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Plenarprotokoll 14/77 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 77. Sitzung Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 I n h a l t : Ansprache zum 10. Jahrestag des ersten Zu- sammentritts des Zentralen Runden Tisches der DDR am 7. Dezember 1989 ....................... 7059 A Änderung einer Ausschußüberweisung ............ 7059 D Tagesordnungspunkt 13: a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bundeskanzlers zum bevorstehenden Europäischen Rat in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 .............................. 7059 A b) Bericht des Ausschusses für die Ange- legenheiten der Europäischen Union ge- mäß § 93a Abs. 4 der Geschäftsordnung zu der Unterrichtung durch die Bundes- regierung: Zusammensetzung und Ar- beitsverfahren des mit der Ausarbei- tung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte zu beauftragenden Gre- miums und einschlägige praktische Vor- kehrungen (Drucksachen 14/1579 Nr. 3.1, 14/1819) ...................................................... 7059 B c) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Unterrich- tung durch das Europäische Parlament: Entschließung des Europäischen Par- laments zur Ausarbeitung des Entwurfs für ein Wahlverfahren, das auf gemein- samen Grundsätzen für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parla- ments beruht (Drucksachen 14/74 Nr. 1.9, 14/685) ........................................................ 7060 A d) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Eu- ropäischen Union zu dem Antrag der Frak- tion CDU/CSU : Festigung und Fortent- wicklung der Europäischen Union wäh- rend der deutschen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999 (Drucksachen 14/159, 14/845) ........................................................ 7060 B e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Beschäftigungspolitischer Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland (April 1999) (Drucksache 14/1000) ...................... 7060 B f) Antrag der Abgeordneten Birgit Schnie- ber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU: Umsetzung der Empfehlun- gen der Europäischen Kommission zur Beschäftigungspolitik durch die Bun- desregierung (Drucksache 14/1955) ......... 7060 C g) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu dem Entschlie- ßungsantrag der Fraktion CDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der Bundes- regierung zur aktuellen Lage im Ko- sovo nach dem Eingreifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sonder- tagung des Europäischen Rates in Ber- lin (Drucksachen 14/675, 14/1288) ............ 7060 C in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktion CDU/CSU: Regie- rungskonferenz 2000 und Osterweite- rung – Herausforderungen für die Eu- ropäische Union an der Schwelle zum neuen Millennium (Drucksache 14/2233) 7060 D in Verbindung mit

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Plenarprotokoll 14/77

Deutscher BundestagStenographischer Bericht

77. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999

I n h a l t :

Ansprache zum 10. Jahrestag des ersten Zu-sammentritts des Zentralen Runden Tischesder DDR am 7. Dezember 1989 ....................... 7059 A

Änderung einer Ausschußüberweisung ............ 7059 D

Tagesordnungspunkt 13:

a) Abgabe einer Regierungserklärung desBundeskanzlers zum bevorstehendenEuropäischen Rat in Helsinki am10./11. Dezember 1999 .............................. 7059 A

b) Bericht des Ausschusses für die Ange-legenheiten der Europäischen Union ge-mäß § 93a Abs. 4 der Geschäftsordnungzu der Unterrichtung durch die Bundes-regierung: Zusammensetzung und Ar-beitsverfahren des mit der Ausarbei-tung des Entwurfs einer EU-Charta derGrundrechte zu beauftragenden Gre-miums und einschlägige praktische Vor-kehrungen (Drucksachen 14/1579 Nr. 3.1,14/1819) ...................................................... 7059 B

c) Beschlußempfehlung und Bericht desAusschusses für die Angelegenheiten derEuropäischen Union zu der Unterrich-tung durch das Europäische Parlament:Entschließung des Europäischen Par-laments zur Ausarbeitung des Entwurfsfür ein Wahlverfahren, das auf gemein-samen Grundsätzen für die Wahl derMitglieder des Europäischen Parla-ments beruht (Drucksachen 14/74 Nr. 1.9,14/685) ........................................................ 7060 A

d) Beschlußempfehlung und Bericht des Aus-schusses für die Angelegenheiten der Eu-ropäischen Union zu dem Antrag der Frak-

tion CDU/CSU: Festigung und Fortent-wicklung der Europäischen Union wäh-rend der deutschen Ratspräsidentschaftim 1. Halbjahr 1999 (Drucksachen 14/159,14/845) ........................................................ 7060 B

e) Unterrichtung durch die Bundesregierung:Beschäftigungspolitischer Aktionsplander Bundesrepublik Deutschland (April1999) (Drucksache 14/1000) ...................... 7060 B

f) Antrag der Abgeordneten Birgit Schnie-ber-Jastram, Wolfgang Meckelburg, wei-terer Abgeordneter und der FraktionCDU/CSU: Umsetzung der Empfehlun-gen der Europäischen Kommission zurBeschäftigungspolitik durch die Bun-desregierung (Drucksache 14/1955) ......... 7060 C

g) Beschlußempfehlung und Bericht desAusschusses für die Angelegenheiten derEuropäischen Union zu dem Entschlie-ßungsantrag der Fraktion CDU/CSU zurAbgabe einer Erklärung der Bundes-regierung zur aktuellen Lage im Ko-sovo nach dem Eingreifen der NATOund zu den Ergebnissen der Sonder-tagung des Europäischen Rates in Ber-lin (Drucksachen 14/675, 14/1288) ............ 7060 C

in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 8:

Antrag der Fraktion CDU/CSU: Regie-rungskonferenz 2000 und Osterweite-rung – Herausforderungen für die Eu-ropäische Union an der Schwelle zumneuen Millennium (Drucksache 14/2233) 7060 D

in Verbindung mit

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II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999

Zusatztagesordnungspunkt 9:

Antrag der Abgeordneten Dr. HelmutHaussmann, Hildebrecht Braun (Augs-burg), weiterer Abgeordneter und derFraktion F.D.P.: Europäischer Rat inHelsinki: EU-Erweiterung voranbrin-gen, politische Union vertiefen (Druck-sache 14/2246) ............................................ 7060 D

Gerhard Schröder, Bundeskanzler .................... 7061 A

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) 7065 B

Joachim Poß SPD ............................................ 7069 B

Dr. Helmut Haussmann F.D.P. ....................... 7071 D

Christian Sterzing BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN .................................................................. 7074 A

Uwe Hiksch PDS ............................................. 7075 D

Günter Gloser SPD .......................................... 7077 B

Dr. Gerd Müller CDU/CSU......................... 7079 A

Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ................. 7079 C

Joachim Poß SPD ........................................ 7083 D

Joseph Fischer, Bundesminister AA................. 7084 B

Ernst Burgbacher F.D.P. ................................. 7088 C

Markus Meckel SPD........................................ 7089 C

Dr. Klaus Grehn PDS ...................................... 7091 C

Michael Roth (Heringen) SPD......................... 7092 D

Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ..................... 7094 B

Winfried Mante SPD ....................................... 7095 C

Tagesordnungspunkt 14:

a) – Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur strafver-fahrensrechtlichen Verankerung desTäter-Opfer-Ausgleichs (Drucksachen14/1928, 14/2258) ................................... 7098 A

– Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Norbert Geis, RonaldPofalla, weiteren Abgeordneten und derFraktion CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes über Fernmeldeanlagen(Drucksachen 14/1315, 14/2258)............ 7098 B

b) Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Norbert Geis, RonaldPofalla, weiteren Abgeordneten und derFraktion CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines … Gesetzes zur Änderungder Strafprozeßordnung – § 100a StPO(Drucksachen 14/162, 14/2192) .................. 7098 B

c) Zweite und dritte Beratung des von denAbgeordneten Norbert Geis, RonaldPofalla, weiteren Abgeordneten und derFraktion CDU/CSU eingebrachten Ent-wurfs eines dritten Gesetzes zur Änderungdes Gesetzes zur Änderung des Strafge-setzbuches, der Strafprozeßordnung unddes Versammlungsgesetzes und zur Ein-führung einer Kronzeugenregelung beiterroristischen Straftaten (Drittes Kron-zeugen-Verlängerungs-Gesetz) (Druck-sachen 14/1107, 14/2259)........................... 7098 C

Hedi Wegener SPD ......................................... 7098 D

Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU .................... 7099 D

Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN ......................................................... 7101 A

Jörg van Essen F.D.P....................................... 7102 B

Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ..................................................... 7103 A

Sabine Jünger PDS ........................................... 7104 A

Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ...... 7104 C

Norbert Geis CDU/CSU................................... 7106 A

Alfred Hartenbach SPD................................... 7108 A

Tagesordnungspunkt 15:

Zweite und dritte Beratung des von derBundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Fortentwicklungder Altersteilzeit (Drucksachen 14/1831,14/2254) ...................................................... 7109 D

Nächste Sitzung................................................ 7110 C

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten............ 7111 A

Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO des AbgeordnetenDr. Gerd Müller (CDU/CSU) zur Abstim-mung über den Entschließungsantrag zu derRegierungserklärung des Bundeskanzlers zumbevorstehenden Europäischen Rat in Helsinkiam 10./11. Dezember 1999 (Tagesordnungs-punkt 13)........................................................... 7112 A

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratungdes Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent-wicklung der Altersteilzeit (Tagesordnungs-punkt 15)........................................................... 7112 B

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 III

Renate Rennebach SPD ................................... 7112 B

Heinz Schemken CDU/CSU ............................. 7113 B

Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN................................................................... 7114 A

Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P........................ 7115 A

Monika Balt PDS ............................................ 7115 D

Wolfgang Meckelburg CDU/CSU ................... 7116 C

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMA .......... 7118 A

Anlage 4Erklärung des Abgeordneten Paul K. Friedhoff(F.D.P.) zur namentlichen Abstimmung überden Entwurf eines Gesetzes über die Feststel-lung des Bundeshaushaltsplans für das Haus-haltsjahr 2000 (Drucksachen 14/1400, 14/1680,14/1901 bis 1924) (74. Sitzung, 26. November1999, Tagesordnungspunkt II, Seite 6833).......... 7119 B

Anlage 5Amtliche Mitteilungen ..................................... 7119 B

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7059

(A) (C)

(B) (D)

77. Sitzung

Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen. Die Sitzung ist eröffnet.

Vor zehn Jahren, am 7. Dezember 1989, trafen sichzum erstenmal die Teilnehmer des Zentralen RundenTisches der DDR im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Ber-lin. Die Idee des Runden Tisches lag zu diesem Zeit-punkt gewissermaßen in der Luft; in Polen und inUngarn hatte es bereits Monate zuvor solche RundenTische gegeben. Auf Verlangen der Bürgerrechtsbewe-gungen traten auch in der DDR an vielen Orten RundeTische zusammen.

Daß diese Runden Tische im Dezember 1989 alswohl wichtigste Institutionen des Übergangs in Demo-kratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zusammen-traten, war neben dem Einsatz für die friedlichen De-monstrationen in den Monaten zuvor das zweite großeVerdienst der verschiedenen Gruppen der Bürgerbewe-gung. Dafür gebührt ihren Repräsentanten, die heutenicht selten in Vergessenheit geraten sind, unser Dankund unsere Anerkennung.

(Beifall im ganzen Hause)

Durch ihr Drängen und unterstützt durch die Kirchenentwickelte sich der Zentrale Runde Tisch zu einemwichtigen öffentlichen Ort der politischen Mitbestim-mung und Entscheidung, der Kontrolle der von der SEDbzw. SED/PDS geführten Regierung, der Offenlegungalter Staatspraktiken und der Auseinandersetzung mitdem Umgang und dem Erbe des ÜberwachungsstaatesDDR.

Doch die Runden Tische waren für eine kurze Zeitweit mehr: Viele sich erstmals oder neu engagierendeBürgerinnen und Bürger, Mitglieder neu entstandenerGruppen, nutzten oder fanden mit ihnen eine neue politi-sche Autonomie, erlernten und praktizierten die Kulturdes politischen Streits, der Suche nach dem bestenArgument, der besten Lösung. Sie erlebten die RundenTische als Schulen der freien politischen Meinungsbil-dung auf dem Weg von der Diktatur in die parlamenta-rische Demokratie.

Als mit den ersten freien Wahlen in der DDR am18. März 1990 dieser Übergang geschafft, im Laufe des

Jahres 1990 neue demokratische Institutionen gebildetund funktionsfähig waren, hatten die Runden Tische ihrewichtigste Aufgabe erfüllt. Geblieben aber ist, daß dasfreie Engagement vieler in sozialen und gemeinwohlori-entierten Projekten mitwirkender Bürgerinnen und Bür-ger sowie von Abgeordneten in den kommunalen undLandesparlamenten oder auch hier im Deutschen Bun-destag in der einen oder anderen Weise 1989/90 aneinem Runden Tisch begann daß oder von dieser Arbeitein wichtiger Impuls für das Engagement ausging.

Die Runden Tische der Jahre 1989/90 in der DDRbedeuteten also auch ein Stück Vorleben von Zivilge-sellschaft, ein Symbol für Einmischung und Mitgestal-tung, für die Übernahme von Verantwortung. Hierinliegt wohl ihr wichtigstes Vermächtnis. Die kurze Ge-schichte der Runden Tische in der DDR gehört zu denwichtigen und erinnerungswerten Traditionen der par-lamentarischen Demokratie in Deutschland. Daran sollheute erinnert und allen Initiatoren und Beteiligten fürihre demokratiebildende Arbeit gedankt sein.

(Beifall im ganzen Hause)

Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wirzu unserer heutigen Tagesordnung.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll dasvom Bundesrat eingebrachte Zweite Eigentumsfristen-gesetz abweichend von der gestrigen Überweisungnunmehr dem Rechtsausschuß zur federführenden Be-ratung und dem Ausschuß für Angelegenheiten der neu-en Länder zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Siedamit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch.Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13a bis g sowie dieZusatzpunkte 8 und 9 auf:

13.a) Abgabe einer Regierungserklärung des Bun-deskanzlerszum bevorstehenden Europäischen Rat inHelsinki am 10./11. Dezember 1999

b) Beratung des Berichts des Ausschusses für dieAngelegenheiten der Europäischen Union

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(22. Ausschuß) gemäß § 93a Abs. 4 der Ge-schäftsordnung zu der Unterrichtung durch dieBundesregierungZusammensetzung und Arbeitsverfahrendes mit der Ausarbeitung des Entwurfseiner EU-Charta der Grundrechte zu be-auftragenden Gremiums und einschlägigepraktische Vorkehrungen– Drucksachen 14/1579 Nr. 3.1, 14/1819 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm)Peter AltmaierClaudia RothSabine Leutheusser-SchnarrenbergerManfred Müller (Berlin)

c) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (22. Ausschuß)zu der Unterrichtung durch das EuropäischeParlamentEntschließung des Europäischen Parla-ments zur Ausarbeitung des Entwurfs fürein Wahlverfahren, das auf gemeinsamenGrundsätzen für die Wahl der Mitgliederdes Europäischen Parlaments beruht– Drucksachen 14/74 Nr. 1.9, 14/685 –

Berichterstattung:Abgeordnete Michael Roth (Heringen)Dr. Gerd MüllerClaudia Roth (Augsburg)Ernst BurgbacherManfred Müller (Berlin)

d) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (22. Ausschuß)zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSUFestigung und Fortentwicklung der Euro-päischen Union während der deutschenRatspräsidentschaft im 1. Halbjahr 1999– Drucksachen 14/159, 14/845 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Norbert WieczorekPeter HintzeChristian SterzingDr. Helmut HaussmannManfred Müller (Berlin)

e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierung

Beschäftigungspolitischer Aktionsplan derBundesrepublik Deutschland (April 1999)

– Drucksache 14/1000 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für Angelegenheiten der neuen Länder

Ausschuß für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuß für TourismusAusschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgitSchnieber-Jastram, Wolfgang Meckelburg,Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUUmsetzung der Empfehlungen der Europäi-schen Kommission zur Beschäftigungspoli-tik durch die Bundesregierung– Drucksache 14/1955 –Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend)FinanzausschußAusschuß für Wirtschaft und TechnologieAusschuß für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuß für die Angelegenheitender Europäischen Union

g) Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (22. Ausschuß)zu dem Entschließungsantrag der Fraktion derCDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung derBundesregierung zur aktuellen Lage imKosovo nach dem Eingreifen der NATOund zu den Ergebnissen der Sondertagungdes Europäischen Rates in Berlin– Drucksachen 14/675, 14/1288 –

Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Norbert WieczorekPeter HintzeChristian SterzingDr. Helmut HaussmannManfred Müller (Berlin)

ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU

Regierungskonferenz 2000 und Osterweite-rung – Herausforderungen für die Europäi-sche Union an der Schwelle zum neuenMillennium– Drucksache 14/2233 –

ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun (Augs-burg), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der F.D.P.Europäischer Rat in Helsinki: EU-Erwei-terung voranbringen, politische Union vertie-fen– Drucksache 14/2246 –

Zur Regierungserklärung liegen verschiedene Ent-schließungsanträge der Fraktionen von SPD, BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und PDS vor. Nach einerinterfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprachenach der Regierungserklärung zweieinhalb Stunden vor-gesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es sobeschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatHerr Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Präsident Wolfgang Thierse

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Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999 7061

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Gerhard Schröder, Bundeskanzler : Herr Präsident!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der näch-sten Woche wird der Europäische Rat zum Abschlußder erfolgreichen finnischen Ratspräsidentschaft inHelsinki zusammentreten. Auch bei diesem Rat, demmittlerweile sechsten Treffen der Staats- und Regie-rungschefs in diesem Jahr, stehen wieder Themen imMittelpunkt, die für das künftige Gesicht unseres Konti-nents von entscheidender Bedeutung sein werden.

