard H e n n i g , Terrae Incognitae (Leiden 1939) Uber das 15. Jahrhundert sich nur noch vier von 42 Berichten mit Asien befassen, nachdem der dritte Band voll von ihnen gewesen war.

" Contis Frau war höchstwahrscheinlich keine Europäerin: Bei Poggio wird sie zum ersten Mal auf Java erwähnt — cum uxore et filiis (VF IV/216) — und bei Pero Tafur (wie Anm. 3) ist sie eine indische Nestorianerchristin vom Hof des sagenhaften Priesterkönigs Johannes (Tafur 96).

14 Im Testament geht die Ermahnung an seinen Sohn Daniele: „che mai non inpensa ne arecorda de voler far quelo ch'io fato mi, de dire andard in India, e farö e dirö che in veritü de cento n'anderä, uno arä biga a tornar cum gran innimisi e pericoli infiniti"; zit. nach VF 226; vgl. Sensburg 277. An diesem Schriftzeugnis im Veneto-Dialekt Contis läßt sich auch erkennen, wie weit entfernt Poggios lateinischer Text von der ursprünglichen Erzählung sein muß.

15 Vgl. Tafur (wie Anm. 3) 97 (siehe unten).

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Klimaprobleme, Wetter (nur ein einziges Mal wird ein Sturm erwähnt), Schwie-rigkeiten mit Mitreisenden, Einheimischen oder seiner Familie sind zu lesen; der Text trägt deskriptiven, keinen Erlebnischarakter, was in erster Linie auf die Zielsetzungen des Autors Poggio zurückzuführen ist.

Der Geschichte dieser Aufzeichnung und Veröffentl ichung des Berichtes und Beobachtungen über die jeweiligen Anteile der beiden Autoren soll ein kurzer Abriß des eigentlichen Reiseverlaufs vorangehen, ein Aspekt, der in Pog-gios Text allerdings bei weitem nicht im Vordergrund steht16. Dor t geht die Beschreibung der Reise an sich über die Nennung der Gegenden und Or te nur selten hinaus. Auch die Zeitangaben sind eher zufällig über den Bericht verteilt und ergeben zusammengerechnet gerade eine Reisezeit von 25 Monaten und Aufenthalte von etwa vier Jahren17 — weit weniger als die von Poggio angege-benen 25 Jahre.

Wie bereits erwähnt, brach Conti von Damaskus aus mit einer sechshun-dertköpfigen Karawane auf. Ihr erstes Reiseziel war Bagdad, das der klassisch gebildete Poggio in Gleichsetzung mit dem alten Babylon vom Tigris irrtümlich an den Euphrat verlegte. Von dort ging die Reise zu Wasser weiter, auf dem üblichen Handelsweg über Basra und Ormuz nach Kaihat im heutigen Oman. Nach einiger Zeit Aufenthalt wurde er von einem persischen Schiff als Handels-partner — sociis mercatonbus Persiis (VF IV/48) — nach Indien mitgenommen. Die Reise ging über Cambay und weiter nach Süden, nach Barkur und Delly. Hier begann eine der wenigen Landreisen Contis, der sich sonst fast nur per Schiff fortbewegte; er reiste nach Vijayanagar, der Haupts tadt des gleichna-migen Königreichs, das am Anfang des 15. Jahrhunderts den Sudteil der indi-schen Halbinsel beherrschte1* — Vijayanagar wird auch im Text ausnahms-weise etwas näher beschrieben. Uber Udaygiri und Chandragiri gelangte er daraufhin nach „Pudifetania", einer Stadt an der Mahabar- oder Ma'abar-Küste (der Koromandelküste, also der Ostküste Indiens), die dem heutigen Madras entsprechen könnte1 ' . Nach einem Besuch von Mailapur, dem dort

16 Vgl. die Karte auf S. 408. Eine detaillierte Diskussion der Route, die Conti tatsächlich nahm, würde hier zuviel Platz in Anspruch nehmen; abgesehen von Hinweisen auf „Gegendar-stellungen" an strittigen Punkten stützt sich die Rekonstruktion der Route auf die Zusammen-fassung bei Henze (wie Anm. 1) 636—639; eine endgültige Klärung ist an einigen Stellen wohl nicht möglich, da auch die umfassende Zusammenstellung der Namensvarianten in der neuen kritischen Ausgabe von Outi Merisalo (siehe Anm. 2) auf Grund der massiven Verballhor-nungen in späteren Handschriften eher verwirrt als klärt (vgl. auch die Zusammenstellung bei Sensburg 307—325). Auch und gerade in den späteren Druckausgaben treten zum Teil noch schlimmere Verballhornungen und „Verschlimmbesserungen" zutage, da man dort versuchte, vorhandenes „Wissen" mit den Namen in Ubereinstimmung zu bringen (siehe unten). Die hier erfolgende Darstellung hält sich an die übliche deutsche Orthographie der asiatischen Orts-namen.

" Vgl. Longhena (wie Anm. 1) 107. " Vgl. Joseph E. S c h w a r t z b e r g , A Historical Atlas of South Asia (Chicago/London

1978) 199. " Die meisten älteren Druckausgaben lesen „Malabaria", eine Angabe, die schon des-

wegen unkorrekt sein muß, da sich das Thomasgrab mit Sicherheit in Mailapur an der Koro-mandelküste befand und nicht an der Malabar-, also Westküste; Merisalos Ausgabe (VF IV/78) verzeichnet „Mahabaria" sogar ohne Angabe von Varianten.

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befindlichen Grab des nestorianischen Missionars Thomas und der ansässigen Nestorianerchristen reiste Conti dann wieder zur See, an der Mahabarküste entlang nach Cayal und hinüber nach Ceylon und von dort an den Andamanen vorbei (bei Poggio die Goldinsel — auri insula: VF IV/98)2 0 nach Sumatra (das Poggio mit dem antiken Namen „Taprobana" versieht, obgleich Conti den rich-tigen Namen „Sciamutera" kannte)21. Nach einem Jahr auf dieser Insel, deren Einwohner er als schockierend grausam beschreibt, reiste er weiter, wurde von einem Sturm nach Thenasserim verschlagen und erreichte die Gangesmündung. Auf der Fahrt den Ganges hinauf berührte er die Städte „Cernovis" und „Maha-ratia" sowie vier weitere bedeutende Städte (quatuor ciuitates famosissimi, VF IV/126) , die bis heute nicht eindeutig identifiziert werden konnten22. Nach einem Abstecher zurück nach Pudifetania2' (möglicherweise um Waren abzu-setzen) und seiner zweiten Landreise — von Arakan zum Irawaddy (bei Conti

20 Hier spielt möglicherweise wieder eine antike Vorstellung mit hinein, die der Goldinsel im Osten — Chryse oder Aurea Chersonesus. Diese Vorstellung, die auf die pseudo-ptolemäi-sche Geographia zurückgeht, verband sich allerdings in der Regel mit der malaiischen Halb-insel; vgl. Paul Wh eat ley, The Golden Chersonese (Kuala Lumpur 21980) 138, 144 f.; auf den „mappae mundi" des Mittelalters erscheint es aber auch als legendärer Ort ohne geogra-phische Zuordnung (Wheatley 159); wie Poggio auf die Andamanen kommt, ist unklar.

21 »Taprobana" ist der antike Name für Ceylon — da aber Nearchos, der antike Gewährsmann Poggios aus der Naturalis Historia von Plinius dem Alteren, für diese Gegend (magni Alexandri ciassis praefecto, VF IV/22—23 und Kommentar) den Abstand zwischen Indien und „Taprobana" mit zwanzig Tagesreisen angibt, lag für Poggio die Identifikation der Insel als Sumatra näher als die mit Ceylon.

22 Paul Pelliot vertritt sogar die These, Conti sei überhaupt nicht den Ganges hinaufge-fahren, sondern den Menam Chrao Phranga und den Mekong; er identifiziert infolgedessen Cernovis mit Sahr-i-nau ( = Ayuthia) und Maharatia als Quara-Jang ( = Yün-nan); vgl. Paul P e l l i o t , Notes on Marco Polo (Paris 1959) I 179 f. Erklären würde dies in der Tat, warum der Weg zwischen Thenasserim und der Gangesmündung terra marique confectus (VF IV/115) wäre und warum der Irawaddy breiter als der „Ganges" wäre (VF IV/133). Im Widerspruch dazu stehen die angeblich ungeheure Breite des „Ganges" (ebenda), die weder Menam noch Mekong aufweisen, und die daraus resultierende extrem weite Rückreise nach Buffetania/ Pudifetania, die sich allenfalls noch damit erklären ließe, daß Conti zurück nach Indien fuhr, um seine Waren zu verkaufen (was eine Reise von der Gangesmündung immer noch wahr-scheinlicher macht). Pelliots Kritik an Poggio — „Conti's vague geographic notions have become almost unintelligible in passing through Poggio's editing" (Pelliot 180) — ist insofern nur teilweise gerechtfertigt, als Poggio bis auf wenige Ausnahmen im indochinesischen Raum (die dort unglücklicherweise in Folge auftreten, sodaß ein ganzer Teil der Reise — zwischen Thenasserim und Arakan — unklar bleibt) die Ortsnamen in der Regel recht zuverlässig, zumindest aber erkennbar wiedergibt.

21 Der von Poggio an dieser Stelle genannte Ort lautet „Buffetania"; Major — und mit ihm Merisalo — identifiziert diese Bezeichnung als Bardwan an der GangesmUndung: vgl. R. H. M a j o r , ed., The Travels of Niccolö Conti, in: India in the Fifteenth Century. Being a Collection fo Narratives of Voyages to India, . . . translated by J. Winter Jones (Works Issued by the Hakluyt Society, First Series, Nr. 22, London 1862, repr. New York 1964) LXIV; Meri-salo in VF 233, Anm. zu IV/130. Dies würde die Reiseroute erheblich verkürzen (siehe Karte im Anhang), da Conti nicht noch einmal auf die indische Halbinsel zurückgekehrt wäre, aber Poggio spricht davon, daß Conti nach Buffetania zurückkehrte (ad Buffetaniam rediit; VF IV/ 130), und nur von „Pudifetania" war davor die Rede gewesen; eine Verballhornung von „Pudi-fetania" zu „Buffetania" liegt doch durchaus im Bereich des Vorstellbaren, und seine Geschäftsreisen werden Conti innerhalb von 25 Jahren durchaus kreuz und quer durch Ost-asien geführt haben.

