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1 Die Chronischen Miasmen Abschnitt Seite 1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt? 1 2. Die Erforschung der Chronischen Miasmen 2 3. Zum Organon und zum Buch der Chronischen Krankheiten 4 4. Akute und Chronische Miasmen 6 5. Praktische Bedeutung der Lehre von den Chronischen Miasmen 7 6. Die „Psora“ 11 7. Die „Sykose“ 14 8. Die „Syphilis“ 15 9. Die Miasmen als Stadien einer Entwicklung 17 10. Viele Miasmen? 19 11. Die „Tuberkulinie“ 20 12. Menschheitliche Dimensionen 21 1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt? „Miasma“ bedeutet soviel wie „Ausdünstung“. Der Begriff entstammt noch Zeiten, in denen man sich Krankheiten als Auswirkung schädlicher Dünste erklärte. Solche „Dünste“ stellte man sich vor als Ausscheidung der Erde in bestimmten Gegenden (z.B. in Malariagebieten; mal aria = schlechte Luft), sie können aber auch von Mensch zu Mensch, z. B. durch die Atemluft übertragen werden (Epidemie). Außerhalb der Homöopathie wird der Miasmenbegriff heute ganz der Medizingeschichte zugerechnet. Sind die „Miasmen“ in der Homöopathie damit ein überkommendes Relikt alter Zeiten? Die Miasmenlehre Hahnemanns wird zwar auch unter Homöopathen unterschiedlich eingeschätzt. Die Ursachen dafür haben allerdings mit dem gerade erwähnten antiken und mittelalterlichen Miasmenbegriff weniger zu tun. Hahnemann fand eine völlig neue und eigene Bewertung und Beschreibung der Miasmen. Dazu war Samuel Hahnemann der erste Mediziner, der Kleinstlebewesen als Träger epidemischer Ansteckung vermutete, lange bevor Koch, Pasteur etc. solche Erreger verifizieren konnten. Es gibt Schreiben Hahnemanns an das preußische Polizeiministerium, mit ausführlichen, ja peniblen Ratschlägen zu Desinfektion, Hygiene und Quarantäne bei ausbrechenden Epidemien. Hatte nicht der Begründer der Homöopathie, auch wenn er sich damals nicht damit durchsetzen konnte, da schon eine weit konkretere Vorstellung von Krankheitsübertragung und Ansteckung als die allermeisten Zeitgenossen? Warum gebrauchte er dennoch den Begriff der Miasmen, beziehungsweise entwickelt diesen weiter? Wenn wir die „homöopathischen“ Miasmen verstehen möchten, finden Wenige Anlehnungsmöglichkeiten an allgemein vorhandene Ideen und Vorstellungen. Und mehr noch als das Wort „Miasma“ können die Bezeichnungen Hahnemanns für seine drei Chronischen Miasmen irreführen, wenigstens solange wir an den jeweiligen Wortbedeutungen hängen bleiben: So bedeutet Psora soviel wie Krätzekrankheit (Skabies), Sykose oder Sykosis heißt Feigwarzenkrankheit (Gonorrhöe, Tripper), und auch für die Syphilis, das dritte Chronische Miasma, wählte Hahnemann den Namen eines hinreichend bekannten Krankheitsbilde. Den Zugang finden wir weder von „außen“, noch durch dogmatische ‚Gläubigkeit’. Wahrscheinlich gewinnen wir am

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Die Chronischen Miasmen

Abschnitt Seite

1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt? 1

2. Die Erforschung der Chronischen Miasmen 2

3. Zum Organon und zum Buch der Chronischen Krankheiten 4

4. Akute und Chronische Miasmen 6

5. Praktische Bedeutung der Lehre von den Chronischen Miasmen 7

6. Die „Psora“ 11

7. Die „Sykose“ 14

8. Die „Syphilis“ 15

9. Die Miasmen als Stadien einer Entwicklung 17

10. Viele Miasmen? 19

11. Die „Tuberkulinie“ 20

12. Menschheitliche Dimensionen 21

1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt?

„Miasma“ bedeutet soviel wie „Ausdünstung“. Der Begriff entstammt noch Zeiten, in

denen man sich Krankheiten als Auswirkung schädlicher Dünste erklärte. Solche

„Dünste“ stellte man sich vor als Ausscheidung der Erde in bestimmten Gegenden

(z.B. in Malariagebieten; mal aria = schlechte Luft), sie können aber auch von

Mensch zu Mensch, z. B. durch die Atemluft übertragen werden (Epidemie).

Außerhalb der Homöopathie wird der Miasmenbegriff heute ganz der

Medizingeschichte zugerechnet.

Sind die „Miasmen“ in der Homöopathie damit ein überkommendes Relikt alter

Zeiten? Die Miasmenlehre Hahnemanns wird zwar auch unter Homöopathen

unterschiedlich eingeschätzt. Die Ursachen dafür haben allerdings mit dem gerade

erwähnten antiken und mittelalterlichen Miasmenbegriff weniger zu tun. Hahnemann

fand eine völlig neue und eigene Bewertung und Beschreibung der Miasmen.

Dazu war Samuel Hahnemann der erste Mediziner, der Kleinstlebewesen als Träger

epidemischer Ansteckung vermutete, lange bevor Koch, Pasteur etc. solche Erreger

verifizieren konnten. Es gibt Schreiben Hahnemanns an das preußische

Polizeiministerium, mit ausführlichen, ja peniblen Ratschlägen zu Desinfektion,

Hygiene und Quarantäne bei ausbrechenden Epidemien. Hatte nicht der Begründer

der Homöopathie, auch wenn er sich damals nicht damit durchsetzen konnte, da

schon eine weit konkretere Vorstellung von Krankheitsübertragung und Ansteckung

als die allermeisten Zeitgenossen? Warum gebrauchte er dennoch den Begriff der

Miasmen, beziehungsweise entwickelt diesen weiter?

Wenn wir die „homöopathischen“ Miasmen verstehen möchten, finden Wenige

Anlehnungsmöglichkeiten an allgemein vorhandene Ideen und Vorstellungen. Und

mehr noch als das Wort „Miasma“ können die Bezeichnungen Hahnemanns für seine

drei Chronischen Miasmen irreführen, wenigstens solange wir an den jeweiligen

Wortbedeutungen hängen bleiben: So bedeutet Psora soviel wie Krätzekrankheit

(Skabies), Sykose oder Sykosis heißt Feigwarzenkrankheit (Gonorrhöe, Tripper), und

auch für die Syphilis, das dritte Chronische Miasma, wählte Hahnemann den Namen

eines hinreichend bekannten Krankheitsbilde. Den Zugang finden wir weder von

„außen“, noch durch dogmatische ‚Gläubigkeit’. Wahrscheinlich gewinnen wir am

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ehesten ein Verständnis, indem wir uns unbefangenen-prüfend auf Hahnemanns

Gedankengänge, mehr noch auf seine Methodik einer entwickelten und

systematischen Beobachtungskunst einlassen. Dies bedeutet, mit auf die Reise zu

gehen und Hahnemanns Erkenntnisweg und Forschungsmethoden innerlich

nachzuvollziehen, anstatt nur über Ergebnisse zu diskutieren. Und wenn dabei dann

am Schluss noch Fragen offen bleiben, wenn gar neue Fragen dazukommen? Nun,

‚am Ende’ ist die homöopathische Forschung sicher noch nicht.

Zuerst zu den Grundlagen.

2. Die Erforschung der Chronischen Miasmen

Es gibt im Wesentlichen drei Stränge, die miteinander zur Entwicklung des

Chronischen Miasmenbegriffs führen. Dies möchte ich im Folgenden dann weiter

vertiefen:

a) Beobachtungen von Langzeit – Verläufen homöopathischer Therapie, Grenzen die

dabei deutlich wurden. Dies bedeutet, nach anfänglichen besten Ergebnissen zeigen

die Patienten wiederholt und schließlich immer häufiger Rückfälle, auch bei guter

‚Lebensordnung’ und relativ günstigen äußeren Umständen.

Rückfälle und Grenzen der Heilbarkeit:

Die Homöopathie wurde zu Lebzeiten ihres Begründers bekannt durch die

überwältigenden Erfolge bei akuten Seuchenkrankheiten wie Scharlach, Typhus und

Cholera. Weniger gut sahen dagegen Langzeitergebnisse aus bei Patienten, die über

viele Jahre immer wieder in Hahnemanns Praxis kamen: Nach anfänglich besten

Behandlungsergebnissen, beobachtete Hahnemann gehäuft Rückfälle, die sich bei

längeren Beobachtungszeiträumen von 10 und mehr Jahren bedenklich häuften.

Dazu reagierten die Patienten mit der Zeit immer weniger und schließlich kaum noch

oder gar nicht mehr auf die jeweils akut angezeigten Arzneien, die anfangs noch so

gut geholfen hatten. Auch wenn schon kleinste Diätfehler, Unregelmäßigkeiten oder

Zwischenfälle alle bisherigen Behandlungserfolge zerstörten, mochte Hahnemann

die Schuld daran nicht mehr den Patienten zuweisen (wie dies sonst in der

Naturheilkunde oft genug die Regel war). Aus dieser Unzufriedenheit heraus

erwuchs das Bedürfnis, die homöopathische Heilkunst weiter zu entwickeln.

Schonungslose Selbstkritik war also der Beginn dieses Kapitels der Homöopathie,

wie wir auf den ersten Seiten des für die Miasmen-Lehre wichtigsten Werk

Hahnemanns, dem theoretischen Teil der ‚Chronischen Krankheiten’, lesen können:

„[Der]Anfang [homöopathischer Behandlungen bisheriger Art] war erfreulich die

Fortsetzung minder günstig, der Ausgang hoffnungslos...“

b) Beobachtung der Fortentwicklung bestimmter Krankheitstendenzen und

Krankheitsdispositionen innerhalb der Biographie, sowie über Generationsfolgen

hinweg. Untersuchung möglicher Beziehungen bestimmter Erkrankungen der

Vorfahren eines Patienten zu den gegenwärtigen Schwächen und Leiden des

Patienten selbst; Aufdeckung der Folgen von Symptomunterdrückung.

Fortentwicklung von Krankheitstendenzenden:

Um der Natur der Chronischen Krankheiten auf die Spur zu kommen, sammelte

Hahnemann über zwölf Jahre ausführlich Daten zu gegenwärtigem Zustand,

Geschichte und Vorfahren seiner Patienten. Es war die Frage nach Anfang und

Ende, innerhalb der Krankheitsgeschichte und auch darüber hinaus, nach der Wurzel

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all dessen was die Gesundheit wie ein verborgener Herd zu untergraben schien,

Rückfälle bewirkend nach anfänglichen vielversprechenden Heilungsverläufen.

Zusammenhänge wurden deutlich zwischen Erkrankungen, die zu verschiedenen

Zeitpunkten aufgetreten waren und es gab eine Fortentwicklung in der Art und

Richtung der Beschwerden.