Ich begrüße es daher außerordentlich, daß wir uns imDeutschen Bundestag vor dem Gipfel in Helsinki undzugleich zum Abschluß eines, wie ich meine, sehrerfolgreichen Jahres noch einmal intensiv mit den ak-tuellen Fragen und den Perspektiven des europäischenIntegrationsprozesses befassen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Beratungen in Helsinki werden auf den Beschlüs-sen und den Impulsen aufbauen, die wir während derdeutschen Präsidentschaft beeinflußt, mitformuliert undmit erheblichem Einsatz nach vorn gebracht haben. Diesist ein weiterer Beleg dafür, daß die Bundesregierungdie Zeit der deutschen Präsidentschaft nicht nur zur er-folgreichen Bewältigung der aktuellen Herausforderun-gen genutzt hat, sondern daß es ihr darüber hinaus ge-lungen ist, gemeinsam mit den Partnern für die weitereEntwicklung des europäischen Einigungsprozesseswichtige und vor allen Dingen zukunftsweisende Orien-tierungen zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte an dieser Stelle dem finnischen Präsiden-ten Ahtisaari und Ministerpräsident Lipponen, die an derSpitze der Ratspräsidentschaft Finnlands standen, für ih-re sehr zielorientierte und alles in allem auch erfolgrei-che Arbeit ausdrücklich danken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU)

Meine Damen und Herren, zur Integration in das ver-einte Europa und zur konsequenten Fortsetzung des In-tegrationsweges gibt es keine rationale Alternative.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Auch der Umzug nach Berlin bedeutet übrigens keineAbkehr von den außenpolitischen Grundorientierungender Bundesrepublik Deutschland. Die feste Integrationund Verankerung in Europa, aber eben auch in der At-lantischen Allianz bleiben die Grundlagen deutscherAußenpolitik. Europa steht heute mehr denn je als Rah-men für unser Handeln zur Verfügung. Die Chancen derGlobalisierung können die Europäer nur gemeinsam undnicht gegeneinander nutzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Glaubhafte und wirkungsvolle Interessenvertretungnach außen ist vor diesem Hintergrund ebenfalls nur auf

europäischer Basis möglich. Die Bundesregierung wirddeshalb auch in Zukunft treibende Kraft der europäi-schen Einigung sein. Sie wird dabei eng und vertrauens-voll mit ihren Partnern, allen voran mit Frankreich, zu-sammenarbeiten. Die tiefe Freundschaft und Partner-schaft mit Frankreich ist und bleibt Angelpunkt deut-scher Außenpolitik.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die deutsch-französische Kooperation ist für Eu-ropa unverändert von elementarer Bedeutung. Derdeutsch-französische Gipfel vor wenigen Tagen undmeine Begegnung mit der französischen National-versammlung auf Einladung von ParlamentspräsidentFabius haben einmal mehr den besonderen Charakterder deutsch-französischen Beziehungen und die engeFreundschaft zwischen beiden Völkern unterstrichen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das hat gezeigt, daß entgegen dem, was gelegentlich zulesen ist, die deutsch-französische Zusammenarbeitfruchtbar ist und vor allen Dingen gut funktioniert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gleichwohl: Hier steckt noch viel Potential, das wir ge-meinsam für Deutschland, für Frankreich, vor allem aberfür Europa nutzen wollen. Wie schon in den vergange-nen Monaten werden wir auch in Helsinki in enger Ab-stimmung auf Fortschritte drängen, die für die weitereStärkung der Union unverzichtbar sind.

Im Mittelpunkt des Europäischen Rates wird dasThema Erweiterung der Europäischen Union stehen.Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, des Symbols deskalten Krieges, sind wir heute im Begriff, die letztenRelikte dieser Epoche beiseite zu räumen und die Spal-tung des ganzen Kontinentes endgültig zu überwinden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit der absehbaren Aufnahme der mittel- und südost-europäischen Beitrittskandidaten in die EuropäischeUnion wird in Europa ein neues Zeitalter beginnen.Nach Deutschlands Wiedervereinigung steht gleichsamEuropas Wiedervereinigung auf der geschichtlichenTagesordnung.

Dieses Ziel möglichst rasch zu erreichen liegt in un-ser aller Interesse und wird von unseren Partnern in derEuropäischen Union geteilt. In Helsinki wollen wir unsüber die weiteren Schritte zur Vollendung dieser Ent-wicklung verständigen. Zunächst wird es darum gehen,die Fortschritte der einzelnen Kandidaten auf ihrem Wegin die Europäische Union zu prüfen. Hierzu hat dieEuropäische Kommission bereits im Oktober Berichtevorgelegt, die nach Einschätzung der Bundesregierungeine zutreffende Analyse dessen darstellen, was Realitätist, und die auch zutreffende politische Folgerungen ent-halten.

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7062 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999

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Wir werden deshalb in Helsinki dafür eintreten, dieAufnahme der Beitrittsverhandlungen auch mit Lettland,Litauen, der Slowakei, Bulgarien und Rumänien zu be-schließen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

All diese Länder haben in den letzten zwölf Monatengroße Reformschritte unternommen. Dabei ist ganz klar,daß der Vorbereitungsstand der einzelnen Länder füreinen Beitritt sehr unterschiedlich ist. Dieser Tatsachemuß in den konkreten Verhandlungen ab Anfang näch-sten Jahres durch eine klare Differenzierung im Ver-handlungsprozeß Rechnung getragen werden. Wir wol-len mit einem Beschluß zur Verhandlungsaufnahme mitdiesen Ländern ein klares politisches Signal geben, dasSignal nämlich, daß Reformbemühungen von der Euro-päischen Union auch honoriert werden.

Darüber hinaus werden wir in Helsinki eine Ent-scheidung über die Verhandlungsaufnahme mit Malta zutreffen haben, nachdem die maltesische Regierung denBeitrittsantrag Maltas erneuert und die Kommissionhierzu positiv Stellung genommen hat.

Europa steht auch gegenüber der Türkei in der Ver-antwortung. Wir können nicht einerseits die strategischeBedeutung der Türkei für Europa immer wieder hervor-streichen, ihr innerhalb der NATO große Lasten aufbür-den, sie als wichtige Regionalmacht hofieren und sie aufeuropäische Standards verpflichten, wenn wir nicht an-dererseits bereit sind, ihr eine klare europäische Per-spektive zu eröffnen, die über die Zollunion hinausge-hen muß.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]:Ganz falsch!)

Die Bundesregierung tritt deshalb mit Nachdruck dafürein, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten fürdie Aufnahme in die Europäische Union zu verleihen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Ein großer Feh-ler!)

Aber zugleich gilt: Diese Beitrittsperspektive ist – dashabe ich gegenüber Premierminister Ecevit in allerDeutlichkeit hervorgehoben – kein Blankoscheck. Wiealle anderen EU-Mitgliedstaaten erwartet die Bundes-regierung von der Türkei im Gegenzug, daß sie die poli-tischen Kriterien von Kopenhagen und natürlich denArt. 6 des Vertrages von Amsterdam über die Europäi-sche Union erfüllt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Erst wenn die politischen Kriterien von Kopenhagen undArt. 6 des EU-Vertrages – das heißt, Wahrung der Men-schenrechte, Achtung und Schutz von Minderheiten so-wie eine stabile und rechtsstaatliche Ordnung – erfülltsind, stellt sich die Frage nach dem Beginn von tatsäch-lichen Beitrittsverhandlungen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Hier kann es keine Abstriche geben, denn wer zur Euro-päischen Union gehören will, der muß auch den Besitz-stand dieser Union und vor allen Dingen deren Wertevoll anerkennen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Europäische Union war immer mehr als eine bloßeWirtschaftsgemeinschaft; sie ist von Anbeginn auch eineWertegemeinschaft gewesen. Das gilt umfassend: Schonim Vorfeld zum Europäischen Rat in Köln habe ich ineinem ausführlichen Briefwechsel mit Premier Ecevit dieRahmenbedingungen für das künftige Verhältnis zwi-schen der EU und der Türkei entwickelt. Sie gelten un-verändert fort. Der türkische Premierminister hat sich mirgegenüber eindeutig zu den gemeinsamen Werten derEuropäischen Union bekannt. Ich meine, dies mußGrundlage dafür sein, daß die Europäische Union dieTürkei als Kandidaten für den Beitritt anerkennt und mitihr gemeinsam die weiteren Schritte auf dem Weg zurKonkretisierung der Beitrittsperspektive ausarbeitet. Wirwollen eine europäische Türkei. Deshalb wollen wir derTürkei eine glaubhafte europäische Perspektive eröffnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

In den vergangenen Monaten ist viel darüber gespro-chen worden, daß es in Helsinki an der Zeit sei, Ziel-daten für den Abschluß der Beitrittsverhandlungen mitersten Ländern festzulegen oder sich gar schon auf kon-krete Beitrittstermine zu verständigen. Die EuropäischeUnion sollte indessen keine Illusionen nähren; wir soll-ten vielmehr realistisch sein. Als Realisten können wiruns nur auf das festlegen, was wir selbst auch einlösenkönnen. Deshalb wollen wir in Helsinki klarstellen,wann die Europäische Union für die Aufnahme neuerMitgliedstaaten bereit ist. Nach dem erfolgreichen Ab-schluß der Agenda 2000 unter deutscher Präsidentschaftund nach der Festlegung des Europäischen Rates inKöln, die Regierungskonferenz zur institutionellen Re-form bis Ende 2000 abzuschließen, können wir den Bei-trittsländern jetzt ein deutliches Signal geben: Die Euro-päische Union wird im Jahre 2003 nach der Ratifizie-rung der Ergebnisse der Regierungskonferenz zu den in-stitutionellen Reformen für die Aufnahme neuer Mit-glieder bereit sein. Das ist eine klare und deutliche Bot-schaft an die Beitrittsländer, eine Botschaft, daß die EUzu ihren Worten steht, offen für neue Mitglieder zu sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dies ist aber zugleich ein Zeichen der Ermutigung fürdie Beitrittsländer, ihrerseits alles zu tun, um für einenraschen Beitritt bestehende Hindernisse in ihren Ländernzu überwinden. Auf diesem Wege wird die EU die Bei-trittsländer mit aller Kraft und mit vielfältigen Hilfenunterstützen. Wir wollen das erweiterte Europa, wirbrauchen es, um Frieden, Freiheit, Stabilität undWohlstand auf unserem Kontinent auf Dauer zu sichern.

Beim Europäischen Rat in Köln haben wir uns daraufverständigt, im Jahre 2000 eine Regierungskonferenzzu den institutionellen Reformen durchzuführen. Mit

Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Blick auf die angestrebte Erweiterung der Union und aufdie berechtigten Erwartungen der Beitrittsländer auf ei-nen raschen Beitritt erwarte ich einen Konsens derStaats- und Regierungschefs für ein begrenztes Mandatfür die kommende Regierungskonferenz. Nur wenn wiruns auf die wesentlichen Fragen der Stimmgewichtung,der Größe und Struktur der Kommission, der Auswei-tung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit so-wie einige andere wichtige Fragen beschränken, werdenwir die Regierungskonferenz rechtzeitig bis zum Endedes Jahres 2000 abschließen können.

Zugleich sind wir uns bewußt – darüber war ich mirmit Präsident Chirac und Premierminister Jospin völligeinig –, daß wir uns der Frage nach der rechtlichen undder politischen Gestalt der Europäischen Union in dennächsten Jahrzehnten verstärkt stellen müssen.

(Zustimmung bei der SPD)Deutschland und Frankreich werden in diesen Fragengemeinsam Definitionen und Ziele entwickeln. BeideSeiten sind fest entschlossen, auch auf diesem Gebietdem vereinten Europa entscheidende Impulse zu geben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich betrachte es in diesem Zusammenhang als eingutes Omen, daß sowohl die Konferenz zur institutio-nellen Reform wie auch die Arbeiten an der Ausgestal-tung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-politik und das Projekt „Grundrechtscharta“ den Bogenvon der deutschen zur französischen Präsidentschaftschlagen. Eindringlicher als dies könnte unsere besonde-re Verantwortung für die Zukunft Europas, die wir ge-meinsam wahrzunehmen gewillt sind, nicht zum Aus-druck gebracht werden.

Die künftige Verfaßtheit Europas wird Thema einesintensiven Diskussionsprozesses sein, den wir in Köln inGang gesetzt haben. Denn der Auftrag an ein eigenstän-diges Gremium, den Entwurf für die Grundrechtchartader EU auszuarbeiten, ist der erste Schritt auf dem Wegzur Entwicklung stärkerer und damit belastbarer euro-päischer Verfassungsgrundlagen. Ich freue mich sehr,daß der Startschuß zu dieser Entwicklung unter deut-scher Präsidentschaft erfolgt ist.

Meine Damen und Herren, ich freue mich auch, daßich mit dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzogeine ganz herausragende Persönlichkeit als meinen per-sönlichen Beauftragten für dieses Gremium gewinnenkonnte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten derCDU/CSU, der F.D.P. und der PDS)

Ich bin sicher, daß Altbundespräsident Herzog mit seineraußerordentlichen politischen Erfahrung, seiner Persön-lichkeit und seiner immensen fachlichen Qualifikation dieArbeit dieses Gremiums prägen wird. Die Bundesregie-rung jedenfalls würde es sehr begrüßen, wenn das Gremi-um ihn auch zum Vorsitzenden berufen würde.

Meine Damen und Herren, in Helsinki werden wirzum weiteren Vorgehen und zu den anstehenden Fragender Regierungskonferenz über die institutionellen Re-

formen notwendige Entscheidungen treffen. Für uns giltin Helsinki wie in der Regierungskonferenz selbst dieMaxime, daß wir Handlungsfähigkeit und Effizienz,demokratische Legitimität, Bürgernähe und Transparenzauch in einer erweiterten Europäischen Union sicher-stellen müssen. Hierzu ist es unverzichtbar, daß wir zuklaren und nachvollziehbaren Entscheidungsverfahrenkommen, bei denen eine bessere Ausgewogenheit zwi-schen dem Stimmengewicht der größeren und der klei-neren Staaten gewährleistet sein muß.

Darüber hinaus gilt es, eine vernünftige Regelung fürdie Struktur und Größe der Europäischen Kommissionzu finden, eine Struktur und Größe, die die Interessenaller Mitgliedstaaten wahrt und eine sinnvolle Ar-beitsaufteilung ermöglicht.

Aus der Sicht der Bundesregierung stellt der ver-mehrte Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierterMehrheit im Rat unter gleichzeitiger Mitbestimmungdes Europäischen Parlaments einen der Kernpunkte deranzustrebenden Reform dar.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Natürlich gibt es Bereiche, bei denen das Festhaltenan der Einstimmigkeit unbestritten ist. Das gilt zum Bei-spiel für Vertragsänderungen und andere ratifizierungs-bedürftige Entscheidungen. Es gilt auch für Kernfragendes nationalen Interesses. Ich setze dabei, meine Damenund Herren, auf die konstruktive Mitarbeit der Länder,die wir an den Arbeiten nach dem bewährten Verfahrender letzten Regierungskonferenz beteiligen wollen undbeteiligen werden.