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„Dava", also „[fiume] d'Ava") erreichte Conti Ava, wo er offensichtlich länger blieb, da Land und Leute unverhältnismäßig ausführlich beschrieben sind. Daran anschließend folgt ein kurzer Exkurs über Cathay ( = China) mit Beschreibungen von Cambaleq und „Nemptai" ( = Nanking), die jedoch so schematisch sind, daß es unwahrscheinlich erscheint, daß Conti selbst dort war. Der Text spricht auch nicht von einer Reise dorthin, und die für den Bericht so charakteristische Beschreibung von Pflanzen und Tieren fehlt im Cathay-Exkurs völlig24. Auf den Ava-Aufenthalt folgen die Stationen „Xeythona" (Sit-tang) und „Pancovia" (höchstwahrscheinlich Pegu und nicht, wie Sensburg annimmt, Bangkok, das zu dieser Zeit allenfalls ein unbedeutendes Dorf an der Mündung des Menam Chrao Phranga war25) sowie ganz unvermittelt Java, wo Conti neun Monate verbrachte. Er erwähnt ein J a v a maior" und ein J a v a minor", wobei nicht ganz sicher ist, welche Inseln er genau meint — da er Sumatra unter seinem richtigen Namen kannte, kommen entweder Borneo und Java oder Java und eine kleinere Insel in Frage (Soembava? Bali?). Die Gewürz-inseln „Sandai" (Sunda) und B Bandam"/„Badam" (Banda) werden erwähnt und möglicherweise auch besucht. Die Rückreise verlief über die Malabarküste (Quilon, Calicut), Socotra und das Rote Meer (Aden, Dschidda) nach Kairo (wo Conti durch eine Seuche seine Frau und zwei Kinder verlor), und von dort erreichte er mit seinen zwei verbliebenen Kindern Venedig.

Das Bild der Reiseroute (siehe Karte auf S. 408) wirkt sehr unstet, beinahe zufällig. Dazu ist zu bedenken, daß Conti 25 Jahre in Asien unterwegs war, von denen nur ein geringer Teil explizit im Text abgedeckt ist. Conti reiste nicht nur nach Asien, er lebte auch dort, und die rekonstruierte Reiseroute ist nicht das Resultat einer einzigen Reise, sondern vieler Reisen durch die Region — wer weiß, wo Conti sonst noch überall war, zumal der Bericht keine lückenlose Beschreibung von Ort zu Ort darstellt (eine Lücke in der Beschreibung ist bei-spielsweise zwischen Pegu und Java). Sinnvoller wäre im Gegenteil die Frage, was ihn dazu bewog, mit seiner Familie (inklusive einer asiatischen Frau) das Risiko einer Rückreise auf sich zu nehmen — wie wir wissen, mit sehr unange-nehmen Konsequenzen; vielleicht hatte ihn nach einer so langen Zeit doch das Heimweh gepackt.

Die Nachwelt hatte insofern Glück, als Conti in Florenz außer dem Papst Eugen IV., den er wegen seines Übertritts zum Islam um Absolution bitten wollte, noch einen weiteren Teilnehmer am Konzil traf, der an seinen Erleb-nissen in Asien außerordentlich interessiert war: den Privatsekretär des Papstes und Humanisten Poggio Bracciolini. Die Behauptung allerdings, der Papst habe Conti das Diktat des Berichts an Poggio als Buße für seine Konversion aufer-legt, ist im überlieferten Text nicht belegt und beruht auf einer Behauptung Ramusios im Vorwort seiner Druckausgabe26. Im Text ist schlicht von Neugier

24 Nur Hennig (wie Anm. 12) beharrt dagegen auf einer Anwesenheit Contis in China (34, 38).

" Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 319. Nach Michael S m i t h e r s , Old Bangkok (Singapore/ Oxford 1986), ist Bangkok zum ersten Mal als französisches Missionsfort im Jahr 1660 nach-gewiesen; Hauptstadt Thailands wurde es Uberhaupt erst 1782.

26 Giovanni Battista R a m u s i o , Viaggi die Niccolö di Conti (Navigazioni e viaggi 2, ed.

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die Rede, die Poggio packte, als er von der Anwesenheit Contis in Florenz erfuhr — bunc ego audiendi cupidus (VF IV/14) — und ihn dazu bewog, den Zurückgekehrten systematisch über seine Erlebnisse auszufragen; es handelte sich hier also um einen der seltenen Zufälle, die der Geschichtsschreibung zu einem Bericht der sonst eher schreibfaulen Händlerzunft verhalfen (ein Zufall wie etwa auch die Veröffentlichung der Pratica della Mercatura von Francesco Balducci Pegolotti) und zudem ein weiteres Glied in der Kette der Reisebe-richte, deren schriftliche Abfassung von „Ghostwritern" übernommen wurde, wie vor ihm schon die von Odorico (Wilhelm von Solagna), Marco Polo (Rusti-chello) und des Armeniers Hetum/Haython.

Stilistisch ist diese Arbeitsteilung mit Sicherheit ein Gewinn — man kann bei Conti keine großartige Bildung annehmen, wenn man bedenkt, daß er schon als adolescens in Syrien war, und der Veneto-Dialekt, der seine Muttersprache gewesen sein muß, steht (zumal nach 25 Jahren Auslandsaufenthalt) in scharfem Kontrast zu dem an klassischen Idealen orientierten Humanistenla-tein Poggios; daß Poggio Conti überhaupt verstand und die Ortsnamen den doppelten Transfer vom Original über Conti zu Poggio so relativ unbeschadet überstanden, ist um so erstaunlicher. Inhaltlich wirft die Redaktion Poggios natürlich die Frage auf, inwieweit er von sich aus in den Text eingriff, wegließ, ergänzte, veränderte. Vor dem Versuch, diese Anteile zu trennen, ist es jedoch wichtig, zu erklären, wie Poggio überhaupt dazu kam, sich für diesen Bericht zu interessieren und ihn sogar in einem humanistischen Kontext zu veröffentli-chen.

III.

Gian Francesco Poggio Bracciolini, am 11. Februar 1380 in Terranuova im Arnotal geboren, trat bereits 1404 in päpstliche Dienste, erst als Skriptor und ab 1423 als päpstlicher Sekretär27. Insgesamt diente er unter acht Päpsten — dar-unter Eugen IV. (1431 —1447) — und war später noch Kanzler von Florenz; er starb im Jahr 1459 in Florenz. Als päpstlicher Sekretär hatte er ideale Voraus-setzungen, am geistigen Leben in Italien teilzuhaben, und hatte als einer der Hauptvertreter des frühen italienischen Humanismus lebhaften Kontakt zu allen bedeutenden Humanisten seiner Zeit — Lorenzo Valla, Niccolö Niccoli, Leonardo Bruni, Antonio Loschi und anderen2®. Der umfangreichste seiner zahlreichen Traktate (und nach den Facezie sein zweitgrößtes zusammenhän-gendes Werk überhaupt) sind seine 1448 veröffentlichten De Varietate Fortunae Libri Quattuor.

Marica Milanesi, Torino 1979) 785: „per penitenza". Auch die Tatsache, daß der Bericht erst 1448 veröffentlicht wurde und nicht Eugen IV., sondern Nikolaus V. gewidmet ist, spricht gegen einen Auftrag Eugens.

17 Vgl. Ernst W a l s e r , Poggius Florentinus (Leipzig/Berlin 1914, repr. Hildesheim/New York 1974) 6, 19f., 85.

" Vgl. Walser 90 ff.

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Im Titel sind bereits die beiden Hauptziele des Traktats genannt: historia und fortuna. Die Geschichtsschreibung galt — in ihrem Vorbildcharakter durch moralphilosophische exempla — als vornehmste Aufgabe des Humanisten über-haupt, in der Tradition der antiken Geschichtsschreiber wie Tacitus oder Sal-lust.

Die Demonstration der unsteten Macht der fortuna sollte damit verbunden oder dadurch erreicht werden, die ihrerseits nur durch die virtus überwunden werden konnte. Die Idee der fortuna als überirdische, die Menschen lenkende Macht war eine antike, also an sich heidnische Vorstellung und daher primär unchristlich. Den Humanisten mußte also daran gelegen sein, die fortuna-Idee mit der christlichen Providentia in Übereinstimmung zu bringen29, wobei die for-tuna in vieler Hinsicht sogar leichter mit der Realität in Einklang zu bringen war als die Providentia, da sich mit einer prinzipiell bösartigen fortuna auch erklären ließ, daß guten Menschen schlechte Dinge zustießen. Poggio vermischt in seinem fortuna -Verständnis (VF, Buch I) antikes und christliches Gedan-kengut, zitiert Aristoteles, Cicero, Cäsar, Seneca und Thomas von Aquin. Nicht klar unterschieden sind bei ihm die zufällige, tendenziell bösartige fortuna der Stoiker30, die personengebundene bona fortuna („Glück") und die fortuna als causa superior bei Thomas von Aquin11. Poggio kam es offensichtlich nicht so sehr auf die Theorie an, die er — so Iiro Kajanto — auch nicht ganz verstanden hat te" , sondern auf die Demonstration einer alles in allem doch eher unchristli-chen und unberechenbar-unmoralischen fortuna an anschaulichen historischen Beispielen — fortuna als das von jedem erfahrene Auf und Ab (eher Ab als Auf) im menschlichen Leben33. Von christlicher Providentia kann hier keine Rede sein — außer gerade Conti haben alle Akteure der VF unbeschreibliches Pech: Im ersten Buch wird Rom zerstört, und die Fürsten und Regenten der Bücher zwei und drei gehen allesamt zugrunde; Poggio ging es eben darum, zu demon-strieren, wie auch Mächtige der unsteten fortuna unterworfen sind und an ihr zugrundegehen können34.

Eine zweite antike Idee, mit der fortuna verknüpft, ist die der virtus. In Anlehnung an die Stoiker ist die virtus die einzige Möglichkeit, dem Einfluß der fortuna zu entgehen; virtus wiederum — und das war für Poggio und die Humanisten der springende Punkt — wird durch das Studium der Geschichte erreicht, eine Selbstrechtfertigung der Humanisten, sich mit den antiken und also heidnischen exempla zu beschäftigen, die als Beispiel und als Mahnung den Lesern vor Augen geführt werden sollten35. Anders als seine Kollegen jedoch

" Vgl. Iiro K a j a n t o , Fortuna in the Works of Poggio Bracciolini. Arctos 20 (1986) 25—57, bes. 26 f.

30 Vgl. Kajanto, Fortuna 32. 31 Vgl. Kajanto, Fortuna 30 f. 32 Vgl. Kajanto, Fortuna 34. 33 Vgl. Kajanto, Fortuna 36; Ders . , Poggio Bracciolini and Classicism. Α Study in Early

Italian Humanism (Annales Academiae Scientiarum Fennicae Β 238, Helsinki 1987) 34. 34 Vgl. Kajanto, Fortuna 42. 55 Vgl. VF Prooemium, Z. 8 —11; Iiro K a j a n t o , Α Humanist Credo. Arnos 23 (1989)

91 — 103, bes. 96 f.