Sobald bestimmte Einflüsse erst einmal Fuß gefasst hatten fand die beschriebene

Negativentwicklung schon im natürlichen Lebensgang statt. Alle Behandlungen, die

eine nur oberflächliche, doch oft gewaltsame Vertreibung einzelner Symptome zum

Ziel hatten, schürten jedoch den verborgenen Krankheitsherd. Dies war nur allzu

offensichtlich, sobald man über momentane Erleichterungen der jeweiligen

Lokalsymptome hinausblickte. So fand auch die Problematik unterdrückender

Behandlung eine präzise Beschreibung.

Auch Vererbung – allerdings in einem umfassenderen Sinne, als dieses Wort heute

gebraucht wird – spielte eine Rolle. Die Krankheitsdispositionen wurden jedoch

selten unverändert und in genau der gleichen Form weitervererbt, sondern sie

änderten sich oft in Erscheinungsweise und Auswirkung von einer Generation zur

nächsten. Dennoch ließen sich Beziehungen beschreiben von bestimmten

Krankheitserscheinungen der einen Generation zu ganz bestimmten anderen

Krankheitserscheinungen der Nachkommenschaft.

c) Beobachtung des Generellen, Charakteristischen, des „roten Fadens“ innerhalb

einer großen Vielzahl von Einzelerscheinungen.

Das Generelle und Wesentliche aus einer großen Anzahl von Einzelerscheinungen

herauszuextrahieren, das ist schon für die gewöhnliche Arzneifindung täglich Brot

der Homöopathen. Zu Beginn eine große Anzahl von Symptomen – am Schluss steht

ein Mittel. In der Betrachtung akuter, epidemischer Krankheiten ging Hahnemann

noch einen Schritt weiter: die Seuche überschwemmt gewissermaßen die individuelle

Reaktionslage, der einzelne Kranke zeigt nur einen Teil der Symptomatik. So wie

einzelne Symptome des individuellen Patienten nur als Glieder einer größeren

Gestalt zu verstehen sind (eben der Symptomengesammtheit oder des ‚Symptomen-

Inbegriffs’), so sind die an der Epidemie erkrankten Patienten wiederum nur Teile

einer größeren Gesamtheit. Über der Einzelerscheinung steht, auch als Arznei-

Indikation, das (Arznei-)bild der Epidemie selbst. Dieses ist aber nur mit dem

jeweiligen Aufflackern einer Seuche verbunden und kann keineswegs am Namen der

Krankheit oder des Erregers festgemacht werden (vgl. Org. §§ 100 – 102). Spätere

Homöopathen sprachen dann auch von einem „Genius epidemicus“, als wie von

etwas Wesenhaften, z. B. der Grippewelle der jeweiligen Saison, die dann auch mit

einigen wenigen Mitteln zu bewältigen ist, sobald diese bekannt. Den Begriff „akute

Miasmen“ findet Hahnemann in Anlehnung an den Sprachgebrauch seiner Zeit,

zumindest geeigneter zur Beschreibung der akuten Epidemien, als die damals schon

ebenso üblichen klinischen Bezeichnungen (bgl. Org. Anm. § 73; Anm. § 81). So wird

durch eine Vielzahl einzelner Erscheinungen hindurch auf eine Gesamtheit, eine

Ganzheit geschaut – eben nichts anderes, als was der Homöopath auch im

individuellen Fall tut, auf`s Große übertragen. Vergleichbar ging später Hahnemann

Erforschung der chronischen Miasmen vor sich.

So war nun der nächste Schritt, die Methodik detaillierter Beobachtung und

Generalisierung des Typischen nun auf chronische Krankheitsprozesse

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anzuwenden. Geschärfte Sinneswahrnehmung auf`s Einzelne, eine geweitete

Schau auf`s Ganze und wissenschaftliche Systematik, vereinigt in einer

nachvollziehbaren und lehrbaren Methodik sind das Handwerkszeug, mit dem

Hahnemann sich auf den Weg macht. Erst mit diesen Mitteln ist der Miasmenbegriff

auf dem diffusen Wirrwarr seiner Zeit herauszulösen und formt sich spätestens in der

Beschreibung der chronischen Miasmen zu etwas eigenem und neuem.

Hahnemanns generalisierendes Vorgehen mündet schließlich bei drei Grundformen,

die gewissermaßen Boden und Wurzel zahlloser anderer Erkrankungen bilden. Eher

symbolisch, stellvertretend benennt er diese „Miasmen“ mit dem Namen drei

verschiedener Krankheiten. Kurz gesagt:

• Die „PSORA“ (Krätzekrankheit) bedeutet Defizit und Mangel in weitestem

Sinne, von subjektivem Verlustgefühl bis zur organischen Unterfunktion.

• Die „SYKOSIS“ (Feigwarzenkrankheit, chronifizierte Gonorrhöe) steht

zugleich für Überproduktion, Übertreibung, und Stagnation.

• Die „SYPHILIS“ führt schließlich in zerstörende Prozesse.

... Nach Hahnemann wurden noch weitere Miasmen beschrieben, vor allem die

„TUBERKULINIE“: eine Art Mischform von Psora und Syphilis; Unzufriedenheit ein

Stichwort dazu. Alle diese Miasmen werden im Folgenden noch näher erläutert.

Über Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit dem Vielfältig-Komplizierten kommt er

wieder zu einem scheinbar Einfachen... Zum Teil mag dies erinnern an viele ältere

Traditionen, die menschliches Leben und Leiden im Spiel und Gleichgewicht

bestimmter Grundkräfte sehen: die ayurvedische Tridosha – Lehre, die antike

Viersäfte- und Vier-Elemente-Lehre, oder Yin und Yang und die fünf

Transformationszustände der chinesischen Medizin, usw. in solchen Lehren handelt

es sich um kosmische Grundenergien, die das Universum aufbauen. Hahnemann

beobachtet dagegen „lediglich“ bestimmte Krankheitsströme, die die

Menschheitsgeschichte durchziehen, da ist ein klarer Unterschied. Dennoch möchte

ich, ohne vorschnell Parallelen zu ziehen oder irgendetwas in Zuordnungen

hineinzupressen, behaupten das dieses „Ankommen“ bei quasi archetypischen

Grundformen nicht zufällig ist. NEU ist jedoch die oben angedeutete

Forschungsweise. „Wissen“ ist nun nicht mehr komische Offenbarung oder heilige

Überlieferung, sondern will vom forschenden, kritischen Menschen selbst errungen

werden (siehe „Die Lehre Hahnemanns, Geistes- und Naturwissenschaft“). Die

phänomenologische Forschungsweise Hahnemann deutet auf die Möglichkeit eines

dritten Wegs zwischen regressivem Streben zu dem, was sich in alten Zeiten

inspirierter Schau erschloss, und seelenfremder „moderner“ Wissenschaft.

3. Zum Organon und zum Buch der Chronischen Krankheiten

Es besteht ein gewisser Kontrast zwischen der Lehre der Homöopathie, wie im

Organon dargestellt, und Hahnemanns Lehre von den Chronischen Miasmen,

erstmals veröffentlicht und umfassend beschrieben in seinem Buch „Chronische

Krankheiten, theoretischer Teil“ (die weiteren Bände sind Arzneimittellehre). Schon

im Stil wird dies deutlich: Das eine klassisch, präzise, dicht und inhaltsreich, fast

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jeder Paragraph gibt genug her um länger damit zu arbeiten, Längen nur dort wo der

Autor polemisch wird, kurz: das Konzentrat einer in sich geschlossenen, reifen Lehre.

Dagegen die „Chronischen Krankheiten“: Oft langatmig, erst in vielen Schleifen oder

Serpentinen sich auf das eigentliche Ziel der Aussage hinbewegend. Das „Organon“

und seine Vorläufer: Lehrbuch, teilweise auch Kampf-Buch, das Werk, mit dem

Hahnemann die Homöophatie in die Öffentlichkeit stellte und lehrbar machte. Der

theoretische Teil der „Chronischen Krankheiten“: Ein Werk, mit dem sich Hahnemann

nach 12 Jahren Miasmenforschung an die Homöopathen seiner Zeit wandte, um

ihnen noch etwas ganz anderes zu vermitteln als alles, woran man sich nun endlich

als Homöopath gewöhnt hatte.

Was war dieses Andere???; war Hahnemann möglicherweise so ausführlich, kam er

deswegen immer wieder auf die gleichen Punkte zurück, da er die eingefahrenen,

bisher gelehrten Denkstrukturen seiner Schüler aufbrechen wollte? In dem Fall stellte

Hahnemann, ganz im Unterschied zu seiner sonst häufig kämpferischen Sprache, in

den chronischen Krankheiten erstmals seine eigene Arbeit grundlegend in Frage. Zu

einem Zeitpunkt, da die Homöopathie große Erfolge errungen hatte bei der

Behandlung akuter und epidemischer Krankheiten, bezeichnet er seine bisherige

Arbeit als weitgehenden Misserfolg. Dies zwang zu einem Umdenken, einem

Brechen mit (homöopathischen) Gewohnheiten, und davon sollten auch die Kollegen

überzeugt werden. Genau unterschieden werden Störungen infolge von Diätfehlern

und falscher Lebensweise, chronische Krankheiten die iatrogen = überhaupt erst

durch bestimmte Medikamente oder andere Behandlungsmaßnahmen entstanden

sind, und den „echten“, miasmatischen chronischen Krankheiten. Letztere sind allein

durch Diätmaßnahmen nicht mehr zu heilen. Nichtsdestoweniger gehören

angemessene Ernährungs- und Lebensweise zu den Grundvoraussetzungen

dauerhafter Heilung. Die in den „Chronischen Krankheiten“ und im „Organon“

gegebenen Empfehlungen gehen in Richtig einfache Kost und Vermeidung aller

arzneilichen Störfaktoren wie auch Kaffee, genügend Bewegung an frischer Luft vor

allem für Menschen mit sitzenden Berufen, aber auch kein Übermaß an Stress, keine

Orgien und Saufgelage und (wohl am schwierigsten zu verschreiben...) auch kein

„moralisch und psychisch nachteiliger Umgang“. Rigide Maßnahmen, bis hin solchem

Unfug zum Verbot ehelichen Verkehrs (damals bei „Naturheilärzten“ durchaus drin!)

lehnte Hahnemann als unsinnig und schädlich ab. Auch seien eine unglückliche Ehe,

ein nagendes Gewissen, anhaltender Kummer oder Gram und dauernde Ärgernisse

weitaus gesundheitsschädlicher als Entbehrungen und Strapazen, harte

Arbeitsbedingungen und ungesundes Klima.

Die in den „Chronischen Krankheiten“ angesprochenen Fragestellungen zu einer

Langzeit-Behandlungsstrategie müssen wir heute auf für unsere Zeit passend selbst

beantworten können: das betrifft die weitere Einnahme allopathischer Medikamente

ebenso wie die Beratung hinsichtlich eventueller operativer Eingriffen,

Zahnsanierung, und Hinweise zu sog. „Selbsthilfemaßnahmen“ und Hausmitteln bei

akuten Ereignissen.

