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Die Chronischen Miasmen
Abschnitt Seite
1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt? 1
2. Die Erforschung der Chronischen Miasmen 2
3. Zum Organon und zum Buch der Chronischen Krankheiten 4
4. Akute und Chronische Miasmen 6
5. Praktische Bedeutung der Lehre von den Chronischen Miasmen 7
6. Die „Psora“ 11
7. Die „Sykose“ 14
8. Die „Syphilis“ 15
9. Die Miasmen als Stadien einer Entwicklung 17
10. Viele Miasmen? 19
11. Die „Tuberkulinie“ 20
12. Menschheitliche Dimensionen 21
1. Der Miasmenbegriff – ein medizinhistorisches Relikt?
„Miasma“ bedeutet soviel wie „Ausdünstung“. Der Begriff entstammt noch Zeiten, in
denen man sich Krankheiten als Auswirkung schädlicher Dünste erklärte. Solche
„Dünste“ stellte man sich vor als Ausscheidung der Erde in bestimmten Gegenden
(z.B. in Malariagebieten; mal aria = schlechte Luft), sie können aber auch von
Mensch zu Mensch, z. B. durch die Atemluft übertragen werden (Epidemie).
Außerhalb der Homöopathie wird der Miasmenbegriff heute ganz der
Medizingeschichte zugerechnet.
Sind die „Miasmen“ in der Homöopathie damit ein überkommendes Relikt alter
Zeiten? Die Miasmenlehre Hahnemanns wird zwar auch unter Homöopathen
unterschiedlich eingeschätzt. Die Ursachen dafür haben allerdings mit dem gerade
erwähnten antiken und mittelalterlichen Miasmenbegriff weniger zu tun. Hahnemann
fand eine völlig neue und eigene Bewertung und Beschreibung der Miasmen.
Dazu war Samuel Hahnemann der erste Mediziner, der Kleinstlebewesen als Träger
epidemischer Ansteckung vermutete, lange bevor Koch, Pasteur etc. solche Erreger
verifizieren konnten. Es gibt Schreiben Hahnemanns an das preußische
Polizeiministerium, mit ausführlichen, ja peniblen Ratschlägen zu Desinfektion,
Hygiene und Quarantäne bei ausbrechenden Epidemien. Hatte nicht der Begründer
der Homöopathie, auch wenn er sich damals nicht damit durchsetzen konnte, da
schon eine weit konkretere Vorstellung von Krankheitsübertragung und Ansteckung
als die allermeisten Zeitgenossen? Warum gebrauchte er dennoch den Begriff der
Miasmen, beziehungsweise entwickelt diesen weiter?
Wenn wir die „homöopathischen“ Miasmen verstehen möchten, finden Wenige
Anlehnungsmöglichkeiten an allgemein vorhandene Ideen und Vorstellungen. Und
mehr noch als das Wort „Miasma“ können die Bezeichnungen Hahnemanns für seine
drei Chronischen Miasmen irreführen, wenigstens solange wir an den jeweiligen
Wortbedeutungen hängen bleiben: So bedeutet Psora soviel wie Krätzekrankheit
(Skabies), Sykose oder Sykosis heißt Feigwarzenkrankheit (Gonorrhöe, Tripper), und
auch für die Syphilis, das dritte Chronische Miasma, wählte Hahnemann den Namen
eines hinreichend bekannten Krankheitsbilde. Den Zugang finden wir weder von
„außen“, noch durch dogmatische ‚Gläubigkeit’. Wahrscheinlich gewinnen wir am
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ehesten ein Verständnis, indem wir uns unbefangenen-prüfend auf Hahnemanns
Gedankengänge, mehr noch auf seine Methodik einer entwickelten und
systematischen Beobachtungskunst einlassen. Dies bedeutet, mit auf die Reise zu
gehen und Hahnemanns Erkenntnisweg und Forschungsmethoden innerlich
nachzuvollziehen, anstatt nur über Ergebnisse zu diskutieren. Und wenn dabei dann
am Schluss noch Fragen offen bleiben, wenn gar neue Fragen dazukommen? Nun,
‚am Ende’ ist die homöopathische Forschung sicher noch nicht.
Zuerst zu den Grundlagen.
2. Die Erforschung der Chronischen Miasmen
Es gibt im Wesentlichen drei Stränge, die miteinander zur Entwicklung des
Chronischen Miasmenbegriffs führen. Dies möchte ich im Folgenden dann weiter
vertiefen:
a) Beobachtungen von Langzeit – Verläufen homöopathischer Therapie, Grenzen die
dabei deutlich wurden. Dies bedeutet, nach anfänglichen besten Ergebnissen zeigen
die Patienten wiederholt und schließlich immer häufiger Rückfälle, auch bei guter
‚Lebensordnung’ und relativ günstigen äußeren Umständen.
Rückfälle und Grenzen der Heilbarkeit:
Die Homöopathie wurde zu Lebzeiten ihres Begründers bekannt durch die
überwältigenden Erfolge bei akuten Seuchenkrankheiten wie Scharlach, Typhus und
Cholera. Weniger gut sahen dagegen Langzeitergebnisse aus bei Patienten, die über
viele Jahre immer wieder in Hahnemanns Praxis kamen: Nach anfänglich besten
Behandlungsergebnissen, beobachtete Hahnemann gehäuft Rückfälle, die sich bei
längeren Beobachtungszeiträumen von 10 und mehr Jahren bedenklich häuften.
Dazu reagierten die Patienten mit der Zeit immer weniger und schließlich kaum noch
oder gar nicht mehr auf die jeweils akut angezeigten Arzneien, die anfangs noch so
gut geholfen hatten. Auch wenn schon kleinste Diätfehler, Unregelmäßigkeiten oder
Zwischenfälle alle bisherigen Behandlungserfolge zerstörten, mochte Hahnemann
die Schuld daran nicht mehr den Patienten zuweisen (wie dies sonst in der
Naturheilkunde oft genug die Regel war). Aus dieser Unzufriedenheit heraus
erwuchs das Bedürfnis, die homöopathische Heilkunst weiter zu entwickeln.
Schonungslose Selbstkritik war also der Beginn dieses Kapitels der Homöopathie,
wie wir auf den ersten Seiten des für die Miasmen-Lehre wichtigsten Werk
Hahnemanns, dem theoretischen Teil der ‚Chronischen Krankheiten’, lesen können:
„[Der]Anfang [homöopathischer Behandlungen bisheriger Art] war erfreulich die
Fortsetzung minder günstig, der Ausgang hoffnungslos...“
b) Beobachtung der Fortentwicklung bestimmter Krankheitstendenzen und
Krankheitsdispositionen innerhalb der Biographie, sowie über Generationsfolgen
hinweg. Untersuchung möglicher Beziehungen bestimmter Erkrankungen der
Vorfahren eines Patienten zu den gegenwärtigen Schwächen und Leiden des
Patienten selbst; Aufdeckung der Folgen von Symptomunterdrückung.
Fortentwicklung von Krankheitstendenzenden:
Um der Natur der Chronischen Krankheiten auf die Spur zu kommen, sammelte
Hahnemann über zwölf Jahre ausführlich Daten zu gegenwärtigem Zustand,
Geschichte und Vorfahren seiner Patienten. Es war die Frage nach Anfang und
Ende, innerhalb der Krankheitsgeschichte und auch darüber hinaus, nach der Wurzel
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all dessen was die Gesundheit wie ein verborgener Herd zu untergraben schien,
Rückfälle bewirkend nach anfänglichen vielversprechenden Heilungsverläufen.
Zusammenhänge wurden deutlich zwischen Erkrankungen, die zu verschiedenen
Zeitpunkten aufgetreten waren und es gab eine Fortentwicklung in der Art und
Richtung der Beschwerden.
Sobald bestimmte Einflüsse erst einmal Fuß gefasst hatten fand die beschriebene
Negativentwicklung schon im natürlichen Lebensgang statt. Alle Behandlungen, die
eine nur oberflächliche, doch oft gewaltsame Vertreibung einzelner Symptome zum
Ziel hatten, schürten jedoch den verborgenen Krankheitsherd. Dies war nur allzu
offensichtlich, sobald man über momentane Erleichterungen der jeweiligen
Lokalsymptome hinausblickte. So fand auch die Problematik unterdrückender
Behandlung eine präzise Beschreibung.
Auch Vererbung – allerdings in einem umfassenderen Sinne, als dieses Wort heute
gebraucht wird – spielte eine Rolle. Die Krankheitsdispositionen wurden jedoch
selten unverändert und in genau der gleichen Form weitervererbt, sondern sie
änderten sich oft in Erscheinungsweise und Auswirkung von einer Generation zur
nächsten. Dennoch ließen sich Beziehungen beschreiben von bestimmten
Krankheitserscheinungen der einen Generation zu ganz bestimmten anderen
Krankheitserscheinungen der Nachkommenschaft.
c) Beobachtung des Generellen, Charakteristischen, des „roten Fadens“ innerhalb
einer großen Vielzahl von Einzelerscheinungen.
Das Generelle und Wesentliche aus einer großen Anzahl von Einzelerscheinungen
herauszuextrahieren, das ist schon für die gewöhnliche Arzneifindung täglich Brot
der Homöopathen. Zu Beginn eine große Anzahl von Symptomen – am Schluss steht
ein Mittel. In der Betrachtung akuter, epidemischer Krankheiten ging Hahnemann
noch einen Schritt weiter: die Seuche überschwemmt gewissermaßen die individuelle
Reaktionslage, der einzelne Kranke zeigt nur einen Teil der Symptomatik. So wie
einzelne Symptome des individuellen Patienten nur als Glieder einer größeren
Gestalt zu verstehen sind (eben der Symptomengesammtheit oder des ‚Symptomen-
Inbegriffs’), so sind die an der Epidemie erkrankten Patienten wiederum nur Teile
einer größeren Gesamtheit. Über der Einzelerscheinung steht, auch als Arznei-
Indikation, das (Arznei-)bild der Epidemie selbst. Dieses ist aber nur mit dem
jeweiligen Aufflackern einer Seuche verbunden und kann keineswegs am Namen der
Krankheit oder des Erregers festgemacht werden (vgl. Org. §§ 100 – 102). Spätere
Homöopathen sprachen dann auch von einem „Genius epidemicus“, als wie von
etwas Wesenhaften, z. B. der Grippewelle der jeweiligen Saison, die dann auch mit
einigen wenigen Mitteln zu bewältigen ist, sobald diese bekannt. Den Begriff „akute
Miasmen“ findet Hahnemann in Anlehnung an den Sprachgebrauch seiner Zeit,
zumindest geeigneter zur Beschreibung der akuten Epidemien, als die damals schon
ebenso üblichen klinischen Bezeichnungen (bgl. Org. Anm. § 73; Anm. § 81). So wird
durch eine Vielzahl einzelner Erscheinungen hindurch auf eine Gesamtheit, eine
Ganzheit geschaut – eben nichts anderes, als was der Homöopath auch im
individuellen Fall tut, auf`s Große übertragen. Vergleichbar ging später Hahnemann
Erforschung der chronischen Miasmen vor sich.