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Die Entdeckung des Ostens und der Humanismus 401

beschränkte sich Poggio nicht auf die Darstellung der antiken Geschichte, son-dern betonte, daß es auch in der modernen Geschichte genügend denkwürdige Ereignisse gäbe; es sei bloß niemand da, der adäquat darüber schreibe (Nos autem iamdudum scriptonbus caruimus, quorum inopia nostrorum temporum gesta magnifica sane et egregia non nulla, in obliuionem perpetuam labuntur; VF 1/ 625—27). Gleich im Prooemium der VF betont er die Wichtigkeit der Geschichtsschreibung: Magnam igitur utilitatem afferre mortalibus historia censeri debet et plurimi extimandam (VF Pr/4—5). Auffallend ist auch die mehrfache Ermahnung, glaubwürdig zu berichten, an sich selbst und an andere gerichtet: Mehrfach gibt Poggio zu, daß die antiken Geschichtsschreiber zwar ungleich beredsamer seien als die modernen, aber dafür Dinge schrieben, über die heute alle lachen würden (multa fabellis, quam historiis similiora esse uidentur, VF 1/ 618) und die auch nicht so wichtig seien. Die Aufgabe des zeitgenössischen Historiographen dagegen sei es, spannend und glaubwürdig zugleich zu schreiben34. Poggios Beteuerungen, er wolle die Wahrheit und nur die Wahrheit berichten, läßt ihn dabei auch — bewußt oder unbewußt — in die Nähe eines Topos der Reiseberichte rücken, den der formelhaften Beteuerung der Glaub-würdigkeit und Authentizität des Beschriebenen. Bei Poggio lag die Sache aller-dings insofern etwas anders, als er die Glaubwürdigkeit zur Maxime eines historisch-humanistischen Traktats machte, der in erster Linie Zeit- und Lokal-geschichte beschreibt, für die Leser also nachprüfbar war. Man kann daher annehmen, daß er auch im vierten Buch — den Bericht über Conti — auf die „Mirabilia" Ostasiens verzichten wollte und nur Dinge aufnahm, die ihm und seinem humanistischen Leserkreis als glaubwürdig erschienen, was zwar nicht zu einer völlig wahrheitsgetreuen, aber insgesamt (abgesehen von einigen antiken Topoi) weniger ausgeschmückten Berichterstattung führte als in anderen Asienberichten.

Edidi quatuor libros de varietate fortunae in quibus multa sunt cognitione digna — dieser Satz aus einem Brief Poggios an Antonio Panormita vom 28. Februar 144837 zeigt die Veröffentlichung des Gesamttraktats an, gewidmet dem dama-ligen Papst Nikolaus V.38. Die ersten beiden Bücher sind allerdings wesentlich älter und bilden den Kern der VF; sie entstanden in den Jahren 1432—35, wäh-rend die Idee zu einem derartigen Werk bereits aus den zwanziger Jahren stammte; sie enthalten auch alle theoretischen Ausführungen über historia, for-tuna und virtus. Beide Bücher sind nach klassischem Vorbild in fiktiver Dialog-form abgefaßt — „Gesprächspartner" ist „Antonius Luscus", der Humanist und Freund Poggios Antonio Loschi39.

Das erste Buch handelt hauptsächlich vom Fall und der Zerstörung Roms, als „Paradebeispiel" für die bösartige Macht des Schicksals. Auf die Aufforde-rung Poggios am Ende des Buches, sich jetzt doch mehr der modernen Geschichte zuzuwenden, bringt „Antonius" als Beispiel die Eroberung der

" Vgl. VF 1/619 ff.; 11/759 ff.; vgl. Kajanto, Poggio and Classicism 36. " P o g g i o B r a c c i o l i n i , Lettere III (ed. Helene Harth, Firenze 1987) 59. J* Vgl. Kajanto, Poggio and Classicism 33. " Vgl. Kajanto, Poggio and Classicism 36 f.

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Türkei und die Gefangennahme ihres Königs Bajazet durch Tamerlan (VF 1/ 630ff.)· Obwohl diese Ereignisse in der Tat nur einige Jahrzehnte zurücklagen, sind sie Poggio zu exotisch — er forden Antonius auf, doch die Barbaren in Frieden zu lassen und sich mehr um lokale Ereignisse zu kümmern, die leichter nachzuvollziehen seien und die auch genügend Stoff böten, an dem die vanetas fortunae zu demonstrieren sei: omitte barbaros, quorum cognitio paulo difficilior est, et ad nostros redi, exempla quorum nota admodum ante oculos obuersantur, magna testantia fortune uanetatem (VF I/706)40.

Im Verlauf der Bücher II und III hält sich Poggio auch an diese Vorgabe: Das zweite — Secundo exempla multorum, quos eius uarietas hac etate nostra afflixit usque ad Martini Pontificis obitum recensentur (VF Pr/53—54) — beschreibt europäische Geschichte im 14. und 15. Jahrhundert (bis zum Todes-jahr Martins V., 1431), u. a. die Schicksale Richards II. von England (f 1399) und Karls VI. von Frankreich (f 1422), sowie Ereignisse im normannischen Sizilien und viel italienische und päpstliche Lokalhistorie. Das dritte Buch — Tertius ilia complectitur, quae tulere Eugenii tempora usque ad initium tui [NicolaiJ Pontificatus (VF Pr/54—55) — wurde zwischen 1447 und 1448 angefügt und hat eher den Charakter einer Chronik des Pontifikats Eugens IV., die Poggio in seiner Eigenschaft als päpstlicher Sekretär zusammenzustellen die Gelegenheit gehabt hatte. Aufgegeben ist infolgedessen auch die Dialogform, es finden sich aber noch gelegentliche Einwürfe von „Carolus Aretinus" (Carlo Marsuppini), der den Papst zum Teil scharf angreift41.

An dieser Stelle ist der Traktat von seiner ursprünglichen Zielsetzung her eigentlich abgeschlossen; das vierte Buch, das den Reisebericht Contis und zwei weitere kurze Reiseberichte zum Inhalt hat, bricht mit der Konzeption des geschichtsphilosophischen Traktats völlig, und Poggio war sich dieser Tatsache offenbar auch bewußt. Er entschuldigt sich beim Leser gleich zweimal, daß er etwas eindeutig „Abwegiges" und primär zur Unterhaltung Gedachtes in seinen Traktat aufgenommen habe, zuerst im Prooemium: Additur his quartus de Indis Ethiopibusque continens nonnulla, que grata fore lectonbus arbitramur (VF Pr/56) und noch deutlicher in der Einleitung zu Buch vier selber: Haud ab re futurum esse arbitror, sie ab instituto scribendi cursu paulum diuertens, eum librum huic finem imposuero (VF IV/2—3)42. Die Aufnahme des Berichts steht nicht nur überhaupt außerhalb des theoretischen Konzepts der VF, sondern auch in expli-zitem Widerspruch zum omitte barbaros des ersten Buches. Während das grata fore im Prooemium eine Anfügung weniger aus belehrenden Gründen als zur

40 Vgl. Kajanto, Poggio and Classicism 38. 41 Vgl. Kajanto, Poggio and Classicism 37 f. 41 Noch deutlicher tritt der „Unterhaltungs"charakter des IV. Buches in einer Lesart der

Druckfassung von 1492 hervor. In der englischen Übersetzung von Lincoln D. H a m m o n d (Travellers in Disguise. Narrative of Eastern Travel, Cambridge/Mass. 1963) ist Poggio fol-gendermaßen übersetzt: "[ . . .] and hand this little book down to posteriority in such form that it may serve for relaxation and at the same time turn the minds of the readers from the severity of fortune to a gentler fate" (6) — a fortunae acerbitate ad mitiorem quandam sortem, iocun-damque rerum uanetatem legentium animos traducturus (VF IV/4—5); die „relaxation" ist also eine freie Hinzufügung des Übersetzers.

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puren Unterhaltung der Leser nahelegt, unternimmt die Einleitung zu Buch vier zumindest den Versuch einer Anbindung an das Gesamtkonzept — wenn auch mit der Konzession paulum divertens — indem Contis Reise als Extrembeispiel dafür angeführt wird, wie die fortuna einem Menschen mitspielen kann. Erstaunlicherweise wird die virtus mit keinem Wort erwähnt, obwohl Conti der erste Akteur des Werkes ist, der seine Prüfungen einigermaßen unbeschadet übersteht.

Unmittelbar nach dieser notdürftigen Einbindung des Reiseberichts in das Konzept der vanetas fortunae gibt Poggio zu, worum es ihm im vierten Buch eigentlich geht: um die Vermittlung zuverlässigen Wissens über Asien, eine „Überarbeitung" der antiken Quellen, die für Poggio fabulis quam uero similiora (VF IV/9) waren. Und er beeilt sich auch gleich, die Glaubwürdigkeit seines Gewährsmanns zu betonen — non fingere, sed uera referre appareret (VF IV/ 19—20). Es ließe sich argumentieren, daß diese Absicht mit einem der erklärten Ziele der VF übereinstimme, nämlich der Vermittlung zuverlässigen histori-schen Wissens, die Methode aber wechselt grundlegend. Während in den ersten drei Büchern Geschichte — explizit lokale, den Leser betreffende Geschichte — am Beispiel von Einzelschicksalen demonstriert worden war, wird im vierten Buch die persönliche Sphäre (und damit die der fortuna) gänzlich verlassen, und Poggio schreibt weniger einen Reisebericht als eine Kosmographie Asiens wie nach einem antiken Modell, etwa der Historia Naturalis des älteren Plinius.

IV.

Poggios Redaktion von Contis Reisebeschreibung im vierten Buch, das außerdem noch zwei Gesandtschaftsberichte von Botschaftern aus Cathay (!) (regnum esse ait prope Cataium, VF IV/558—559) und Äthiopien enthält, ist in zwei Teile aufgeteilt: Der erste Teil umfaßt den eigentlichen Reisebericht und der zweite (ab VF IV/320) eine systematische Beschreibung der Völker Indiens mit ihren Sitten, Religionen und nicht zuletzt Handelsbräuchen (von denen Conti offenbar am meisten zu berichten wußte) nach klassischen Vorbildern (Plinius, Cäsars Beschreibung Galliens in De hello Gallico etc.). Poggio betont mehrfach, daß er Conti regelrecht ausgefragt habe, um so viel wie möglich über alle indischen ( = asiatischen) Bräuche zu erfahren4 ' . An die Stelle des Dialogs tritt die bewußt nüchterne Beschreibung in der dritten Person; statt Menschen werden in erster Linie Dinge beschrieben.