In den „Chronischen Krankheiten“ finden wir auch Symptomlisten der verschiedenen

Miasmen, sowie eine Reihe praktischer Hinweise. Dazu gehören Angaben zur

Behandlung gemischt-miasmisch Kranker, und Tipps zur Vermeidung von

Anfängerfehlern oder Schludrigkeiten wie zu große oder zu häufige Arzneigaben,

oder Arzneiwahl allein nach Repertorium. Nach dem Organon, Basislektüre für jeden

angehenden Homöopathen!

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4 Akute und Chronische Miasmen

Wie schon unter Abschnitt 2c erwähnt, gebrauchte Hahnemann den Miasmenbegriff

in verschiedener Weise sowohl für die epidemischen, akut verlaufenden Krankheiten,

wie für chronische Prozesse (vgl. Org. §§ 73, 78 ff, 204 ff).

Folgend sehen wir Merkmale zur qualitativen Unterscheidung chronischer und akuter

Störungen. Diese qualitative Wahrnehmung ist für die Praxis außerordentlich wichtig,

und nicht irgendein theoretisches Limit, z.B. wie viele Wochen jemand in den letzten

zwei Jahren schon gehustet hat oder so.

â Folgendes kennzeichnet den Ausbruch akuter Miasmen:

• Nach erfolgter Ansteckung ist der ganze Organismus beteiligt, und bringt

deutliche Symptome nach außen

• Der Organismus hat die Tendenz, die Belastung durch die Krankheit von

innen nach außen abzuwerfen, besonders deutlich zu sehen z. B. bei den

Kinderkrankheiten mit Hautausschlag in der Heilungsphase.

• Entweder gelingt dieses, und der Mensch wird wieder ganz gesund, oder es

gelingt nicht und der Organismus unterliegt: auch unbehandelt Tendenz zu

Selbstheilung, oder aber Tod.

â Dagegen stehen die Merkmale der chronisch miasmatischen Erkrankungen:

• Nach erfolgter Ansteckung ist der ganze Organismus beteiligt, jedoch sind

äußere Symptome anfangs spärlich, dann auch über längere Zeiträume ganz

verborgen.

• Am Anfang steht ein vergleichsweise harmloser Affekt von Haut oder

Schleimhaut. Das können (müssen aber nicht) sein: Krätzeausschlag, primäre

Gonnorrhoe oder Primäraffekt der Syphilis. Erst viel später folgen schwere

Organschäden (vgl. z. B. Reiter`sche Trias; tertiäre Syphilis). Wir haben ein

unaufhaltsames Fortschreiten von außen nach innen; in späteren Stadien

sind zunehmend lebenswichtige Funktionen betroffen.

• Der Organismus ist nicht in der Lage, einen Entscheidungskampf zu

provozieren. Unbehandelt sehen wir eine, anfangs meist unmerkliche

Tendenz zu steter Fortentwicklung des Zustandes. Besonders im Jugendalter

und bei jungen Erwachsenen gibt es häufig längere Latenzzeiten, das

chronische Miasma „schläft“ gewissermaßen. Im Laufe des Lebens bringt das

verborgene miasmatische Grundleiden Krankheitserscheinungen hervor. Die

sich im Einzelnen durchaus ändern können, und darum vom ungeschulten

Beobachter meist nicht mehr in Zusammenhang miteinander gebracht

werden. Diese Entwicklung wird selbst durch beste Lebensführung kaum

aufgehalten, so daß das unbehandelte Miasma den Menschen von der Wiege

bis zum Tode begleitet und zahlreiche Leiden beschert.

• Die chronisch-miasmatischen Belastungen können im Laufe des Lebens

erworben, ebenso jedoch auch an die Nachkommen vererbt werden. (Der

Vererbungsbegriff wird heute üblicherweise auf DNS-Informationen reduziert –

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die Möglichkeit dynamischer Übertragungen auf die Nachkommenschaft dabei

vernachlässigt.)

.......wahrscheinlich ist jeder Mensch zu gewissen Anteilen von allen beschriebenen

Miasmen betroffen.

5. Praktische Bedeutung der Lehre von den chronischen Miasmen

Hahnemann gibt bestimmte Mittel an als sogenannte „Antipsorika“, „Antisykotika“ und

„antisyphilitische Mittel“. Das heißt natürlich nicht (wie es einige Verschreiber gerne

hätten), dass die Notwendigkeit individueller Arzneigabe bei der Behandlung

chronischer Prozesse entfallen würde, oder wir nur noch eine Handvoll

verschiedener Arzneien bräuchten, um diesen chronischen Leidern beizukommen.

Von großer Bedeutung ist dagegen die Notwendigkeit, auch die chronische „Ebene“

beziehungsweise Tiefenschicht mitzubehandeln – sei es, dass dies mit einem

einzigen Mittel gelingt, sei es dass wir verschiedene Mittel nacheinander, über einen

längeren Zeitraum gegeben, dafür brauchen. Das Unvermögen chronische

Krankheiten wirklich zu heilen, kennzeichnet ja gerade die Situation der heute

offiziellen Medizin, trotz allen Fortschritten der Akutmedizin. Viele Patienten kommen

ja zu uns, weil sie nicht nur „sanfte Medizin wünschen sondern bereits erlebt haben,

dass andere Behandlungen nicht mehr als Symptomverschieberei erreichten, dass

allopathische Methoden weder degenerative Tendenzen noch Rückfälligkeit stoppen

konnten. Allenfalls unterdrücken um den Preis unangenehmer Nebenwirkungen.

Oft begegnen wir im Praxisalltag Mischformen akut-miasmatischer Erkrankungen, mit

vorhandenen chronischen Schwächen. Das ist, wenn sich ein Grippe, eine

Bronchitis, eine Lungenentzündung länger hinzieht, wenn sich der Patient nach

einem Magen-Darm-Infekt nicht recht erholt, wenn im gleichen Jahr schon die fünfte

Erkältung aufgetreten ist usw. Da reichen schon geringfügige Auslöser, um das Fass

der chronischen Belastung überlaufen zu lasen, oder, vorwiegend bei nicht mehr

ganz jungen Patienten, produziert das chronische Übel wie „von selbst“ irgendwelche

akuten Exerbationen (Ausbrüche), die den Menschen wie aus angeblich heiterem

Himmel überfallen. Werden nur diese Äußerungen, nicht aber der Mensch insgesamt

behandelt, so nehmen wir der weiterhin verbleibenden inneren Belastung ihr Ventil,

ihre Möglichkeit sich noch einigermaßen abzureagieren. Der Effekt: der miasmische

„Druck“ erhöht sich weiterhin und sucht sich entweder ein anderes Ventil, oder aber

es sind über kurz oder lang weiter innen liegende, lebenswichtige Organe von der

pathologischen Energie betroffen, bis hin zu malignen Prozessen. Innerhalb des

„syphilitischen“ Miasma ist schon per se die Tendenz vorhanden, dass sich die

Störung auf lebenswichtige Organe oder Funktionen richtet (Herzinfarkt oder

schnellwachsender Krebs aus angeblich „blühender Gesundheit“). Im Allgemeinen

jedoch hat der Organismus die Tendenz, Belastungen der Lebenskraft sich dort

austoben zu lassen, wo sie noch am wenigsten Schaden anrichten können. Wie wir

später noch sehen werden, zeigt sich vom psorischen über das sykotische bis zum

syphilitischen Miasma ein Weg des Zusammenbruchs jener Fähigkeit der

Lebenskraft, Störungen an relativ unschädliche Stellen hin „abzuleiten“, und damit

wenigstens eine gewisse Zeit lang in Schach zu halten. Siehe dazu auch Organon §

201.

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ORGANON § 201:

„Offenbar entschließt sich (instinktartig) die menschliche Lebenskraft, wenn sie mit

einer chronischen Krankheit beladen ist, die sie nicht durch eigne Kräfte bewältigen

kann, zur Bildung eines Local-Uebels an irgendeinem äußerem Theile, bloß aus der

Absicht, um durch Krankmachung und Krankerhaltung dieses zum Leben des

Menschen nicht unentbehrlichen Theils, jenes außerdem die Lebensorgane zu

vernichten und das Leben zu rauben drohende innerer Uebel zu beschwichtigen und,

so zu sagen, auf ein stellvertretendes Lokal-Uebel überzutragen, es dahin gleichsam

abzuleiten. Die Anwesenheit des Lokalübels, bringt auf diese Art die innere Krankheit

vor der Hand zum Schweigen, ohne sie jedoch weder zu heilen, noch wesentlich

vermindern zu können. Indessen bleibt immer das Lokal-Uebel weiter nichts, als ein

Theil der Gesammtkrankheit, aber ein, von der organischen Lebenskraft einseitig

vergrößerter Theil derselben, an eine gefahrlose (äußere) Stelle des Körpers hin

verlegt, um das innere Leiden zu beschwichtigen. Es wird aber, wie gesagt, durch

dieses die innere Krankheit zum Schweigen bringende Local-Symptom, von Seiten

der Lebenskraft für die Minderung oder Heilung des Gesammt-Uebels, so wenig

gewonnen, dass im Gegentheile dabei das innere Leiden doch allmälig zunimmt und

die Natur genöthigt ist, das Local-Symptom immer mehr zu vergrößern und zu

verschlimmern, damit es zur Stellvertretung für das vergrößerte innere Uebel und zu

seiner Beschwichtigung noch zureiche. Die alten Schenkelgeschwüre

verschlimmern sich, bei ungeheilter, innerer Psora, der Schanker vergrößert sich bei

noch ungeheilter innerer Syphilis und die Feigwarzen vermehren sich und wachsen,

so lange die Sykosis nicht geheilt ist, wodurch die letztere immer schwieriger und

schwieriger zu heilen wird, so wie die innere Gesammtkrankheit mit der Zeit von

selbst wächst.“

Unterdrückende Behandlungen sind leider auch mit homöopathischen Mitteln nur zu

gut möglich, bei oberflächlichem Verständnis der Homöopathie sogar regelrecht

vorprogrammiert! Aus diesem Grund möchte ich auch keinen Vortrag abschließen,

ohne beispielsweise die §§ 194–201 des Organon besprochen zu haben. Die

positive Seite der dort beschriebenen Gesetzmäßigkeiten ist eine gute

Langzeitprognose, wenn der Heilungsverlauf der Hering´schen Regel entspricht (von

innen nach außen, von oben nach unten...).

Ein chronisch und konstitutionell passendes Mittel zu finden, bedarf der gründlichen

Anamnese nicht nur des akut gegeben Zustandes, sondern eben des Gesamtbildes,

bis in die Biographie hinein. Eben letztere lernen wir wiederum besser verstehen

durch die Miasmenlehre, indem wir die Entwicklung unterschiedlicher

Krankheitsbilder in unterschiedlichen Lebensphasen aus einem Miasma so in

Zusammenhang bringen zu können. Dem Patienten gegenüber sprechen wir, um der

Verständlichkeit willen, eher von Konstitutionsbehandlung – gleichwohl behandeln

wir weniger die Konstitution, als die miasmatischen Beeinträchtigungen derselben.