Noch ein Punkt erscheint mir für wichtig für den Er-folg der Regierungskonferenz: die enge Beteiligung desEuropäischen Parlaments an der Konferenz. Auf seineIdeen, seinen Sachverstand und auf seine demokratischeLegitimation können und wollen wir nicht verzichten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, das Europa der Zukunftmuß weltweit seine Interessen und Werte wirkungsvollvertreten können. Dies setzt voraus, daß wir Europäer inder Welt mit einer Stimme sprechen und unseren Anlie-gen gemeinsam wirkungsvoll Geltung verschaffen. Mitder Berufung Javier Solanas zum Hohen Beauftragten fürdie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und mitseiner zusätzlichen Betrauung mit dem Amt des WEU-Generalsekretärs ist uns ein erster wichtiger Schritt in die-se Richtung gelungen. In einem nächsten Schritt müssenwir nun darangehen, die Grundlagen für ein wirksameseuropäisches Krisenmanagement und für eine europäi-sche Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu schaffen.

Unter deutscher Präsidentschaft haben wir beim Euro-päischen Rat in Köln im Juni die Weichen in diese Rich-tung gestellt. Nicht zuletzt die Krise im Kosovo, meineDamen und Herren, hat gezeigt, daß wir Europäer sowohlim Bereich der Aufklärung als auch beim LufttransportDefizite haben. In einem ersten Schritt habe ich mit Präsi-dent Chirac deshalb eine deutsch-französische Initiativevereinbart, die die Schaffung eines europäischen Luft-transportkommandos zum Ziel hat.

Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Beim Europäischen Rat in Helsinki werden wirwichtige Orientierungen für die weitere Ausgestaltungder europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitikgeben und erste Entscheidungen treffen. Ziel bleibt es,die Arbeiten auch auf diesem Feld unter französischerPräsidentschaft bis Ende 2000 abzuschließen. Dabeisteht neben der Schaffung krisentauglicher Entschei-dungsmechanismen vor allem die Verbesserung der mi-litärischen Fähigkeiten der Europäischen Union durchdie Integration der WEU in die Europäische Unionim Vordergrund. In Helsinki geht es auch darum, durcheinen Interimsbeschluß schnellstmöglich die Strukturenfür ein europäisches Krisenmanagement zu schaffen.Wir brauchen in Brüssel ein ständiges politisches undsicherheitspolitisches Komitee sowie einen Militäraus-schuß. Die endgültige Verankerung dieser notwendigeninstitutionellen Strukturen könnte dann im Rahmen derRegierungskonferenz im nächsten Jahr erfolgen.

Ferner ist es wichtig, Zielvorgaben für die Bereit-stellung der notwendigen Kapazitäten für die militäri-sche und zivile Krisenbewältigung zu verabschieden.Die britischen Vorschläge dazu finden unsere ungeteilteUnterstützung. Außerdem müssen die Grundparameterfür die Einbeziehung der assoziierten WEU-Mitglieder– also derjenigen europäischen Staaten, die der NATO,aber nicht der Europäischen Union angehören – verein-bart werden. Niemand soll sich ausgegrenzt fühlen;niemand soll Nachteile erleiden.

Nicht weniger wichtig ist natürlich eine enge undvertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen der Europäi-schen Union einerseits und der NATO andererseits. Eskann und es wird hier kein Konkurrenzdenken geben.

Neben der Politik der europäischen Einigung bleibtdie transatlantische Zusammenarbeit im Rahmen derNATO weiterhin tragender Pfeiler unserer Außenpoli-tik. Dabei spielen die enge Partnerschaft und Freund-schaft mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada einezentrale Rolle. Ihre Mitwirkung in Europa bleibt auch inZukunft von entscheidender Bedeutung für Sicherheitund Stabilität auf unserem Kontinent.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, in Helsinki müssen wiruns ebenfalls mit einem aus deutscher Sicht ausgespro-chen wichtigen Thema befassen, das unter den Mitglied-staaten schon seit geraumer Zeit diskutiert wird: dasvom Europäischen Rat in Wien vor einem Jahr in Auf-trag gegebene Steuerpaket zur Eindämmung schädli-chen Steuerwettbewerbs. Für Europa ist es im globalenWettbewerb von großer Bedeutung, daß wir uns nichtuntereinander Nachteile durch unfairen Steuerwettbe-werb zufügen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb halten wir die baldige Einigung auf ein Steu-erpaket mit folgenden drei Elementen für unverzichtbar:erstens

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Erb-schaftsteuer!)

dem Richtlinienentwurf zur Besteuerung von Zinserträ-gen, der die steuerliche Erfassung grenzüberschreitenderZinszahlungen an natürliche Personen sicherstellen soll,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gregor Gysi [PDS]:Auch an juristische, wenn’s geht!)

zweitens dem Verhaltenskodex zur Unternehmensbe-steuerung, der auf die Vermeidung bzw. Beseitigung un-fairer Steuerpraktiken abzielt,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

sowie drittens dem Richtlinienentwurf zur Zahlung vonZinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Un-ternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, womit diesteuerliche Benachteiligung zwischenstaatlicher Unter-nehmenszusammenschlüsse gegenüber rein nationalenUnternehmenszusammenschlüssen verhindert werdensoll.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Während die Beratungen zum Verhaltenskodex undzur Lizenzrichtlinie weit vorangebracht werden konnten,sind die Verhandlungen zur Besteuerung von Zinser-trägen wegen der unnachgiebigen Haltung eines Mit-gliedsstaates blockiert.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer istdas denn? – Michael Glos [CDU/CSU]: SindSie nicht mit dem Premier befreundet?)

– Herr Glos, ich denke, in den nächsten Tagen und Wo-chen sollten Sie beim Thema Finanzen etwas zurück-haltender sein. Das ist sicher nötig.

(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich mache, meine Damen und Herren, keinen Hehldaraus, daß ich für eine solche Blockadehaltung, die na-tionale Eigeninteressen über die notwendige europäischeSolidarität stellt, wenig Verständnis habe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Diese Politik schadet Europa und längerfristig auch deneigenen nationalen Zielen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Für die Bundesregierung ist es entscheidend, daß wireine Einigung über das Gesamtpaket erzielen, denn alledrei darin enthaltenen Elemente zielen auf die Eindäm-mung jeweils unterschiedlicher Aspekte des schädlichenSteuerwettbewerbs. Sie bilden deshalb eine Einheit, diewir nicht aufgelöst sehen wollen. Wir müssen und wer-den aus diesem Grunde hierüber in Helsinki einen inten-siven Meinungsaustausch führen. Ich hoffe, daß sichGroßbritannien in dieser Frage entscheidend bewegt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ein weiteres wichtigesThema in Helsinki wird die Beschäftigungspolitik sein.

Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Grundlage der Beratungen zur Beschäftigungspolitikbilden die beschäftigungspolitischen Leitlinien 2000, dergemeinsame Beschäftigungsbericht sowie die Empfeh-lungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Wir können fest-stellen: Die europäische Beschäftigungsstrategie beginntFrüchte zu tragen. Die Arbeitslosenquote in der Euro-päischen Union ist nach Angaben des Statistischen Am-tes der Gemeinschaft von 10,8 Prozent Mitte 1997 auf9,1 Prozent im September 1999 zurückgegangen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Trotz dieser erfreulichen Entwicklung liegt die Arbeits-losigkeit auf europäischer Ebene bei weitem zu hoch.Der Europäische Rat wird deshalb diesem Thema auchweiterhin besondere Aufmerksamkeit schenken. DieBedeutung, die wir der Bekämpfung der Arbeitslosigkeitund der Schaffung neuer Arbeitsplätze beimessen, machtauch die Tatsache deutlich, daß wir diese Fragen am 23.und 24. März 2000 auf einem Sondergipfel in Lissabonberaten werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der heutebereits erreichte europäische Integrationsstand und dieanstehende Erweiterungsrunde markieren eine tiefgrei-fende Zäsur in der Geschichte der europäischen Inte-gration. Europa wächst über den früheren Eisernen Vor-hang hinweg zusammen. Europa muß in den kommen-den Monaten eine große Zahl sehr unterschiedlicher,aber in jedem Einzelfall wichtiger Aufgaben bewältigen.Die Bundesregierung wird sich diesen Aufgaben stellen.Sie wird dabei in enger Abstimmung mit den Partnern,insbesondere mit Frankreich, nach geeigneten Strategienund Konzepten suchen, um die Europäische Union zufestigen und zu stärken. Wir sind der Auffassung, daß esdazu keine wirklich rationale Alternative gibt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das WortEdmund Stoiber, Ministerpräsident des FreistaatesBayern.

Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern):Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Der Europäische Rat von Helsinki wird einenwichtigen Meilenstein setzen. Aus der einst auf Westeu-ropa beschränkten Gemeinschaft soll ja nun eine ge-samteuropäische Union werden. Damit wird ein Prozeßkonsequent fortgesetzt, der auf deutscher Seite untrenn-bar – daran möchte ich heute erinnern – mit der Unionund hier wiederum untrennbar mit den Namen KonradAdenauer und Helmut Kohl verbunden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Dieses Werk gilt es zu bewahren.

Ich kann vielen der von Ihnen, Herr Bundeskanzler,aufgezeigten Positionen zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Sie zeigten aber in besonderem Maße nur die schönenSeiten. Von den Problemen, den Herausforderungen undden Auswirkungen der Osterweiterung für Deutschlandhabe ich wenig, um nicht zu sagen: nichts gehört.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

Die Osterweiterung wird nur gelingen, wenn Sie dieMenschen in Deutschland mitnehmen, wenn die Men-schen in Deutschland diese Erweiterung genauso akzep-tieren wie die überwältigende Mehrheit in diesem HohenHause.

Der europäische Gipfel wird kein gewöhnlicher Gip-fel sein. Der frühere Vizepräsident der EuropäischenKommission, Sir Leon Brittan, hat es sehr treffend for-muliert: „Die Bedeutung der Osterweiterung ist nur ver-gleichbar mit dem Abschluß der Römischen Verträge imJahre 1957.“ Wir sind uns alle einig – das möchte ichnachdrücklich unterstreichen –, daß die Osterweiterungder Europäischen Union politisch, wirtschaftlich, histo-risch und kulturell notwendig ist. Sie bietet die Chancezur langfristigen Garantie von Frieden, Freiheit undWohlstand in ganz Europa.

Der Kosovo-Konflikt hat die Notwendigkeit einer ge-nerellen Stabilisierung von Mittel- und Osteuropa ver-deutlicht. Der Wunsch nach einer Beschleunigung desErweiterungsprozesses ist daher verständlich und rich-tig. Doch machen wir uns nichts vor: Nicht überall – daswiederhole ich – stößt die Osterweiterung auf helle Be-geisterung, auch nicht in Deutschland. Deshalb müssenwir nicht über das „Ob“, sondern über das „Wie“ disku-tieren. Wir müssen die Akzeptanz der Menschen dafürgewinnen, und zwar nicht durch Werbesprüche, sonderndurch Aufklärung, Fakten, Konzepte und auch durchleidenschaftliche Auseinandersetzungen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

So wie wir hier über die Auswirkungen der Globali-sierung diskutieren, so wie wir um Steuer-, um Sozialre-formen und um Sparkonzepte ringen, so müssen wir of-fen über die weitere Integration Europas leidenschaft-lich diskutieren. Die Lösungen, die wir erarbeiten, dieEntscheidungen, die Sie diesen Monat in Helsinki tref-fen werden, müssen nicht nur in den nächsten zehn Jah-ren, sondern auch in den nächsten 20, 30 Jahren stim-men. Es handelt sich in der Tat um eine enorme Wei-chenstellung.

Durch den Beitritt von zwölf Staaten entsteht eineandere Europäische Union: nahezu doppelt so viele Mit-glieder, Vergrößerung der Fläche um die Hälfte, Anstiegder Bevölkerung um ein Drittel, 20 und mehr Amtsspra-chen, ein Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt der beitretendenStaaten, das teilweise unter 30 Prozent des EU-Durch-schnittes liegt – wie im Fall von Bulgarien, Lettland undRumänien –, Erhöhung des landwirtschaftlichen Pro-duktionspotentials um 50 Prozent. Von den Auswirkun-gen werden auch wir Deutsche massiv betroffen sein.Natürlich gewinnen wir auf der einen Seite neue Ab-satzmärkte, aber auf der anderen Seite drohen finanzielleMehrbelastungen, ein verstärkter Druck auf unseren Ar-beitsmarkt und Probleme für die Sicherheit an denAußengrenzen.

Bundeskanzler Gerhard Schröder

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Die geplante Erweiterung um zwölf Staaten über-steigt bei weitem die Dimension der früheren Süder-weiterung um Griechenland, Portugal und Spanien. InSpanien, das noch heute Leistungen aus dem Kohäsions-fonds bezieht, lag zur Zeit seines EU-Beitritts, im Jahre1986, das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt bei immerhin67 Prozent des Durchschnitts der damaligen Zehner-EG.Im vergleichbar großen Polen liegt es heute bei39 Prozent, in Rumänien und Bulgarien bei 27 bzw.23 Prozent.

Meine Damen, meine Herren, um es noch einmal zuunterstreichen: Wir sind für die Entscheidung, den Kreisder Beitrittskandidaten von sechs auf zwölf auszuweiten.Aber die Erweiterung muß solide geplant und durchge-führt werden. Ansonsten würden wir nicht den Ostenstabilisieren, was wir bewirken wollen, sondern Gefahrlaufen, durch ihn destabilisiert zu werden. Deswegen istdies eine ganz entscheidende Weichenstellung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ul-rich Heinrich [F.D.P.])

Deshalb sind die Beitrittskriterien des Kopenhage-ner Gipfels von 1993 von so entscheidender Bedeutung.Um sich nicht in ein Abenteuer mit ungewissem Aus-gang zu stürzen, haben damals alle EU-Mitglieder poli-tische und wirtschaftliche Voraussetzungen für die EU-Mitgliedschaft formuliert. Darunter besonders wichtig:die Garantie – das haben Sie erwähnt – von Demokratieund Rechtsstaat einschließlich Menschenrechte undMinderheitenschutz. Aber es gibt noch andere Kriterien,nämlich eine funktionsfähige Marktwirtschaft, die denWettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb derUnion standzuhalten vermag, und die Fähigkeit, die auseiner Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zuübernehmen.

Wenn nun Beitrittsverhandlungen auch mit Staatenaufgenommen werden, die von der Erfüllung dieserKriterien noch weit entfernt sind, so darf das nicht dazuführen, die Kopenhagener Beitrittskriterien „intelligentzu interpretieren“, wie das Romano Prodi vor kurzemausgedrückt hat. Das heißt, die Kriterien, vor allem diezweiten und dritten Kriterien, die wirtschaftlichen Krite-rien, will man anscheinend innerhalb der Kommissionlockerer angehen. Das halte ich für außerordentlich ge-fährlich. Hier erwarte ich auch ein klares Wort, daß dasmit Sicherheit nicht geht. Denn das würde letzten Endesdie europäische Integration nicht fördern, sondern sielangfristig geradezu schwächen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Popanz!)

Ein Beitritt von Staaten, deren Volkswirtschaften fürden Konkurrenzkampf im Binnenmarkt noch nicht aus-reichend gerüstet sind, hätte in der Tat dramatischeSchwierigkeiten für diese Staaten zur Folge, aber nichtnur dort. Er könnte auch das großartige Einigungswerkin einem Jahrzehnt gefährden. Gerade wir in Deutsch-land wissen doch, was es bedeutet, wenn völlig unter-schiedliche Wirtschaftssysteme vereinigt werden sollen.