Selbst im ersten Teil steht der eigentliche Akteur Conti völlig im Hinter-grund; er wird zum unbeteiligten Zeugen der Menschen und Dinge, die er wahrnimmt und taucht bis auf wenige Ausnahmen nur als grammatisches Sub-jekt im Text auf (pervenit, transiit, rediit etc.). Als Individuum tritt Conti nach der Einleitung, die ihn als Opfer der fortuna einführt, und der Bitte um Absolu-tion bei Eugen IV. (VF IV/11) nur auf, als ihm in Ava ans Herz gelegt wird,

*' Vgl. VF IV/15—17: in doctissimorum uirorum cetu et domi mee percunctatus sum dili-genterplurima que opere pretium uisum est, ut memorie et litteris traderentur; vgl. auch VF IV/320.

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durch Ringe in der Vorhaut (sonalia) seine Attraktivität für Frauen zu erhöhen, was er entsetzt ablehnt (VF IV/139—46)44. Nicht einmal die erzwungene Kon-version auf der Rückreise findet nähere Beachtung; wir erfahren nur, daß er in Kairo zwei seiner Kinder und seine Frau (die hier nach ihrer „Einführung" auf Java zum ersten Mal wieder auftreten) sowie alle seine Bediensteten durch eine Seuche verlor und nur mit zwei Kindern nach Venedig zurückkehrte (VF IV/ 310—11). Ebenfalls nichts ist, wie gesagt, über Reisebedingungen und fast nichts über Contis eigentliche Aktivitäten in Asien, die eines Händlers, zu lesen; nach der einleitenden Bemerkung, daß er mercature gratia (VF IV/26) in Damaskus war und von dort in cetu mercatorum (VF IV/27) abreiste, weist nur ein einziger Nebensatz — Relictis Iauis, sumtisque, quae usui ad quaestum erant, flexit ad occidentem iter [. . .] (VF IV/240—41) — darauf hin, daß er in Asien überhaupt Handel trieb.

Die Schwerpunkte der Beschreibung geben jedoch deutlich Aufschluß dar-über, worin sich Conti auskannte und was ihm auffiel, vor allem auch, was er sich merken konnte, da zumindest laut Poggio keine Notizen als Gedanken-stütze vorlagen. Charakteristisch ist vor allem der erste Teil, der eigentliche Reisebericht, bei dem man eher annehmen kann, daß Conti spontan berichtete und nicht auf Poggios Fragen antwortete (und damit Poggio und nicht Conti die Akzente setzte). Hier überwiegen bei weitem die Beschreibungen von Han-delswaren, also Pflanzen (Früchte, Gewürze, Hölzer), Perlen, Edelsteine — einige Pflanzen werden sehr detailliert beschrieben (Ingwer: VF IV/56—60, Zimt: VF IV/86—91). Erst an zweiter Stelle stehen die Beschreibungen von Tieren und Einheimischen, und nur sechsmal (Bagdad, Vijayanagar, Mailapur, Sumatra, Java, Cambalec) werden Städte oder Inseln ausführlicher als bloß mit Angabe der Lage und des Umfangs erwähnt. Nur wenige Details, die sich auf die Einwohner der bereisten Länder beziehen, finden im ersten Teil näheres Interesse: die Witwenverbrennung (gleich dreimal), die Polygamie (fünfmal) und, im Zusammenhang mit Pflanzen und Tieren, die Eßgewohnheiten. Mit Pfeffer servierte Ameisen (VF IV/180—81) und das Fehlen von Wein scheinen ihm besonders unangenehm aufgefallen zu sein.

Selten läßt sich im Text eine explizite Wertung, etwa mit qualifizierenden Adjektiven finden — über praecipua (VF IV/230) oder mira (VF IV/256) geht die Subjektivität nicht hinaus. Wirklich aus der Reserve gelockt scheint Conti — oder Poggio — nur angesichts der Grausamkeit der Einwohner auf den Andamanen (Menschenfresser und immanes barbari, VF IV/100), schlimmer noch, als er auf Sumatra ist (v in cmdeles, et monbus asperi, VF IV/101) und am allerschlimmsten auf Java (Amokläufer, homines inhumanissimi omnium, VF IV/217—18). Die Tat-sache dagegen, daß die Inder Heiden und Götzenanbeter sind, findet wenig Beachtung, erschöpft sich in der lakonischen Bemerkung Colunt idola omnes (VF IV/173); auch der zweite Teil zeigt, daß Poggio an den heidnischen Riten zwar sehr interessiert war, aber nicht wertet. Der neutrale Ton des Berichts läßt ohnehin nur selten den Verdacht aufkommen, das Buch sei dazu gedacht, die mirabilia

44 In der englischen Ausgabe von Major 1862 (wie Anm. 23) bleibt diese Stelle bezeich-nenderweise unübersetzt.

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mundi zu beschreiben; die „Monster" beschränken sich auf gezähmte Elefanten, Schlangen und „fliegende Katzen" ( = Fledermäuse), die immerhin als Vampire beschrieben werden — qui solo balitu homines interficiant (VP IV/259). Dieses Detail springt allerdings vielleicht eher dem heutigen Leser ins Auge als dem damaligen, da wir im Vampir ein uns geläufiges Motiv wiederentdecken (wie auch in der Tätowierung [VF IV/171—73] oder dem Amoklauf auf Java [VF IV/ 219—26]), während der damalige Zeitgenosse eher das als „spannend" empfand, was er seinerseits in seiner Ausgefallenheit doch mit etwas Vertrautem in Verbin-dung bringen konnte, wie die zahmen Elefanten, die Witwenverbrennung und die Stadt des magnus canis, Cambalec, deren Erwähnung im Text so wirkt, als sei sie tatsächlich nur eingefügt, weil sie in einer umfassenden Beschreibung Indiens eben nicht fehlen durfte; das Conti-Spezifische, die Handelswaren, kommt in dieser Passage nicht vor.

Noch ungleicher sind die Gewichte zwischen kosmographischen Elementen und Reisebericht im zweiten, systematischen Teil verteilt. Conti erscheint über-haupt nicht mehr im Text, der Erlebnischarakter ist gänzlich verschwunden. Nach der Klärung des geographischen Rahmens — Indien ( = Asien) teilt sich in drei Teile, India anterior (bis zum Indus), India media (das heutige Indien) und India ulterior oder interior (China und Indochina) (VF IV/320ff.) — hakt Poggio einen Lebensbereich nach dem anderen ab: Alltagsgewohnheiten (Essen, Kleidung, Schmuck, in dieser Kategorie offenbar auch Prostitution), Riten (Heirat, Polygamie, sehr ausführlich Trauer- und Begräbnisriten mit Witwen-verbrennung, Brahmanenkult), Navigation und Schiffbau, Götter und Götzen (Opferzeremonien, rituelle Selbstmorde), Feste und Hochzeiten (wiederum ohne Wein — offenbar für Conti ein sehr großes Manko), Kalender, Währung, Waffen, Sicht der Europäer durch Asiaten, Schrift, Gerichtsbarkeit, Krank-heiten und einige „merkwürdige" Details zum Schluß.

Auffallend ist insgesamt der Drang zur Vollständigkeit, die große Detail-fülle auf engstem Raum (knapp zwölf Seiten in der Handschrift, die der Edition der VF zugrundeliegt) und das durchgängige Festhalten an der Aufzählung Punkt für Punkt (meistens auch mit der Unterteilung in Vorder-, Mittel- und Hinterindien). Dieser Lehrbuchcharakter läßt in der Tat daran denken, daß der Text eine Art Historia Naturalis zu sein beabsichtigte, eine „Neuauflage" der alten Asienbeschreibungen mit der Absicht, die alten Wundergeschichten durch neue, verläßlichere Informationen aus erster Hand zu ersetzen. Selbst im Fall der heidnischen Riten zog es der päpstliche Privatsekretär vor, seinen „wert-freien" Ton beizubehalten — die humanistische Wißbegier und der Wille zur Objektivität überwiegen deutlich über den christlichen Eifer. Eine deutliche Verurteilung der Häretiker (meist Nestorianer) und Götzenanbeter oder zumindest starke Skepsis findet sich in den mittelalterlichen Asienberichten ohnehin nur bei den Missionaren (Wilhelm von Rubruck, Odorico von Porde-none, Johannes von Montecorvino)45 — die Regel ist wohlwollendes Interesse.

45 Vgl. Anna-Dorothee v o n d e n B r i n c k e n , Die „Nationes Christianorum Orienta-lium" im Verständnis der lateinischen Historiographie (Kölner historische Abhandlungen 22, 1973) 302ff. (Wilhelm), 318 (Odorico), 316f. (Johannes).

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Ganz frei von Topoi und „Mirabilia" ist der Text allerdings nicht: Poggio kam nicht umhin, durch Vergleiche — more nostro (VF IV/327), veluti nos (VF IV/341) — und Verwendung bekannter Vorstellungen Asiens die Auskünfte in seine eigene Welt einzuordnen. Zwei Quellen der Inspiration lassen sich im Text erkennen: die antike Geschichtsschreibung und ihre Motive, sowie die zeitgenössische „Geschichtenwelt" der Asienberichte. Mehrere Anzeichen spre-chen dafür, daß sich die Urheberschaft trennen läßt — die antiken Anspie-lungen stammen von Poggio, die modernen von Conti selbst.

Mit Sicherheit war Conti nicht in der Lage, antike Motive einfließen zu lassen; über seinen Bildungsstand wurde bereits gesprochen. Um so mehr mußte Poggio daran interessiert sein, seinem klassisch gebildeten und interes-sierten Leserkreis44 den Bericht auch „klassizistisch" zu vermitteln. Da die Renaissance des Griechischen noch am Anfang stand und Poggio selbst das Griechische nur ungenügend beherrschte47, fallen die griechischen Reisebe-richte von Herodot, Eratosthenes, Strabo und Ptolemaios als direkte Quellen wohl weg4*, nicht aber ihre Verarbeitung durch Plinius, das Vorbild, an dem sich Poggio ausrichtete. Von Plinius direkt beeinflußt sind die Passagen über die Elefantenzähmung (in quo et cum Plinio sentire videtur, VF IV/150, Plinius, hist. nat. 8,8—9) und die bereits erwähnte fälschliche Benennung Sumatras als „Taprobana" (Ceylon).

In eine andere Richtung geht eine — für jeden Leser, der an der Schule Lateinunterricht hatte — sehr auffallende Anspielung an den Anfang von Cäsars De hello Gallico: Der zweite Teil von Poggios Bericht beginnt mit den Worten Indium omnem in tres divisam partes (VT IV/320). Auch eines der wenigen mirahilia des zweiten Teils, die Wiedergeburt und der süße Gesang des Vogels Phönix (VF IV/542; der Vogel wird als „Semendam" bezeichnet), ist ein weitverbreitetes antikes Motiv49.