So war nun der nächste Schritt, die Methodik detaillierter Beobachtung und
Generalisierung des Typischen nun auf chronische Krankheitsprozesse
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anzuwenden. Geschärfte Sinneswahrnehmung auf`s Einzelne, eine geweitete
Schau auf`s Ganze und wissenschaftliche Systematik, vereinigt in einer
nachvollziehbaren und lehrbaren Methodik sind das Handwerkszeug, mit dem
Hahnemann sich auf den Weg macht. Erst mit diesen Mitteln ist der Miasmenbegriff
auf dem diffusen Wirrwarr seiner Zeit herauszulösen und formt sich spätestens in der
Beschreibung der chronischen Miasmen zu etwas eigenem und neuem.
Hahnemanns generalisierendes Vorgehen mündet schließlich bei drei Grundformen,
die gewissermaßen Boden und Wurzel zahlloser anderer Erkrankungen bilden. Eher
symbolisch, stellvertretend benennt er diese „Miasmen“ mit dem Namen drei
verschiedener Krankheiten. Kurz gesagt:
• Die „PSORA“ (Krätzekrankheit) bedeutet Defizit und Mangel in weitestem
Sinne, von subjektivem Verlustgefühl bis zur organischen Unterfunktion.
• Die „SYKOSIS“ (Feigwarzenkrankheit, chronifizierte Gonorrhöe) steht
zugleich für Überproduktion, Übertreibung, und Stagnation.
• Die „SYPHILIS“ führt schließlich in zerstörende Prozesse.
... Nach Hahnemann wurden noch weitere Miasmen beschrieben, vor allem die
„TUBERKULINIE“: eine Art Mischform von Psora und Syphilis; Unzufriedenheit ein
Stichwort dazu. Alle diese Miasmen werden im Folgenden noch näher erläutert.
Über Jahrzehnte der Auseinandersetzung mit dem Vielfältig-Komplizierten kommt er
wieder zu einem scheinbar Einfachen... Zum Teil mag dies erinnern an viele ältere
Traditionen, die menschliches Leben und Leiden im Spiel und Gleichgewicht
bestimmter Grundkräfte sehen: die ayurvedische Tridosha – Lehre, die antike
Viersäfte- und Vier-Elemente-Lehre, oder Yin und Yang und die fünf
Transformationszustände der chinesischen Medizin, usw. in solchen Lehren handelt
es sich um kosmische Grundenergien, die das Universum aufbauen. Hahnemann
beobachtet dagegen „lediglich“ bestimmte Krankheitsströme, die die
Menschheitsgeschichte durchziehen, da ist ein klarer Unterschied. Dennoch möchte
ich, ohne vorschnell Parallelen zu ziehen oder irgendetwas in Zuordnungen
hineinzupressen, behaupten das dieses „Ankommen“ bei quasi archetypischen
Grundformen nicht zufällig ist. NEU ist jedoch die oben angedeutete
Forschungsweise. „Wissen“ ist nun nicht mehr komische Offenbarung oder heilige
Überlieferung, sondern will vom forschenden, kritischen Menschen selbst errungen
werden (siehe „Die Lehre Hahnemanns, Geistes- und Naturwissenschaft“). Die
phänomenologische Forschungsweise Hahnemann deutet auf die Möglichkeit eines
dritten Wegs zwischen regressivem Streben zu dem, was sich in alten Zeiten
inspirierter Schau erschloss, und seelenfremder „moderner“ Wissenschaft.
3. Zum Organon und zum Buch der Chronischen Krankheiten
Es besteht ein gewisser Kontrast zwischen der Lehre der Homöopathie, wie im
Organon dargestellt, und Hahnemanns Lehre von den Chronischen Miasmen,
erstmals veröffentlicht und umfassend beschrieben in seinem Buch „Chronische
Krankheiten, theoretischer Teil“ (die weiteren Bände sind Arzneimittellehre). Schon
im Stil wird dies deutlich: Das eine klassisch, präzise, dicht und inhaltsreich, fast
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jeder Paragraph gibt genug her um länger damit zu arbeiten, Längen nur dort wo der
Autor polemisch wird, kurz: das Konzentrat einer in sich geschlossenen, reifen Lehre.
Dagegen die „Chronischen Krankheiten“: Oft langatmig, erst in vielen Schleifen oder
Serpentinen sich auf das eigentliche Ziel der Aussage hinbewegend. Das „Organon“
und seine Vorläufer: Lehrbuch, teilweise auch Kampf-Buch, das Werk, mit dem
Hahnemann die Homöophatie in die Öffentlichkeit stellte und lehrbar machte. Der
theoretische Teil der „Chronischen Krankheiten“: Ein Werk, mit dem sich Hahnemann
nach 12 Jahren Miasmenforschung an die Homöopathen seiner Zeit wandte, um
ihnen noch etwas ganz anderes zu vermitteln als alles, woran man sich nun endlich
als Homöopath gewöhnt hatte.
Was war dieses Andere???; war Hahnemann möglicherweise so ausführlich, kam er
deswegen immer wieder auf die gleichen Punkte zurück, da er die eingefahrenen,
bisher gelehrten Denkstrukturen seiner Schüler aufbrechen wollte? In dem Fall stellte
Hahnemann, ganz im Unterschied zu seiner sonst häufig kämpferischen Sprache, in
den chronischen Krankheiten erstmals seine eigene Arbeit grundlegend in Frage. Zu
einem Zeitpunkt, da die Homöopathie große Erfolge errungen hatte bei der
Behandlung akuter und epidemischer Krankheiten, bezeichnet er seine bisherige
Arbeit als weitgehenden Misserfolg. Dies zwang zu einem Umdenken, einem
Brechen mit (homöopathischen) Gewohnheiten, und davon sollten auch die Kollegen
überzeugt werden. Genau unterschieden werden Störungen infolge von Diätfehlern
und falscher Lebensweise, chronische Krankheiten die iatrogen = überhaupt erst
durch bestimmte Medikamente oder andere Behandlungsmaßnahmen entstanden
sind, und den „echten“, miasmatischen chronischen Krankheiten. Letztere sind allein
durch Diätmaßnahmen nicht mehr zu heilen. Nichtsdestoweniger gehören
angemessene Ernährungs- und Lebensweise zu den Grundvoraussetzungen
dauerhafter Heilung. Die in den „Chronischen Krankheiten“ und im „Organon“
gegebenen Empfehlungen gehen in Richtig einfache Kost und Vermeidung aller
arzneilichen Störfaktoren wie auch Kaffee, genügend Bewegung an frischer Luft vor
allem für Menschen mit sitzenden Berufen, aber auch kein Übermaß an Stress, keine
Orgien und Saufgelage und (wohl am schwierigsten zu verschreiben...) auch kein
„moralisch und psychisch nachteiliger Umgang“. Rigide Maßnahmen, bis hin solchem
Unfug zum Verbot ehelichen Verkehrs (damals bei „Naturheilärzten“ durchaus drin!)
lehnte Hahnemann als unsinnig und schädlich ab. Auch seien eine unglückliche Ehe,
ein nagendes Gewissen, anhaltender Kummer oder Gram und dauernde Ärgernisse
weitaus gesundheitsschädlicher als Entbehrungen und Strapazen, harte
Arbeitsbedingungen und ungesundes Klima.
Die in den „Chronischen Krankheiten“ angesprochenen Fragestellungen zu einer
Langzeit-Behandlungsstrategie müssen wir heute auf für unsere Zeit passend selbst
beantworten können: das betrifft die weitere Einnahme allopathischer Medikamente
ebenso wie die Beratung hinsichtlich eventueller operativer Eingriffen,
Zahnsanierung, und Hinweise zu sog. „Selbsthilfemaßnahmen“ und Hausmitteln bei
akuten Ereignissen.
In den „Chronischen Krankheiten“ finden wir auch Symptomlisten der verschiedenen
Miasmen, sowie eine Reihe praktischer Hinweise. Dazu gehören Angaben zur
Behandlung gemischt-miasmisch Kranker, und Tipps zur Vermeidung von
Anfängerfehlern oder Schludrigkeiten wie zu große oder zu häufige Arzneigaben,
oder Arzneiwahl allein nach Repertorium. Nach dem Organon, Basislektüre für jeden
angehenden Homöopathen!
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4 Akute und Chronische Miasmen
Wie schon unter Abschnitt 2c erwähnt, gebrauchte Hahnemann den Miasmenbegriff
in verschiedener Weise sowohl für die epidemischen, akut verlaufenden Krankheiten,
wie für chronische Prozesse (vgl. Org. §§ 73, 78 ff, 204 ff).
Folgend sehen wir Merkmale zur qualitativen Unterscheidung chronischer und akuter
Störungen. Diese qualitative Wahrnehmung ist für die Praxis außerordentlich wichtig,
und nicht irgendein theoretisches Limit, z.B. wie viele Wochen jemand in den letzten
zwei Jahren schon gehustet hat oder so.
â Folgendes kennzeichnet den Ausbruch akuter Miasmen:
• Nach erfolgter Ansteckung ist der ganze Organismus beteiligt, und bringt
deutliche Symptome nach außen
• Der Organismus hat die Tendenz, die Belastung durch die Krankheit von
innen nach außen abzuwerfen, besonders deutlich zu sehen z. B. bei den
Kinderkrankheiten mit Hautausschlag in der Heilungsphase.
• Entweder gelingt dieses, und der Mensch wird wieder ganz gesund, oder es
gelingt nicht und der Organismus unterliegt: auch unbehandelt Tendenz zu
Selbstheilung, oder aber Tod.
â Dagegen stehen die Merkmale der chronisch miasmatischen Erkrankungen:
• Nach erfolgter Ansteckung ist der ganze Organismus beteiligt, jedoch sind
äußere Symptome anfangs spärlich, dann auch über längere Zeiträume ganz
verborgen.