Möglich ist eine solche „Konstitutionsbehandlung“ in jedem Alter, solange das

Biosystem über ausreichende Kräfte verfügt. Bei Kindern zeigt sie sich besonders

dankbar – sie verläuft im Allgemeinen noch leichter und schneller, da die inneren

Muster weniger gefestigt sind. Die Häufung bestimmter Krankheiten vor allem in den

ersten drei Lebensjahren (auch noch bis zum sechsten oder siebten Jahr) gibt den

Eindruck, dass das Kind als individuelles Wesen noch damit beschäftigt ist, mit dem

von den Eltern geerbten Leib irgendwie zurechtzukommen, diesen Leib an die

eigenen Bedürfnisse noch mehr anzupassen. Aus anthroposophischer Sicht sind

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beispielsweise die typischen Kinderkrankheiten aus diesem Prozess heraus zu

verstehen; aber auch die relativ häufigen Indikation (der in der anthroposophischen

Medizin wiederum nicht verwendeten) Nosoden bei Kindern und gerade bei kleinen

Kindern spricht dafür, dass in diesem Alter die Arbeit an den geerbten Mustern ein

großes Thema ist. Das kann durch homöopathische Behandlung wirkungsvoll

unterstützt, durch Impfungen dagegen eher gestört werden. Natürlich nicht Nosoden

geben, nur weil jemand noch Kind ist: Verschreibung immer streng nach Ähnlichkeit

der hierarchisierten Symptome. Auch unsere großen Antipsorika wie Calcium

carbonicum, Sulfur und so weiter kommen hier häufiger noch als sonst zum Zuge.

Impfungen können nicht nur, wie lange Zeit behauptet, ein sykotisches Miasma

setzen, sondern auch die anderen Miasmen steigern in einer Phase, in der der

Organismus zwar wohl auch nicht in der Lage ist, die vorhandenen Miasmen aus

eigener Kraft vollständig zu eliminieren, aber „Korrekturversuche“ im natürlichen

Gang eher noch drin sind als später.

Da die Chronischen Miasmen meist vererbt werden, fragen wir in der Anamnese

auch nach Erkrankungen, die bei Eltern, Großeltern, oder sonst in der Familie

gehäuft aufgetreten sind. Schwere Erkrankungen sowie bestimmte Leiden, die die

Konstitution tiefer prägen oder in besonderer Weise typisch sind für bestimmte

Miasmen, interessieren uns schon bei einmaligem Auftreten, ebenso

Todesursachen. Immer nach dem Alter der ersten Manifestation fragen: Herzinfarkt,

Schlaganfall oder Krebs ist mit 70 Jahren leider zu „gewöhnlich“, um noch als

Hinweis verwertbar zu sein, anders ist das natürlich bei Infarkt im 30sten Lebensjahr.

Unbedingt interessieren Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Nervenleiden und

psychische Erkrankungen, Suchtkrankheit, Blutkrankheiten, Asthma und andere

Allergieprobleme, chronische Hautkrankheiten, angeborene Leiden oder

Fehlbildungen, sowie jugendlicher Diabetes und andere autodestruktive Prozesse.

Genauso wichtig bei erstem Auftreten in relativ frühem Alter, beziehungsweise bei

familiärer Häufung: Krebs, Schlaganfall, Herzkrankheiten, Rheuma & Arthritis,

Altersdiabetes und andere schwerere Leiden. Auch eine familiär verbreitete Neigung

zu gutartigen Wucherungen, wie Warzen Kondylome usw., evtl. auch Muttermale

sind Anzeichen einer miasmatischen – in diesem Fall sykotischen – Belastung.

Sykotische Symptome werden am ehesten in relativ gleichbleibender, stereotyper

Form weitervererbt – wie z. B. Warzen, Myome, und das schon so genannte

„Muttermal“. Die Psora erscheint verglichen damit eher wie eine vielgestaltige Hydra,

stets neue und kaum vorhersagbare Gestalten produzierend.

So kann die Familienanamnese mithelfen, die miasmatischen Muster und

Schichtungen eines Patienten zu erkennen. Damit sind wir noch nicht bei

irgendeiner bestimmten homöopathischen Arznei angelangt, aber die Kenntnis der

miasmatischen Struktur trägt dazu bei, eine sinnvolle Behandlungsstrategie zu

entwickeln. Dies gilt vor allem für jene Fälle, in denen wir mit einem einzigen Mittel

als Simile nicht durchkommen. So ist es möglich, dass ein Arthrose-Kranker

zunächst auf ein vorwiegend (anti)sykotisches Mittel recht gut reagiert, dann geht die

Therapie nicht mehr recht voran bzw. es kommen einige neue Symptome an die

Oberfläche, die nun mehr nach einem (anti)psorischen Mittel rufen. Ein Depressiver

benötigt in einer Krise mit starken Suizidgedanken möglicherweise Aurum, später

dann vielleicht eine mehr psorische Arznei wie z. B. Sulphur zur weiteren Therapie.

Es ließe sich einwenden, genau die gleichen Mittel ließen sich nach gründlicher

Anamnese auch so finden. Das mag im Einzelfall zutreffen, nur bekommen wir durch

die Kenntnis der Miasmen etwas mehr Übersicht in die Vielzahl der Mittel und

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Krankheitssymptome. Wir verstehen damit die Richtung eines Mittels, den Prozess

hinter einzelnen Krankheitserscheinungen besser. Die Situation ist jeweils etwas

anders gefärbt, ob wir mit irgendeinem psorischen Defizit, oder mit einer sykotischen

Stagnation, oder einem zerstörenden syphilitischen Prozess zu tun haben. Das sind

gewissermaßen die Grundfarben, mit denen wir malen.

Genaugenommen finden wir eigentlich keinen Menschen, der nicht mit allen drei

chronischen Miasmen behaftet ist. Nur Maß und Mischung unterscheiden sich. So

wie sich aus drei Grundfarben 16 Millionen Farben anrühren lassen, die ein geübtes

Auge wohl unterscheiden kann, so sind aus der Mischung der verschiedenen

Miasmen eine sicher noch größere Zahl menschlicher Befindensstörungen denkbar.

Die jeweilige „persönliche Mischung“ macht zwar wohl noch nicht die Individualität

aus, bezeichnet jedoch das Problem- und Aufgabenfeld, das dieser Mensch bis in

seine Physis hinein angenommen hat und in welchem dieser Mensch gerade seine

Entwicklung durchmacht und in dem er auch wächst. Etwas langsamer im

natürlichen Lebensfeld (soweit es ein solches noch gibt), oder ein wenig beschleunigt

mit der umwandelnden Kraft der Hilfen, die wir uns als Mitmenschen eben geben

können.

Zuerst behandelt wird schlicht dasjenige Miasma, das sich mit seinen Symptomen

gegenwärtig am meisten in den Vordergrund drängt. Wenn sich nach einer gewissen

Behandlungszeit das Symptomenbild geändert hat, kann es sein, dass nun ein

anderes Miasma darunter zum Vorschein kommt und entsprechender Behandlung

bedarf. So kann nach einem antisyphilitischen Mittel wiederum ein vorwiegend

antisykotisches oder antipsorisches Mittel angezeigt sein, oder wir benötigen ein

antisyphilitisches und antipsorisches Mittel im Wechsel – wie immer nach jeweils

längeren Intervallen, in denen das zuvor gegebene Mittel auswirken konnte. Einige

Therapeuten fühlen sich wohl, wenn sie eine chronische Behandlung nach einer

Reihe von Jahren mit Sulphur abschließen können, damit bei der Psora als

„Grundübel“ und Boden später darauf aufbauender Miasmen angelangt sind. Meine

eigene Erfahrung geht eher dahin, dass eine Arznei, die eine hohe

Ähnlichkeitsqualität besitzt, zumeist gleich mehrere miasmatische Schichten

durchdringt, sodass wir kaum Folgemittel brauchen. In anderen Fällen ist das nicht

so möglich, aber es ist recht spekulativ von vornherein zu sagen, dass wir am

Schluss bei diesem oder jenem Mittel anlagen müssten. Es gibt einige praktische

Erfahrungswerte zu Mittelfolgen und Folgemitteln, schön zusammengefasst z. B. im

Büchlein „Arzneibeziehungen“ von Miller und Klunker. In erster Linie wird uns jedoch

immer Zustand und Befinden des Patienten leiten.

Ebenso wie bei den einzelnen Patienten, vertritt auch kein Arzneimittel „rein“ nur ein

Miasma. Sicher ist Thuja ein Antisykotikum, aber es hat auch tuberkulare Seiten.

Ebenso hat Sulphur sykotische und syphilitische Aspekte, noch stärker Calcium

carbonicum und Lycopodium, obwohl die letztgenannten drei Mittel von Kent als die

wichtigsten „Antipsorika“ gehandelt werden. Dies trifft auch zu – für ihren jeweils

dominierenden Aspekt. Nitricum acidum ist zugleich sykotisch (Warzen,

Granulationen, Starrköpfigkeit, kann nicht verzeihen...) wie syphilitisch

(Blutungsneigung, Ulcerationen, Gestank, rachsüchtig, boshaft, hoffnungslos

verzweifelt). Frösteligkeit, Unsicherheit, Schüchternheit und Empfindlichkeit sind

psorische Anteile des erwähnten Calcium carbonicum, die Polypen sykotisch,

Schweißneigung eher tuberkular. Auch das so einfach erscheinende Silicea bietet

eine bunte miasmatische Mischung psorischer Schwäche, sykotischer Sturheit,

sykotischer Abszesse, Nebenhöhlenvereiterungen, und neurotischer Fixationen über

tuberkulare Anteile bis hin zu syphilitischen Knochenaffektionen. Analog könnten wir

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jedes einzelne Mittel durchgehen. Im Repertorium Synthesis finden wir 216 Mittel in

der Rubrik „Allgemeines – Psora“, 175 Mittel in der Rubrik „Sykose“, und 158 Mittel

bei „Syphilis“ – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die jeweiligen

Mischungen können wir ahnen, wenn wir diese Rubriken wie bei einer

Repertorisation nebeneinander legen.