Die Bezeichnung Sumatras als Taprobana (obwohl Conti den richtigen Namen „Sciamutera" kannte; VF IV/95) läßt auch erkennen, daß Poggio offenbar mit der neueren Reiseliteratur über Asien (Odorico, Marco Polo etc.) nicht vertraut war und daran auch nicht interessiert war, es wäre ihm, der er sich in Bibliotheken so gut auskannte und im Mittelpunkt des damaligen „Buch-marktes" stand, ein leichtes gewesen, sich zu Exemplaren von Odorico oder Marco Polo Zugang zu verschaffen, wenn er gewollt hätte. Trotz seines erklärten Interesses für moderne Geschichte hat er sich jedoch zeitlebens fast ausschließlich mit antiken Texten befaßtso; er zeigt mit seiner Bemerkung, vor Conti hätten nur zwei Menschen aus antiker Zeit — Nearchos und der Zeitge-nosse des Tiberius, Annius Plocarnus, die bei Plinius vorkommen — eben besagtes Taprobana erreicht, und weiter sei noch nie jemand gekommen (eo usque autem profectus est, quo ne apud priscos quidem unum aliquem adisse legimus,

44 Der Text wurde immerhin primär als humanistischer Traktat verfaßt und auch als sol-cher verbreitet (siehe unten).

47 Vgl. Walser (wie Anm. 27) 228. 48 Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 283. 4 ' Auch dieses bei Plinius (hist.nat. 10,2). 50 Vgl. Walser (wie Anm. 27) 104 ff.

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VF IV/20—21), daß er die „Modernen" überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hatte. Gewiß hat von den späteren Berichten keiner mehr den Namen „Taprobana" genannt, aber andere Übereinstimmungen von Ortsnamen zwischen Odorico/Marco Polo und Conti sind so offenkundig, daß sie Poggio nicht hätten entgehen können, wenn er die Texte gekannt hätte. Es ist natürlich auch denkbar, daß er von ihrer Existenz wußte, sie aber nicht berücksichtigte, weil er sie für unglaubwürdig hielt — auf der anderen Seite sind die antiken Berichte, die er zitiert, seiner Ansicht ja auch fabulis quam vero similiora (VP IV/9). Als Humanisten fiel es Poggio offensichtlich dennoch leichter, an die Autorität der antiken Uberlieferungen zu glauben als an die der modernen Rei-seschilderungen.

Die gleichwohl feststellbaren Parallelen mit anderen Berichten der Zeit stammen also höchstwahrscheinlich von Conti selbst. Fast immer treten diese Parallelen an Stellen auf, die noch am ehesten der Tradition der mirabilia zuzu-rechnen sind — im zweiten Teil als Einschub (VF IV/481ff.) und ganz am Schluß (VF IV/548ff.). Ahnlich wie bei Marco Polo ist die Beschreibung der Männer- und Fraueninseln bei Socotra und die Fabel von der Diamantenjagd mit Raubvögeln51; parallel zu Odorico sind Erwähnungen von Tätowierungen und dem Baum aus Eisen, der unverletzlich macht*2. Andererseits finden sich ähnliche Beschreibungen vergleichbarer Phänomene, die schlicht darauf zurückzuführen sind, daß die Reisenden zur gleichen Zeit im gleichen Land waren und die gleichen Dinge sahen — in diese Kategorie fallen Witwenver-brennungen, rituelle Selbstmorde und die Technik, die Schiffsbauweise mit Schotten. Da sich die Themen jeweils gleichen, die Formulierungen aber sehr verschieden sind (Odoricos Bericht ist in viel persönlicherem Ton und wer-tender geschrieben), liegt es auch bei den mirabilia nahe zu vermuten, es handle sich nicht um Beeinflussungen der Reisenden untereinander, sondern um Geschichten, die in Asien selbst als „Märchen" kursierten — die Diamantenjagd mit Raubvögeln fand sogar Aufnahme in die Geschichten aus 1001 Nacht".

Der überwiegende Teil von Contis Informationen ist jedoch neu, wie vor allem die ausführliche Beschreibung von Handelswaren im ersten Teil und die von Lebensweisen und religiösen Riten im zweiten; er behält die gängigen Topoi zwar bei, ζ. B. den sprichwörtlichen Reichtum und luxuriösen Lebens-wandel der Ostasiaten/Chinesen (VF IV/323 ff.) oder die Gesundheit bzw. Seu-chenfreiheit der Inder (Nulla est apud Indos pestilentia: VF IV/529), ist aber im Detail originell, wie ζ. B. Tische und Besteck more nostro in China und die dem heutigen Leser auffallend erscheinende, aber für den pestgeplagten Europäer des 15. Jahrhunderts durchaus einleuchtende Erklärung, Indien sei eben des-wegen so unglaublich bevölkerungsreich, weil es dort keine Seuchen gebe.

51 Vgl. VF IV/307—310 und IV/482-492; Sensburg (wie Anm. 1) 283f.( 285. " Vgl. VF IV/171 — 73, IV/535—39; vgl. B. Odoricus d e P o r t u N a o n i s , Itinerarium

(Sinica Franciscana I: Itinera et relationes fratrum minorum saeculi XIII et XIV. Collegit Atha-nasius van den Wyngaert, Ad Claras Aquas [Quaracchi] 1929) 381—495; Kap. XII /4 (Täto-wierungen); Kap. XIV/4—5 (Eisenholz).

55 Vgl. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten (Wiesbaden 1953) IV 121 („Die Geschichte von Sindbad dem Seefahrer").

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Es ist letztlich kaum erstaunlich, daß es Conti hin und wieder doch gelang, dem so auf Glaubwürdigkeit bedachten Poggio eines der alten Asien-Mythen „unterzuschieben": Man muß einerseits beachten, daß Poggio ja auch unter-halten wollte (siehe oben), und daß er andererseits — anders als wir — keine Möglichkeit hatte, irgendeine der Informationen zu verifizieren und sich ganz auf die Verläßlichkeit seines Informanten verlassen mußte — uera referre appa-rent (VF IV720). Es ist zudem schwer abzuschätzen, was einem damaligen Hörer glaubwürdig erschien und was nicht: Vieles, von dem wir heute zu wissen meinen, daß es wahr ist, mag damals auf Unglauben gestoßen sein, und so man-ches „Märchen" wurde als die reine Wahrheit rezipiert.

V.

Von Poggios Historia de Vanetate Fortunae sind bis heute 62 Handschriften bekanntgeworden — eine selbst für humanistische Traktate nicht unbeträcht-liche Anzahl54. Von den 59 bekannten Kodizes ist der weitaus größte Teil mit Sicherheit schon im 15. Jahrhundert entstanden, nur einer entstand nach dem frühen 16. Jahrhundert (eine Einzelüberlieferung von Buch IV von kurz vor 1600)S5, und nur drei außerhalb Italiens. Die Verbreitung war also zeitlich und geographisch sehr begrenzt, zumal das Werk erst 1448 erschien und sich die Verbreitung also auf etwa fünfzig Jahre und praktisch auf Nord- und Mittelita-lien beschränkte, mit einer starken Konzentration in und um Florenz®6. 28 der Kodizes enthalten alle vier Bücher, ganze 23 nur das Buch vier (zum Teil frag-mentarisch), fünf nur Buch eins, zwei die Bücher eins bis drei und eines die Bücher eins und vier. Somit ist das vierte Buch in 51 von 59 bekannten Hand-schriften enthalten und hat bei weitem die reichste Einzelüberlieferung57.

Merisalo unterscheidet drei im Text voneinander abweichende Phasen der Werkentstehung, die sich vor allem durch Varianten in Buch drei nachweisen lassen und die teilweise durch die enge zeitliche und räumliche Nachbarschaft kontaminiert worden sind5*. Alle drei stammen mit einiger Wahrscheinlichkeit

54 Die Überlieferungsgeschichte der VP ist in der Ausgabe von Merisalo gründlich aufge-arbeitet worden; alle Angaben dieses Kapitels stützen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diese Ausgabe (siehe Anm. 2) und einen Artikel von Outi M e r i s a l o , Aspects of the Textual History of Poggio Bracciolini's De Varietate Fortunae. Arctos 22 (1988) 99—113. Die älteren Untersuchungen von Longhena 1929 und Sensburg 1906 (beide wie Anm. 1), die nur 31 bzw. 30 Handschriften nennen, sind nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Longhena (66 ff.) und Sensburg beschreiben außerdem noch zwei Handschriften in italienischer Sprache (Sensburg sogar noch eine dritte, die er allerdings nicht gesehen hat); vgl. auch VF 22 f.

" Vgl. Merisalo, Aspects 103; zum Codex Mailand, Bibl. Ambr. 98 vgl. VF 73. 56 Vgl. Merisalo, Aspects 110f. 57 Vgl. VF 25ff. („I codici"). Zur Einzelüberlieferung von Buch vier vgl. Outi M e r i -

s a l o , On the tradition of the fourth book of Poggio Braccilini's De varietate fortunae. Distri-butions spatiales et temporelles, constellations des manuscrits. Etudes de variation linguistique offerts & Anthonij Dees ä l'occasion de son 60me anniversaire (ed. Pieter van Reenen und Karin van Reenen-Stein, Amsterdam/Philadelphia 1988) 241—245.

58 Vgl. VF 15 ff.; Merisalo, Aspects 101 f.

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als Autorfassungen von Poggio selber5'. Der älteste Codex überhaupt ist Mai-land, Ambr. G 95 sup. 4, mit einer von Merisalo als Version 1° bezeichneten längeren Vorform von Version I, der ersten „definitiven" Fassung Poggios aus dem Jahr 1448 (vertreten durch das Widmungsexemplar an Nikolaus V., heute im Vatikan, Vat. lat. 1784, und die ursprünglichen Fassungen von Florenz, Ricc. 871, sowie Kopenhagen, KB 4° 234; später auch Paris, BN lat. 7854 und Venedig, Bibl. Marciana 3488). Poggios Version II, ebenfalls noch vor 1450 ent-standen, wird primär von zwei florentinischen Handschriften repräsentiert (heute Vaticana, Ottob. lat. 2134 und Göttingen, UB theol. 136), die im Text voll übereinstimmen; beide sind auf 1450 datiert40. Die Version I enthält im Vergleich zum Text von Version II eine erweiterte Fassung des dritten Buches (aus 1° übernommen), während Version III (Florenz, Ricc. 871 und Kopen-hagen, KB 4° 234 in einer von Poggio eigenhändig korrigierten Fassung; in der Folge u. a. Vaticana, Urb. lat. 224, Oxford, Bodl. Can. Misc. 557, Bernkastel-Kues, Bibl. Hosp. 157) eine Überarbeitung von Version I darstellt, aber die kür-zere Fassung des dritten Buches aus Version II übernimmt. Da Poggio die Kor-rekturen von Version I und zu III im Manuskript Florenz, Ricc. 871 und Kopenhagen, KB 4° 234 selber vornahm61, müssen alle drei Versionen vor seinem Tod 1459 entstanden sein, nach Merisalo sogar bis zum Jahr 1455". Die separate Tradition von Buch vier entspricht vom Text her den Handschriften der Version 1° und II, setzte aber möglicherweise schon vor der Zusammenstel-lung des Reiseberichts mit den drei Büchern über die vanetas fortunae ein63. Diese Untergruppe weist zusätzlich noch einige eigene Varianten auf64, die sonst nur in Paris, BN lat. 7854 auftreten (das ansonsten aber der Version 1/III entspricht).