• Am Anfang steht ein vergleichsweise harmloser Affekt von Haut oder
Schleimhaut. Das können (müssen aber nicht) sein: Krätzeausschlag, primäre
Gonnorrhoe oder Primäraffekt der Syphilis. Erst viel später folgen schwere
Organschäden (vgl. z. B. Reiter`sche Trias; tertiäre Syphilis). Wir haben ein
unaufhaltsames Fortschreiten von außen nach innen; in späteren Stadien
sind zunehmend lebenswichtige Funktionen betroffen.
• Der Organismus ist nicht in der Lage, einen Entscheidungskampf zu
provozieren. Unbehandelt sehen wir eine, anfangs meist unmerkliche
Tendenz zu steter Fortentwicklung des Zustandes. Besonders im Jugendalter
und bei jungen Erwachsenen gibt es häufig längere Latenzzeiten, das
chronische Miasma „schläft“ gewissermaßen. Im Laufe des Lebens bringt das
verborgene miasmatische Grundleiden Krankheitserscheinungen hervor. Die
sich im Einzelnen durchaus ändern können, und darum vom ungeschulten
Beobachter meist nicht mehr in Zusammenhang miteinander gebracht
werden. Diese Entwicklung wird selbst durch beste Lebensführung kaum
aufgehalten, so daß das unbehandelte Miasma den Menschen von der Wiege
bis zum Tode begleitet und zahlreiche Leiden beschert.
• Die chronisch-miasmatischen Belastungen können im Laufe des Lebens
erworben, ebenso jedoch auch an die Nachkommen vererbt werden. (Der
Vererbungsbegriff wird heute üblicherweise auf DNS-Informationen reduziert –
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die Möglichkeit dynamischer Übertragungen auf die Nachkommenschaft dabei
vernachlässigt.)
.......wahrscheinlich ist jeder Mensch zu gewissen Anteilen von allen beschriebenen
Miasmen betroffen.
5. Praktische Bedeutung der Lehre von den chronischen Miasmen
Hahnemann gibt bestimmte Mittel an als sogenannte „Antipsorika“, „Antisykotika“ und
„antisyphilitische Mittel“. Das heißt natürlich nicht (wie es einige Verschreiber gerne
hätten), dass die Notwendigkeit individueller Arzneigabe bei der Behandlung
chronischer Prozesse entfallen würde, oder wir nur noch eine Handvoll
verschiedener Arzneien bräuchten, um diesen chronischen Leidern beizukommen.
Von großer Bedeutung ist dagegen die Notwendigkeit, auch die chronische „Ebene“
beziehungsweise Tiefenschicht mitzubehandeln – sei es, dass dies mit einem
einzigen Mittel gelingt, sei es dass wir verschiedene Mittel nacheinander, über einen
längeren Zeitraum gegeben, dafür brauchen. Das Unvermögen chronische
Krankheiten wirklich zu heilen, kennzeichnet ja gerade die Situation der heute
offiziellen Medizin, trotz allen Fortschritten der Akutmedizin. Viele Patienten kommen
ja zu uns, weil sie nicht nur „sanfte Medizin wünschen sondern bereits erlebt haben,
dass andere Behandlungen nicht mehr als Symptomverschieberei erreichten, dass
allopathische Methoden weder degenerative Tendenzen noch Rückfälligkeit stoppen
konnten. Allenfalls unterdrücken um den Preis unangenehmer Nebenwirkungen.
Oft begegnen wir im Praxisalltag Mischformen akut-miasmatischer Erkrankungen, mit
vorhandenen chronischen Schwächen. Das ist, wenn sich ein Grippe, eine
Bronchitis, eine Lungenentzündung länger hinzieht, wenn sich der Patient nach
einem Magen-Darm-Infekt nicht recht erholt, wenn im gleichen Jahr schon die fünfte
Erkältung aufgetreten ist usw. Da reichen schon geringfügige Auslöser, um das Fass
der chronischen Belastung überlaufen zu lasen, oder, vorwiegend bei nicht mehr
ganz jungen Patienten, produziert das chronische Übel wie „von selbst“ irgendwelche
akuten Exerbationen (Ausbrüche), die den Menschen wie aus angeblich heiterem
Himmel überfallen. Werden nur diese Äußerungen, nicht aber der Mensch insgesamt
behandelt, so nehmen wir der weiterhin verbleibenden inneren Belastung ihr Ventil,
ihre Möglichkeit sich noch einigermaßen abzureagieren. Der Effekt: der miasmische
„Druck“ erhöht sich weiterhin und sucht sich entweder ein anderes Ventil, oder aber
es sind über kurz oder lang weiter innen liegende, lebenswichtige Organe von der
pathologischen Energie betroffen, bis hin zu malignen Prozessen. Innerhalb des
„syphilitischen“ Miasma ist schon per se die Tendenz vorhanden, dass sich die
Störung auf lebenswichtige Organe oder Funktionen richtet (Herzinfarkt oder
schnellwachsender Krebs aus angeblich „blühender Gesundheit“). Im Allgemeinen
jedoch hat der Organismus die Tendenz, Belastungen der Lebenskraft sich dort
austoben zu lassen, wo sie noch am wenigsten Schaden anrichten können. Wie wir
später noch sehen werden, zeigt sich vom psorischen über das sykotische bis zum
syphilitischen Miasma ein Weg des Zusammenbruchs jener Fähigkeit der
Lebenskraft, Störungen an relativ unschädliche Stellen hin „abzuleiten“, und damit
wenigstens eine gewisse Zeit lang in Schach zu halten. Siehe dazu auch Organon §
201.
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ORGANON § 201:
„Offenbar entschließt sich (instinktartig) die menschliche Lebenskraft, wenn sie mit
einer chronischen Krankheit beladen ist, die sie nicht durch eigne Kräfte bewältigen
kann, zur Bildung eines Local-Uebels an irgendeinem äußerem Theile, bloß aus der
Absicht, um durch Krankmachung und Krankerhaltung dieses zum Leben des
Menschen nicht unentbehrlichen Theils, jenes außerdem die Lebensorgane zu
vernichten und das Leben zu rauben drohende innerer Uebel zu beschwichtigen und,
so zu sagen, auf ein stellvertretendes Lokal-Uebel überzutragen, es dahin gleichsam
abzuleiten. Die Anwesenheit des Lokalübels, bringt auf diese Art die innere Krankheit
vor der Hand zum Schweigen, ohne sie jedoch weder zu heilen, noch wesentlich
vermindern zu können. Indessen bleibt immer das Lokal-Uebel weiter nichts, als ein
Theil der Gesammtkrankheit, aber ein, von der organischen Lebenskraft einseitig
vergrößerter Theil derselben, an eine gefahrlose (äußere) Stelle des Körpers hin
verlegt, um das innere Leiden zu beschwichtigen. Es wird aber, wie gesagt, durch
dieses die innere Krankheit zum Schweigen bringende Local-Symptom, von Seiten
der Lebenskraft für die Minderung oder Heilung des Gesammt-Uebels, so wenig
gewonnen, dass im Gegentheile dabei das innere Leiden doch allmälig zunimmt und
die Natur genöthigt ist, das Local-Symptom immer mehr zu vergrößern und zu
verschlimmern, damit es zur Stellvertretung für das vergrößerte innere Uebel und zu
seiner Beschwichtigung noch zureiche. Die alten Schenkelgeschwüre
verschlimmern sich, bei ungeheilter, innerer Psora, der Schanker vergrößert sich bei
noch ungeheilter innerer Syphilis und die Feigwarzen vermehren sich und wachsen,
so lange die Sykosis nicht geheilt ist, wodurch die letztere immer schwieriger und
schwieriger zu heilen wird, so wie die innere Gesammtkrankheit mit der Zeit von
selbst wächst.“
Unterdrückende Behandlungen sind leider auch mit homöopathischen Mitteln nur zu
gut möglich, bei oberflächlichem Verständnis der Homöopathie sogar regelrecht
vorprogrammiert! Aus diesem Grund möchte ich auch keinen Vortrag abschließen,
ohne beispielsweise die §§ 194–201 des Organon besprochen zu haben. Die
positive Seite der dort beschriebenen Gesetzmäßigkeiten ist eine gute
Langzeitprognose, wenn der Heilungsverlauf der Hering´schen Regel entspricht (von
innen nach außen, von oben nach unten...).
Ein chronisch und konstitutionell passendes Mittel zu finden, bedarf der gründlichen
Anamnese nicht nur des akut gegeben Zustandes, sondern eben des Gesamtbildes,
bis in die Biographie hinein. Eben letztere lernen wir wiederum besser verstehen
durch die Miasmenlehre, indem wir die Entwicklung unterschiedlicher
Krankheitsbilder in unterschiedlichen Lebensphasen aus einem Miasma so in
Zusammenhang bringen zu können. Dem Patienten gegenüber sprechen wir, um der
Verständlichkeit willen, eher von Konstitutionsbehandlung – gleichwohl behandeln
wir weniger die Konstitution, als die miasmatischen Beeinträchtigungen derselben.
Möglich ist eine solche „Konstitutionsbehandlung“ in jedem Alter, solange das
Biosystem über ausreichende Kräfte verfügt. Bei Kindern zeigt sie sich besonders
dankbar – sie verläuft im Allgemeinen noch leichter und schneller, da die inneren
Muster weniger gefestigt sind. Die Häufung bestimmter Krankheiten vor allem in den
ersten drei Lebensjahren (auch noch bis zum sechsten oder siebten Jahr) gibt den
Eindruck, dass das Kind als individuelles Wesen noch damit beschäftigt ist, mit dem
von den Eltern geerbten Leib irgendwie zurechtzukommen, diesen Leib an die
eigenen Bedürfnisse noch mehr anzupassen. Aus anthroposophischer Sicht sind
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beispielsweise die typischen Kinderkrankheiten aus diesem Prozess heraus zu
verstehen; aber auch die relativ häufigen Indikation (der in der anthroposophischen
Medizin wiederum nicht verwendeten) Nosoden bei Kindern und gerade bei kleinen
Kindern spricht dafür, dass in diesem Alter die Arbeit an den geerbten Mustern ein
großes Thema ist. Das kann durch homöopathische Behandlung wirkungsvoll
unterstützt, durch Impfungen dagegen eher gestört werden. Natürlich nicht Nosoden
geben, nur weil jemand noch Kind ist: Verschreibung immer streng nach Ähnlichkeit
der hierarchisierten Symptome. Auch unsere großen Antipsorika wie Calcium
carbonicum, Sulfur und so weiter kommen hier häufiger noch als sonst zum Zuge.