Hahnemann ging noch davon aus, dass es eine bestimmte Anzahl (anti-)

miasmatischer Mittel gäbe und ebenso, davon unterscheidbare, andere nicht-

miasmatische Mittel. Neuere Erfahrungen sprechen eher dafür, dass jedes Mittel,

jegliche Substanz wenn sie hinreichend geprüft wird, ihre eigene miasmatische

Dimension offenbart. Tatsächlich kennen wir von allen gut und umfassend geprüften,

daher auch in der Praxis häufig angewendeten Mitteln ihre miasmatischen Seiten

mehr oder weniger gut. Die angeblich „weniger tief“ wirkenden Mittel finden sich

einfach nur seltener als Simile auch der tieferen Probleme. Ebenso ist es ein

Vorurteil, dass die „kleinen“, wenig geprüften, bislang eher selten und überwiegend

für irgendwelche eher lokalen Indikationen verwendeten Mitteln nichts mit chronisch-

miasmatischen Phänomenen zu tun hätten – dies gilt vielleicht für die übliche

Anwendung, aber nicht unbedingt für das Mittel selbst. So bringt auch eine Reihe gut

bekannter Substanzen vor allem heftige Wirkungen hervor, die traditionell mit akuten

Erkrankungen zum Beispiel fiebriger Art in Verbindung gebracht werden. Sankaran

weist hin auf die chronische Dimension des akuten „Klassikers“ Aconitum; bei Seghal

führt Belladonna die Hitliste chronischer Verschreibungen, anscheinend ohne dass

andere Mittel nachgeschoben werden müssten. Vorurteile über sogenannte tief oder

und nicht tief wirkende Mittel bringen uns nicht weiter.

Zusammenfassung: Die Lehre von den chronischen Miasmen sollte uns nicht zu

irgendwelchen Voreingenommenheiten führen. Sie hilft uns jedoch, Tiefe, Geschichte

und Grundrichtung einer Erkrankung besser zu erkennen, Anfang und Ende in

Verbindung bringen zu können. Auch hilft sie uns Arzneimittelbilder besser zu

verstehen, zu sehen welches Miasma welche Symptome hervorbringt. Die

Miasmenlehre verhilft bei der Arzneisuche zu einer ersten Grobsortierung, ähnlich

wie meinetwegen Warmblütigkeit oder Frostigkeit eines Patienten, die als solche

zwar viel zu unscharf sind um eine Arzneiwahl zu ermöglichen, auf der anderen Seite

jedoch schon eine Reihe von Arzneien auszusortieren oder zumindest

unwahrscheinlich machen. Und schließlich haben wir in der Miasmenlehre

vielleicht..... den Zipfel eines Tischtuchs zu einem tieferen Verständnis der

Bedeutung von Krankheit und Heilungsprozessen für die Menschheit als Ganzes.

6. Die „Psora“

Das erste Miasma kann zurückgeführt werden auf das Prinzip „Mangel“,

einschließlich des Gefühls von Mangel. Daraus entstehen auf der psychischen

Ebene Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit, Minderwertigkeitsgefühle,

Resorptionsstörungen, Trägheit oder auch sturer Fleiß, Existenzängste und die

vielfältigen Facetten von Sein-und-Haben-Wollen, die wir heute in unserer

Gesellschaft überall vorfinden. Da Letzteres, zusammen mit einem Gefühl von

Defizit, schon ein fundamentales Thema zu sein scheint für uns Erdbewohner,

können wir uns vorstellen, wie ungeheuer verbreitet dieses erste Miasma ist. Ebenso

vielgestaltig sind darum seine unterschiedlichen Ausformungen. Der Mensch erleidet

ein Verlustgefühl, er kämpft um sein Ego. Er „wehrt sich seiner Haut“. Wenn er seine

Rolle nicht richtig annehmen kann verlagert sich das Wehren auf die Haut, mit

entsprechenden Störungen. Innerlich wird der Mensch reizbar und „sauer“. Wenn die

Naturheilkunde die Übersäuerung der Körpergewebe als eine Art Grundursache der

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allermeisten Krankheiten beschreibt, als Ursache von Infektanfälligkeit,

Entzündungsbereitschaft und Ablagerungen im Körper (letztere werden in der

Homöopathie schon dem nächsten Miasma, der Sykose zugerechnet), dann beruht

dies auf zum Teil ähnlichen Beobachtungen wie Hahnemanns Lehre von der Psora.

Nur erzeugt der Körper auch bei guter Ernährung seine eigene Übersäuerung,

entsprechend eingeprägten Mustern und dem Innenleben eines Menschen. Dann

fühlt man sich nicht mehr wohl in seiner Haut, und es „juckt“, innerlich oder auch

psychisch. „Wollüstiges Jucken“ beschrieb Hahnemann als zentrales Symptom der

Psora. Ein eigenartiges Wort, ein eigenartiger Widerspruch: Es juckt, es ist also

unangenehm. Zugleich ist es auch angenehm, erzeugt ein Wohlgefühl bis hin zur

Begierde, aber „etwas“ ist darinnen das überhaupt nicht auszuhalten ist, das fast

verrückt macht. Das kann durchaus die Haut betreffen, man muss sich kratzen, was

vorübergehend den Juckreiz angenehm befriedigt, dafür aber ein schmerzhaftes

Brennen erzeugt, wonach auch wieder das Jucken schlimmer wird, ein unerträglich

angenehm-unangenehmes Jucken. Nur scheint mir, dass dieses Jucken bei uns

heutigen Menschen meist weiter „innen“ liegt. So „juckt“ des Nachbarn dickes Auto,

oder seine schöne Frau, oder seine vermeintlich Freiheit weil er keine Kinder hat,

oder seine heile Familie weil man alleinstehend ist, und so fort. Häufig nehmen die

körperlichen Manifestationen der Psora auch von der Haut ihren allerersten

Ausgang, verschwinden möglicherweise durch unterdrückende Behandlungen oder

auch mal von alleine, nach längeren Latenzphasen kommt es irgendwann zu

weiteren körperlichen Schwierigkeiten, meist nicht mehr an der Haut und von mal zu

mal hartnäckiger und resistenter gegen gewöhnliche Therapie. Hahnemann fand in

der Vorgeschichte oder bei den Vorfahren dieser Kranken sehr häufig unterdrückend

behandelte Krätze. Darum nannte er, obwohl er von den mit der Scabies

einhergehenden Milben wusste, dieses Miasma die „Psora“ – und wohl auch wegen

der Symbolik des Namens, nicht weil Scabies die einzig mögliche Erstmanifestation

sei. Die Scabies-Krätze ist heute selten, hygienischeren Lebensverhältnissen und

Jacutin sei Dank. Ähnliches gilt für Ekzeme; dafür ist die Neurodermitis (Psora mit

sykotischem Einschlag) kräftig auf dem Vormarsch. Dabei sind wir Homöopathen ja

fast glücklich, wenn sich das Geschehen auf der Haut manifestiert: innerer

Gesundheit sind wir damit um vieles näher, als wenn nach Kortisonsalbungen usw.

Asthma, Colitis ulcerosa, Depressionen und anderes auftreten.

„Die Krätze kömmt von kleinen, lebenden Insekten oder Milben her, welche

sich in unserem Körper zwischen oder Oberhaut einnisten...“

(Samuel Hahnemann in Beckers „Anzeiger“, sich dort gegen Theorien wendend, die die Krätze auf sogenannte „Schärfen“ im

Körper zurückführen. Zitiert nach Herbert Fritsche)

Die Psora ist für ca. 80 % aller Gesundheitsstörungen „hauptverantwortlich“. In der

Psora spiegeln sich fundamentale Probleme der Menschheit; erst die Psora bereitet

den anderen Miasmen den Boden. Im homöopathischen Arzneimittelbild gelten

Sulphur und Psorinum als ihre herausragensten Vertreter. Starke psorische Anteile

haben auch Calcium carbonicum, Kalium carbonicum, Lycopodium, Natrium

muriaticum und andere.

Eine umfassende Symptomatologie der Miasmen zu erstellen, geht über den Zweck

dieses Vortrages hinaus. Hier geht es um die allgemeinen Grundlagen.

Ausführlichere „Klassiker“ in dieser Richtung: „Die Chron. Krankheiten, die Miasmen“

von J. H. Allen (auch auf Deutsch).

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Einige Merkmale der Psora:

- Allgemeine Ängstlichkeit; ängstliche Wachsamkeit; beeindruckbar

- Selbstbezogenheit, Egoismus

- Unzufriedenheit, Reizbarkeit

- nervös, schreckhaft

- aktiv, lebhaft, mitteilsam

- oder aber schüchtern, gehemmt, verschlossen

- Minderwertigkeitskomplexe

- Schwäche; Schwächegefühl

- Leeregefühl mit Schwäche (psorisch-tuberkulär)

- Konzentrationsstörungen

- Empfindlichkeit

- Niedergeschlagenheit

- leichte Erschöpfbarkeit

- Unruhe; Nervosität; Erwartungsängste

- Unruhe im Schlaf

- unsaubere Angewohnheiten

- chaotisch, faul

- einseitiger Fleiß

- fröstelig, kälteempfindlich

- periodisch heiße Röte des Gesichts

- Brennen von Handflächen, Fußsohlen; Rötung und brennen der

Körperöffnungen

- Besserung durch Absonderungen: Schweiß, Urin, Menses, Durchfall

- schlechter durch Unterdrückung dieser Absonderungen; schlechter durch

unterdrückte Hautausschläge

- nervöses Schwitzen; schwitzen beim Essen

- bleiche, trockene, rauhe Haut

- Hautprobleme vielerlei Art, meist mit Jucken oder brennen; empfindliche Haut

- Jucken wird beim Kratzen zu Brennen

- Schleimhäute und Lymphorgane reagieren stark

- Katarrh- und Erkältungsneigung

- Absonderungen dünn, wässrig, scharf

- Rückfälligkeit; auch Periodizität; relative

- Unbeständigkeit der Symptome

- Nasenbluten

- Kopfschmerzen, Migräne

- Übersäuerter Magen

- sauerer Körpergeruch

- funktionelle Verdauungsstörungen verschiedener Art

- morgendlicher Durchfall; stinkende Stühle

- nervöse Blase

- Resorptionsstörungen (teils tuberkular)

- viel Hunger (teils tuberkular)

- Bindegewebsschwäche

- Rückenschwäche

- Rachitis

- Rheuma

- endokrine Störungen

- psychosomatische Störungen

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- funktionelle Herzbeschwerden; funktionelle Blasenbeschwerden;

prämenstruelles Syndrom und Periodenbeschwerden usw.