Wie gesagt, stammen die meisten Handschriften aus Mittelitalien (Florenz, Adriaküste). Zwei sind deutschen Ursprungs — eine Abschrift für Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus), heute noch in Bernkastel-Kues (Bibl. hosp. 157) und eine für Hartmann Schedel (nur Buch eins, heute München, Bayerische Staats-bibliothek) — und eine weitere wurde in Nordfrankreich oder den Nieder-landen geschrieben (Bücher eins bis drei, heute Bern, Burgerbibliothek). Die italienischen Manuskripte liegen heute hauptsächlich in Rom (nur vier ent-

" Vgl. ebenda 102 f. 60 Ebenda 106; die „Version A" in Merisalo, Aspects, entspricht offenbar der Version II

in der Ausgabe VF; Sensburg (wie Anm. 1) 262 und Longhena (wie Anm. 1) 59 nennen ein auf 1448 datiertes florentinisches Manuskript (Florenz, BN, Cod. Magliabecchiano XIII, 84); nach Merisalo stammt dieser Kodex allerdings aus dem Jahr 1524 und enthält zudem nur das IV. Buch.

61 Zu den Korrekturen, die Poggio an Florenz, Ricc. 871 vornahm, vgl. Outi M e r i s a l o , Le latin de Poggio Bracciolini ä la lumi^re de la tradition manuscrite de de varietate fortunae. Latin vulgaire — latin tardif II. Actes du Heme Colloque international sur le latin vulgaire et tardif (Bologne, 29 Aout — 2 Septembre 1988) (ed. Gualtiero Calboli, Tübingen 1990) 201—207.

" V g l . VF 18. 41 Zur Trennung der Versionen vgl. Merisalo, Aspects 100—103; zur getrennten Überlie-

ferung des IV. Buches vgl. Merisalo, On the Tradition 244 sowie VF 15 und 77—79. 44 Vgl. Merisalo, On the Tradition 243 f.

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standen dort, aber die expandierende Biblioteca Vaticana hat diesen Bestand erheblich aufgestockt — mindestens vier stammen aus der Sammlung des Kar-dinals Ottoboni und eines aus Urbino)65, Florenz und Venedig; vereinzelte Exemplare liegen heute in Paris, Lyon, Berlin, Göttingen, Gotha, Kopenhagen, London, Oxford und Durham/North Carolina. Die große separate Verbreitung des vierten Buches weist darauf hin, daß die Geschichten aus Ostasien auf brei-teres Leserinteresse stießen — überraschend ist dagegen, daß es nur in sechs Fällen mit anderen Reiseberichten zusammen vorliegt und sonst zusammen mit anderen humanistischen Texten überliefert ist; die Überschrift über dem italie-nischsprachigen Manuskript Florenz, BN, Pal. 681, Poggii Florentini De mira-bilibus mundi66, ist eher die Ausnahme als die Regel.

Ganz anders als die Handschriftengeschichte stellt sich die Verbreitung des vierten Buches in gedruckter Form dar. Einer fast ausschließlich lateinischen Verbreitung des gesamten Traktats oder des einzelnen Buches in humanisti-schem Kontext bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts steht ab dieser Zeit eine Reihe von Drucken gegenüber, die fast durchweg Übersetzungen sind und nur den Text des vierten Buches in den Kontext anderer Reiseberichte stellen, ihn vor allem mit dem Bericht Marco Polos zusammen abdrucken67. Der erste Druck — die einzige Inkunabel — setzt mit dem Titel India recognita bereits ein deutliches Zeichen weg von der humanistischen und hin zur entdeckungsge-schichtlichen Rezeption; der lateinische Einzeldruck, der 1492 in Mailand von Cristoforo da Bollate herausgegeben und bei Ulrich Scinzenzeler gedruckt wurde, fand jedoch, wie es scheint, kaum Verbreitung und Beachtung. Nur einer der folgenden Drucke greift auf ihn zurück, und Ramusio konnte schon 1550 laut eigenen Angaben kein Exemplar des Druckes in Italien ausfindig machen68; nur ein einziges erhaltenes Exemplar ist bekannt (London, British Library IA 26738)M, während noch Kunstmann die Existenz des Druckes über-haupt anzweifelte70. Das Manuskript, das ihm zugrundeliegt, ist nicht eindeutig identifiziert, entstammt aber der Version I°/II7 1 .

Der nächste Druck ist eine Übersetzung ins Portugiesische nach der Aus-gabe von 1492; diese Veröffentlichung begründete eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert anhielt, nämlich die Anfügung des Buches an das Divisament dou monde von Marco Polo72. Während diese Ausgabe im Titel keinen Auf-schluß über eine bestimmte Intention des Textes gibt, haben die drei folgenden spanischen Ausgaben (Sevilla 1503 nach einem italienischsprachigen Manu-

t s Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 265f. 4 6 Vgl. Sensburg 262. 67 Außer dem vierten hat noch das erste Buch eine gesonderte Drucktradition, die aber

Uber das 16. Jahrhundert nicht hinausreicht; vgl. Outi M e r i s a l o , Le prime edizioni stampate del De Varietate Fortunae di Poggio Bracciolini II. Arctos 20 (1986) 101 — 130.

*» Vgl. Ramusio (wie Anm. 26) 784. " Vgl. Outi Μ e ri s a 1 ο, Le prime edizioni stampate del De Varietate Fortunae di Poggio

Bracciolini I. Arctos 19 (1985) 81 — 102, bes. 85ff.; Longhena (wie Anm. 1) 70. 70 Vgl. Friedrich K u n s t m a n n , Die Kenntnis Indiens im fünfzehnten Jahrhunderte

(1863) 13. 71 Vgl. Merisalo, Edizioni I 96. 72 Vgl. Merisalo, Edizioni I 84 f.; Sensburg (wie Anm. 1) 288.

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skript, Sevilla 1518 und Logrono 1529 nach der handschriftlichen Version I° / I I , alle im Anschluß an Marco Polo) den Schwerpunkt schon im Titel auf den „cosas maravillosas"73.

Die in zahlreichen Auflagen weitaus verbreitetste und einflußreichste Druckversion und gleichzeitig die mit dem fehlerhaftesten Text ist die, die Gio-vanni Battista Ramusio 1550 in seinen „Navigazioni e viaggi" herausgab; noch heute ist die Neuausgabe der Sammlung (1979) die am leichtesten zugängliche Version des Berichts. Da Ramusio angeblich in Italien weder eine Handschrift noch einen Druck finden konnte — vermutlich kam er nie auf den Gedanken, in humanistischen Manuskripten nachzuforschen —, übersetzte er die portugie-sische Ausgabe ins Italienische zurück und nahm noch einige „Verbesserungen" vor: Aus „Mahabar" wird „Malabar", aus „Nemptai" „Quinsai" und aus „Xey-thona" „Zaiton". Auch die unbelegte Aussage, Conti hätte den Bericht als Buße diktieren müssen (siehe oben), geht auf Ramusio zurück74. Der Druck bei Ramusio bildete nun seinerseits die Grundlage für zahlreiche folgende Aus-gaben (und mit ihr die Gewichtung auf den entdeckungsorientierten Charakter des Textes im Gegensatz zum Unterhaltungscharakter der mirabilia) — die feh-lerhafte Version wird dreimal ins Holländische (Amsterdam 1664, Leyden 1706 und 1707) und 1625 in London ins Englische übersetzt, alle im Schlepptau Marco Polos75. Schon 1579 war der erste englische Druck zusammen mit dem Polo-Text in London erschienen, in einer Ubersetzung beider Berichte aus dem Spanischen (nach der Ausgabe von Sevilla 1503)74. Die Drucke erschienen bis zu dieser Zeit als Entdeckerberichte bezeichnenderweise in den Ländern, die ein ganz praktisches, kommerzielles Interesse an Ostasien hatten und dorthin Handelsbeziehungen unterhielten — Spanien und Portugal im 16. Jahrhundert, Holland und England im 17. und 18. Jahrhundert. Fraglich ist jedoch, ob man sich von den Berichten tatsächlich einen praktischen Nutzen versprach oder ob die Verbreitung nicht nur von einem Interesse profitierte, das durch die Bekanntschaft mit diesem Erdteil geweckt worden war.

Ein ganz anderes, d. h. ein literaturgeschichtliches Interesse verfolgte die erste Ausgabe des gesamten lateinischen Textes (Paris 1723)77, die bis vor kurzer Zeit einzige verfügbare Textgrundlage für Untersuchungen über Contis Reise — hanc Historiam emitti in publicum iussit, magno cum fructu rei literanae [. . ./78. Das Interesse an Poggio, das im 16. und 17. Jahrhundert fast erloschen

" Vgl. ebenda 269. 74 Ramusio (wie Anm. 26) 792, 800, 785; die Behauptung, das Diktat sei eine Buße

gewesen, hält sich hartnäckig; auch der neueste Beitrag zu Contis Reise übernimmt sie wieder kritiklos: vgl. Günther H a m a n n , Art. Conti, Niccolö dei, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1986) 198.

75 Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 269 f. 7* Vgl. Hammond (wie Anm. 42) XXXI; diese Ausgabe wurde sogar mehrfach nachge-

druckt (London 1929 und 1937). 77 P o g g i i B r a c c i o l i n i Florentini Historiae de Varietate Fortunae Libri Quattuor ex

Ms. Codice Bibl. Ottobonianae nunc primum editi, & Notis illustrati a Dominico Giorgio . . . Omnia a Joanne Oliva Rhodigino vulgata (Paris 1723, repr. Bologna 1969).

7« Ebenda XV.