Impfungen können nicht nur, wie lange Zeit behauptet, ein sykotisches Miasma
setzen, sondern auch die anderen Miasmen steigern in einer Phase, in der der
Organismus zwar wohl auch nicht in der Lage ist, die vorhandenen Miasmen aus
eigener Kraft vollständig zu eliminieren, aber „Korrekturversuche“ im natürlichen
Gang eher noch drin sind als später.
Da die Chronischen Miasmen meist vererbt werden, fragen wir in der Anamnese
auch nach Erkrankungen, die bei Eltern, Großeltern, oder sonst in der Familie
gehäuft aufgetreten sind. Schwere Erkrankungen sowie bestimmte Leiden, die die
Konstitution tiefer prägen oder in besonderer Weise typisch sind für bestimmte
Miasmen, interessieren uns schon bei einmaligem Auftreten, ebenso
Todesursachen. Immer nach dem Alter der ersten Manifestation fragen: Herzinfarkt,
Schlaganfall oder Krebs ist mit 70 Jahren leider zu „gewöhnlich“, um noch als
Hinweis verwertbar zu sein, anders ist das natürlich bei Infarkt im 30sten Lebensjahr.
Unbedingt interessieren Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, Nervenleiden und
psychische Erkrankungen, Suchtkrankheit, Blutkrankheiten, Asthma und andere
Allergieprobleme, chronische Hautkrankheiten, angeborene Leiden oder
Fehlbildungen, sowie jugendlicher Diabetes und andere autodestruktive Prozesse.
Genauso wichtig bei erstem Auftreten in relativ frühem Alter, beziehungsweise bei
familiärer Häufung: Krebs, Schlaganfall, Herzkrankheiten, Rheuma & Arthritis,
Altersdiabetes und andere schwerere Leiden. Auch eine familiär verbreitete Neigung
zu gutartigen Wucherungen, wie Warzen Kondylome usw., evtl. auch Muttermale
sind Anzeichen einer miasmatischen – in diesem Fall sykotischen – Belastung.
Sykotische Symptome werden am ehesten in relativ gleichbleibender, stereotyper
Form weitervererbt – wie z. B. Warzen, Myome, und das schon so genannte
„Muttermal“. Die Psora erscheint verglichen damit eher wie eine vielgestaltige Hydra,
stets neue und kaum vorhersagbare Gestalten produzierend.
So kann die Familienanamnese mithelfen, die miasmatischen Muster und
Schichtungen eines Patienten zu erkennen. Damit sind wir noch nicht bei
irgendeiner bestimmten homöopathischen Arznei angelangt, aber die Kenntnis der
miasmatischen Struktur trägt dazu bei, eine sinnvolle Behandlungsstrategie zu
entwickeln. Dies gilt vor allem für jene Fälle, in denen wir mit einem einzigen Mittel
als Simile nicht durchkommen. So ist es möglich, dass ein Arthrose-Kranker
zunächst auf ein vorwiegend (anti)sykotisches Mittel recht gut reagiert, dann geht die
Therapie nicht mehr recht voran bzw. es kommen einige neue Symptome an die
Oberfläche, die nun mehr nach einem (anti)psorischen Mittel rufen. Ein Depressiver
benötigt in einer Krise mit starken Suizidgedanken möglicherweise Aurum, später
dann vielleicht eine mehr psorische Arznei wie z. B. Sulphur zur weiteren Therapie.
Es ließe sich einwenden, genau die gleichen Mittel ließen sich nach gründlicher
Anamnese auch so finden. Das mag im Einzelfall zutreffen, nur bekommen wir durch
die Kenntnis der Miasmen etwas mehr Übersicht in die Vielzahl der Mittel und
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Krankheitssymptome. Wir verstehen damit die Richtung eines Mittels, den Prozess
hinter einzelnen Krankheitserscheinungen besser. Die Situation ist jeweils etwas
anders gefärbt, ob wir mit irgendeinem psorischen Defizit, oder mit einer sykotischen
Stagnation, oder einem zerstörenden syphilitischen Prozess zu tun haben. Das sind
gewissermaßen die Grundfarben, mit denen wir malen.
Genaugenommen finden wir eigentlich keinen Menschen, der nicht mit allen drei
chronischen Miasmen behaftet ist. Nur Maß und Mischung unterscheiden sich. So
wie sich aus drei Grundfarben 16 Millionen Farben anrühren lassen, die ein geübtes
Auge wohl unterscheiden kann, so sind aus der Mischung der verschiedenen
Miasmen eine sicher noch größere Zahl menschlicher Befindensstörungen denkbar.
Die jeweilige „persönliche Mischung“ macht zwar wohl noch nicht die Individualität
aus, bezeichnet jedoch das Problem- und Aufgabenfeld, das dieser Mensch bis in
seine Physis hinein angenommen hat und in welchem dieser Mensch gerade seine
Entwicklung durchmacht und in dem er auch wächst. Etwas langsamer im
natürlichen Lebensfeld (soweit es ein solches noch gibt), oder ein wenig beschleunigt
mit der umwandelnden Kraft der Hilfen, die wir uns als Mitmenschen eben geben
können.
Zuerst behandelt wird schlicht dasjenige Miasma, das sich mit seinen Symptomen
gegenwärtig am meisten in den Vordergrund drängt. Wenn sich nach einer gewissen
Behandlungszeit das Symptomenbild geändert hat, kann es sein, dass nun ein
anderes Miasma darunter zum Vorschein kommt und entsprechender Behandlung
bedarf. So kann nach einem antisyphilitischen Mittel wiederum ein vorwiegend
antisykotisches oder antipsorisches Mittel angezeigt sein, oder wir benötigen ein
antisyphilitisches und antipsorisches Mittel im Wechsel – wie immer nach jeweils
längeren Intervallen, in denen das zuvor gegebene Mittel auswirken konnte. Einige
Therapeuten fühlen sich wohl, wenn sie eine chronische Behandlung nach einer
Reihe von Jahren mit Sulphur abschließen können, damit bei der Psora als
„Grundübel“ und Boden später darauf aufbauender Miasmen angelangt sind. Meine
eigene Erfahrung geht eher dahin, dass eine Arznei, die eine hohe
Ähnlichkeitsqualität besitzt, zumeist gleich mehrere miasmatische Schichten
durchdringt, sodass wir kaum Folgemittel brauchen. In anderen Fällen ist das nicht
so möglich, aber es ist recht spekulativ von vornherein zu sagen, dass wir am
Schluss bei diesem oder jenem Mittel anlagen müssten. Es gibt einige praktische
Erfahrungswerte zu Mittelfolgen und Folgemitteln, schön zusammengefasst z. B. im
Büchlein „Arzneibeziehungen“ von Miller und Klunker. In erster Linie wird uns jedoch
immer Zustand und Befinden des Patienten leiten.
Ebenso wie bei den einzelnen Patienten, vertritt auch kein Arzneimittel „rein“ nur ein
Miasma. Sicher ist Thuja ein Antisykotikum, aber es hat auch tuberkulare Seiten.
Ebenso hat Sulphur sykotische und syphilitische Aspekte, noch stärker Calcium
carbonicum und Lycopodium, obwohl die letztgenannten drei Mittel von Kent als die
wichtigsten „Antipsorika“ gehandelt werden. Dies trifft auch zu – für ihren jeweils
dominierenden Aspekt. Nitricum acidum ist zugleich sykotisch (Warzen,
Granulationen, Starrköpfigkeit, kann nicht verzeihen...) wie syphilitisch
(Blutungsneigung, Ulcerationen, Gestank, rachsüchtig, boshaft, hoffnungslos
verzweifelt). Frösteligkeit, Unsicherheit, Schüchternheit und Empfindlichkeit sind
psorische Anteile des erwähnten Calcium carbonicum, die Polypen sykotisch,
Schweißneigung eher tuberkular. Auch das so einfach erscheinende Silicea bietet
eine bunte miasmatische Mischung psorischer Schwäche, sykotischer Sturheit,
sykotischer Abszesse, Nebenhöhlenvereiterungen, und neurotischer Fixationen über
tuberkulare Anteile bis hin zu syphilitischen Knochenaffektionen. Analog könnten wir
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jedes einzelne Mittel durchgehen. Im Repertorium Synthesis finden wir 216 Mittel in
der Rubrik „Allgemeines – Psora“, 175 Mittel in der Rubrik „Sykose“, und 158 Mittel
bei „Syphilis“ – natürlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die jeweiligen
Mischungen können wir ahnen, wenn wir diese Rubriken wie bei einer
Repertorisation nebeneinander legen.
Hahnemann ging noch davon aus, dass es eine bestimmte Anzahl (anti-)
miasmatischer Mittel gäbe und ebenso, davon unterscheidbare, andere nicht-
miasmatische Mittel. Neuere Erfahrungen sprechen eher dafür, dass jedes Mittel,
jegliche Substanz wenn sie hinreichend geprüft wird, ihre eigene miasmatische
Dimension offenbart. Tatsächlich kennen wir von allen gut und umfassend geprüften,
daher auch in der Praxis häufig angewendeten Mitteln ihre miasmatischen Seiten
mehr oder weniger gut. Die angeblich „weniger tief“ wirkenden Mittel finden sich
einfach nur seltener als Simile auch der tieferen Probleme. Ebenso ist es ein
Vorurteil, dass die „kleinen“, wenig geprüften, bislang eher selten und überwiegend
für irgendwelche eher lokalen Indikationen verwendeten Mitteln nichts mit chronisch-
miasmatischen Phänomenen zu tun hätten – dies gilt vielleicht für die übliche
Anwendung, aber nicht unbedingt für das Mittel selbst. So bringt auch eine Reihe gut
bekannter Substanzen vor allem heftige Wirkungen hervor, die traditionell mit akuten
Erkrankungen zum Beispiel fiebriger Art in Verbindung gebracht werden. Sankaran
weist hin auf die chronische Dimension des akuten „Klassikers“ Aconitum; bei Seghal
führt Belladonna die Hitliste chronischer Verschreibungen, anscheinend ohne dass
andere Mittel nachgeschoben werden müssten. Vorurteile über sogenannte tief oder
und nicht tief wirkende Mittel bringen uns nicht weiter.