Zweitens. Bei den Verhandlungen ist Sorgfalt wich-tiger als Geschwindigkeit. Einen konkreten Beitrittster-

min lehnen auch wir ab. Schon bei den laufenden Bei-trittsverhandlungen mit den Staaten der sogenannten er-sten Welle drückt die Kommission zunehmend auf dasTempo. Zwischen den Vorschlägen der Kommission anden Rat für eine gemeinsame Verhandlungsposition undden Verhandlungssitzungen mit den Beitrittskandidatenliegt oft nicht einmal eine Woche. Da haben die Mit-gliedstaaten im Rat kaum noch die Gelegenheit, dieVerhandlungsvorschläge der Kommission gründlich zuprüfen und eigene Interessen einzubringen. Das machensie meines Erachtens mit, wenn ich mir die Verhandlun-gen anschaue. Deswegen stimme ich auch HelmutSchmidt zu, der vor wenigen Tagen, am 1. Dezember1999, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ einenbemerkenswerten Leserbrief geschrieben hat. Erschreibt:

Ich sehe mit einer gewissen Sorge, daß der Mi-nisterrat der Europäischen Union und die Kommis-sion in Brüssel ziemlich gleichzeitig mit einer gro-ßen Zahl von beitrittswilligen Ländern verhandeln,zugleich sehr optimistisch zeitliche Daten anvisie-ren, ohne sich über die ökonomischen Anpassungs-probleme ausreichend Klarheit verschafft zu haben.Wer glaubt, daß nahezu eine Verdopplung der Zahlder Mitgliedstaaten und eine institutionelle Reformder Europäischen Union in wenigen Jahren bewäl-tigt werden kann, der kann für alle Beteiligtenschwere Schäden anrichten.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Recht hat er!)

Ich glaube, daß dies genau den Kern der Sorgen trifft,die wir haben, um das Ganze zu einem großen Erfolg zubringen.

Mich konnten Sie lange Zeit als einen sogenanntenEuropagegner darstellen, aber das können Sie jetzt nichtmehr, weil man sich zunehmend bewußt wird, daß esgewaltige Anforderungen erfordert, um diese Bewälti-gung zu erreichen.

Meine Damen, meine Herren, „Zeitplan vor Krite-rien“ lehnen wir ab. Jeder Beitrittskandidat bestimmt dasTempo durch die Erfüllung der Kriterien für sich selbst.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Drittens. Wo nötig, brauchen wir Übergangsfristenfür die Beitrittskandidaten, aber auch für uns. Das Deut-sche Institut für Wirtschaftsforschung schätzt, daß bis zu1,2 Millionen Personen in der heutigen EuropäischenUnion eine Arbeitsstelle suchen werden. Eine solcheEntwicklung wäre vor allem für unsere Grenzregionendramatisch, aber nicht nur für sie. Daher brauchen wirangemessene Übergangsfristen. Das ist weder anstößignoch neu. Ich weise darauf hin, daß 1986 beim Beitrittvon Spanien und Portugal immerhin eine siebenjährigeÜbergangsfrist für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ver-einbart worden war.

Das war sicherlich noch eine geringere Problematik, alswir sie heute haben. Deswegen glaube ich, daß die Bun-desregierung auch dafür sorgen muß, daß in diesenPunkten auch deutsche Interessen wirkungsvoll in dieVerhandlungen eingebracht werden.

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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Beherzigen Sie auch das, was Ihnen Ihre neue euro-papolitische Beraterin, Frau Wulf-Mathies, ins Stamm-buch schreibt! Sie sagt:

Wir Deutsche treffen vielfach europapolitische Ent-scheidungen, ohne das deutsche Interesse auch nurdefiniert zu haben … Auch der neuen Regierungfehlt es noch an einem Kompaß.

Wenn das Ihre Beraterin sagt, dann habe ich dem nichtsmehr hinzuzufügen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber nicht nur die Beitrittskandidaten sind gefordert.Auch die Europäische Union selbst muß sich beitrittsfä-hig machen. Für eine Erweiterung der EuropäischenUnion auf bis zu 27 Staaten brauchen wir substantielle,institutionelle und inhaltliche Reformen. Da kann mansich nicht wegen angeblichen Zeitdrucks im wesentli-chen auf einige institutionelle Fragen beschränken. Siehaben auch heute wieder gesagt, man könne im Grundenur die drei wichtigsten, die „leftovers“, angehen. Le-diglich eine neue Stimmengewichtung im Rat, eine Än-derung der Größe der Kommission und verstärkt Mehr-heitsentscheidungen werden nicht ausreichen, damit dieEuropäische Union auch nach der Osterweiterung nochfunktioniert.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wissen Sie, Sie können sich nicht darum herummo-geln. Es ist in der Tat ein Problem, wenn man es auf die-se drei wichtigen Dinge begrenzt und nicht weitergeht.Das kommt mir so vor wie bei Mika Häkkinen, der beieinem Rennen mit großer Schnelligkeit an die Boxenherangefahren und dann auf drei Reifen gestartet ist.Man hat ja gesehen, was aus ihm in diesem Rennen ge-worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU – BundeskanzlerGerhard Schröder: Der ist Weltmeister gewor-den! – Heiterkeit)

Auch die Kommission und das Europäische Parla-ment treten dafür ein, den Auftrag der Regierungskon-ferenz auszuweiten. Die von der Kommission befragten„drei Weisen“ haben eine umfassendere Reform vorge-schlagen, aber leider in die falsche Richtung. Sie wollendas EG-Vertragssystem zweiteilen. Im ersten Teil sollendie Grundsätze niedergelegt werden, im zweiten Teil dieeinzelnen Politikbereiche. Dieser zweite Teil, der letzt-lich die Einzelkompetenzen der Europäischen Unionenthält, soll in einem gemeinschaftsautonomen Verfah-ren geändert werden können. Das heißt, allein die Ge-meinschaftsorgane würden dann zum Beispiel mehrheit-lich bestimmen, ob die Europäische Union gemein-schaftsweite Steuern erheben darf. Ich glaube, daß dasviel zu wenig debattiert wird. Das wäre in der Tat dieEntmachtung der nationalen Parlamente. Das wäre dieEntmachtung des Deutschen Bundestages. Die Kompe-tenzkompetenz läge dann bei der Europäischen Union.Das wäre meines Erachtens ein Stück europäischer Staatdurch die Hintertür.

(Günter Gloser [SPD]: Das ist doch Horror!)

– Dann müssen Sie auch etwas dazu sagen, ob Sieakzeptieren, daß künftig in wichtigen Bereichen nurnoch der Ministerrat und das Europäische Parlamententscheiden. Dann müssen Sie etwas dazu sagen, ob Sieakzeptieren, was Dehaene will,

(Joachim Poß [SPD]: Sie kennen doch dasGrundgesetz! Art. 21 Abs. 3!)

nämlich daß es letzten Endes keine Ratifizierungspflichtder nationalen Parlamente mehr gibt. Dann entledigenSie sich großer Aufgaben. Ich halte das in der Tat für einProblem.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P.)

Eine gewaltig vergrößerte Europäische Union undeine gleichzeitig fortschreitende Vertiefung hin zu ei-nem Bundesstaat Europa, das paßt für mich nicht zu-sammen. Das ist – ich sage das ganz offen –, als ob zweiZüge mit vollem Tempo aufeinander zurasen, aber leiderauf dem gleichen Gleis. In einer so enorm erweitertenund so heterogenen Europäischen Union der 27 könnenzwangsläufig nicht alle Aufgaben erledigt werden, wiees in einer Europäischen Union der 6 oder 15 nochdenkbar war.

Die Osterweiterung wird die Europäische Union dazuzwingen, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren, dienur von Europa erledigt werden können. Sie wird unsdazu zwingen, das Subsidiaritätsprinzip endlich ernstzu nehmen.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehrrichtig!)

Der Konflikt zwischen Vertiefung und Erweiterungläßt sich nur dadurch lösen, daß sich Europa auf die we-sentlichen Aufgaben beschränkt, für diese aber das not-wendige Instrumentarium erhält. Das ist für mich derentscheidende Punkt, Herr Bundeskanzler. Ich bedauerees außerordentlich, daß in Helsinki nur über die drei in-stitutionellen Fragen diskutiert und entschieden werdensoll. Denn neben einer Definition der europäischen Auf-gaben und Interessen brauchen wir zuallererst eine klareBeschreibung der europäischen Kompetenzen. Wenndie Mitgliedsstaaten Mehrheitsentscheidungen akzeptie-ren sollen, dann müssen sie wissen, worüber eigentlichentschieden werden soll.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr.Karlheinz Guttmacher [F.D.P.])

Ich möchte einmal ein aktuelles Beispiel nennen:Hätte sich jemand im Deutschen Bundestag bei der Zu-stimmung zu den EG-Verträgen vorstellen können, daßder Europäische Gerichtshof für Europa in Anspruchnimmt, das nationale Thema „Frauen in der Bundes-wehr“ allein unter dem Gesichtspunkt der Chancen-gleichheit von Mann und Frau im Arbeitsleben zuregeln? Wir würden in dieser Frage hier im DeutschenBundestag mit Sicherheit eine leidenschaftliche Debatteführen. Ich bin mir nicht sicher, ob es dabei verfas-sungsändernde Mehrheiten in Bundestag und Bundesratgäbe. Aber wenn der Generalanwalt das so vertritt undder Europäische Gerichtshof das letztlich so entscheidet,

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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dann zeigt das, daß Kompetenzen auf Europa überge-gangen sind – ohne daß man sich groß damit befaßthat –, die man so eigentlich nicht auf Europa übertragenwollte. Denn dies zu entscheiden ist zunächst einmaleine nationale Aufgabe, die nur vor dem Hintergrund derGeschichte Deutschlands verständlich ist. Verfassungs-bestimmungen sollten nicht so ohne weiteres über eineVertragsbestimmung auf europäischer Ebene, die sehrweit ausgelegt wird, ausgehebelt werden. Das ist genauder Punkt, um den es geht.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Bundeskanzler, Sie loben das Ergebnis des Ber-liner Gipfels

(Beifall des Abg. Günter Gloser [SPD] – Zurufvon der SPD: Mit Recht!)

und verschweigen, was heute schon allgemeine Meinungist: daß nachgebessert werden muß, was in Berlin beider Verabschiedung der Agenda 2000 versäumt wordenist, nämlich die gemeinsame Agrarpolitik und die EG-Strukturpolitik so zu reformieren, daß die Osterweite-rung kein finanzielles Hasardspiel wird.

Sie vertreten hier mit großer Verve die Osterweite-rung. Da sind wir nicht auseinander. Aber wie paßt daszusammen mit dem, was damals in Berlin beschlossenworden ist? Nach dem Beschluß von Berlin belaufensich die Gesamtausgaben für die Europäische Union der15 im Zeitraum von 2000 bis 2006 auf 682 MilliardenEuro. Für die Osterweiterung werden demgegenüber nur68,5 Milliarden Euro angesetzt. Mit diesen Beträgenkönnen Sie das Ziel einer raschen Erweiterung um zwölfStaaten sicherlich nicht oder nur unter größten Belastun-gen erreichen. Es geht aber darum, die Belastungen zuminimieren, damit das Ziel nicht zerbröselt wird. Das istdie entscheidende Frage.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P.)

Sie haben hier gerade noch einmal angekündigt, inHelsinki die Schaffung eines wirksamen europäischenArms in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik alsbedeutsame Aufgabe Europas in Angriff zu nehmen.

(Zuruf von der SPD: Das ist richtig!)

– Das ist richtig. – Aber dieses Ziel steht wiederum ineinem fundamentalen Kontrast zur Realität Ihrer Sicher-heitspolitik. Sie tragen mit Ihren Milliardenkürzungenbei den Investitionen der Bundeswehr natürlich die Ver-antwortung dafür, daß der technologische Rückstand derBundeswehr gegenüber anderen NATO-Partnern, vorallen Dingen den Vereinigten Staaten und Großbritan-nien, in den nächsten Jahren immer größer wird. Siesprechen von neuen Strukturen für ein europäisches Kri-senmanagement und einer europäischen Eingreiftruppe.Aber mit Ihrer Sicherheitspolitik werden wir in20 Jahren immer noch die Amerikaner brauchen, umdeutsche Soldaten aus den Krisenherden wieder heraus-zuholen.

Es paßt nicht zusammen: hehre Worte in der französi-schen Nationalversammlung, hehre Worte auf der euro-päischen Ebene, hehre Worte auf dem Gipfel, aber hier

das Gegenteil zu tun, die technologische Ausrüstung derBundeswehr weiter ganz entscheidend zu schwächen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P.)

Zwischen Worten und Taten, zwischen dem, was mansagt, und dem, was man tut, sollte immer eine Dek-kungsgleichheit bestehen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P. – Beifall bei der SPD unddem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube, daß Sie im Grunde genommen ein biß-chen verkennen, welche Probleme gerade für die natio-nalen Parlamente entstehen. Ich glaube, daß Mehrheits-entscheidungen in Europa – ich bleibe dabei –, die wirbrauchen, nur getroffen werden können, wenn man ge-nau weiß, welche Kompetenz das Europäische Parla-ment, welche Kompetenz die Europäische Kommissionund welche Kompetenz die nationalen Parlamentehaben.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hier gibt es gegenwärtig eine sehr wuchernde Ent-wicklung. Ich glaube, daß ernsthaft darüber debattiertwerden muß, ob es einen Sinn macht, daß im Prinzipimmer mehr Entscheidungen auf europäischer Ebenegetroffen werden, ohne daß man den Rahmen genaufestgelegt hat, die die Menschen im Grunde genommennicht nachvollziehen können.

(Günter Gloser [SPD]: Sie können es nichtnachvollziehen!)

Ich glaube, daß wir eine genaue Abgrenzung brau-chen. Das ist für mich der entscheidende Punkt. AuchSie wollen ein Europa der Subsidiarität. Aber der Be-griff der Subsidiarität wird in Europa natürlich unter-schiedlich ausgelegt. Die Briten und die Franzosen ver-stehen unter Subsidiarität etwas anderes als wir Deut-schen. Deswegen können wir den Begriff der Subsidia-rität letzten Endes nur konkretisieren, wenn wir in Euro-pa über die „leftovers“ hinaus wirkliche Kompetenzab-grenzungen erreichen und deutlich machen, welcheseine regionale, welches eine nationale und welches eineeuropäische Aufgabe ist. Ich bin für Erweiterungen dereuropäischen Kompetenz – ich glaube, darüber gibt eshier keine Meinungsverschiedenheiten – in der Asyl-politik, in der Sicherheitspolitik, in der Außenpolitik undin der Verteidigungspolitik. Hier brauchen wir zwei-felsohne ein Mehr an Europa. Aber in der Frage desKatastrophenschutzes und der Fremdenverkehrspolitikbrauchen wir ein Weniger an Europa. Wir brauchen einevernünftige Abgrenzung und keinen Mischmasch. Dar-um geht es.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P. – Lothar Mark [SPD]:Nach Ihrer Rede können Sie nicht mehr mei-nen, was Sie wollen!)

Es geht um die Frage: Wie bauen wir dieses neueEuropa, das mit viel mehr Staaten eine wuchtige Ebenesein soll, und zwar eine Ebene, die zusammenwächstund unsere Interessen über Europa in der Welt deutlich

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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machen kann? Aber dieses Gebilde muß in sich eini-germaßen homogen sein. Es muß klar sein, wer was ent-scheidet. Dies habe ich sehr vermißt. Ich bedaure sehr,daß Sie all das, was im Parlament und auch im Bundes-rat von allen Ministerpräsidenten gefordert wird, näm-lich eine deutliche Kompetenzabgrenzung zu erreichen,überhaupt nicht angehen.

Ich weiß, daß die Europäische Kommission von einerKompetenzabgrenzung überhaupt nichts hält. Ich weiß,daß die meisten Mitgliedstaaten von einer Kompetenz-abgrenzung überhaupt nichts halten. Aber ich glaube,daß eine solche notwendig ist, damit man weiß, was indiesem Parlament Sache ist, was in diesem Parlamententschieden wird und was im Europäischen Parlamententschieden wird.

(Lothar Mark [SPD]: Weshalb haben Sie esnicht erreicht?)

Dieses Durcheinander ist eine schlechte Ausgangslagefür eine weitere Integration Europas. In diesem Sinnebitte ich Sie und fordere Sie auf, in Helsinki dafür ein-zutreten.