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war, keimte im 18. Jahrhundert neu auf7 ', und Leonardo Adami fand in Rom eines der beiden ältesten Manuskripte in der Sammlung des Kardinals Ottoboni (heute Vaticana, Ott. lat. 2134), das Giovanni Oliva und Domenico Giorgio nach Adamis Tod zusammen mit 57 Briefen Poggios herausgaben80. Der Text ist kommentiert und mit Fußnoten versehen, die allerdings gerade im vierten Buch sehr spärlich ausfallen — als zusätzliche Informationsquelle ließ Oliva die Druckvorlage in Paris noch mit Marginalien versehen, die aber im vierten Buch ebenfalls von geringem Umfang sind, da Asien wohl auch nicht das Spezial-gebiet dieser Bearbeiter war. Die Wiedergabe des Manuskripts ist leider alles andere als fehlerfrei81 — ein Vergleich mit dem textgleichen Göttinger Manu-skript zeigt erhebliche Abweichungen, und schon 1725/26 zeigte der Göttinger Gelehrte Heumann, daß die Ausgabe selbst damaligen philologischen Standards nicht genügte82. Dennoch wurde die Ausgabe erst 1993 durch eine kritische ersetzt85 und davor zweimal faksimiliert (in der Poggio-„Gesamtausgabea

Torino 1966 — einer Sammlung von Nachdrucken — und in Bologna 1969). In Publikationen, die den Text als Reisebericht verstanden, hielt sich der

Ramusio-Text trotz der neuen Ausgabe noch lange: einer Ausgabe durch PI. Zurla (Venedig 1818) folgen Abdrucke in der Biblioteca classica italiana (1841) und noch 1880 durch Carlo Bullo (La vera patria di Niccolö de' Conti e di Gio-vanni Caboto, Chioggia 1880)*4. In der Mitte des 19. Jahrhunderts kam histo-risch-geographisches Interesse auf — 1836 befaßte sich Alexander von Hum-boldt mit dem Text (ebenfalls nach Ramusio)85. Die erste Übersetzung der Druckfassung von 1723 ins Englische durch J. Winter Jones erschien 1862 bei der Hakluyt Society in London, herausgegeben von R. H. Major**, mit ausführ-licher Einleitung, Kommentar und Fußnoten unter besonderer Berücksichti-gung der Tier- und Pflanzenwelt; Friedrich Kunstmann veröffentlichte den lateinischen Text der Ausgabe von 1723 im Anschluß an eine Besprechung der Reise im Jahr 186387. Das Interesse hielt sich bis etwa 1910w, mit einerweiteren (italienischen) Ausgabe durch Vincenzo Bellemo ( / viaggi di Niccolo de' Conti, Milano 1883, nach dem Text von 1723 und dem Florentiner Codex Ricc. 871). Die Veröffentlichungen von Mario Longhena zur Textgeschichte (1926) und in der Encyclopedia Italiana (1931) sowie seine umfassende Darstellung in Buch-

" Vgl. Walser (wie Anm. 27) 321 f. 80 Vgl. Iiro K a j a n t o - Outi M e r i s a l o , The 1723 Edition of Poggio Bracciolini's De

Varietate Fortunae. Humanistica Lovaniensia 36 (1987) 66—84; hier 71 ff. 81 Für einen Detailvergleich zumindest eines Teils des Textes vgl. Kajanto/Merisalo, The

1723 Editon 78 ff. " Vgl. Kajanto/Merisalo, The 1723 Edition 76 f.; Oliva wußte sogar von der Existenz

des Göttinger Manuskripts, zog es aber nicht zu Rate; vgl. Poggio 1723 (wie Anm. 77) XIII f. 83 Siehe Anm. 2. 84 Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 271. 85 Vgl. ebenda 270. 84 Vgl. Anm. 23. 87 Vgl. Anm. 70. 88 Vgl. Henze (wie Anm. 1) 641 f., der für diesen Zeitraum sechzehn Untersuchungen

nennt.

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form (Milano 1929)89, in der er ein italienischsprachiges Manuskript aus dem 15. Jahrhundert und eine Übersetzung der relevanten Passagen aus Tafurs Andangas e viajes abdruckte, bilden eine Art Schlußpunkt der Forschung über die Reise Contis; Richard Hennig folgt bei der Zusammenfassung in den Terrae incognitae wieder Ramusio90, Lincoln D. Hammond veröffentlichte die Überset-zung von Winters/Major aus dem Jahr 1862, emendiert anhand der Ausgabe von 1492 und mit modernen Ortsnamen (Cambridge, Mass. 1963); die Lexikon-artikel von Henze (1978) und Hamann (1986) fassen lediglich den Stand der Forschung zusammen.

Vollkommen getrennt davon läuft die Forschung über Poggio und seinen Traktat; nach der Biographie Walsers (1914) sind in den letzten Jahren eine Reihe von Artikeln zu Poggios Weltanschauung in Verbindung mit den VF erschienen (Kajanto 1986, 1987, 1989)", die allerdings das vierte Buch inhalt-lich durchweg ausklammern. Zur Textgeschichte ist nach den Beiträgen von Sensburg (1906) und Longhena (1925, 1929)92 erst wieder kürzlich gearbeitet worden (Kajanto/Merisalo 1987, Merisalo 1985, 1986, 1988 und 1990)91, was in der Ausgabe von 1993 gipfelte.

VI.

Neben Poggios Traktat existiert noch ein zweites Zeugnis für die Reise Contis — genauso zufällig überliefert wie das erste: Der spanische Adlige und „Tourist" Pero Tafur (1410 — ca. 1479)94 berichtet in seinen „Andan9as e viajes" über ein Zusammentreffen mit Conti'5. Tafur, der zwischen 1435 und 1439 von Spanien aus das Heilige Land und halb Europa bereiste (Eckpunkte seiner Route sind Rom — Sinai — Konstantinopel — Venedig — Straßburg — Brügge — Breslau — Sizilien)96, hielt sich Ende 1436/Anfang 1437 im St. Ka-tharinenkloster auf dem Sinai auf und schreibt, er habe dort die Karawane aus Indien getroffen, in der sich Conti befand. Diese Behauptung ist an und für sich nicht unwahrscheinlich, da Conti etwa zu dieser Zeit aus Indien zurückkehrte und der Hafen Tor (von den Italienern Santa Caterina genannt) einer der Lan-dehäfen für Schiffe aus Aden und Dschidda war'7. Tafur bekundete großes Interesse daran, Conti zu sprechen, da er selber vorhatte, nach Indien weiterzu-reisen. Nachdem ihm Conti entsetzt von diesem Vorhaben abriet — „non te

" Zur Textgeschichte: Bollettino della societä geografica italiana 6/2 (1925); Art. Conti (Enciclopedia italiana 11, Milano/Roma 1931); vgl. Anm. 1.

90 Vgl. Hennig (wie Anm. 12) 34. 91 Vgl. Anm. 29, 33, 35. 92 Vgl. Anm. 1, 89. 93 Vgl. Anm. 54, 57, 61, 67, 69, 80. 94 Vgl. zur Biographie Otto C a r t e l l i e r i , Pero Tafur. Ein spanischer Weltreisender des

15. Jahrhunderts (Festschrift Alexander Cartellieri, 1927) 2 f. 95 Vgl. Tafur (wie Anm. 3) 95—113. 94 Vgl. Cartellieri 10 ff. " Vgl. Heyd (wie Anm. 7) 444 f.

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entremetas in tan grande locura"98 — Schloß sich Tafur der Karawane an und ließ sich auf dem Weg nach Kairo von Conti seine Abenteuer erzählen; in Kairo blieb Conti angeblich als Beamter des Sultans und schickte Tafur mit Briefen und Aufzeichnungen nach Venedig vor".

Tafurs Bericht weicht von dem Poggios erheblich ab, stilistisch wie inhalt-lich. Der Stil ist persönlicher als der Poggios — Tafur erzählt in der Ich-Form und läßt auch Conti in wörtlicher Rede erzählen, verwickelt ihn zeitweise in einen Dialog. Persönliche Erfahrungen, wie die Heirat und die Zwangsbekeh-rung nehmen viel Platz ein. Conti sei vierzig Jahre in Indien gewesen, und die Reiseroute ist auch eine ganz andere: Von Alexandria, wo er sich als Achtzehn-jähriger mit seinem Vater aufgehalten habe, sei er nach Babylon und von dort an den Hof Tamerlans gereist, dann an den Hof des Priesterkönigs Johannes; der Rückweg sei dann zum arabischen Sultan nach Mecca (wo die Konversion erfolgte)100 und schließlich zurück nach Kairo (zu einem weiteren arabischen Sultan) gegangen101.

Die ganze Reiseroute klingt verdächtig nach einer Konstruktion, nach einem Muster, das in Tafurs Kopf schon existierte: Alle Orte und Personen sind erwähnt, die zu der Zeit traditionell in Asien angesiedelt waren, vor allem Tamerlan und der Priester Johannes — bei Tafur offenbar feste Größen. Auch die Details gehen sehr stark auf ältere Traditionen zurück: die Macht, Religio-sität und Güte des Priesters Johannes (der ja Conti auch mit seiner Frau zusam-mengebracht habe), der große Berg auf Ceylon, der rituelle Selbstmord, die Suche nach den Nilquellen in Ostasien, das Thomasgrab und die Nestorianer, die wie üblich mit dem Volk des Priesters Johannes gleichgesetzt werden. Der Bezugsrahmen Taf urs war von Geschichten wie denen eines John of Mandeville offenbar schon sehr gefestigt, und die Erzählungen Contis wurden für diesen Rahmen passend gemacht.

Die Stereotypie des Tafur-Berichts hat in der Forschung dazu geführt, ihm die Bekanntschaft mit Conti ganz abzusprechen: Mario Longhena führt gegen ein Treffen an, daß Tafur seine Informationen auch ausschließlich von Mandeville haben könnte und daß die Chronologie nicht stimme — 40 Jahre als Reisezeit seien viel zu lang und nur dazu da, die Reise mit dem Tod Tamerlans (1405) in Ein-klang zu bringen102; außerdem seine die Andanfas e viajes erst zwischen 1450 und 1455 entstanden und das wenige Conti-Spezifische hätte er auch in Florenz (wo er sich 1439 ebenfalls aufhielt)103 oder durch Poggio erfahren können. Merkwürdig ist auf alle Fälle die Behauptung Tafurs, Conti habe ihm Notizen überlassen — „e

n Tafur (wie Anm. 3) 97. " Vgl. ebenda 111 f.

100 Falls der Bericht in diesem Detail der Wahrheit entspricht und Conti tatsächlich in Mecca „aufflog", wäre er der erste Europäer, von dem man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen könnte, er habe die heiligen Stätten des Islam besucht — „e que alli estä una mes-quita bien rica donde tienen el cuerpo de Mahomad" (Tafur 108).

101 Vgl. ebenda 96 f. im Vgl Longhena (wie Anm. 1) 29 f.; ein weiteres Argument ist für ihn das zu hohe

Gesamtalter Contis (1382—1469 = 87 Jahre) das aus 40 Jahren Reisezeit resultieren würde. 103 Vgl. ebenda 27, 30.

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muchas cosas me did por escripto de su mano"104 —; sollte dies der Fall gewesen sein, wäre die Detailarmut des Berichts in der Tat unerklärlich.