Zusammenfassung: Die Lehre von den chronischen Miasmen sollte uns nicht zu
irgendwelchen Voreingenommenheiten führen. Sie hilft uns jedoch, Tiefe, Geschichte
und Grundrichtung einer Erkrankung besser zu erkennen, Anfang und Ende in
Verbindung bringen zu können. Auch hilft sie uns Arzneimittelbilder besser zu
verstehen, zu sehen welches Miasma welche Symptome hervorbringt. Die
Miasmenlehre verhilft bei der Arzneisuche zu einer ersten Grobsortierung, ähnlich
wie meinetwegen Warmblütigkeit oder Frostigkeit eines Patienten, die als solche
zwar viel zu unscharf sind um eine Arzneiwahl zu ermöglichen, auf der anderen Seite
jedoch schon eine Reihe von Arzneien auszusortieren oder zumindest
unwahrscheinlich machen. Und schließlich haben wir in der Miasmenlehre
vielleicht..... den Zipfel eines Tischtuchs zu einem tieferen Verständnis der
Bedeutung von Krankheit und Heilungsprozessen für die Menschheit als Ganzes.
6. Die „Psora“
Das erste Miasma kann zurückgeführt werden auf das Prinzip „Mangel“,
einschließlich des Gefühls von Mangel. Daraus entstehen auf der psychischen
Ebene Unzufriedenheit, Niedergeschlagenheit, Minderwertigkeitsgefühle,
Resorptionsstörungen, Trägheit oder auch sturer Fleiß, Existenzängste und die
vielfältigen Facetten von Sein-und-Haben-Wollen, die wir heute in unserer
Gesellschaft überall vorfinden. Da Letzteres, zusammen mit einem Gefühl von
Defizit, schon ein fundamentales Thema zu sein scheint für uns Erdbewohner,
können wir uns vorstellen, wie ungeheuer verbreitet dieses erste Miasma ist. Ebenso
vielgestaltig sind darum seine unterschiedlichen Ausformungen. Der Mensch erleidet
ein Verlustgefühl, er kämpft um sein Ego. Er „wehrt sich seiner Haut“. Wenn er seine
Rolle nicht richtig annehmen kann verlagert sich das Wehren auf die Haut, mit
entsprechenden Störungen. Innerlich wird der Mensch reizbar und „sauer“. Wenn die
Naturheilkunde die Übersäuerung der Körpergewebe als eine Art Grundursache der
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allermeisten Krankheiten beschreibt, als Ursache von Infektanfälligkeit,
Entzündungsbereitschaft und Ablagerungen im Körper (letztere werden in der
Homöopathie schon dem nächsten Miasma, der Sykose zugerechnet), dann beruht
dies auf zum Teil ähnlichen Beobachtungen wie Hahnemanns Lehre von der Psora.
Nur erzeugt der Körper auch bei guter Ernährung seine eigene Übersäuerung,
entsprechend eingeprägten Mustern und dem Innenleben eines Menschen. Dann
fühlt man sich nicht mehr wohl in seiner Haut, und es „juckt“, innerlich oder auch
psychisch. „Wollüstiges Jucken“ beschrieb Hahnemann als zentrales Symptom der
Psora. Ein eigenartiges Wort, ein eigenartiger Widerspruch: Es juckt, es ist also
unangenehm. Zugleich ist es auch angenehm, erzeugt ein Wohlgefühl bis hin zur
Begierde, aber „etwas“ ist darinnen das überhaupt nicht auszuhalten ist, das fast
verrückt macht. Das kann durchaus die Haut betreffen, man muss sich kratzen, was
vorübergehend den Juckreiz angenehm befriedigt, dafür aber ein schmerzhaftes
Brennen erzeugt, wonach auch wieder das Jucken schlimmer wird, ein unerträglich
angenehm-unangenehmes Jucken. Nur scheint mir, dass dieses Jucken bei uns
heutigen Menschen meist weiter „innen“ liegt. So „juckt“ des Nachbarn dickes Auto,
oder seine schöne Frau, oder seine vermeintlich Freiheit weil er keine Kinder hat,
oder seine heile Familie weil man alleinstehend ist, und so fort. Häufig nehmen die
körperlichen Manifestationen der Psora auch von der Haut ihren allerersten
Ausgang, verschwinden möglicherweise durch unterdrückende Behandlungen oder
auch mal von alleine, nach längeren Latenzphasen kommt es irgendwann zu
weiteren körperlichen Schwierigkeiten, meist nicht mehr an der Haut und von mal zu
mal hartnäckiger und resistenter gegen gewöhnliche Therapie. Hahnemann fand in
der Vorgeschichte oder bei den Vorfahren dieser Kranken sehr häufig unterdrückend
behandelte Krätze. Darum nannte er, obwohl er von den mit der Scabies
einhergehenden Milben wusste, dieses Miasma die „Psora“ – und wohl auch wegen
der Symbolik des Namens, nicht weil Scabies die einzig mögliche Erstmanifestation
sei. Die Scabies-Krätze ist heute selten, hygienischeren Lebensverhältnissen und
Jacutin sei Dank. Ähnliches gilt für Ekzeme; dafür ist die Neurodermitis (Psora mit
sykotischem Einschlag) kräftig auf dem Vormarsch. Dabei sind wir Homöopathen ja
fast glücklich, wenn sich das Geschehen auf der Haut manifestiert: innerer
Gesundheit sind wir damit um vieles näher, als wenn nach Kortisonsalbungen usw.
Asthma, Colitis ulcerosa, Depressionen und anderes auftreten.
„Die Krätze kömmt von kleinen, lebenden Insekten oder Milben her, welche
sich in unserem Körper zwischen oder Oberhaut einnisten...“
(Samuel Hahnemann in Beckers „Anzeiger“, sich dort gegen Theorien wendend, die die Krätze auf sogenannte „Schärfen“ im
Körper zurückführen. Zitiert nach Herbert Fritsche)
Die Psora ist für ca. 80 % aller Gesundheitsstörungen „hauptverantwortlich“. In der
Psora spiegeln sich fundamentale Probleme der Menschheit; erst die Psora bereitet
den anderen Miasmen den Boden. Im homöopathischen Arzneimittelbild gelten
Sulphur und Psorinum als ihre herausragensten Vertreter. Starke psorische Anteile
haben auch Calcium carbonicum, Kalium carbonicum, Lycopodium, Natrium
muriaticum und andere.
Eine umfassende Symptomatologie der Miasmen zu erstellen, geht über den Zweck
dieses Vortrages hinaus. Hier geht es um die allgemeinen Grundlagen.
Ausführlichere „Klassiker“ in dieser Richtung: „Die Chron. Krankheiten, die Miasmen“
von J. H. Allen (auch auf Deutsch).
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Einige Merkmale der Psora:
- Allgemeine Ängstlichkeit; ängstliche Wachsamkeit; beeindruckbar
- Selbstbezogenheit, Egoismus
- Unzufriedenheit, Reizbarkeit
- nervös, schreckhaft
- aktiv, lebhaft, mitteilsam
- oder aber schüchtern, gehemmt, verschlossen
- Minderwertigkeitskomplexe
- Schwäche; Schwächegefühl
- Leeregefühl mit Schwäche (psorisch-tuberkulär)
- Konzentrationsstörungen
- Empfindlichkeit
- Niedergeschlagenheit
- leichte Erschöpfbarkeit
- Unruhe; Nervosität; Erwartungsängste
- Unruhe im Schlaf
- unsaubere Angewohnheiten
- chaotisch, faul
- einseitiger Fleiß
- fröstelig, kälteempfindlich
- periodisch heiße Röte des Gesichts
- Brennen von Handflächen, Fußsohlen; Rötung und brennen der
Körperöffnungen
- Besserung durch Absonderungen: Schweiß, Urin, Menses, Durchfall
- schlechter durch Unterdrückung dieser Absonderungen; schlechter durch
unterdrückte Hautausschläge
- nervöses Schwitzen; schwitzen beim Essen
- bleiche, trockene, rauhe Haut
- Hautprobleme vielerlei Art, meist mit Jucken oder brennen; empfindliche Haut
- Jucken wird beim Kratzen zu Brennen
- Schleimhäute und Lymphorgane reagieren stark
- Katarrh- und Erkältungsneigung
- Absonderungen dünn, wässrig, scharf
- Rückfälligkeit; auch Periodizität; relative
- Unbeständigkeit der Symptome
- Nasenbluten
- Kopfschmerzen, Migräne
- Übersäuerter Magen
- sauerer Körpergeruch
- funktionelle Verdauungsstörungen verschiedener Art
- morgendlicher Durchfall; stinkende Stühle
- nervöse Blase
- Resorptionsstörungen (teils tuberkular)
- viel Hunger (teils tuberkular)
- Bindegewebsschwäche
- Rückenschwäche
- Rachitis
- Rheuma
- endokrine Störungen
- psychosomatische Störungen
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- funktionelle Herzbeschwerden; funktionelle Blasenbeschwerden;
prämenstruelles Syndrom und Periodenbeschwerden usw.
- Epilepsie
- schlechter: Stehen; Anstrengung; psychische Erregung; Sorge, Kummer;
Furcht, Angst; Sinnesreize wie Lärm, Gerüche, Sonnenlicht; Wetterwechsel;
Mondwechsel; unterdrückte Absonderungen oder Ausschläge; morgens
- besser: Liegen, Ruhe; Wärme; Ausscheidungen
7. Die „Sykose“
Wie die Rückfälligkeit ein Hauptmerkmal des ersten Miasma ist, finden wir im zweiten
Chronischen Miasma Stagnation, ein Stehen bleiben, einen Rückzug auf sicheren
Posten. Dies ist die eine Seite, als Gegenpol finden wir genauso ziellose Hast, durch
Hang zur Übertreibung und Exzess kompensiert. Im Einzelfall kann jeweils die eine,
oder auch die andere Seite mehr in Erscheinung treten. Der Organismus kämpft
nicht mehr ums Ganze, sondern versucht in einer Art Patt-Zustand eine gewisse
Sicherheit zu finden. Wunden heilen nicht, noch werden sie zu Geschwüren, sondern
es bildet sich Granulationsgewebe, Keloide. Absonderungen erscheinen nicht mehr
als Produkt eines heftigen Entzündungsfiebers, aber der Körper hat auch nicht mehr
die Kraft, den Erreger zu überwinden – so suppt die Absonderung, als Nebenhöhlen-,
Zahnwurzelentzündung, oder sonstiger Ausfluss dick-grünlich-eitrig, oder klebrig vor
sich hin. Der Mensch klebt sich an bestimmte Standpunkte, entwickelt neurotische
Fixationen oder fixe Ideen, oder er sucht Extreme, - sondert sich damit ab von
Lebensganzen, was zu rigiden Verhaltensmustern, wie auch Lebensfremdheit und
wirren Zuständen führen kann. Häufig gibt es auch Probleme mit dem Wasser, dem
Feuchten als Lebens-Träger, mit einem zuviel an Feuchtigkeit, Zurückhaltung von
Flüssigkeit im Gewebe. Dies ist was Grauvogel die hydrogenoide Konstitution nennt.