- Epilepsie

- schlechter: Stehen; Anstrengung; psychische Erregung; Sorge, Kummer;

Furcht, Angst; Sinnesreize wie Lärm, Gerüche, Sonnenlicht; Wetterwechsel;

Mondwechsel; unterdrückte Absonderungen oder Ausschläge; morgens

- besser: Liegen, Ruhe; Wärme; Ausscheidungen

7. Die „Sykose“

Wie die Rückfälligkeit ein Hauptmerkmal des ersten Miasma ist, finden wir im zweiten

Chronischen Miasma Stagnation, ein Stehen bleiben, einen Rückzug auf sicheren

Posten. Dies ist die eine Seite, als Gegenpol finden wir genauso ziellose Hast, durch

Hang zur Übertreibung und Exzess kompensiert. Im Einzelfall kann jeweils die eine,

oder auch die andere Seite mehr in Erscheinung treten. Der Organismus kämpft

nicht mehr ums Ganze, sondern versucht in einer Art Patt-Zustand eine gewisse

Sicherheit zu finden. Wunden heilen nicht, noch werden sie zu Geschwüren, sondern

es bildet sich Granulationsgewebe, Keloide. Absonderungen erscheinen nicht mehr

als Produkt eines heftigen Entzündungsfiebers, aber der Körper hat auch nicht mehr

die Kraft, den Erreger zu überwinden – so suppt die Absonderung, als Nebenhöhlen-,

Zahnwurzelentzündung, oder sonstiger Ausfluss dick-grünlich-eitrig, oder klebrig vor

sich hin. Der Mensch klebt sich an bestimmte Standpunkte, entwickelt neurotische

Fixationen oder fixe Ideen, oder er sucht Extreme, - sondert sich damit ab von

Lebensganzen, was zu rigiden Verhaltensmustern, wie auch Lebensfremdheit und

wirren Zuständen führen kann. Häufig gibt es auch Probleme mit dem Wasser, dem

Feuchten als Lebens-Träger, mit einem zuviel an Feuchtigkeit, Zurückhaltung von

Flüssigkeit im Gewebe. Dies ist was Grauvogel die hydrogenoide Konstitution nennt.

Probleme der entwässernden Organe (Niere, Blase) und des Genitalsystems als

lebensschaffendem Bereich; von der Gonorrhöe kann das Miasma auch seinen

Ausgang nehmen, ebenso wie das syphilitische, in welchem Lebens-Erzeugung

schließlich ganz pervertiert wird, zur Zerstörung hin. Es muss jedoch nicht jede

Gonorrhöe eine Sykose setzen, und nicht jede Sykose ist primär durch Gonorrhöe

verursacht. Die ordnenden, regulierenden Wesensanteile scheinen in der Sykosis

nicht mehr richtig ins Gefüge der Lebenskräfte einzugreifen, chaotisch sich

verselbständigende Wachstumsprozesse sind die Folge wie Warzen, Kondylome,

Polypen, Myome, Endometriose, gutartige oder gar langsam wachsende bösartige

Tumore (rasch zerstörender Krebs: syphilitisch). Ebenso können sich feinere

seelische Anteile und Triebleben voneinander sondern, Stimme und Ausdruck sind

nicht mehr recht beseelt, was entweder in Richtung Abkapselung und Introversion

führt, oder zu Verhärtungen. Ablagerung an den Gefäßen und im Körpergewebe,

Nieren- und Gallensteine gehören ebenso hierher. Wir finden die rigide Härte des

beherrschten Typs ebenso wie harte Rücksichtslosigkeit nach dem Motto nimm-was-

du–kriegen-kannst, vielleicht noch in der gleichen Person, mit sykotischer

Doppelmoral. Schwächen werden nach Möglichkeit zugedeckt, versteckt oder

kompensiert, der Patient bringt seiner Umgebung ein gesteigertes Misstrauen

entgegen und neigt zur Verstellung, so dass es schon feinerer Beobachtung bedarf

um die tiefe existenzielle Unsicherheit dahinter zu erkennen.

Zum besseren Verständnis der Sykose sollten wir die Arzneimittel Thuja,

Medorrhinum und Natrium sulfuricum gut studieren; ebenso haben deutlich

sykotische Anteile: Acidum nitricum, Argentum nitricum und viele andere, auch einige

„Antipsorika“ wie Calcium carbonicum, Lycopodium und Sepia.

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Einige Merkmale der Sykosis:

- hängt fest an eigenen Problemen

- Kompensationsverhalten: aufdringlich, anspruchsvoll, prahlerisch, sich selbst

überschätzend

- wirr, planlos, vergesslich oder aber rigide

- oder aber verschlossen, sich abkapselnd, brütend; bis hin zu

Lebensfremdheit; Entwicklung fixer Ideen, Stimmen hören, religiöse Tics usw.

- Überanpassung; oder aber Überreaktionen verschiedener Art

- Stagnation

- Misstrauen; nachtragend; fixe Ideen führen zu Neurosen

- Leseschwäche

- Überwiegend gutartige Neubildungen: Warzen, Muttermale, Fibrome;

Papillome; Zysten, Myome, Prostatavergrößerung, Polypen; Neigung zu

Verwachsungen nach Operationen; zu viele Haare am falschen Ort

- fettige oder ölige Haut; eher dicke Haut, grobporig; Orangenhaut

- Hauterscheinungen: meist nicht juckend

- Psoriasis

- angeborene Fehlbildungen, wie doppelte Nieren, Herzfehler, Hasenscharte

o.ä. (Defekt-Fehlbildungen teils auch syphilitisch)

- schleichende, verlangsamte Abwehrreaktionen des Organismus; sehr

langsame Rekonvaleszenz

- dicke, gallertartige oder grüngelbe Absonderungen

- fischartige oder faulige Gerüche oder Absonderungen oder Mundgeschmack /

-Geruch

- chronifizierte Entzündungen; chron. Nebenhöhlenaffektionen; Abszesse;

Zahnwurzelentzündungen

- krampfartige Schmerzen in verschiedenen Bereichen

- Ablagerungen in verschiedenen Körperregionen

- Steinbildung (Niere, Gallenblase)

- Strikturen

- Thrombosen

- Steifigkeit und Lahmheit

- Erkrankungen mit funktionellen Einschränkungen wie Gicht, deformierende

rheumatische Prozesse, Arthrose, degenerative Herzschäden

- Hypercholesterinämie; Gefäßablagerungen

- Pilzerkrankungen

- Wasserretention

- Schlechter durch Unterdrückung der Absonderungen oder Warzen; durch

Feuchtigkeit; tagsüber

8. Die „Syphilis“

Im syphilitischen Miasma ist Zerstörung zentrales Thema. Keine Hoffnung ist mehr

zu sehen, der Kampf scheint ohnehin aussichtslos, es gibt nichts zu gewinnen.

Darum ist es auch egal, ob sich das Aufbäumen der restlichen Lebensenergie für

oder gegen irgendwas oder jemanden richtet. Die Härte des sykotischen Typs

steigert in der Syphilis zur Destruktivität, je nach Typus kann es dann auch mal

Messer oder Pistole sein, die dann gegen den anderen oder auch gegen die eigene

Brust gerichtet wird. Aber nein, wer ist denn so durchgeknallt, viel häufiger tobt sich

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die Syphilis doch in körperlichen Prozessen aus, in tiefen Geschwüren, in

schnellwachsendem Krebs, plötzlichen Herzinfarkt, auf jeden Fall in Prozessen die

eher unmerklich beginnen um dann unaufhaltsam fortzuschreiten, zur Vernichtung

innerer Organe wie Herz, Zentralnervensystem oder gleich des Gesamtsystems hin –

AIDS gehört auch hierher, ebenso Alzheimer, letzterer auch mit sykotischen

Komponenten. Zwanghafter Ordnungsfimmel, Pedanterie und Rituale wie z.B.

Waschzwang können evtl. als unbewusster Versuch verstanden werden, die

destruierenden Komponenten in Schach zu halten – hier sieht man eine Art

Übergang von der Sykose zur Syphilis. Wenn sich die Destruktion ganz im

psychischen auslebt, kommt es zu Sucht oder Psychosen.

Zum Verständnis der Syphilis sollten wir Mercurius, Aurum und Syphilinum

(=Luesinum) gut studieren. Ebenso sind stark syphilitisch: Acidum nitricum

(sykotisch-syphilitisch), Kalium jodatum, Kalium bichromicum, Arsenicum album

(psorisch-syphilitisch), Silicea (psorisch-sykotisch-syphilitisch-tuberkular), Arsenicum

jodatum, Kreosotum, Carbo animalis und andere.

Einige Merkmale der Syphilis:

- Unberechenbarkeit, Unzuverlässigkeit, Abneigung gegen Verantwortung

- plötzliche Aggressivität; konfrontativ

- geringe Toleranzbreite an Einflüssen, die vertragen werden

- melancholisch-introvertiert-undurchschaubar

- Suizidneigung, spricht kaum darüber

- Suchttendenz

- Gefühllosigkeit: seelische Härte; relative Schmerzlosigkeit von Beschwerden

- Rechenschwäche; kein logisches Denken

- Innere Organe wie Nervensystem, ZNS, Herz und Knochen werden rasch in

Mitleidenschaft gezogen

- Degenerative Prozesse, die eher schleichend beginnen, um umso sicherer

und zum Schluss beschleunigt auf einen Endpunkt der Destruktion

zuzusteuern, oft vorher völlig unbemerkt

- Tiefe Geschwüre, Fisteln Fissuren, zerstörende Eiterungen

- Schnell wachsender Krebs, perniziöse Anämie, tödlicher Infarkt „aus heiterem

Himmel“, fortschreitende Leberzirrhose, Parkinson, Myastenia gravis,

amyothrophische Lateralsklerose, rasch fortschreitende Multiple Sklerose,

Lepra, Alzheimer, HIV

- Destruktive Entmineralisierung: Störung des Knochenbaus und der

Zahnbildung; rasches Verfaulen der schlecht gebildeten, gezackten Zähne

- Knochen- und Knochenmarksentzündungen; nächtliche Knochenschmerzen

- Reichliche, stinkende, scharfe Absonderungen

- Schweißneigung, Zustand aber eher schlimmer durch Schweiß

- Blutungsneigung

- Hauterscheinungen: nicht juckend

- Häufige Fehlgeburten; Azoospermie

- Plötzliche Abneigung gegen Fleisch (Ca-Verdacht!!)

- Schlechter nachts, von Sonnenuntergang bis Aufgang

- Besser im Gebirge

- Familienanamnese: Sucht, früh Herzinfarkt oder Schlaganfall, Häufung o.g.

Krankheiten

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Grundsätzlich ist noch anzumerken, dass ein einzelnes Symptom oder eine

bestimmte Pathologie alleine meist noch nicht reicht, um auf den miasmatischen

Hintergrund zu schließen. Das Wie der Symptome ist, wie überall in der

Homöopathie, von großer Bedeutung. So sind Polypen primär sykotisch, wenn sie

jucken deutet es aber auch auf einen psorischen Anteil, wenn sie leicht bluten auf

eine syphilitische oder tuberkulare Komponente. Asthma „an sich“ steht zwischen

Psora und Sykose, mehr psorisch betont ist Asthma bei Aufregung oder als Folge

unterdrückter Hautausschläge; langsam fortschreitendes, bei Feuchtigkeit

verschlimmertes Asthma ist sykotisch; ebenso Asthma nach Keuchhusten; Asthma

nach Pneumonie mehr tuberkular. Juckende Psoriasis ist mehr psorisch, nicht

juckende sykotisch. Neigung zur Narbenbildung bei Wunden ist primär sykotisch;

empfindliche Narben sind psorisch-sykotisch; eiternde oder wuchernde Narben

sykotisch; Narben die sich mehrmals öffnen und wieder schließen haben eine

tuberkulare Tendenz; Blutvergiftung und Gangränbildung gehört der Syphilis an. Ein

Magengeschwür das stark brennt und Schmerzen verursacht ist psorisch; ei

sykotisches Magengeschwür verursacht weniger Beschwerden, wird evtl. nur zufällig

entdeckt wenn es schon ein gewisses Alter hat; das syphilitische Magengeschwür

entsteht ebenso unbemerkt kann aber ohne jede Vorwarnung zur

lebensbedrohlichen Perforation führen. Ein psorisch-Depressiver hat vielleicht

häufige Selbstmordgedanken, der Sykotiker will sich umbringen und hat zugleich

Angst davor, will ebenso weiterleben. Der Syphilitiker erforscht die Möglichkeit sich

umzubringen sehr konkret – und dabei weiß vielleicht nicht einmal seine Frau davon.