Danke schön.(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-

ordneten der F.D.P.)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kol-legen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.

Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damenund Herren! Wir haben hier heute morgen Herrn Stoiberin seiner Lieblingsrolle als europapolitische Kassandraerlebt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Nicht zugehört!)

Die heutige Aufführung war nicht überzeugender als dieAufführung, die wir hier im Deutschen Bundestag schonerlebt haben. Herr Stoiber, die Presse war sich bei einemIhrer letzten Auftritte einig, daß Sie hier, wo Sie sichnicht auf heimischem Boden befinden, eingegangensind. Sie sind mit Ihrer Rede Ihrem Ruf als Vertreter derProvinzialität wieder voll gerecht geworden. Das mußman schon deutlich sagen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

So steigen Sie nicht in die Bundesliga auf. Da ist selbstHerr Schäuble noch überzeugender, der es heute bis jetztvorgezogen hat, nicht zu sprechen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Poß, direkt ausdem Kohlenpott!)

Ich finde es wirklich verwerflich, eine Position zu be-ziehen, die so schamlos mit den Ressentiments der Men-schen, ob der Bauern oder von wem auch sonst, spieltund diese ausnutzt, wie Sie das getan haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Mit den Ressentiments zu spielen ist kennzeichnend fürIhre Art, die noch „konservativ“ genannt wird. So kannman Europa nicht überzeugend bauen, wenn man aufdiesem Gebiet Fortschritte machen will.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der PDS)

Wenn Sie den Bundeskanzler kritisieren und ihn auf-fordern, deutsche Interessen zu vertreten, dann frage ichSie: Von wem wurde Gerhard Schröder denn hier in die-sem Parlament kritisiert, daß er vielleicht zu kurzsichtigdeutsche Interessen formuliert? – Das kam doch aus Ih-ren Reihen, von CDU/CSU. Herr Stoiber, für wen redenSie hier eigentlich?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Entschließungsantrag Ihrer Fraktion steht dochetwas von der zügigen Erweiterung.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, so ist es!)

Mir schien das an dieser Stelle überhaupt nicht konsi-stent zu sein. Das erinnert mich an dieses Beispiel ausder Steuerpolitik. Sie fordern an einem Tag eine Netto-entlastung von 50 Milliarden DM, Herr Schäuble forderteine Nettoentlastung von 30 Milliarden DM. Der Unter-schied beträgt nur 20 Milliarden DM. Sie beweisen alsoauf jedem Felde, wie unseriös Sie in der Politik sind,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

ob in der Steuerpolitik oder hier in der Europapolitik.

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sa-gen Sie doch mal was zu Ihren Steuervor-schlägen!)

Nein, der Bundeskanzler, die Bundesregierung gehenrichtig vor; sie gehen realistisch vor. Es war eben Ger-hard Schröder, und es war diese Bundesregierung,

(Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Er istja nicht erträglich!)

die von den realistischen Konsequenzen ökonomischerund sozialer Art gesprochen hat und sie nie ausgeblendethat.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das war immer unsere Herangehensweise.

Auch ich schätze Helmut Schmidt. Er muß aber auchzur Kenntnis nehmen, daß die Fortschrittsberichte derBeitrittskandidaten schonungslos die ökonomischenSchwächen aufzeigen, Herr Stoiber. Wir sollten nichtjetzt schon von Interpretationskünsten zu reden begin-nen, dieses Zitat von Prodi anführen und damit Verunsi-cherung in diesen Prozeß hineintragen.

Nein, wir bleiben bei den Kriterien, die wir festgelegthaben, und lassen daran nicht rütteln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, der nächste EuropäischeRat wird an einem Ort stattfinden, an dem vor einem

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern)

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Vierteljahrhundert europäische Geschichte geschriebenwurde. Am 1. August 1975 wurde die Schlußakte derKonferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa verabschiedet. Unter der Schirmherrschaft dereuropäischen Flügelmächte – USA und Sowjetunion –wurde an die Stelle des Konflikts die Kooperation ge-setzt. Damit wurde auf außenpolitischem Felde das Endedes Ost-West-Konflikts eingeleitet.

Heute ist Europa zum politischen Subjekt geworden,schreibt seine Geschichte selbst und hat etwas Neues ge-schaffen – die politische Union Europas. Darin sind ihreMitgliedstaaten bereit, freiwillig und demokratisch legi-timiert, Souveränität aufzugeben. Dies ist kein Verzicht,sondern ein Gewinn. Die Staaten Europas schließen sichmehr und mehr zusammen. So können sie im rauhenWind des Weltmarktes bestehen. So wollen sie einepolitische Gegenmacht zu den ökonomischen Mega-fusionen aufbauen. So schaffen sie die Voraussetzungenfür Frieden und Stabilität über Europa hinaus. So kön-nen auch grenzüberschreitende Folgen der Globalisie-rung beherrscht werden.

Geleitet von der Erkenntnis, daß sie Frieden undweltpolitische Gestaltungsmacht nur noch gemeinsamerreichen können, wollen die Staaten Europas die Inte-gration als höchste Form der Kooperation zu einemSchlüsselinstrument ihrer Europapolitik machen. Dasheißt, Vision und praktische Erfordernisse gehen Handin Hand.

Der europäische Binnenmarkt erschloß für alle Be-teiligten zusätzliche Wachstumspotentiale. Die Einfüh-rung einer gemeinsamen Währung erleichtert dengrenzüberschreitenden Handel und schützt zugleich vorden Wechselfällen des internationalen Finanzmarktes.

Ich sage zu der aktuellen Diskussion um den Euro:Lassen Sie uns sehr vorsichtig damit umgehen und nichtnoch zusätzlich Öl ins Feuer gießen und damit mögli-cherweise die Schwierigkeiten noch vergrößern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im übrigen wäre das eine Debatte für sich, die wir zudiesem Thema führen müßten.

Mit einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- undVerteidigungspolitik wollen die Staaten Europas denFrieden innerhalb der EU vertiefen und zugleich dieVoraussetzungen schaffen, um einem weiteren „Koso-vo“ in Europa vorzubeugen.

Der angestrebte europäische Rechtsraum unterstütztdie Herausbildung europäischer Identitäten. Er bietetgemeinsame Handlungsvollmachten zur Bekämpfunggrenzüberschreitender Kriminalität und ist ein Mittel zurHeranbildung einer gemeinsamen Migrations- undAsylpolitik.

Meine Damen und Herren, an all diesen Vorhabenhatten deutsche Bundesregierungen – ich betone: Bun-desregierungen! – maßgeblichen Anteil. Aber die deut-sche Ratspräsidentschaft stand unter dem Vorzeichengewachsener Verantwortung des vereinten Deutsch-lands. Das war eine Bürde und Herausforderung zu-gleich. Die neue Bundesregierung mußte in einem

außerordentlich schwierigen außen- wie europapoliti-schen Umfeld Handlungsfähigkeit und unbeirrbaren Ge-staltungswillen dokumentieren. Wer, meine Damen undHerren von der Opposition, wollte bezweifeln, daß dieseBundesregierung – gerade gebildet – diesen Test euro-papolitischer Zuverlässigkeit und Innovationsfähigkeitmit großem Erfolg bestanden hat?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie hat es mit großem diplomatischen Geschick verstan-den, nationale und europäische Interessen miteinanderzu verbinden.

Im Gegensatz zu dem, was Herr Stoiber hier sagte,behaupte ich: Die Verabschiedung der Agenda 2000brachte Ausgabenstabilität und mehr Beitragsgerechtig-keit unter den Mitgliedstaaten. Nach Berechnungen desEuropäischen Rechnungshofes wird allein die Absen-kung des deutschen Anteils in den nächsten Jahren biszu 12 Milliarden DM betragen. Bundeskanzler Schröder,der Außenminister und andere haben eine Trendwendebei den Nettozahlungen erreicht – ebenso wie wir na-tional eine Trendwende in der Haushalts- und Steuer-politik erreicht haben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mit den Ergebnissen auf europäischer Ebene istgleichzeitig ein Beitrag zum Konsolidierungskurs in derBundesrepublik geleistet worden. Erinnern wir uns docheinmal, wie es in der Vergangenheit war. Helmut Kohlwar zu einem solchen Handeln außerstande. Er sorgtefür hohe Ausgabensteigerungen im europäischen Haus-halt. Für Einsparungen fühlte er sich nicht besonders zu-ständig.

Vorhin war Herr Waigel hier noch zu sehen. Wir alleerinnern uns doch noch, wie Herr Waigel nach jedemGipfel von den „Staatsmännern de Luxe“ sprach, dieihm so große Sorgen bereiteten, und er müsse all dasausbügeln, was ihm Helmut Kohl zurückgelassen habe.Das war doch die Realität. – Wir haben eine Trendwen-de erreicht. Der Bundeskanzler und andere haben erfolg-reicher als Sie verhandelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Bundesregierung hat zusammen mit ihreneuropäischen Partnern und gegen den Widerstand derabgewählten Koalition den europäischen Beschäfti-gungspakt beschlossen. Die beschäftigungspolitischenLeitlinien wurden in diesen Tagen festgelegt. Der Be-wahrung und Vertiefung europäischer Handlungsfä-higkeit dienten auch weitere Initiativen der Bundesre-gierung. Ich nenne die Vorschläge für eine gemeinsameSicherheits- und Verteidigungsidentität und den Fahr-plan für institutionelle Reformen.

Der Schlüssel für die Handlungsfähigkeit der Euro-päischen Union, vor allem in der Weltwirtschaft, ist dieEinigkeit über gemeinsame Regeln für den innereuro-päischen Standortwettbewerb. Ein Wettlauf um die je-weils geringsten Steuern führte zu einer ökonomischen

Joachim Poß

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Schwächung der EU, an der kein europäischer Mitglied-staat ein Interesse haben kann. Wir unterstützen daherausdrücklich Finanzminister Hans Eichel in seinem Be-mühen, eine einheitliche Zinsbesteuerung in der Euro-päischen Union zu erreichen. Eine effektive und gleich-mäßige Besteuerung der Zinseinkünfte tut not.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Um es mit den Worten des bekannten Verfassungsrich-ters Paul Kirchhof zu sagen:

Eine unerträgliche Situation ist, dass die Reichenim Land Einkünfte in Milliardenhöhe am Fiskusvorbeischleusen können.

Daß das so ist, kann hier niemand ernsthaft bestreiten.

Eine europäische Lösung wäre der Königsweg. Mirist bewußt, daß die Chancen für eine Einigung nicht ge-rade groß sind. Ich bin Finanzminister Eichel deshalbsehr dankbar, daß er trotz der britischen Blockade nichtsunversucht läßt, hierbei doch noch zum Ziel zu kom-men.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Bundeskanzler Schröder wünsche ich in Helsinki eineglückliche Hand – auch für die Vereinbarung des Codeof Conduct, des Maßnahmenpakets gegen unfairen Steu-erwettbewerb.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

All diese Vorhaben dienen nicht nur dem Eigenzweckder vertieften Zusammenarbeit, um dem Ziel europäi-scher Vergemeinschaftung näher zu kommen. Sie dienenzugleich als Voraussetzung für die Erweiterungsfähig-keit der Europäischen Union, die in Helsinki beratenwird. Lassen Sie mich daher aus unserer Sicht einigestrategische Grundsätze hervorheben.

Erstens. Um bei einer erweiterungsbedingten Erhö-hung der Zahl der Mitgliedstaaten entscheidungsfähig zubleiben, wird es bei den institutionellen Reformen maß-geblich darauf ankommen, das Prinzip der Abstimmungmit Mehrheit auszubauen. Von ebenso großer Bedeu-tung sind die Größe und die Zusammensetzung derEuropäischen Kommission und die Stimmgewichtungim Rat. Wir brauchen diese Regierungskonferenz jetzt.Ihr Abschluß Ende 2000 darf nicht gefährdet werden.Herr Stoiber, die Vorstellungen der Union gefährdenden Abschluß der Regierungskonferenz 2000. Das wol-len wir nicht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Eine Ausweitung des Mandats würde die Zustim-mungsfähigkeit bei den Mitgliedstaaten enorm er-schweren. Mit dem erfolgreichen Abschluß der Regie-rungskonferenz kann die Europäische Union ihre Zu-sicherung erfüllen, daß sie 2003 in der Lage sein wird,neue Mitgliedstaaten aufzunehmen. Der Bundeskanzlerhat recht: Diese Botschaft ist klar und muß auch herü-berkommen.

Zweitens. Hinsichtlich Umfang der Erweitung undAuswahl der beitrittsuchenden Staaten müssen die Ko-penhagener Kriterien konsequent angewendet werden.Dies gilt sowohl für die inneren wirtschaftlichen undpolitischen Bedingungen jener Staaten, als auch für denErhalt der „Stoßkraft der Integration“. Gründlichkeitgeht hier vor Schnelligkeit.

Drittens. Mit Blick auf die nachlassende Zustimmungder Bevölkerung in den Mitgliedstaaten und in den Bei-trittsländern zum Erweiterungsprozeß bedarf es nochaktiver Überzeugungsarbeit. Aber ich bin mir ziemlichsicher, Herr Ministerpräsident Stoiber, daß man dieseÜberzeugungsarbeit nicht in dem Geiste leisten kann,den Sie heute morgen hier an den Tag gelegt haben.Dies würde geradewegs zum Gegenteil führen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In der Herstellung einer europäischen Öffentlichkeitkann die Charta europäischer Grundrechte von Be-deutung sein.

Viertens. Die gemeinsame Außen-, Sicherheits-und Verteidigungspolitik ist neben der Erweiterungund vor dem Hintergrund europäischer Krisen und Kon-flikte außerhalb der EU das zweite bedeutende Integrati-onsvorhaben der EU, aber nicht jenseits der NATO,sondern als Verstärkung des europäischen Pfeilers in derAllianz. Eine europäische Verteidigung braucht dieKonzentration und Zusammenlegung militärischer Mit-tel. Es führt kein Weg daran vorbei – dies hörte sich beiIhnen, Herr Stoiber, so an –, daß wir angesichts der Ein-sparungen in unserem nationalen Haushalt den Verteidi-gungshaushalt davon nicht ausnehmen können. Dies warwieder typisch: Ich verstehe ja, bei Ihnen in Bayern gibtes eine Konzentration der Rüstungsindustrie. Aber mankann doch nicht ungeprüft deren Interessen hier vertre-ten. Dies ist doch verantwortungslos. Wir müssen an derKonsolidierungspolitik festhalten und können deshalbden Verteidigungshaushalt davon nicht ausklammern.Dies geht leider nicht anders, Herr Stoiber. Im Grundegenommen wissen Sie dies auch. Ich möchte Ihnen jetztkeinen Vortrag über die Erblast halten.

Die europäische Verteidigung braucht also die Kon-zentration und Zusammenlegung militärischer Mittel,weil dies langfristig zu einer Einsparung finanziellerRessourcen führen kann. Wie Sie sehen, meine Damenund Herren von der Opposition: Europa ist bei uns, beidieser Bundesregierung, aber auch bei dieser Koalitionin besten Händen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. GregorGysi [PDS])

Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nunKollege Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Helmut Haussmann (F.D.P.): Sehr geehrterHerr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Joachim Poß

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Der Bundeskanzler hat vor der französischen AssembléeNationale zu Recht ausgeführt:

Europa darf im nächsten Jahrhundert nicht passiverBeobachter sein, sondern muß starker Akteur, mußbei der Schaffung einer neuen globalen Ordnungentscheidend mitbestimmen.

Wir von der F.D.P. sind nicht die Besserwisser in derOpposition. Wir beteiligen uns konstruktiv an einerEuropapolitik, die Europa die Rolle zubilligt, die wir imnächsten Jahrhundert benötigen. Dies erfordert drei Din-ge:

Erstens. Europa muß sich kontinental organisieren.Zur Osterweiterung gibt es keine Alternative.

(Beifall bei der F.D.P.)

Auch ich möchte dem verehrten Ministerpräsidenten ausBayern zurufen und die Begleitstrategie für die Oster-weiterung deutlich machen: Wir haben Übergangspro-bleme. Die Chancen sind größer als die Risiken. Wirsollten allerdings nicht dieselbe Strategie wie beim Eurowählen: eine tolle Sache, aber tausend Einwände.