Probleme der entwässernden Organe (Niere, Blase) und des Genitalsystems als
lebensschaffendem Bereich; von der Gonorrhöe kann das Miasma auch seinen
Ausgang nehmen, ebenso wie das syphilitische, in welchem Lebens-Erzeugung
schließlich ganz pervertiert wird, zur Zerstörung hin. Es muss jedoch nicht jede
Gonorrhöe eine Sykose setzen, und nicht jede Sykose ist primär durch Gonorrhöe
verursacht. Die ordnenden, regulierenden Wesensanteile scheinen in der Sykosis
nicht mehr richtig ins Gefüge der Lebenskräfte einzugreifen, chaotisch sich
verselbständigende Wachstumsprozesse sind die Folge wie Warzen, Kondylome,
Polypen, Myome, Endometriose, gutartige oder gar langsam wachsende bösartige
Tumore (rasch zerstörender Krebs: syphilitisch). Ebenso können sich feinere
seelische Anteile und Triebleben voneinander sondern, Stimme und Ausdruck sind
nicht mehr recht beseelt, was entweder in Richtung Abkapselung und Introversion
führt, oder zu Verhärtungen. Ablagerung an den Gefäßen und im Körpergewebe,
Nieren- und Gallensteine gehören ebenso hierher. Wir finden die rigide Härte des
beherrschten Typs ebenso wie harte Rücksichtslosigkeit nach dem Motto nimm-was-
du–kriegen-kannst, vielleicht noch in der gleichen Person, mit sykotischer
Doppelmoral. Schwächen werden nach Möglichkeit zugedeckt, versteckt oder
kompensiert, der Patient bringt seiner Umgebung ein gesteigertes Misstrauen
entgegen und neigt zur Verstellung, so dass es schon feinerer Beobachtung bedarf
um die tiefe existenzielle Unsicherheit dahinter zu erkennen.
Zum besseren Verständnis der Sykose sollten wir die Arzneimittel Thuja,
Medorrhinum und Natrium sulfuricum gut studieren; ebenso haben deutlich
sykotische Anteile: Acidum nitricum, Argentum nitricum und viele andere, auch einige
„Antipsorika“ wie Calcium carbonicum, Lycopodium und Sepia.
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Einige Merkmale der Sykosis:
- hängt fest an eigenen Problemen
- Kompensationsverhalten: aufdringlich, anspruchsvoll, prahlerisch, sich selbst
überschätzend
- wirr, planlos, vergesslich oder aber rigide
- oder aber verschlossen, sich abkapselnd, brütend; bis hin zu
Lebensfremdheit; Entwicklung fixer Ideen, Stimmen hören, religiöse Tics usw.
- Überanpassung; oder aber Überreaktionen verschiedener Art
- Stagnation
- Misstrauen; nachtragend; fixe Ideen führen zu Neurosen
- Leseschwäche
- Überwiegend gutartige Neubildungen: Warzen, Muttermale, Fibrome;
Papillome; Zysten, Myome, Prostatavergrößerung, Polypen; Neigung zu
Verwachsungen nach Operationen; zu viele Haare am falschen Ort
- fettige oder ölige Haut; eher dicke Haut, grobporig; Orangenhaut
- Hauterscheinungen: meist nicht juckend
- Psoriasis
- angeborene Fehlbildungen, wie doppelte Nieren, Herzfehler, Hasenscharte
o.ä. (Defekt-Fehlbildungen teils auch syphilitisch)
- schleichende, verlangsamte Abwehrreaktionen des Organismus; sehr
langsame Rekonvaleszenz
- dicke, gallertartige oder grüngelbe Absonderungen
- fischartige oder faulige Gerüche oder Absonderungen oder Mundgeschmack /
-Geruch
- chronifizierte Entzündungen; chron. Nebenhöhlenaffektionen; Abszesse;
Zahnwurzelentzündungen
- krampfartige Schmerzen in verschiedenen Bereichen
- Ablagerungen in verschiedenen Körperregionen
- Steinbildung (Niere, Gallenblase)
- Strikturen
- Thrombosen
- Steifigkeit und Lahmheit
- Erkrankungen mit funktionellen Einschränkungen wie Gicht, deformierende
rheumatische Prozesse, Arthrose, degenerative Herzschäden
- Hypercholesterinämie; Gefäßablagerungen
- Pilzerkrankungen
- Wasserretention
- Schlechter durch Unterdrückung der Absonderungen oder Warzen; durch
Feuchtigkeit; tagsüber
8. Die „Syphilis“
Im syphilitischen Miasma ist Zerstörung zentrales Thema. Keine Hoffnung ist mehr
zu sehen, der Kampf scheint ohnehin aussichtslos, es gibt nichts zu gewinnen.
Darum ist es auch egal, ob sich das Aufbäumen der restlichen Lebensenergie für
oder gegen irgendwas oder jemanden richtet. Die Härte des sykotischen Typs
steigert in der Syphilis zur Destruktivität, je nach Typus kann es dann auch mal
Messer oder Pistole sein, die dann gegen den anderen oder auch gegen die eigene
Brust gerichtet wird. Aber nein, wer ist denn so durchgeknallt, viel häufiger tobt sich
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die Syphilis doch in körperlichen Prozessen aus, in tiefen Geschwüren, in
schnellwachsendem Krebs, plötzlichen Herzinfarkt, auf jeden Fall in Prozessen die
eher unmerklich beginnen um dann unaufhaltsam fortzuschreiten, zur Vernichtung
innerer Organe wie Herz, Zentralnervensystem oder gleich des Gesamtsystems hin –
AIDS gehört auch hierher, ebenso Alzheimer, letzterer auch mit sykotischen
Komponenten. Zwanghafter Ordnungsfimmel, Pedanterie und Rituale wie z.B.
Waschzwang können evtl. als unbewusster Versuch verstanden werden, die
destruierenden Komponenten in Schach zu halten – hier sieht man eine Art
Übergang von der Sykose zur Syphilis. Wenn sich die Destruktion ganz im
psychischen auslebt, kommt es zu Sucht oder Psychosen.
Zum Verständnis der Syphilis sollten wir Mercurius, Aurum und Syphilinum
(=Luesinum) gut studieren. Ebenso sind stark syphilitisch: Acidum nitricum
(sykotisch-syphilitisch), Kalium jodatum, Kalium bichromicum, Arsenicum album
(psorisch-syphilitisch), Silicea (psorisch-sykotisch-syphilitisch-tuberkular), Arsenicum
jodatum, Kreosotum, Carbo animalis und andere.
Einige Merkmale der Syphilis:
- Unberechenbarkeit, Unzuverlässigkeit, Abneigung gegen Verantwortung
- plötzliche Aggressivität; konfrontativ
- geringe Toleranzbreite an Einflüssen, die vertragen werden
- melancholisch-introvertiert-undurchschaubar
- Suizidneigung, spricht kaum darüber
- Suchttendenz
- Gefühllosigkeit: seelische Härte; relative Schmerzlosigkeit von Beschwerden
- Rechenschwäche; kein logisches Denken
- Innere Organe wie Nervensystem, ZNS, Herz und Knochen werden rasch in
Mitleidenschaft gezogen
- Degenerative Prozesse, die eher schleichend beginnen, um umso sicherer
und zum Schluss beschleunigt auf einen Endpunkt der Destruktion
zuzusteuern, oft vorher völlig unbemerkt
- Tiefe Geschwüre, Fisteln Fissuren, zerstörende Eiterungen
- Schnell wachsender Krebs, perniziöse Anämie, tödlicher Infarkt „aus heiterem
Himmel“, fortschreitende Leberzirrhose, Parkinson, Myastenia gravis,
amyothrophische Lateralsklerose, rasch fortschreitende Multiple Sklerose,
Lepra, Alzheimer, HIV
- Destruktive Entmineralisierung: Störung des Knochenbaus und der
Zahnbildung; rasches Verfaulen der schlecht gebildeten, gezackten Zähne
- Knochen- und Knochenmarksentzündungen; nächtliche Knochenschmerzen
- Reichliche, stinkende, scharfe Absonderungen
- Schweißneigung, Zustand aber eher schlimmer durch Schweiß
- Blutungsneigung
- Hauterscheinungen: nicht juckend
- Häufige Fehlgeburten; Azoospermie
- Plötzliche Abneigung gegen Fleisch (Ca-Verdacht!!)
- Schlechter nachts, von Sonnenuntergang bis Aufgang
- Besser im Gebirge
- Familienanamnese: Sucht, früh Herzinfarkt oder Schlaganfall, Häufung o.g.
Krankheiten
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Grundsätzlich ist noch anzumerken, dass ein einzelnes Symptom oder eine
bestimmte Pathologie alleine meist noch nicht reicht, um auf den miasmatischen
Hintergrund zu schließen. Das Wie der Symptome ist, wie überall in der
Homöopathie, von großer Bedeutung. So sind Polypen primär sykotisch, wenn sie
jucken deutet es aber auch auf einen psorischen Anteil, wenn sie leicht bluten auf
eine syphilitische oder tuberkulare Komponente. Asthma „an sich“ steht zwischen
Psora und Sykose, mehr psorisch betont ist Asthma bei Aufregung oder als Folge
unterdrückter Hautausschläge; langsam fortschreitendes, bei Feuchtigkeit
verschlimmertes Asthma ist sykotisch; ebenso Asthma nach Keuchhusten; Asthma
nach Pneumonie mehr tuberkular. Juckende Psoriasis ist mehr psorisch, nicht
juckende sykotisch. Neigung zur Narbenbildung bei Wunden ist primär sykotisch;
empfindliche Narben sind psorisch-sykotisch; eiternde oder wuchernde Narben
sykotisch; Narben die sich mehrmals öffnen und wieder schließen haben eine
tuberkulare Tendenz; Blutvergiftung und Gangränbildung gehört der Syphilis an. Ein
Magengeschwür das stark brennt und Schmerzen verursacht ist psorisch; ei
sykotisches Magengeschwür verursacht weniger Beschwerden, wird evtl. nur zufällig
entdeckt wenn es schon ein gewisses Alter hat; das syphilitische Magengeschwür
entsteht ebenso unbemerkt kann aber ohne jede Vorwarnung zur
lebensbedrohlichen Perforation führen. Ein psorisch-Depressiver hat vielleicht
häufige Selbstmordgedanken, der Sykotiker will sich umbringen und hat zugleich
Angst davor, will ebenso weiterleben. Der Syphilitiker erforscht die Möglichkeit sich
umzubringen sehr konkret – und dabei weiß vielleicht nicht einmal seine Frau davon.