Einige Details sprechen jedoch auch für ein Treffen Tafurs mit Conti: Das eine ist die dringende Aufforderung an Tafur , nicht das Wagnis einer Reise nach Indien auf sich zu nehmen — eine direkte Parallele zu seinem Testa-ment105, das Tafur mit Sicherheit nicht kannte. Das zweite Indiz ist die Frage Tafurs an Conti, ob er in Indien Monster gesehen hätte, was von Conti verneint wird — er hat nur von weißen Reitelefanten und Rhinozerossen zu berichten106. Wenn der Bericht tatsächlich eine reine Konstruktion wäre, hätte sich Tafur die Monster im Stil John of Mandevilles wohl nicht entgehen lassen.

Man kann wohl letztlich doch annehmen, daß Tafur Conti am Sinai (oder in Florenz) traf und sich von ihm einiges erzählen ließ. Die erwähnten Notizen allerdings mögen nur ein besonders starker Untermauerungsversuch der eigenen Glaubwürdigkeit sein, der ja in verschiedenen Formen in allen Reisebe-richten präsent ist. Wenn es sie wirklich gegeben haben sollte, hat Tafur kaum Gebrauch davon gemacht — Poggio hätte sicherlich besseren Nutzen aus ihnen ziehen können. Als sich Tafur nach fünfzehn Jahren daranmachte, seinen Bericht aufzuzeichnen, waren die authentischen Ereignisse und die literarische Vorverbildung durch Mandeville und andere schon so vermischt, daß ein Kon-glomerat von „fact and fiction" entstehen konnte, ohne daß der Autor das Gefühl haben mußte, die Unwahrheit zu berichten — ein Beispiel dafür, wie sich auch Contis Bericht in die Tradition der „wunderbaren" Asienberichte lük-kenlos einfügen ließ.

VII.

Zum Schluß sollen noch einige Beobachtungen darüber angestellt werden, wie Contis Bericht in der Redaktion durch Poggio auf das Asienbild der Zeit gewirkt, ob und wie er überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Am deutlich-sten kann man dies auf Karten beobachten — die Genueser Portulankarte von 1457 hat ζ. B. „Sandai" und „Bandam" als Gewürzinseln verzeichnet und eine Reihe weitere Details, die nur von Conti/Poggio stammen können, wie „Tapro-bana" für Sumatra — in der Legende wird der Text von Conti/Poggio teil-weise107 fast wörtlich zitiert108. Auf der Weltkarte des Fra Mauro (1458) sind die Spuren noch deutlicher: „isola Sciamotra aver Taprobana" sowie auch „Maharaf" und „Scierno" ( = „Maharatia" und „Cernovis") deuten auf Conti

104 Tafur (wie Anm. 3) 99. 105 Vgl. ebenda 106; Sensburg (wie Anm. 1) 277. 106 Vgl. Tafur (wie Anm. 3) 106. ίο? v g i hierzu auch Folker R e i c h e r t , Begegnungen mit China. Die Entdeckung Ost-

asiens im Mittelalter (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters 15, 1992) 257 ff.

,0* Ein Faksimile und eine ausführliche Beschreibung der Genueser Weltkarte ist veröf-fentlicht bei Edward Luther S t e v e n s o n , Genoese World Map 1457. Facsimile and Critical Text (New York 1912). Für Asien (mit einer ausführlichen Würdigung Contis) vgl. 18—53; vgl. auch VF 252—254 mit einem umfassenden Textvergleich.

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als Gewährsmann hin109; vielleicht hatte Fra Mauro einen Teil seiner Informa-tionen sogar direkt von Conti110. Sensburg versucht sogar, den Florentiner Bar-tolomeo, dessen Name auf dem Behaim-Globus verzeichnet ist, mit Conti zu identifizieren, was aber reine Spekulation ist111.

Literarische Übernahmen von Informationen Contis sind ebenfalls fest-stellbar, vor allem im kosmographischen Kontext. Das erste Zeugnis einer dies-bezüglichen Rezeption findet sich bei Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.), der für seine Asia (1461) ganze Passagen von Poggio fast wörtlich übernahm und kommentierte112. Anselm von Adorno veröffentlichte um 1510 kurz vor seinem Tode einen Anhang zum Vorwort seiner Reise ins Heilige Land, in dem er seine Aufzählung der Ostasienreisenden (vor allem Marco Polo) um eine detaillierte Beschreibung des Reisewegs von Conti ergänzt, die deutlich auf Poggio zurückgeht113. Der „Reisende aus Cathay", den Toscanelli 1474 in seinem Brief an Columbus erwähnt, dürfte allerdings eher der Gesandte aus Cathay sein, über den Poggio im Anschluß an Conti schreibt, und nicht Conti selbst — dafür weiß Conti doch zu wenig über Cathay zu berichten, und daß Toscanelli Poggio kannte und auch am Florentiner Konzil teilnahm, spräche für den chinesischen Gesandten als Informanten genausogut wie für Conti; der Einfluß Marco Polos scheint hier doch erheblich größer zu sein114.

Die Tradition der mirabilia Asiens machte sich Contis Bericht ebenfalls zunutze: Neben der Passage in Tafurs Andanfas e viajes und den verschiedenen Druckausgaben mit entsprechenden Titeln (siehe oben) ist das bedeutendste Zeugnis dafür der Tractatus pulcherrimus aus der Mitte des 15. Jahrhunderts115

(zeitlich also sehr dicht an der VF), eine Wiederaufnahme der Priester-Johannes-Sage, die sich in ihrer Beschreibung Indiens außerordentlich eng an Conti anlehnt (Dreiteilung Indiens, das Fehlen von Wein, viele Ortsnamen, Pflanzen, Tiere) und die Details ganz selbstverständlich in den gängigen Prie-ster-Johannes-Mythos und die damit verbundenen „mirabilia" einbaut. In der Folgezeit finden sich Bezugnahmen auf den Tractatus pulcherrimus in den Kos-mographien des Jakob Philipp Bergomensis (1520) und im Weltbuch des Seba-

Vgl. Henze (wie Anm. 1) 641; Pelliot (wie Anm. 22) 180 f. 110 Pelliot (ebenda 179 f.) führt als Argument für einen direkten Kontakt zwischen Fra

Mauro und Conti einige Ortsnamen an, ζ. B. bei Fra Mauro fur Pegu richtiger „Paigu" statt „Pancovia" bei Poggio; auf der anderen Seite wird die Bezeichnung „Taprobana" für Sumatra wohl kaum von Conti stammen. Die Möglichkeit, daß sich Fra Mauro und Conti getroffen haben, ist in der Tat nicht auszuschließen: Chioggia und Murano liegen nur wenige Kilometer auseinander (vgl. Sensburg, wie Anm. 1, 352).

111 Vgl. ebenda 354. in vgl. ebenda 355 f.; Reichert, Begegnungen 261 f. 1,5 Vgl. Adorno (wie Anm. 2) 430—432. 114 Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 358 f., der annahm, daß Conti tatsächlich in China war;

vgl. dagegen Folker R e i c h e r t , Columbus und Marco Polo — Asien in Amerika. Zur Litera-turgeschichte der Entdeckungen. ZHF 15 (1988) 1—63; hier 21, Anm. 107.

1,5 Herausgegeben in Friedrich Ζ a r η c k e, Der Priester Johannes. Zweite Abhandlung (Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 8, 1876/1883) 1 —186; der Tractatus pulcherrimus findet sich auf den Seiten 171 —179. Eine Übersetzung des Tractatus in Auszügen erschien in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion I (ed. Eberhard Schmitt, 1968) 125—132.

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Page 27: Die Entdeckung des Ostens und der Humanismus

418 Thomas Christian Schmidt

stian Franck (1534), während Hartmann Schedel von der Existenz von Poggios Traktat wohl wußte (und das erste Buch ja auch besaß), aber die Abschnitte über Asien für seine Weltchronik offenbar ignorierte116.

VIII.

Man kann sehen, daß der Reisebericht von Niccolö de' Conti keine Sensa-tionen wie der Marco Polos hervorrief, aber neben diesem, Odorico da Porde-none, John of Mandeville und anderen seinen festen, wenn auch etwas unterge-ordneten Platz in der Überlieferung der Ostasienreisen einnahm. Es ist müßig zu behaupten, Contis Erlebnisse in Ostasien nähmen in Inhalt und Darstellung eine Sonderstellung unter diesen Berichten ein, da die Zeugnisse so spärlich und oft zufällig flössen, daß jede Asienschilderung der Zeit zwangsläufig auf ihre Art etwas Besonderes war, von den anderen abwich und sich in manchen Punkten auch mit diesen deckte. Wenn man überhaupt von einer Tradition sprechen kann, dann von einer Tradition der Rezeption solcher Berichte — gerade an dem vorliegenden Beispiel ist gut zu sehen, wie eine Schilderung, die sich sowohl in der Gestalt und in den Interessen des Reisenden, als vor allem in der Art der Redaktion, Verarbeitung, Zielsetzung und Veröffentlichung bzw. Überlieferungskontext so weit von anderen Berichten der Zeit abhebt, trotzdem innerhalb von fünfzig Jahren ganz zwanglos in die gängigen Rezeptionstradi-tionen eingeordnet werden konnte, sowohl in den entdeckungsgeschichtlichen Kontext als auch in den älteren der „Wunder des Ostens".

Poggio wollte an antike Vorbilder anknüpfen und humanistisches Geschichtsinteresse bzw. humanistische Wißbegier auf die fernen Länder aus-dehnen, wie es ihm Plinius und andere 1400 Jahre zuvor vorgemacht hatten, unter Einschluß einer ebenfalls auf antiken Vorbildern beruhenden Geschichts-philosophie. Seine Erkenntnis, daß er mit dem vierten Buch ab instituto scribendi paulum divertens etwas anfügte, was dort nicht so ganz hingehörte und mit for-tuna, fatum und virtus nur noch wenig zu tun hatte, bestätigte sich rasch: Das Interesse, das man dem vierten Buch der Historia de Varietate Fortunae sehr bald — und ab dem Ende des 15. Jahrhunderts ausschließlich — entgegenbrachte, hatte nichts mehr mit dem humanistischen Bildungsideal und antikisierender Geschichtsphilosophie zu tun. Das Buch wurde entweder zur Unterhaltung gelesen, wie Poggio es vorausgeahnt hatte, oder als Informationsquelle für die zum Teil ganz handfest an Ostasien und seinen Schätzen Interessierten; durch seinen Detailreichtum gerade im Hinblick auf Handelswaren bot es sich dafür geradezu an. Erst die Geschichtsforschung neuester Zeit beschäftigt sich wieder aus rein historischem Interesse mit der VF und Poggio.

Vgl. Sensburg (wie Anm. 1) 357 ff.

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