(Beifall bei der F.D.P.)

Es darf kein „Ja, aber“ geben. Wir sind für die Oster-weiterung und erleichtern den beitrittwilligen Staatenden Weg.

Zweitens. Wir brauchen die Unterstützung der Be-völkerung.

Drittens. Wir müssen zu einer Stärkung der europäi-schen Währung zurückkehren, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der F.D.P.)

Die Euroschwäche am heutigen Tag – es mag Zufallsein – ist kein gutes Testat für die deutsche Wirtschafts-politik.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Zehn Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung istes an der Zeit, daß sich Europa vereinigt. Es ist undbleibt strategisches Ziel deutscher Politik, gemeinsammit Frankreich an dieser Vereinigung Europas zu ar-beiten. Wir unterstützen das Ziel, die internen institutio-nellen Reformen der Europäischen Union in einem sehrehrgeizigen Plan bis Ende 2000 abzuschließen, um inRuhe das Ratifizierungsverfahren beginnen zu können,damit das Datum, das ich hier immer eingefordert habe,eingehalten werden kann: Zum 1. Januar 2003 muß esreformwilligen osteuropäischen Staaten möglich sein,beizutreten, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der F.D.P.)

Das bedarf aber der gemeinsamen Unterstützung. DieLiberalen im Deutschen Bundestag wie auch die Libe-ralen im Europäischen Parlament, die ich von hier ausherzlich grüße, können sich eine erste Beitrittswelleohne Polen nicht vorstellen. Deshalb ist es vorrangigePolitik zwischen Deutschland und Frankreich, Polen zuhelfen, den Weg schneller zurückzulegen. Wir müssendazu beitragen, daß der Strukturwandel in Polen von der

kleinräumigen Landwirtschaft zum Mittelstand schnellervollzogen wird, weil wir ansonsten auch zusammen mitFrankreich nicht erreichen können, daß Polen in derersten Beitrittsgruppe dabei ist.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, die Einräumung einesKandidatenstatus für die Türkei, Wirtschaftshilfen fürbedrohte deutsche Bauunternehmen, Proteste in Seattlezeigen, daß der Strukturwandel, daß die schnelle Oster-weiterung, daß der Eintritt in die nächste Welle der Glo-balisierung einer neuen, besseren Kommunikations- undBegleitstrategie bedürfen. Dies betrifft nicht nur dieEuropäische Union, sondern auch die Bundesregierung.Wir müssen die Menschen aufklären, daß die Osterwei-terung mehr Chancen durch neue Märkte als Gefahrendurch internen Wettbewerb bietet.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr.Hermann Kues [CDU/CSU])

Das ist nicht leicht. Aber es ist von allergrößterWichtigkeit. Es ist eine Frage der politischen Führung.Die Diskussion über die Einführung der europäischenWährung hat gezeigt: Nur wenn die politische Führungvon Anfang an ein klares Ziel verfolgt, wenn sie auchgegen anfängliche Widerstände fest bleibt, wird sie amSchluß auch die Unterstützung der Bevölkerung be-kommen. Aus der europäischen Begleitstrategie für denEuro sollten wir lernen, was die schnelle Osterweiterungangeht.

(Beifall bei der F.D.P.)Dazu paßt nicht – Herr Fischer, mehr möchte ich Ih-

nen heute nicht sagen, weil Sie die Opposition in derletzten Parlamentsdiskussion nicht sehr kollegial behan-delt haben; das ist eine Stilfrage –, daß man einerseitsder Türkei im Rahmen der NATO-Zusammenarbeitmißtraut, andererseits der Türkei aber einen EU-Kandidatenstatus einräumt. Da muß man sich klar ent-scheiden; beides paßt nicht zusammen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –Wolfgang Gehrcke [PDS]: Ein ganz schlechtesArgument!)

Kandidatenstatus ohne Verhandlungen mit der Türkeibei gleichzeitigen Verhandlungen mit Ländern wie Bul-garien und Rumänien wird in der Türkei die internenReformen nicht beschleunigen.

(Beifall bei der F.D.P. – Wolfgang Gehrcke[PDS]: Man muß doch nicht nach ganz EuropaWaffen liefern wollen!)

In der nationalen Diskussion zu sagen, wir wolltendie schnelle Osterweiterung, wir hätten selbst Problemein der Bauindustrie und wir wollten, daß die TürkeiKandidatenstatus bekommt, bringt die Gefahr mit sich,die Menschen zu überfordern. Vorrangig aus Sicht derF.D.P. ist die Osterweiterung und nicht die endgültigeEntscheidung, welchen Status die Türkei letztlich ineinem lange andauernden Prozeß erhält. Darüber kannman trefflich streiten.

(Beifall bei der F.D.P.)

Dr. Helmut Haussmann

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Herr Bundeskanzler, ein Jahr nach Einführung deswichtigsten europäischen Projektes, des Euro, müssenwir heute in einer Europa-Debatte Bilanz ziehen. Wir– Herr Waigel, den ich leider nicht sehe, der seinerzeitigeBundeskanzler Kohl, Herr Kinkel und die F.D.P. – habendamals vehement für den Euro gekämpft. Wir haben ihnimmer als starke Währung gepriesen. Ich sage ganz offen,daß ich mir nie hätte vorstellen können, daß lediglichnach einem Jahr durch rotgrünes Durcheinander, durchReformunfähigkeit in Deutschland und durch Eingriffe indie Marktwirtschaft, wie etwa bei Holzmann, der Euro aufeinem absoluten Tiefpunkt angekommen ist.

Wer gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerikaglobal eine wichtige Rolle spielen will, dem darf auchder Kurs der europäischen Einheitswährung nichtgleichgültig sein.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU –Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!)

Die Euro-Schwäche ist die Quittung der Märkte für un-terlassene Reformen in Deutschland, für Mißachtungmarktwirtschaftlicher Gesetze – siehe Holzmann – undauch für überholte nationalistische Töne, wie wir sie jaim Fall Mannesmann gehört haben. Kapital geht nicht ineinen Währungsraum, in dem ausländisches Kapital– wie im Fall Mannesmann – unerwünscht ist.

Der Fall Holzmann zeigt ja, wie schnell eine Lösungmedienwirksam gestrickt wurde. Inzwischen streitensich die Gewerkschaften über den Haustarif. Inzwischenhöre ich von Herrn Monti, daß die Beihilfe noch nichtgezahlt werden kann, weil die sorgfältige Prüfung derHilfen für Holzmann noch aussteht. Inzwischen erlebenwir eine tiefe Frustration des deutschen Mittelstandes,weil einem bankrotten Unternehmen mit Steuermittelndes Mittelstandes geholfen wurde. Auch das trägt nichtzu unserem internationalen Ansehen bei.

(Beifall bei der F.D.P. – Zuruf von der SPD:Nichts begriffen, Herr Haussmann!)

Herr Bundeskanzler, wer in der Assemblée Nationalezu Recht „l'Europe puissance“, also ein starkes undmächtiges Europa, fordert, der muß zunächst inDeutschland seine Hausaufgaben erledigen, weilDeutschland das wichtigste Euro-Land ist. Herr Struckhatte einmal einen richtigen Einfall, als er das Steuer-modell der F.D.P. mit Steuersätzen von 15, 25 und35 Prozent gefordert hat. Danach wurde er von seinereigenen Fraktion fast massakriert.

(Zuruf von der SPD: Woher wollen Sie denndas wissen?)

Statt dessen basteln die Sozialdemokraten vor ihremParteitag erneut an einer Neidsteuerdiskussion. Auch daswird zu einer weiteren Schwächung der europäischenWährung beitragen.

(Beifall bei der F.D.P.)

Die Wahrheit ist: Nur durch eine echte Steuerreformund durch eine moderne Tarifpolitik, die dem Mit-telstand Öffnungsklauseln bietet, schafft man neue Ar-beitsplätze, beseitigt man strukturelle Defizite und stärktdamit auch die europäische Währung.

Europa ist sehr viel mehr als ein Binnenmarkt miteiner gemeinsamen Währung. Europa lebt von einergemeinsamen Vision. Die Einführung des Euro-Bargeldes für die Europäer Anfang 2002 wird zurVollendung des Binnenmarktes beitragen. Die Politi-sche Union mit einer Gemeinsamen Außen- und Si-cherheitspolitik und einem einheitlichen Raum fürFreiheit und Recht wird zwar noch etwas auf sich wartenlassen; aber sie wird es zwangsläufig geben.

Eine wirtschaftliche Supermacht wie die EuropäischeUnion kann aber nicht ohne eine kulturelle und politi-sche Dimension überleben. Auf die Dauer kann Europanur erfolgreich sein, wenn es eben auch in den Herzenund Köpfen der Menschen stärker als bisher verankertist. Dies ist eine Aufgabe, der sich alle Parteien imDeutschen Bundestag stellen müssen.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Bar-tholomäus Kalb [CDU/CSU])

Es geht letztlich darum, ein Leitbild vom künftigenEuropa zu entwickeln. Wir brauchen eine breite öffentli-che Diskussion über Sinn und Zweck dieses Europas.Ich unterstütze die Meinung des Bundeskanzlers, die ervor der Assemblée Nationale geäußert hat. Europa leitetsich heute nicht mehr nur von der Verhinderung vonKriegen ab. Europa bedarf vielmehr einer neuen Legiti-mation. Diese liegt vor allem darin, daß Europa die Ebe-ne zwischen dem Nationalstaat, der in seinen Steue-rungsmöglichkeiten eingeschränkt ist, und internationa-len Organisationen, wie WTO und UNO, darstellt, dieaber nur in Ansätzen globale Regelungen anwenden. DieEuropäische Union ist also die mittlere Ebene. Sie gibtden Weg der nationalen Volkswirtschaften in die globaleWirtschaft vor. Diese neue und wichtige Bedeutung fürEuropa muß insbesondere mit der jungen Generationstärker diskutiert werden.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Wir Liberalen sind der Auffassung, daß die jetzt be-gonnene Diskussion über eine europäische Grund-rechtscharta der erste Schritt auf dem richtigen Weg zueiner künftigen Verfassung sein kann. Wir setzen zu-nächst auf die Weiterentwicklung der europäischenVerträge zu einer späteren Verfassung.

Neben den Freiheits- und Schutzrechten für die Bürgermuß es aber auch zu einer klareren Kompetenzauftei-lung zwischen den einzelnen Ebenen kommen. Dabeimuß dem Prinzip der Subsidiarität eine entscheidendeBedeutung zukommen. Subsidiarität ist aus unserer SichtAusdruck des Prinzips der Freiheit. Europa darf nur dasentscheiden, was Nationalstaat, Bundesländer, Kommu-nen und der Bürger selbst nicht entscheiden können.

Die europäischen Bürger brauchen diese Vision vonEuropa. Europa muß bürgernah sein und dem Bürgerden Eindruck verschaffen, daß europäische Lösungender richtige Weg sind, um die Herausforderungen derGlobalisierung zu bestehen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Dr. Helmut Haussmann

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Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wortdem Kollegen Christian Sterzing, Bündnis 90/Die Grü-nen.

Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieTatsache, daß sich Herr Haussmann hier wieder als einüberzeugter Europäer dargestellt hat, hat uns nicht über-rascht.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist erauch!)

Wir glauben Ihnen das alles. Daß aber Herr Stoiber hierden Versuch unternommen hat, als „bayerischer Häkki-nen“ des europäischen Integrationsprozesses aufzutre-ten, war für uns heute morgen ein neues Erlebnis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Dr. Jürgen Meyer [Ulm][SPD]: Aber er ist nur auf zwei Rädern gefah-ren!)

Ich glaube, man muß ihm sagen, daß man Formel-1-Rennen auch im schnellsten Auto nicht gewinnen kann,wenn man ständig auf der Bremse steht. Das hat ernämlich wieder sehr deutlich dokumentiert.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

In den letzten Jahren zehrte die CDU/CSU von demguten europapolitischen Ruf ihres Altkanzlers. Aberseitdem dieser Lotse von Bord gegangen ist – nach derSpendenaffäre muß man vielleicht sagen: über Bord ge-gangen ist –, wird deutlich, daß sich hinter diesen voll-mundigen Bekenntnissen zur europäischen Integrationdoch ein ziemliches konzeptionelles Durcheinander undkonzeptionelle Widersprüche verbergen.

(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Von Ihnenhätte ich mehr erwartet! Sie können mehr!)

Dies wird sehr deutlich, wenn man sich genauer an-schaut, was hier zur Osterweiterung und zu den institu-tionellen Reformen gesagt worden ist.

Helsinki wird ein Erweiterungsgipfel sein. Ich glau-be, wir sind uns durch die Bank darin einig, daß dieseEntscheidung, den Kreis der Beitrittsländer, mit denenjetzt konkret verhandelt werden soll, zu erweitern, einegute Entscheidung sein wird. Damit wird nicht zuletztein Beschluß des Luxemburger Gipfels von 1997 kor-rigiert. Denn dieser Beschluß hat dazu geführt, daß sichviele Länder der sogenannten zweiten Gruppe diskrimi-niert fühlten.

Natürlich wird es notwendig sein, auch in Zukunft imBeitrittsprozeß zu differenzieren, je nach den Fort-schritten, die die einzelnen Länder im Reformprozeß beider Übernahme des Acquit machen. Es muß jedochdeutlicher als bisher sein, daß das Leitmotiv lauten muß:differenzieren, aber nicht diskriminieren.

Was sich jetzt an Beschlüssen in Helsinki abzeichnet,wird, so hoffen wir, die Länder der sogenannten zweitenGruppe motivieren, sich in diesem schwierigen Prozeßder Heranführung an die Europäische Union weiterhin

anzustrengen. Sie haben sogar die Chance, andere Län-der zu überholen.

Natürlich gibt es keine Rückkehr zum alten Start-linienmodell. Die Länder der ersten Gruppe stehen nichtmehr an der Startlinie, sie sind gestartet. Die sechs neu-en Länder haben jetzt die Chance, auch loszurennen, dieanderen Länder einzuholen, ja vielleicht sogar zu über-holen. Dafür verdienen sie alle unsere Unterstützung.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber man muß deutlich sehen: Sie haben das Handi-cap eines Verhandlungsrückstandes von fast zwei Jah-ren. Vielleicht ergibt sich aber die Chance, daß sie vonden Erfahrungen, die bisher gesammelt worden sind,profitieren können und diese Erfahrungen in ihren Her-anführungsprozeß einbringen.

Die Widersprüchlichkeit dessen, was Herr Stoiber ge-sagt hat, besteht darin, daß das Bekenntnis zum Erweite-rungsprozeß zwar immer wieder erfolgt, danach aber imGrunde nur noch die Mängel, die Fehler, die Risikenund die Gefahren aufgezählt wurden. Man muß sich fra-gen, warum Herr Stoiber nicht deutlich sagt, von welchfundamentaler Bedeutung diese Erweiterung geradeauch für Deutschland ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie des Abg. Uwe Hiksch[PDS])

Man sollte nicht nur vor den Gefahren drohender Mi-gration, billiger Arbeitskräfte, billiger Waren und ähnli-chem warnen, sondern sollte hier auch erwähnen, daßdieser Beitrittsprozeß schon heute dazu beiträgt, daß inBayern und auch in den neuen Ländern viele Arbeits-plätze gesichert werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wir erwarten vom Europäischen Rat in Helsinki dieAufwertung des Status der Türkei. Ich glaube, daß wirhier einen sehr wichtigen Schritt tun. Er ist auch eineKorrektur der Beschlüsse von Luxemburg, die zu einerverheerenden Verschlechterung im europäisch-türki-schen Verhältnis geführt haben.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Wir haben die Hoffnung, daß die Türkei durch dieseglaubwürdige Beitrittsperspektive einen Anstoß erhält,die dringend notwendigen inneren Reformen durchzu-führen. Wir wollen damit gerade die Kräfte in der Tür-kei unterstützen, die diese Orientierung hin auf Europadurchführen und in der Türkei dafür kämpfen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wir machen damit Schluß mit einer sehr doppelbödi-gen, ja teilweise verlogenen Politik gegenüber der Tür-kei, wie wir sie in den letzten Jahren beobachtet haben.Wir wissen, daß diese doppelbödige Politik der letztenJahre in der Türkei eben nichts an Reformen bewirkthat, die wir alle so sehr gewünscht haben. Natürlich ist

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nicht sicher, ob wir mit unserer neuen Politik das ansto-ßen können, was wir uns erhoffen. Wir geben aber dochein sehr deutliches Signal.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Mit dieser Aufwertung des Status der Türkei ist na-türlich keine Aufweichung der politischen Kriterien vonLuxemburg verbunden. Wir machen vielmehr sehr deut-lich, welche Reformen in den Bereichen Demokratieund Menschenrechte, welche Änderungen in der türki-schen Haltung zum Kurdenproblem und zum Zypern-problem notwendig sind, damit die Türkei den Status er-reicht, der es der EU möglich macht, die Türkei zu kon-kreten Beitrittsverhandlungen einzuladen. Aber davonsind wir – das wissen wir alle – noch weit entfernt.