Insgesamt möchte ich für den Anfang empfehlen, die Miasmen zuerst als Ganzes,
als Prozess zu verstehen und sich nicht (sykotisch) an den Einzelheiten aufzuhängen
oder sich zu sehr den Kopf zu zerbrechen, ob dieses oder jenes Symptom psorisch,
sykotisch, tuberkular oder syphilitisch ist.
9. Die Miasmen als Stadien einer Entwicklung
In der homöopathischen Literatur bekannt ist das „Bergsteigergleichnis“. Unser
Bergsteiger macht sich erst guten Mutes auf den Weg. Dann merkt er, dass er sich
immer mehr anstrengen muss um sein Ziel zu erreichen, er kommt öfters außer
Atem, rutscht auch mal ein Stück wieder zurück, immerhin geht es noch weiter
(Psora) bis im nächsten Stadium (Sykose) kein Vorwärtskommen mehr möglich ist.
Vielleicht macht er noch einige vergebliche Versuche und rennt los, ohne viel zu
bewirken (Hast), schließlich richtet er sich ein auf die Tatsache, dass er festsitzt
(Stagnation). Am Ende (Syphilis) zeigt sich die Aussichtslosigkeit der Situation in
ihrer ganzen Tragweite, und der Bergsteiger gibt sich auf, oder stürzt ab.
In dieser kleinen Geschichte erkennen wir die Miasmen als verschiedene Stadien
eines Lebenskampfes. Rajan Sankaran gibt in ‚Substance of Homeopathy` weitere
Beispiele, und bindet dabei die vor allem im Kindesalter gegebene Neigung zu
akuten Krankheiten als ‘akute Miasma’ mit ein.
Beispiel: Ein Hund fällt jemanden an. Ein Kind reagiert panisch. Der Erwachsene
versucht mit Steinen oder anderen Mitteln den Hund zu vertreiben. Ein älterer,
schwächerer Mensch bleibt fest auf seinem Platz stehen oder sitzen, um mit einem
Stock o. ä. den Hund wenigstens in einer gewissen Entfernung zu halten. Ein
wehrloser Greis ergibt sich.
Oder (noch mal im Gebirge, diesmal mit dem Auto, und ohne dabei alt zu werden...):
auf einsamer Straße gibt es einen Knall, und das Auto schwankt. Also hältst du
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instinktiv und steigst aus, dein Herz klopft, du beginnst zu schwitzen und bist ziemlich
panisch(akut). Aus dem Auto draußen, merkst du dass bloß der Reifen geplatzt ist.
Die Panik geht zurück, da keine unmittelbare Gefahr besteht. Du versuchst alles, den
Ersatzreifen zu montieren, und weißt nicht recht wie es geht (Psora). Schließlich
merkst du, dass es nicht zu schaffen ist. Rauchst erst mal eine, wartend ob vielleicht
jemand kommt der helfen kann (Sykose). Nach vielen Stunden verlierst du jede
Hoffnung, trittst zornig das Auto und legst dich apathisch hin, egal was weiter
passiert.
Die Miasmen sind in keiner Weise an irgendein Alter gebunden. Es scheint aber
gewisse archetypische Entsprechungen zu den Lebensaltern zu geben:
Ein kleines Kind, würde vor dem in der ersten Geschichte genannten Berg eher
zurückschrecken, in einer instinktiven, unmittelbaren Reaktion. Sofortige, starke
Antworten des Organismus, wie schneller Puls, hohes Fieber und Blutandrang sind
für die ‚akuten Miasmen’ typisch. Wie wir schon vorher gesagt haben, gibt es einen
Entscheidungskampf – baldige Genesung oder Tod. Auch bei Erwachsenen erleben
wir gewisse kindliche, unschuldige Elemente in Fällen akutmiasmischer
Erkrankungen, wie Influenza, Darmgrippe usw...
Die Jugendliche und junge Erwachsene befindet sich eher in einer Phase des
Kampfes und Durchsetzung und Anerkennung, er hat sich auf eigene Füße zu stellen
und mit der Welt auseinander zusetzen. Aus einem psorischen Verlustgefühl heraus
kämpft er um sein Ego, verbunden mit Selbstzweifel oder Ängstlichkeit. Die
körperliche Beschwerden auf dieser Stufe sind überwiegend funktioneller Natur, zum
Beispiel Kopfschmerzen oder Menstruationsstörungen. Sie können starkes
Unwohlsein verursachen, sind aber nicht bedrohlich. Auch reagiert der sich ‚seiner
haut wehrende’, meist jüngere Mensch empfindlich auf allerlei Einflüsse seiner
Umgebung, wie Lärm, Gerüche und so weiter. Auf psychischer Ebene sehen wir eher
psychosomatische Beschwerden, als Neurosen.
Nach langen Kämpfen und vielen Niederlagen wird das psorische Verlusterlebnis in
der Sykose zu einem tiefen Gefühl nicht mehr zu überwindender Schwäche, diese
wird also zugedeckt. So sehen wir beim Erwachsen mittleren Alters, wie Schwächen
kompensiert werden, wie ein gefundene Lebensform in einem zunehmende Starrheit,
in ein festes Weltbild, eine rigide Lebenshaltung hineinmündet. Man gibt sich
zufrieden, ist eher damit beschäftigt überhaupt zu Recht zu kommen, als dass man
noch um seine Freiheit kämpft. Auch physisch ‚hängt’ der Abwehrkampf, zieht sich
auf bestimmte Punkte zurück. Die Genesung wird damit unwahrscheinlich, aber die
Situation ist noch nicht verzweifelt. Absonderungen werden dick und grüngelb,
hängen klebrig herum oder werden in Abszessen eingekapselt. Aufgrund
mangelnder Fähigkeit zu angemessenen Antworten gibt es Überreaktionen auf
spezielle Reize (z. B. Allergien). Keloide sind ein gutes Beispiel, wie der reaktive
Mangel bei einer Wunde zu einem übertriebenem Reparaturversuch führt. Die
Krankheit auf dieser Stufe sind auch noch nicht bedrohlich, aber führen zu ernsten
Einschränkungen: Arthritis, Asthma, ischämische Herzstörungen und so weiter. Im
Zusammenhang psychischer Erkrankungen finden wir vorwiegend Neurosen
(natürlich in jedem Alter möglich – doch nehmen Neurosen auch den jungen
Menschen die sonst für die Jugend typische Flexibilität und innere Beweglichkeit).
Für den Greis schließlich (im Zuge einer krankhaften Entwicklung) gibt es keine
Hoffnung mehr, die Situation ist nicht mehr zu bewältigen. Die in der Sykose noch
sicher scheinenden Positionen können nicht mehr gehalten werden. Statt Kampf
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kommt es zu verzweifelten Handlung- und Reaktionsweisen und syphilitisch
zerstörenden Prozessen wie Ulcerationen, Gangrän, Parkinson, Herzinfarkt,
Osteoporose, Krebs und so weiter. Es ist, wie den eigenen Besitz zu verbrennen
beim Rückzug aus einem Krieg, Findet dieser Prozess auf geistig-seelischer Ebene
statt, äußert er sich in Psychosen.
Aber auch die Pubertät scheint eine Schwelle zu sein, in der syphilitische
Manifestationen wie Psychosen, Suchtkrankheit und Suizid (wie als ein Schatten der
in diesem Alter erwachend, potentiell lebensschaffenden Zeugungsfähigkeit) oft
erstmals deutlich werden.
Wie gesagt, ist kein Miasma auf irgendein Lebensalter festgelegt, allenfalls gibt es
gewisse innere Entsprechungen. Diese finden in einer relativen Häufung der
beschriebenen Prozesse im entsprechenden Alter ihren Ausdruck.
10. Viele Miasmen?
Psora, Sykose und Syphilis sind die drei klassischen chronischen Miasmen, jene die
Hahnemann in dieser Weise beschrieb. Später hatten viele Homöopathen
Schwierigkeiten mit dem Miasmenbegriff, im Zeitalter der aufkommenden
Naturwissenschaften schien dies allzu „mystisch“.
Teils wurde ersatzweise von „Diathesen“ gesprochen, ungefähr Ähnliches damit
gemeint. Die „lymphatische Diathese“ bezeichnet eine allgemeine Anfälligkeit des
Lymphsystems mit Erkältungsneigung, wie bei den meisten unserer antipsorischen
Mittel zu sehen. Die „harnsaure“, „lithämische“, oder „hydrogenoide“ Diathese
bezeichnet jeweils die der Sykose eigene Neigung zu Harnsäureansammlung, Gicht,
Steinbildung und Flüssigkeitsretention. Die „dyskrasische Diathese“ oder „Dyskrasie“,
zu Deutsch „schlechte Säftemischung“, kommt der Syphilinie am nächsten. Eine
völlige Gleichsetzung des Begriffs der Diathesen mit den Miasmen ist jedoch nicht
möglich; die Miasmen sind etwas Umfassenderes.
Andere Kollegen blieben bei den Miasmen, und beschrieben dazu noch die
„Tuberkulinie“, auch „Pseudo-Psora“, als ein eigenes Miasma. Dazu später. Heute,
mit der allgemeinen Renaissance der klassischen Homöophatie, tauchen immer
wieder nochmals neue Miasmen irgendwoher auf. Schon länger wird diskutiert, ob
Krebs als eigenes Miasma zu beschreiben ist oder nur eine Mischform darstellt,
polymiasmatisch wie eben auch das Arzneibild von Carcinosinum. Sankaran entwirft
die Bilder eines typhoiden und eines Malaria-Miasma, beides Mischformen zwischen
„akutem Miasma“ (das Sankaran pauschal als eigene Reaktionsform beschreibt) und
Psora bzw. Syphilis. Alle neu beschriebenen Miasmen lassen in dieser Weise
Mischungen der alten, „klassischen“ Miasmen erkennen, und doch mögen sie bis zu
einem gewissen Grad etwas Eigenes darstellen. Meinetwegen können wir auch
streiten, ob Orange oder Grün eigene Farben sind, oder nur Mischungen von Rot,
Blau und Gelb. Sicher ist es genauso berechtigt, jeder Arznei, die ordentlich und
umfassend für die Homöopathie geprüft ist, ihre eigene miasmatische Dimension
zuzuweisen. Damit hätten wir dann hunderte von Miasmen. Der Maßstab wird nicht
sein, ob das eine oder andere „richtig“ ist, nicht die Theorie, sondern ob wir damit zu
anwendbaren Erkenntnissen gelangen können. Für den Anfänger empfehle ich
daher, bei den klassischen Miasmen zu bleiben, ein Verständnis der darin
beschriebenen Prozesse zu gewinnen. Vielleicht noch einschließlich der
„Tuberkulinie“.