Insgesamt möchte ich für den Anfang empfehlen, die Miasmen zuerst als Ganzes,

als Prozess zu verstehen und sich nicht (sykotisch) an den Einzelheiten aufzuhängen

oder sich zu sehr den Kopf zu zerbrechen, ob dieses oder jenes Symptom psorisch,

sykotisch, tuberkular oder syphilitisch ist.

9. Die Miasmen als Stadien einer Entwicklung

In der homöopathischen Literatur bekannt ist das „Bergsteigergleichnis“. Unser

Bergsteiger macht sich erst guten Mutes auf den Weg. Dann merkt er, dass er sich

immer mehr anstrengen muss um sein Ziel zu erreichen, er kommt öfters außer

Atem, rutscht auch mal ein Stück wieder zurück, immerhin geht es noch weiter

(Psora) bis im nächsten Stadium (Sykose) kein Vorwärtskommen mehr möglich ist.

Vielleicht macht er noch einige vergebliche Versuche und rennt los, ohne viel zu

bewirken (Hast), schließlich richtet er sich ein auf die Tatsache, dass er festsitzt

(Stagnation). Am Ende (Syphilis) zeigt sich die Aussichtslosigkeit der Situation in

ihrer ganzen Tragweite, und der Bergsteiger gibt sich auf, oder stürzt ab.

In dieser kleinen Geschichte erkennen wir die Miasmen als verschiedene Stadien

eines Lebenskampfes. Rajan Sankaran gibt in ‚Substance of Homeopathy` weitere

Beispiele, und bindet dabei die vor allem im Kindesalter gegebene Neigung zu

akuten Krankheiten als ‘akute Miasma’ mit ein.

Beispiel: Ein Hund fällt jemanden an. Ein Kind reagiert panisch. Der Erwachsene

versucht mit Steinen oder anderen Mitteln den Hund zu vertreiben. Ein älterer,

schwächerer Mensch bleibt fest auf seinem Platz stehen oder sitzen, um mit einem

Stock o. ä. den Hund wenigstens in einer gewissen Entfernung zu halten. Ein

wehrloser Greis ergibt sich.

Oder (noch mal im Gebirge, diesmal mit dem Auto, und ohne dabei alt zu werden...):

auf einsamer Straße gibt es einen Knall, und das Auto schwankt. Also hältst du

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instinktiv und steigst aus, dein Herz klopft, du beginnst zu schwitzen und bist ziemlich

panisch(akut). Aus dem Auto draußen, merkst du dass bloß der Reifen geplatzt ist.

Die Panik geht zurück, da keine unmittelbare Gefahr besteht. Du versuchst alles, den

Ersatzreifen zu montieren, und weißt nicht recht wie es geht (Psora). Schließlich

merkst du, dass es nicht zu schaffen ist. Rauchst erst mal eine, wartend ob vielleicht

jemand kommt der helfen kann (Sykose). Nach vielen Stunden verlierst du jede

Hoffnung, trittst zornig das Auto und legst dich apathisch hin, egal was weiter

passiert.

Die Miasmen sind in keiner Weise an irgendein Alter gebunden. Es scheint aber

gewisse archetypische Entsprechungen zu den Lebensaltern zu geben:

Ein kleines Kind, würde vor dem in der ersten Geschichte genannten Berg eher

zurückschrecken, in einer instinktiven, unmittelbaren Reaktion. Sofortige, starke

Antworten des Organismus, wie schneller Puls, hohes Fieber und Blutandrang sind

für die ‚akuten Miasmen’ typisch. Wie wir schon vorher gesagt haben, gibt es einen

Entscheidungskampf – baldige Genesung oder Tod. Auch bei Erwachsenen erleben

wir gewisse kindliche, unschuldige Elemente in Fällen akutmiasmischer

Erkrankungen, wie Influenza, Darmgrippe usw...

Die Jugendliche und junge Erwachsene befindet sich eher in einer Phase des

Kampfes und Durchsetzung und Anerkennung, er hat sich auf eigene Füße zu stellen

und mit der Welt auseinander zusetzen. Aus einem psorischen Verlustgefühl heraus

kämpft er um sein Ego, verbunden mit Selbstzweifel oder Ängstlichkeit. Die

körperliche Beschwerden auf dieser Stufe sind überwiegend funktioneller Natur, zum

Beispiel Kopfschmerzen oder Menstruationsstörungen. Sie können starkes

Unwohlsein verursachen, sind aber nicht bedrohlich. Auch reagiert der sich ‚seiner

haut wehrende’, meist jüngere Mensch empfindlich auf allerlei Einflüsse seiner

Umgebung, wie Lärm, Gerüche und so weiter. Auf psychischer Ebene sehen wir eher

psychosomatische Beschwerden, als Neurosen.

Nach langen Kämpfen und vielen Niederlagen wird das psorische Verlusterlebnis in

der Sykose zu einem tiefen Gefühl nicht mehr zu überwindender Schwäche, diese

wird also zugedeckt. So sehen wir beim Erwachsen mittleren Alters, wie Schwächen

kompensiert werden, wie ein gefundene Lebensform in einem zunehmende Starrheit,

in ein festes Weltbild, eine rigide Lebenshaltung hineinmündet. Man gibt sich

zufrieden, ist eher damit beschäftigt überhaupt zu Recht zu kommen, als dass man

noch um seine Freiheit kämpft. Auch physisch ‚hängt’ der Abwehrkampf, zieht sich

auf bestimmte Punkte zurück. Die Genesung wird damit unwahrscheinlich, aber die

Situation ist noch nicht verzweifelt. Absonderungen werden dick und grüngelb,

hängen klebrig herum oder werden in Abszessen eingekapselt. Aufgrund

mangelnder Fähigkeit zu angemessenen Antworten gibt es Überreaktionen auf

spezielle Reize (z. B. Allergien). Keloide sind ein gutes Beispiel, wie der reaktive

Mangel bei einer Wunde zu einem übertriebenem Reparaturversuch führt. Die

Krankheit auf dieser Stufe sind auch noch nicht bedrohlich, aber führen zu ernsten

Einschränkungen: Arthritis, Asthma, ischämische Herzstörungen und so weiter. Im

Zusammenhang psychischer Erkrankungen finden wir vorwiegend Neurosen

(natürlich in jedem Alter möglich – doch nehmen Neurosen auch den jungen

Menschen die sonst für die Jugend typische Flexibilität und innere Beweglichkeit).

Für den Greis schließlich (im Zuge einer krankhaften Entwicklung) gibt es keine

Hoffnung mehr, die Situation ist nicht mehr zu bewältigen. Die in der Sykose noch

sicher scheinenden Positionen können nicht mehr gehalten werden. Statt Kampf

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kommt es zu verzweifelten Handlung- und Reaktionsweisen und syphilitisch

zerstörenden Prozessen wie Ulcerationen, Gangrän, Parkinson, Herzinfarkt,

Osteoporose, Krebs und so weiter. Es ist, wie den eigenen Besitz zu verbrennen

beim Rückzug aus einem Krieg, Findet dieser Prozess auf geistig-seelischer Ebene

statt, äußert er sich in Psychosen.

Aber auch die Pubertät scheint eine Schwelle zu sein, in der syphilitische

Manifestationen wie Psychosen, Suchtkrankheit und Suizid (wie als ein Schatten der

in diesem Alter erwachend, potentiell lebensschaffenden Zeugungsfähigkeit) oft

erstmals deutlich werden.

Wie gesagt, ist kein Miasma auf irgendein Lebensalter festgelegt, allenfalls gibt es

gewisse innere Entsprechungen. Diese finden in einer relativen Häufung der

beschriebenen Prozesse im entsprechenden Alter ihren Ausdruck.

10. Viele Miasmen?

Psora, Sykose und Syphilis sind die drei klassischen chronischen Miasmen, jene die

Hahnemann in dieser Weise beschrieb. Später hatten viele Homöopathen

Schwierigkeiten mit dem Miasmenbegriff, im Zeitalter der aufkommenden

Naturwissenschaften schien dies allzu „mystisch“.

Teils wurde ersatzweise von „Diathesen“ gesprochen, ungefähr Ähnliches damit

gemeint. Die „lymphatische Diathese“ bezeichnet eine allgemeine Anfälligkeit des

Lymphsystems mit Erkältungsneigung, wie bei den meisten unserer antipsorischen

Mittel zu sehen. Die „harnsaure“, „lithämische“, oder „hydrogenoide“ Diathese

bezeichnet jeweils die der Sykose eigene Neigung zu Harnsäureansammlung, Gicht,

Steinbildung und Flüssigkeitsretention. Die „dyskrasische Diathese“ oder „Dyskrasie“,

zu Deutsch „schlechte Säftemischung“, kommt der Syphilinie am nächsten. Eine

völlige Gleichsetzung des Begriffs der Diathesen mit den Miasmen ist jedoch nicht

möglich; die Miasmen sind etwas Umfassenderes.

Andere Kollegen blieben bei den Miasmen, und beschrieben dazu noch die

„Tuberkulinie“, auch „Pseudo-Psora“, als ein eigenes Miasma. Dazu später. Heute,

mit der allgemeinen Renaissance der klassischen Homöophatie, tauchen immer

wieder nochmals neue Miasmen irgendwoher auf. Schon länger wird diskutiert, ob

Krebs als eigenes Miasma zu beschreiben ist oder nur eine Mischform darstellt,

polymiasmatisch wie eben auch das Arzneibild von Carcinosinum. Sankaran entwirft

die Bilder eines typhoiden und eines Malaria-Miasma, beides Mischformen zwischen

„akutem Miasma“ (das Sankaran pauschal als eigene Reaktionsform beschreibt) und

Psora bzw. Syphilis. Alle neu beschriebenen Miasmen lassen in dieser Weise

Mischungen der alten, „klassischen“ Miasmen erkennen, und doch mögen sie bis zu

einem gewissen Grad etwas Eigenes darstellen. Meinetwegen können wir auch

streiten, ob Orange oder Grün eigene Farben sind, oder nur Mischungen von Rot,

Blau und Gelb. Sicher ist es genauso berechtigt, jeder Arznei, die ordentlich und

umfassend für die Homöopathie geprüft ist, ihre eigene miasmatische Dimension

zuzuweisen. Damit hätten wir dann hunderte von Miasmen. Der Maßstab wird nicht

sein, ob das eine oder andere „richtig“ ist, nicht die Theorie, sondern ob wir damit zu

anwendbaren Erkenntnissen gelangen können. Für den Anfänger empfehle ich

daher, bei den klassischen Miasmen zu bleiben, ein Verständnis der darin

beschriebenen Prozesse zu gewinnen. Vielleicht noch einschließlich der

„Tuberkulinie“.