Von Helsinki soll folgendes Signal an die Türkei aus-gehen: Ihr könnt dazugehören – wenn ihr wollt undwenn ihr die notwendigen Anstrengungen unternehmt.Ihr müßt aber selber entscheiden, ob ihr euch mehr nachOsten oder mehr nach Westen orientiert, mehr nach Bei-rut und Bagdad oder mehr nach Brüssel. Das ist das Si-gnal, das von Helsinki ausgehen soll.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Im Zusammenhang mit den Entscheidungen über dieweitere Gestaltung des Erweiterungsprozesses steht na-türlich auch die Frage, wie die Regierungskonferenz imnächsten Jahr durchgeführt werden und welche Aufga-ben sie haben soll. In Köln erfolgten dafür wichtigeWeichenstellungen. Ich will hier aber deutlich sagen,daß auch wir glauben, daß das in Köln beschlosseneMandat für die Regierungskonferenz etwas sehr be-scheiden ausgefallen ist. Der Reformstau in der EU istsehr groß. Da muß man von den beteiligten Regierungenschon etwas mehr Ehrgeiz erwarten können. Deshalbfordern wir durchaus eine Erweiterung der Tagesord-nung, allerdings unter der Bedingung – das muß deut-lich gesagt werden –, daß der Abschluß der Regierungs-konferenz Ende des Jahres 2000 unter französischer Prä-sidentschaft nicht gefährdet wird.

Sicherlich lohnt sich hier noch einmal der Hinweisauf die Position von CDU/CSU, die auf der einen Seiteebenfalls die Notwendigkeit des rechtzeitigen Abschlus-ses betont, auf der anderen Seite aber die Tagesordnungvöllig überfrachten will. Denn es muß nach den Erfah-rungen der letzten Jahre doch schon klar sein, daß dieRealisierung der Forderungen aus dem Dehaene-Bericht,eine Realisierung der Reformvorstellungen des Europäi-schen Parlaments innerhalb eines Jahres, nun wirklichnicht möglich ist.

(Karl Lamers [CDU/CSU]: Es kommt darauf an!)

Man muß natürlich auch fragen, wieso diese neueRegierung nun in einem Jahr in der Regierungskonfe-renz all das an Reformen schaffen soll, was die alte Re-gierung aus CDU/CSU und F.D.P. in den 16 Jahren ihrerRegierungszeit und während dreier Regierungskonfe-renzen nicht hat durchsetzen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Und da ist der berühmte Kompetenzkatalog nur ein Bei-spiel.

Also, das Motto für die Regierungskonferenz solltenicht sein: So wenig wie nötig. Das kann nicht gelten.Wir müssen dieses Motto umformulieren und sagen: Soviel wie möglich, damit wir aus dem Reformstau he-rauskommen und auch den Erweiterungsprozeß be-schleunigen. Denn der von Herrn Stoiber konstruierteGegensatz zwischen Vertiefung und Erweiterung be-steht nicht. Wir haben in den letzten Jahren doch allesehr stark dafür gearbeitet, deutlich zu machen, daß sichVertiefung und Erweiterung gegenseitig bedingen unddaß nur auf diese Art und Weise der europäische Inte-grationsprozeß weitergebracht werden kann.

Schließlich noch zwei Randbemerkungen zur Regie-rungskonferenz. Die erste Bemerkung. Die Ausweitungder Mehrheitsentscheidungen im Rat steht auf demProgramm. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Handlungs-fähigkeit der EU, aber auch zur Demokratisierung, weilmit der Mehrheitsentscheidung dann auch das Mitent-scheidungsrecht des Europäischen Parlaments verbun-den ist.

Wir wollen hier aber auch deutlich sagen, daß wirvon den Ressortministern dieser Regierung eine wesent-lich größere Bereitschaft und konstruktive Vorschlägefür diese Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen er-warten, eine weit größere Bereitschaft, als sie die Res-sortminister der alten Regierung gezeigt haben. Denneine Neuaufführung dieses Trauerspiels von lauter Res-sortegoisten wollen wir auf der neuen Regierungskonfe-renz nicht wieder erleben.

Die zweite Bemerkung: Wir erwarten natürlich – unddies wurde ja vorhin vom Bundeskanzler auch deutlichgesagt – eine wesentlich stärkere Beteiligung des Euro-päischen Parlaments an dieser Regierungskonferenz.

Es liegt am Ende des Jahres nahe, Bilanz zu ziehen.Es war ein sehr schwieriges Jahr für Europa, ein schwie-riges Reformpaket mit der Agenda 2000, der Kommis-sionskrise, dem Krieg im Kosovo, den Europawahlen.Aber der Integrationsprozeß ist, glaube ich, aus diesemTief wieder herausgekommen, und wir können deutlichfeststellen, daß die deutsche Bundesregierung währendihrer Präsidentschaft, aber auch über das ganze Jahrhinweg sehr deutlich daran mitgewirkt hat, der Integra-tion neue Perspektiven aufzuzeigen. Wir werden in die-ser Regierung alle gemeinsam diesen Weg weitergehen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile nun dasWort dem Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion.

Uwe Hiksch (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Europa ist für viele Men-schen eine große politische Vision. Es ist eine politischeVision, weil die Menschen mit Europa die Werte vonFrieden, von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit verbin-

Christian Sterzing

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den. Damit die Menschen diese Werte aber auch alsZentrum der europäischen Integration sehen können,müssen die Politiker in Europa, müssen die Regierungenin Europa den Schwerpunkt auf die Durchsetzung dieserWerte legen.

Ich glaube, es ist wichtig, daß die Politiker bei allenDiskussionen über Europa – die reaktionäre Rede vonHerrn Stoiber hat ja deutlich gemacht, wie Mißstände,die es in Europa gibt, dafür benutzt werden sollen, Äng-ste zu schüren und die europäische Integration kaputt-zumachen – klarmachen, daß die europäische Visiondarin bestehen muß, einen Beitrag zur Bekämpfung derMassenarbeitslosigkeit zu leisten,

(Beifall bei der PDS)

einen Beitrag dafür zu leisten, daß soziale Standards inEuropa durchgesetzt werden, und einen Beitrag dafür zuleisten, daß in Europa der Ausbau von Demokratie undder Ausbau von Menschenrechten im Mittelpunkt euro-päischer Politik stehen. Deshalb ist die Forderung derPDS, daß auf dem Gipfel in Helsinki auch über die Be-schäftigungspolitik und darüber diskutiert werden muß,wie Massenarbeitslosigkeit bekämpft und wie für Euro-pa eine beschäftigungspolitische Strategie entwickeltwerden kann, eine richtige Forderung, weil sie auf dereinen Seite die positive Vision für Europa aufnimmt undauf der anderen Seite deutlich macht, daß die Ängsteund Sorgen der Menschen gesehen werden und daß sichdie Politik dieser annimmt.

(Beifall bei der PDS)

Europa ist für die politische Linke, ist für Sozialistin-nen und Sozialisten aber auch ein Beitrag dafür, daß derInternationalisierung von Kapital- und Finanzströmenauf der einen Seite, der Internationalisierung von Unter-nehmensstrukturen auf der anderen Seite eine zivilge-sellschaftliche, eine demokratische, eine politische, einehumanistische Perspektive entgegengesetzt wird und daßdie Menschen spüren, daß es nicht angehen kann, daßsich nur undemokratische Kapitalströme durchsetzenund daß demokratische Strukturen auf der Strecke blei-ben. Deshalb sehen wir vom Gipfel von Helsinki ganzwichtige Weichenstellungen ausgehen.

Wir als Partei des Demokratischen Sozialismus glau-ben, daß Europa in zwei Richtungen reformbedürftig ist.Zum einen ist es reformbedürftig, weil wir glauben, daßdemokratische Institutionen wie das Europäische Parla-ment vorangebracht werden müssen, und weil wir glau-ben, daß über die Frage der Macht der Kommission undder Stimmengewichtung der Kommission geredet wer-den muß. Zum anderen ist es reformbedürftig, weil wirglauben, daß in Europa die Diskussion über Beschäfti-gung und Massenarbeitslosigkeit im Mittelpunkt stehenmuß.

(Beifall bei der PDS)

Deshalb glauben wir, daß bei der Diskussion über dieFrage, wie eine Beitrittsstrategie aussehen muß, immerwieder deutlich gemacht werden muß, daß der Acquiscommunitaire, nämlich die Übernahme der in Europaerkämpften und durchgesetzten Normen und gesetzli-chen Grundlagen, im Mittelpunkt der Beitrittsstrategien

stehen muß, weil wir nicht glauben, daß Europa in denKöpfen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer undder Menschen mehrheitsfähig wird, wenn wir nicht dieökologischen und sozialen Standards, die wir gemein-sam in Europa erkämpft haben, wenn wir nicht dieSicherheit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernund wenn wir nicht die Rechte der freien Gewerkschaf-ten in den Mittelpunkt eines Beitrittsprozesses der Kan-didaten stellen.

(Beifall bei der PDS)

Deshalb betonen wir, daß wir glauben, daß Beitrittskan-didaten die Kopenhagener Kriterien erfüllt haben müs-sen und daß Beitrittskandidaten Werte wie Menschen-rechte, Werte wie Demokratie und Werte wie Schutzvon Minderheiten erfüllt haben müssen, damit in kon-krete Beitrittsverhandlungen eingetreten werden kann.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die PDSmöchte, daß die Türkei eine klare europäische Perspek-tive bekommt, weil wir glauben, daß das Gerede man-cher Konservativer vom christlich-abendländischen Boll-werk Europas eine falsche Perspektive für Europa gewe-sen ist

(Beifall bei der PDS)

und viele Staaten Europas verunsichert hat. Wir wollenaber, daß die Kopenhagener Kriterien als Voraussetzungfür einen solchen Kandidatenstatus gesehen werden.Deshalb glauben wir, daß es in einer Türkei, die wirausdrücklich als Mitglied der Europäischen Union habenwollen, in der aber eine Unterdrückung von Gewerk-schaften und eine Unterdrückung von Demokraten zuerleben sind, in der die Demokratie nicht funktioniertund in der das Militär faktisch herrscht, ein falschesSignal wäre, wenn man der politischen Klasse andeutenwürde, daß man sie schon heute – zu einem Zeitpunkt,in dem sie die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllt hat –zu einem Beitrittskandidaten macht.

(Beifall bei der PDS)

Die PDS tritt deshalb dafür ein, daß man der Türkei eindeutliches Signal in Helsinki gibt, daß sie in Europawillkommen ist, daß die Entscheidung in der Frage desKandidatenstatus aber noch einmal verschoben werdensollte.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Die PDS möchte ein Europa des Friedens. Wir glau-ben, daß ein Europa, das auf wirtschaftliche, ein Europa,das auf soziale Entwicklung ausgerichtet war, ein richti-ges Europa war. Jetzt aber soll in Helsinki und im nach-folgenden Prozeß ein neues Europa gestaltet werden. Essoll nämlich die Westeuropäische Union in die Euro-päische Union integriert werden. Damit wird in Europafaktisch eine Militarisierung in Gang gesetzt.

(Widerspruch des Abg. Dr. Helmut Hauss-mann [F.D.P.])

Durch diese Militarisierung der Europäischen Unionwird der globale Rüstungswettlauf noch einmal voran-getrieben, werden materielle und geistige Ressourcen,die in Europa eher dafür gebraucht würden, um Sozial-

Uwe Hiksch

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politik voranzubringen, in militärischen Projekten ge-bunden. Wir glauben, daß es falsch ist, in Europa militä-rische Komponenten zu integrieren. Wir treten aus-drücklich dafür ein, Europa auf eine ausschließlichzivilgesellschaftliche und menschliche Orientierungauszurichten.

(Beifall bei der PDS)

Deshalb ist die PDS der tiefen Überzeugung, daß dieSchritte zur Militarisierung – diesen Weg geht Europaja – dazu führen werden, daß die guten Beziehungen, diedie Europäische Union zu Rußland aufgebaut hat, indemsie einen Beitrag dazu geleistet hat, daß Rußland dieAngst vor einer Umschnürung genommen wurde, sichverschlechtern werden.

(Beifall bei der PDS)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die PDSist Europa ein Europa der Menschen. Aus diesem Grun-de wollen wir ein ziviles Europa, ein Europa für Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer und ein Europa, das denAusbau des Sozialstaates in den Mittelpunkt stellt. EinEuropa des Militärs lehnen wir ab.

Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wortdem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion.

Günter Gloser (SPD): Herr Präsident! Meine liebenKolleginnen und Kollegen!

„Das jetzige Haus …

– das europäische Haus –

genügt nicht in der Reichweite“, Europa brauche„eine Verjüngung“, eine Erweiterung – und ermeint eine Verjüngung der Ideen, der Kultur, derModernität und der Stimmung.

So ein Politiker aus der Provinz – das meine ich in kein-ster Weise negativ. Es handelt sich um den Präsidentender autonomen Landesregierung von Katalonien. Mitsolchen Aussagen befördert man eine pro-europäischeStimmung, Herr Ministerpräsident. Mit Ihrer Redehaben Sie gerade das Gegenteil bewirkt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist wichtig, was in diesem Zusammenhang in die-ser Debatte gesagt wird, aber auch das, was die CSU,Sie an erster Stelle, sowie andere Kolleginnen und Kol-legen über den laufenden Prozeß der Erweiterungsagen. Ihr Europaminister – es war, glaube ich, gesternin Brüssel – sprach von einer Hurra-Erweiterung. HerrMinisterpräsident, ich frage Sie: Sind das richtige Be-griffe angesichts eines so sensiblen Themas? Ich kann javerstehen, daß Sie aus Ihrer bajuwarischen Alpenfestungmanches etwas anders betrachten als andere Politikerin-nen und Politiker. Angesichts dieses Sprachgebraucheserwarte ich von Ihnen eine Klarstellung in der Richtung,

daß zur Fortsetzung des Friedensprozesses eine zügigeErweiterung um die osteuropäischen Länder nötig ist.Der Kollege Joachim Poß hat das noch einmal deutlichgemacht.

Es kam mir schon etwas merkwürdig vor, daß voreinem Jahr die neue Bundesregierung – das haben wirzum Teil auch in Gesprächen mit Botschaftern erfah-ren – einer sehr reservierten Haltung und einer großenZurückhaltung begegnet ist, nur weil der Bundeskanzlerdavon gesprochen hat, eine realistische Europapolitikmachen zu wollen. Er hatte aber nur gesagt, daß allekonkreten Daten zu überprüfen seien und daß erst dannzu entscheiden sei. Sie von der Union haben doch denosteuropäischen Ländern viel zu frühe Daten genannt.Für Polen hat man einen Beitritt im Jahre 2000 in denBlick genommen.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das wollenSie jetzt nicht mehr hören!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, all das hatfalsche Erwartungen geweckt. Die jetzige Perspektive istaber ganz eindeutig: Die Europäische Union soll zum1. Januar 2002 erweiterungsfähig sein. Das ist eine gutePerspektive, um den Ländern die Möglichkeit zu geben,sich auf den Beitritt vorzubereiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Ministerpräsident, ich bin gerade angesichts derTatsache, daß wir aus demselben Bundesland kommen,immer wieder über die von Ihnen verinnerlichte Doppel-strategie überrascht. Man kann es eigentlich gar nichtbesser machen. Sie zeigen sich hier und an entsprechen-den Stammtischen oder bei Diskussionen immer skep-tisch gegenüber einer zügigen Osterweiterung. Kaum istaber ein Ministerpräsident eines dieser Länder bei Ihnenzu Gast, oder Sie sind dort zu Gast, höre ich aus derbayerischen Staatskanzlei immer: Herr Stoiber setzt sichfür einen zügigen Beitritt ein.