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11. Die „Tuberkulinie“
Die Tuberkulose war zu Zeiten des ersten Höhepunktes der Homöophatie, gegen
Ende letzten Jahrhunderts, eine weit verbreitete Krankheit die unzählige Menschen
zu einem langwierigem Siechtum brachte, das ab einem bestimmten Stadium
unaufhaltsam bis zum Tode fortschritt. Aus den umfangreichen Beobachtungen
dieser Erkrankung formte sich das Bild der Tuberkulose als Miasma mit eigenen
Zügen, wenn auch die Mischung psorischer und syphilinisch Elemente deutlich darin
zu erkennen war. Ein Kernpunkt des tuberkularen Miasma ist schon in dem Wort
„Schwindsucht“ enthalten, mit dem das spätere Stadium der Lungentuberkulose
bezeichnet wird. Im Arzneimittelbild von Tuberculinium und zu bestimmten Teilen
auch bei Phosphor, Iodum, Flouricum acidum, Rhus toxicodendron und anderen
finden wir eine Mischung von Sehnsucht und nicht zufrieden sein können mit dem
vorhandenen, ein nirgendwo zur Ruhe kommen, nie ankommen, immer unterwegs,
getrieben sein und sich verzehren im Versuch sein inneres Verlangen zu befriedigen,
als Lebens- oder auch Jenseits-Sehnsucht, auch Verlangen nach Dingen die
überhaupt nicht zu bekommen sind, eine Steigerung aller Verbrennungsprozesse,
und schließlich Unruhe, Schwankungen und Launen, Heftigkeit und bösartig
zerstörende Ausbrüche von Wut, oder nach innen die Organe zerstörende Prozesse.
Darin haben wir eine Kombination psorischer Unzufriedenheit und Mangelgefühls mit
syphilitischer Destruktivität, und doch auch eigene Komponenten. Psorische
Resorptionsstörungen verbinden sich in der Tuberkulinie mit Heißhunger und
übermäßiger Verbrennung, so dass wir an Rubriken denken wie „Abmagerung mit
Heißhunger“ oder „Appetit, Heißhunger mit Abmagerung“. Coulter vergleicht den
tuberkularen Zustand mit der Kerze, die an beiden Enden gleichzeitig brennt.
Irgendwann ist das System ausgebrannt, Erschöpfungszustände folgen und
fortschreitend zerstörende körperliche Leiden.
Einige Merkmale der Tuberkulinie:
- unzufriedene, aggressive Kinder, schwer zu lenken, schwer zu trösten
- absichtlich-intelligent destruktive Handlungen (Rubrik: „mutwillig“)
- zappelige, überaktive Kinder, starke Konzentrationsstörungen; Theater aus
Kleinigkeiten
- Zähneknirschen nachts
- Angst vor Tieren, vor großen Tieren; aber auch Brutalität und Grausamkeit
gegenüber Tieren
- innere Unruhe
- Bewegungsdrang, aber leicht erschöpft
- Suchen immer neue Anreize; starke Sexualität; unternehmungslustig;
verbrauchen dabei ihre Lebensenergie zu rasch
- Wechselhaftigkeit; Beschwerden wechseln den Ort; alternieren psychischer
und körperlicher Beschwerden; wechselt leicht Wohnort, Job, Partner; reist
gerne
- Abneigung gegen Routine, Druck, Disziplin und alles irgendwie Einengende;
unzuverlässig da immer mehrere Sachen im Kopf
- Hoffnungen und Ideen, bis zum letzten Lebenstag
- Hochgeschossen, schlanker Körperbau, schmaler Brustkorb; Hände und
Finger lang und schmal; schwaches Bindegewebe
- kalt-schwitzige Hände und Füße; brüchig-dünne Nägel
- dünne, durchsichtige Haut
- Zahnfleischbluten, Nasenbluten; Nasenbluten >
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- Schilddrüsenprobleme; Hyperthyreose
- essen Mengen und setzten nichts an, auch bei guter Nahrung
- Verlangen nach Dingen, gegen die zugleich eine Empfindlichkeit besteht:
Wind, kalte Getränke, Milch, Salz...
- reichliche Nachtschweiße, die vorübergehend erleichtern (aber auch
erschöpfen können)
- Verlangen nach kalter Milch; nach frischer Luft; nach Dingen die nicht
bekommen
- ständig Erkältungen
- vor allem Atemwege immer wieder befallen
- Lymphsystem betroffen; bei Kindern häufig ständig geschwollene Halsdrüsen
- Wiederholte Mittelohrentzündungen, Tubenkatarrhe, Anginen;
Rachenmandelvergrößerung; immer erkältet, Nase immer wieder verstopft
- Meningitis, Enzephalitis & Folgen
- Diabetes
- Tuberkulose; auch der Vorfahren
- Schlechter durch: unterdrückten Schweiß, vor allem unterdrückten
Fußschweiß; während Periodenblutung; Anstrengung: Gewitter; Mondphasen;
Fasten
12. Menschheitliche Bedeutung
Nun, wozu bräuchten wir die oben genannten syphilitischen Anteile auch offensiv
ausleben: lassen sich diese nicht im Gesamtgefüge und am allgemeinen
Bewusstsein und Gewissen vorbei viel besser woanders hin delegieren? Zum
Beispiel so, dass schließlich am langen Ende eine Kette sogenannter Sachzwänge
schließlich Strukturen dastehen, die nicht in Worten aber durch Fakten den
Jugendlichen vermitteln, dass sie nicht gebraucht werden, oder so dass Giftgas oder
Atombomben oder neue Viren immer noch legal produziert werden kann? Auch
unsere Gesellschaftsstrukturen sind vielfach miasmatisch behaftet, und bringen die
Miasmen wiederum neu hervor. „Schuld“, soweit dieser Begriff hier anwendbar, ist
nicht in jedem Fall der, bei dem sich irgendeine Krankheit zu einem bestimmten
Zeitpunkt gerade manifestiert. Kennen Sie das Spiel jenes Physiklehrers, der eine
Reihe von Kugeln frei an einen Stab hängt, davon eine anhebt und gegen die
anderen fallen lässt? Die bleiben nämlich alle unbewegt – bis auf eine letzte, die
ganz am anderen Ende in voller Stärke ausschwingt. Bevor einer mal erntet, was er
gesät hat, geht´s eine Weile rund. „Unterwegs“ können sich die Wirkungen, positiv
oder negativ, sogar vielfach verstärken durch Resonanz mit gleichschwingenden
Anteilen in den einzelnen Individuen. Andererseits kann, was wir als Krankheit
erleben, auf einer anderen Ebene schon Teil eines Heilungsprozesses sein. So
arbeiten wir in der Homöophatie ja auch nicht gegen, sondern (gleichsinnig) mit der
Krankheit, sie mit unseren Potenzen gewissermaßen „erhöhend“.
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Die heute so beliebte Karma-Philosphie kann unseren Blickwinkel doch auch
einschränken. Wie wollen wir wissen, was sich ein Mensch (außerhalb seines
Tagesbewusstsein) für sein Leben wirklich vorgenommen hat, nicht nur für sein
eigenes ‚Schicksal’, sondern auch im Strome der Arbeit am Ganzen? Eine Krankheit
kann einen Menschen auch auf etwas vorbereiten, damit einen Zukunftsaspekt in
sich tragen. Zur Frage des ‚Eingriffs’ ins Karma, durch Heilung: Wir stehen doch
ohnehin in der gegenseitigen Verantwortung jeder Handgriff ‚greift ein’, sich
herauszuhalten ist Illusion. Ist unterlassene Hilfe nicht genauso ‚Eingriff’, wie die
liebevoll gegebene? Wir sollten die Freiheit des anderen achten – doch das ist eine
andere Frage. Eine nur unterschwellig-manipulative Medizin möchten wir nicht.
Umso wichtiger für unsere heutigen Patienten, dass wir mehr und mehr in die Lage
kommen, sie in ihren seelischen-geistigen Prozess (freilassend, aber verantwortlich)
zu begleiten.
Ob sich jemand mit den spirituellen Zusammenhängen des Krankheitsgeschehens
auseinandersetzen will, das muss jeder selber wissen. Ich spreche diese Dinge auch
deswegen an, da einige Autoren über die Miasmenlehre in ein unerträgliches
Moralisieren hineingeraten! Die ‚Moral’, angenommen es gibt eine, ist sie eine
andere: ohnehin kann sich jeder nur an die eigene Nase fassen. Bedeutet nicht, am
gesellschaftlichen Kontext vorbeizublicken: reicht bis in dasjenige hinein, was
meinetwegen C. G. Jung das ‚kollektive Unbewusste’ nannte; ich sage statt kollektiv
lieber menschheitlich, denn letzteres ist der Gegenpol zum Individuum. ‚Kollektiv’ und
Masse haben nur im Vereinzelten, im Splitter, im Verlorenen ihren Gegenpart, oder
wir sprechen schon die Sprache derjenigen die nur verachten können oder Macht
suchen. Der syphilitische Diktatoren und ihrer sykotischen Handlanger, denen eine
psorisch geprägte `Masse` allzu leicht folgt.
Schon im Organon spricht Hahnemann von der Psora als ‚Übel’, von ‚uraltem
Ansteckungszunder’, als wie von jenem ‚Wurm’, der das Ganze (aus unserer Sicht)
schon seit Urzeiten verdarb. Aus Hahnemanns Schilderungen der Psora tritt, wie
Frische bemerkt, schon sprachlich die Signatur des ‚Wurmes’ hervor (wie in Org. §
81), gewissermaßen der Schlange des Sündenfalls. In moralischen, durchaus auch
theologischen Dimensionen fühlt Hahnemann den Ursprung der Psora, vermeidet
aber religiöse Schablonen.
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Arbeiten wir also mit der Umwandlung der persönlichen miasmatischen Anteile
zugleich am Lebensfeld im Großen? Nur gilt es zuerst, unser Verständnis von
Heilungsprozessen und Gesundheit mehr als je zu vertiefen, anstatt dem Wahn der
Machbarkeit zu verfallen. Letztem entstammen auch billige
Weltverbesserungsvorschläge, wie die sog. ‚eugenischen Kuren’ mit potenzierten
(deswegen leider noch keineswegs homöophatischen) Arzneien.