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11. Die „Tuberkulinie“

Die Tuberkulose war zu Zeiten des ersten Höhepunktes der Homöophatie, gegen

Ende letzten Jahrhunderts, eine weit verbreitete Krankheit die unzählige Menschen

zu einem langwierigem Siechtum brachte, das ab einem bestimmten Stadium

unaufhaltsam bis zum Tode fortschritt. Aus den umfangreichen Beobachtungen

dieser Erkrankung formte sich das Bild der Tuberkulose als Miasma mit eigenen

Zügen, wenn auch die Mischung psorischer und syphilinisch Elemente deutlich darin

zu erkennen war. Ein Kernpunkt des tuberkularen Miasma ist schon in dem Wort

„Schwindsucht“ enthalten, mit dem das spätere Stadium der Lungentuberkulose

bezeichnet wird. Im Arzneimittelbild von Tuberculinium und zu bestimmten Teilen

auch bei Phosphor, Iodum, Flouricum acidum, Rhus toxicodendron und anderen

finden wir eine Mischung von Sehnsucht und nicht zufrieden sein können mit dem

vorhandenen, ein nirgendwo zur Ruhe kommen, nie ankommen, immer unterwegs,

getrieben sein und sich verzehren im Versuch sein inneres Verlangen zu befriedigen,

als Lebens- oder auch Jenseits-Sehnsucht, auch Verlangen nach Dingen die

überhaupt nicht zu bekommen sind, eine Steigerung aller Verbrennungsprozesse,

und schließlich Unruhe, Schwankungen und Launen, Heftigkeit und bösartig

zerstörende Ausbrüche von Wut, oder nach innen die Organe zerstörende Prozesse.

Darin haben wir eine Kombination psorischer Unzufriedenheit und Mangelgefühls mit

syphilitischer Destruktivität, und doch auch eigene Komponenten. Psorische

Resorptionsstörungen verbinden sich in der Tuberkulinie mit Heißhunger und

übermäßiger Verbrennung, so dass wir an Rubriken denken wie „Abmagerung mit

Heißhunger“ oder „Appetit, Heißhunger mit Abmagerung“. Coulter vergleicht den

tuberkularen Zustand mit der Kerze, die an beiden Enden gleichzeitig brennt.

Irgendwann ist das System ausgebrannt, Erschöpfungszustände folgen und

fortschreitend zerstörende körperliche Leiden.

Einige Merkmale der Tuberkulinie:

- unzufriedene, aggressive Kinder, schwer zu lenken, schwer zu trösten

- absichtlich-intelligent destruktive Handlungen (Rubrik: „mutwillig“)

- zappelige, überaktive Kinder, starke Konzentrationsstörungen; Theater aus

Kleinigkeiten

- Zähneknirschen nachts

- Angst vor Tieren, vor großen Tieren; aber auch Brutalität und Grausamkeit

gegenüber Tieren

- innere Unruhe

- Bewegungsdrang, aber leicht erschöpft

- Suchen immer neue Anreize; starke Sexualität; unternehmungslustig;

verbrauchen dabei ihre Lebensenergie zu rasch

- Wechselhaftigkeit; Beschwerden wechseln den Ort; alternieren psychischer

und körperlicher Beschwerden; wechselt leicht Wohnort, Job, Partner; reist

gerne

- Abneigung gegen Routine, Druck, Disziplin und alles irgendwie Einengende;

unzuverlässig da immer mehrere Sachen im Kopf

- Hoffnungen und Ideen, bis zum letzten Lebenstag

- Hochgeschossen, schlanker Körperbau, schmaler Brustkorb; Hände und

Finger lang und schmal; schwaches Bindegewebe

- kalt-schwitzige Hände und Füße; brüchig-dünne Nägel

- dünne, durchsichtige Haut

- Zahnfleischbluten, Nasenbluten; Nasenbluten >

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- Schilddrüsenprobleme; Hyperthyreose

- essen Mengen und setzten nichts an, auch bei guter Nahrung

- Verlangen nach Dingen, gegen die zugleich eine Empfindlichkeit besteht:

Wind, kalte Getränke, Milch, Salz...

- reichliche Nachtschweiße, die vorübergehend erleichtern (aber auch

erschöpfen können)

- Verlangen nach kalter Milch; nach frischer Luft; nach Dingen die nicht

bekommen

- ständig Erkältungen

- vor allem Atemwege immer wieder befallen

- Lymphsystem betroffen; bei Kindern häufig ständig geschwollene Halsdrüsen

- Wiederholte Mittelohrentzündungen, Tubenkatarrhe, Anginen;

Rachenmandelvergrößerung; immer erkältet, Nase immer wieder verstopft

- Meningitis, Enzephalitis & Folgen

- Diabetes

- Tuberkulose; auch der Vorfahren

- Schlechter durch: unterdrückten Schweiß, vor allem unterdrückten

Fußschweiß; während Periodenblutung; Anstrengung: Gewitter; Mondphasen;

Fasten

12. Menschheitliche Bedeutung

Nun, wozu bräuchten wir die oben genannten syphilitischen Anteile auch offensiv

ausleben: lassen sich diese nicht im Gesamtgefüge und am allgemeinen

Bewusstsein und Gewissen vorbei viel besser woanders hin delegieren? Zum

Beispiel so, dass schließlich am langen Ende eine Kette sogenannter Sachzwänge

schließlich Strukturen dastehen, die nicht in Worten aber durch Fakten den

Jugendlichen vermitteln, dass sie nicht gebraucht werden, oder so dass Giftgas oder

Atombomben oder neue Viren immer noch legal produziert werden kann? Auch

unsere Gesellschaftsstrukturen sind vielfach miasmatisch behaftet, und bringen die

Miasmen wiederum neu hervor. „Schuld“, soweit dieser Begriff hier anwendbar, ist

nicht in jedem Fall der, bei dem sich irgendeine Krankheit zu einem bestimmten

Zeitpunkt gerade manifestiert. Kennen Sie das Spiel jenes Physiklehrers, der eine

Reihe von Kugeln frei an einen Stab hängt, davon eine anhebt und gegen die

anderen fallen lässt? Die bleiben nämlich alle unbewegt – bis auf eine letzte, die

ganz am anderen Ende in voller Stärke ausschwingt. Bevor einer mal erntet, was er

gesät hat, geht´s eine Weile rund. „Unterwegs“ können sich die Wirkungen, positiv

oder negativ, sogar vielfach verstärken durch Resonanz mit gleichschwingenden

Anteilen in den einzelnen Individuen. Andererseits kann, was wir als Krankheit

erleben, auf einer anderen Ebene schon Teil eines Heilungsprozesses sein. So

arbeiten wir in der Homöophatie ja auch nicht gegen, sondern (gleichsinnig) mit der

Krankheit, sie mit unseren Potenzen gewissermaßen „erhöhend“.

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Die heute so beliebte Karma-Philosphie kann unseren Blickwinkel doch auch

einschränken. Wie wollen wir wissen, was sich ein Mensch (außerhalb seines

Tagesbewusstsein) für sein Leben wirklich vorgenommen hat, nicht nur für sein

eigenes ‚Schicksal’, sondern auch im Strome der Arbeit am Ganzen? Eine Krankheit

kann einen Menschen auch auf etwas vorbereiten, damit einen Zukunftsaspekt in

sich tragen. Zur Frage des ‚Eingriffs’ ins Karma, durch Heilung: Wir stehen doch

ohnehin in der gegenseitigen Verantwortung jeder Handgriff ‚greift ein’, sich

herauszuhalten ist Illusion. Ist unterlassene Hilfe nicht genauso ‚Eingriff’, wie die

liebevoll gegebene? Wir sollten die Freiheit des anderen achten – doch das ist eine

andere Frage. Eine nur unterschwellig-manipulative Medizin möchten wir nicht.

Umso wichtiger für unsere heutigen Patienten, dass wir mehr und mehr in die Lage

kommen, sie in ihren seelischen-geistigen Prozess (freilassend, aber verantwortlich)

zu begleiten.

Ob sich jemand mit den spirituellen Zusammenhängen des Krankheitsgeschehens

auseinandersetzen will, das muss jeder selber wissen. Ich spreche diese Dinge auch

deswegen an, da einige Autoren über die Miasmenlehre in ein unerträgliches

Moralisieren hineingeraten! Die ‚Moral’, angenommen es gibt eine, ist sie eine

andere: ohnehin kann sich jeder nur an die eigene Nase fassen. Bedeutet nicht, am

gesellschaftlichen Kontext vorbeizublicken: reicht bis in dasjenige hinein, was

meinetwegen C. G. Jung das ‚kollektive Unbewusste’ nannte; ich sage statt kollektiv

lieber menschheitlich, denn letzteres ist der Gegenpol zum Individuum. ‚Kollektiv’ und

Masse haben nur im Vereinzelten, im Splitter, im Verlorenen ihren Gegenpart, oder

wir sprechen schon die Sprache derjenigen die nur verachten können oder Macht

suchen. Der syphilitische Diktatoren und ihrer sykotischen Handlanger, denen eine

psorisch geprägte `Masse` allzu leicht folgt.

Schon im Organon spricht Hahnemann von der Psora als ‚Übel’, von ‚uraltem

Ansteckungszunder’, als wie von jenem ‚Wurm’, der das Ganze (aus unserer Sicht)

schon seit Urzeiten verdarb. Aus Hahnemanns Schilderungen der Psora tritt, wie

Frische bemerkt, schon sprachlich die Signatur des ‚Wurmes’ hervor (wie in Org. §

81), gewissermaßen der Schlange des Sündenfalls. In moralischen, durchaus auch

theologischen Dimensionen fühlt Hahnemann den Ursprung der Psora, vermeidet

aber religiöse Schablonen.

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Arbeiten wir also mit der Umwandlung der persönlichen miasmatischen Anteile

zugleich am Lebensfeld im Großen? Nur gilt es zuerst, unser Verständnis von

Heilungsprozessen und Gesundheit mehr als je zu vertiefen, anstatt dem Wahn der

Machbarkeit zu verfallen. Letztem entstammen auch billige

Weltverbesserungsvorschläge, wie die sog. ‚eugenischen Kuren’ mit potenzierten

(deswegen leider noch keineswegs homöophatischen) Arzneien.