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Doppelzün-gig!)

Bleiben Sie doch einmal bei Ihrer Linie! Vollziehen Siein europapolitischen Fragen nicht immer eine Geister-fahrt! Das ist mittlerweile nicht mehr zu vertreten.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. ChristianSterzing [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Zu einem anderen Aspekt, den Sie immer wieder an-führen. Sie haben in einem kürzlich veröffentlichten In-terview mit dem „Focus“ – es ist gut, daß man bei unsalles nachlesen kann – Prodi kritisiert, auch heute wie-der, und vor Panikmache gewarnt. Aber er hat dies sogar nicht gesagt. Sie sollten sich einmal die entspre-chenden Kriterien ansehen; es wird nichts aufgeweicht.

Letzten Mittwoch im Europaausschuß, als sämtlicheBotschafter der Beitrittsländer zu Gast waren, ist dochdeutlich geworden, daß sie selbst um die Schwierigkei-ten in ihrem Land wissen, aber auch um die Chancen.Bisher gab es im Bundestag immer den Konsens, sichnicht nur kritisch zu äußern und nicht nur die Problemezu sehen, sondern auch die Chancen einer Osterweite-

Uwe Hiksch

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rung der Europäischen Union. Das sollte deutlich ge-macht werden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. HelmutHaussmann [F.D.P.])

Sie sprechen zu Recht die Probleme an. Darüber,Herr Ministerpräsident, besteht überhaupt kein Dissens:Bei diesem Prozeß muß man die Mitbürgerinnen undMitbürger mitnehmen. In der Tat geht es nicht nur umdie Menschen in den beitrittswilligen Ländern, sondernauch um die Menschen in den Ländern, die bereit sind,die Beitrittskandidaten aufzunehmen. Ich gebe Ihnenrecht, daß es Probleme gibt – in Bayern, aber auch inMecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg; daraufwerden die Kolleginnen und Kollegen noch eingehen.Jetzt aber geht es darum, den Menschen bei uns deutlichzu machen, welche Chancen dies für sie bedeutet, wel-che Instrumentarien eingesetzt werden, um diesen Pro-zeß zu bewerkstelligen und zu begleiten. Insofern solltenSie dem Auftrag, den wir als Politiker haben, nachkom-men und mehr Informationen geben, statt zu desinfor-mieren und Panik zu machen; denn genau das haben Siein den letzten Wochen getan.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Nichtnur in den letzten Wochen!)

Sie haben zu Recht gesagt, es müsse informiert wer-den. Ich frage mich aber: Was ist in den letzten Jahren,in der Regierungszeit von CDU/CSU getan worden, umEntsprechendes zu tun, damit die Menschen bei unsnicht verunsichert werden, damit sie bei diesem Prozeßmitgenommen werden können?

Sie haben wieder einmal – das ist Ihr Lieblingsthema– die Frage der Subsidiarität angesprochen. Wenn HerrStoiber dies anspricht, hat es immer eine pikante Note.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Das nehmen Siesofort zurück!)

– Nein, lieber Herr Kollege Glos, ich spreche nur denWiderspruch an. – Auf europäischer Ebene stellt er sichals der hundertprozentige Föderalist dar. Wenn er auchzu Hause, in seinem Bundesland Bayern, von diesemGeist geprägt wäre, dann wäre dies gut. Dann wäre auchmanches Argument, das Sie, Herr Stoiber, angeführt ha-ben, glaubwürdiger.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Als Nürnbergerdürfen Sie das nicht sagen!)

Sehr geehrter Herr Stoiber, Sie haben – das ist allseitsbekannt – eine sehr personalintensive Staatskanzlei. Ab-gesehen davon, daß in den letzten Jahren und Jahrzehn-ten schon längst konkrete Vorschläge für einen solchenKompetenzkatalog hätten kommen können, stellen Siesich doch die Frage – in diesem Punkt möchte ich HerrnKollegen Sterzing beipflichten –: Was kann ich in dieserZeit erreichen? Was kann ich regeln? Dies muß doch inden Ländern in Osteuropa als Signal aufgefaßt werden:Hoppla, die beschäftigen sich jetzt wieder mit sichselbst! Wir alle kennen doch das Ratifizierungsverfah-ren. Dann wird das Zieldatum eben nicht erreicht. Aber

genau dann haben wir das Problem: Wir haben bei denMenschen und den Regierungen Erwartungen gewecktund befassen uns jetzt mit uns selbst. Dies sollte reali-stisch betrachtet werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir können gerne eine Debatte darüber führen. DerAnfang ist bereits mit dem Subsidiaritätsprotokoll ge-macht worden. Dies wird sicherlich eine spannende De-batte werden.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, das Jahr geht langsam zu Ende.

(Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Michael Glos [CDU/CSU]: Richtig! – EduardOswald [CDU/CSU]: Dem werden wir nichtwidersprechen!)

– Wenigstens ein Datum, bei dem Sie mir beipflichtenkönnen. – Der Bundeskanzler ist zu Recht auf dieseseine Jahr eingegangen. Ich möchte dieser Regierungdeshalb Dank sagen für das, was Sie in ihrer Präsident-schaft erreicht hat.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Glos[CDU/CSU])

– Über Konten sprechen wir gleich noch, Herr KollegeGlos.

Die Rahmenbedingungen sind bereits geschildertworden. Wir haben vieles erreicht – das können Sie vonder Opposition hin- und herwenden, wie Sie wollen –:im Bereich der Finanzierung, in bezug auf die Eigen-mittel der Europäischen Union. Wir haben es geschafft,die Länder aufnahmefähig zu machen. Und noch einesist erreicht worden – das haben Sie in Ihrer Regierungs-zeit nicht geschafft –, nämlich eine Nettoentlastung fürdie Bundesrepublik Deutschland.

(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei derCDU/CSU und der F.D.P.)

– Daß Sie mit Zahlen nicht gut umgehen können, dashaben wir in den letzten Tagen erfahren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn ich sehe, daß das Mitglied des EuropäischenRechnungshofes Herr Bernhard Friedmann, der unsererPartei nicht unbedingt nahesteht, darstellt, welche Net-toentlastung auf die Bundesrepublik zukommt, so sollteman das ernst nehmen, und Sie sollten nicht ständig mitfalschen Zahlen im Lande herumreisen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist heute einBeitrag des Kollegen Dr. Müller von der CSU erschie-nen – er ist natürlich ein treuer Vasall seines Minister-präsidenten –, in dem er von einer Entparlamentarisie-rung spricht. Ich glaube, nachdem Herr Dr. Müller seit1994 im Bundestag ist und dem Europaausschuß ange-hört, sollte er einmal einen Blick – da sind Sie, lieberHerr Kollege – in den entsprechenden Artikel desGrundgesetzes werfen. Sie sollten sich auch einmal dieGeschäftsordnung ansehen. Sie wissen ganz genau, wie

Günter Gloser

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das Verhältnis zwischen deutschem Parlament und Bun-desregierung in bezug auf Vorinformationen und Vorbe-ratungen ist. Sie sollten keine falschen Stichworte in dieWelt setzen, um zu suggerieren, daß wir keine Mitspra-cherechte mehr hätten. Viele andere Länder der Euro-päischen Union beneiden uns um die Möglichkeit einesgesonderten Ausschusses für Europafragen, aber auchum die Möglichkeit des deutschen Parlaments in Euro-pafragen mitzuwirken.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Gloser,gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenenKollegen Müller?

Günter Gloser (SPD): Aber bitte. Er ist ja geradeerst gekommen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wenn er nicht dawäre, könnte er nicht fragen! Das ist doch lo-gisch! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Er warschon vorher da!)

Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Herr Kollege, ichdanke für die lobende Erwähnung und bitte Sie: KönnenSie dem Hohen Haus ausführen, in welcher Weise derDeutsche Bundestag in Kernfragen der europäischenRechtsetzung ein echtes Mitwirkungs- und Mitentschei-dungsrecht hat? Ist es nicht vielmehr so, daß wir inKernfragen der europäischen Rechtsetzung – hier denkeich beispielsweise an die Agenda 2000, an die Struktur-reform, an die Finanzstruktur, an die Asylgesetzgebung– nur ein Anhörungsrecht, eine Informationspflicht derBundesregierung haben? Wir haben bis heute keine Dis-kussion zu den Agenda 2000-Beschlüssen geführt undkeine Abstimmung darüber gehabt. Wir werden damitim Kern unserer Zustimmungsmöglichkeit enthoben.Können Sie dem Hohen Haus die Mitwirkungsrechtedarlegen?

Günter Gloser (SPD): Lieber Herr Dr. Müller, ichhabe gerade erwähnt, daß Sie wie ich seit 1994 im Deut-schen Bundestag sind. Wir gehören beide demselbenAusschuß an. Sie kennen die entsprechenden Regula-rien, die ablaufen, genau. Wir sind dabei in unseren Auf-fassungen nicht weit auseinander, denn Sie haben in Ih-rer Regierungszeit und wir bei unserer Regierung immerdarauf gedrängt, daß wir vor entsprechenden Entschei-dungen, vor entsprechenden Gipfeln von der Bundesre-gierung nicht mehr nur unterrichtet werden, sondern daßwir auch die Möglichkeit haben – erinnern Sie sich andie Diskussion der letzten Legislaturperiode –, entspre-chende Auffassungen und Entscheidungen des entspre-chenden Ausschusses oder des Parlaments mitzugeben.Ich habe damit überhaupt kein Problem, daß man dasalles noch ausgestalten kann. Bei der Frage, wie einedemokratische Komponente auch in bezug auf das Eu-ropäische Parlament hergestellt werden kann, befindenwir uns in der Diskussion und haben uns dafür ausge-sprochen, mehr Rechte dorthin zu geben und in einem

Zusammenspiel zu sein. Aber hier von einer Entparla-mentarisierung zu sprechen, ist ein Schritt, den Sie zu-viel getan haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Schluß einesJahres zieht man Bilanz. Ich denke, die rotgrüne Bun-desregierung kann gerade auch in Sachen europäischerPolitik ein Guthaben vorweisen. In den letzten Tagenwurde immer nur über Konten gesprochen. Hierzu kannich sagen: Das Konto der von der SPD und dem Bünd-nis 90/Die Grünen geführten Bundesregierung ist posi-tiv. Dieses Konto muß nicht verheimlicht werden. DasGuthaben kann in das Jahr 2000 mitgenommen werden.Ich kann im Namen meiner Fraktion der Bundesregie-rung für den Gipfel in Helsinki viel Erfolg wünschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kol-legen Wolfgang Schäuble, Fraktionsvorsitzender derCDU/CSU, das Wort.

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi-dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeGloser, nicht nur das Jahr geht zu Ende, sondern einganzes Jahrhundert geht zu Ende.

(Zurufe von der SPD: Jahrtausend!)

– Ein Jahrtausend auch; wie Sie wollen. Wir stehen ander Schwelle eines neuen Jahrhunderts. Ich finde, mitzum Besten und Wichtigsten, was wir in dieses neueJahrhundert mitnehmen, gehört die europäische Eini-gung.

(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.)

Die Chance, zehn Jahre nach dem Fall der Mauer,nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dem Ende desOst-West-Konflikts ganz Europa zu einem großen star-ken Europa zu einen, ist eine so großartige Aufgabe – esist wahrscheinlich das beste, was wir aus diesem soschwierigen Jahrhundert in das neue mitnehmen –, daßwir in dieser Debatte vor allem das den Menschen in un-serem Lande sagen müssen. Wir haben keine größereChance, als ein großes starkes Europa zu bauen. Daranarbeiten wir.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und derF.D.P.)

Deswegen ist die EU-Erweiterung natürlich eineChance für alle in Europa, für die Beitrittskandidatenwie für alle Mitglieder der Europäischen Union, vor al-lem für Deutschland, das mitten in Europa liegt. DiesesDeutschland hat keine bessere Zukunftsperspektive alsdie, daß wir in Süd und Nord und Ost und West vonlauter Freunden und Partnern umgeben sind. Das ist diegroße Herausforderung, die große Chance der europäi-schen Einigung.

Günter Gloser

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Natürlich wird die Erweiterung für die Kandidatenwie für die Europäische Union auch große Herausforde-rungen, große Übergangsprobleme mit sich bringen. Wirwissen das in Deutschland auf Grund der Erfahrungen inden letzten zehn Jahren.

(V o r s i t z : Vizepräsident Dr. HermannOtto Solms)

Deswegen ist es völlig richtig – ich habe auch nichtverstanden, was Sie in der Debatte für Buhmänner auf-gebaut haben –, daß der bayerische Ministerpräsidentgesagt hat, wir müssen die Debatten so führen, daß dieMenschen die Chancen begreifen und daß sie sichersind, daß die Risiken beherrschbar sind und die damitverbundenen Herausforderungen bewältigt werden kön-nen.

(Joachim Poß [SPD]: Er macht es so nicht!)

– Doch, genauso hat er es gemacht, und so ist es auchrichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: Nein, er verunsicherthier!)

Sie können Europa, gerade weil es so wichtig ist undweil es so ungeheuere Veränderungen, so viel Unabseh-bares mit sich bringt, nicht gegen die Menschen undüber die Köpfe der Menschen hinweg bauen.

(Joachim Poß [SPD]: Richtig!)

Bei den Debatten, die wir hier führen, auch bei der,die wir in den letzten anderthalb Stunden geführt haben– ich sage das ganz selbstkritisch –, habe ich mich ange-sichts der Herausforderungen gefragt, ob wir damit dieMenschen erreichen, wenn sie uns zuhören. Deswegensage ich Ihnen: Lassen Sie uns doch nicht die falschenFronten aufbauen. Wir alle wollen die Erweiterung, undwir wollen sie so rasch wie möglich. Aber wir wissen,die Beitrittskandidaten stehen vor großen Herausforde-rungen, und auch wir in der Europäischen Union müsseneine Menge leisten. Wir haben eine Menge vor.

Was dieses Hin und Her angeht: Natürlich ist es dieAufgabe der Opposition, die Regierung zu kritisieren.Loben tun Sie sich selbst wirklich genügend; das brau-chen wir nicht auch noch zu machen.

(Bundeskanzler Gerhard Schröder: Inzwi-schen!)

Im übrigen stammt der Satz: „Es muß damit aufge-hört werden, daß in Brüssel das Geld der deutschenSteuerzahler verbraten wird“ von Ihnen, Herr Schröder,und nicht von Herrn Stoiber. Auch daran muß man jawohl erinnern.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Da Sie gesagt haben, in den letzten 16 Jahren seinichts oder wenig geschehen, Herr Kollege Poß:

(Joachim Poß [SPD]: Ich habe das nicht ge-sagt!)

Wir haben das Riesenwerk der Europäischen Wäh-rungsunion zustande gebracht. Die Beiträge von Herrn

Schröder dazu waren so, daß wir sie am besten verges-sen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Ich habedie Vorgängerregierung ausdrücklich gelobt!)

– Dann ist es ja gut.

Ich meine, wir sollten jetzt noch einige Sätze darüberreden, was geschehen muß, wenn wir ein großes undstarkes Europa wollen. Wir werden dieses Europa nurschaffen, wenn wir einige grundlegende Fragen klären,und zwar jetzt. Je schneller wir dies tun, desto besser istes. Da ist die Subsidiarität das Wichtigste. Das klingtso theoretisch-abstrakt und interessiert die Leute nicht.Aber die Frage, was Europa entscheidet, was die Mit-gliedstaaten und was die Regionen entscheiden und wasder kommunalen Selbstverwaltung bleibt, ist eine fun-damentale Frage, die beantwortet werden muß, wenn esgelingen soll, das große und starke Europa zu bauen. Da,wo Europa zuständig ist, muß es stark sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber es muß nicht alles machen. Wenn es sich um zuviele Dinge kümmert, dann wird es vieles machen, aberweniges gut. Deswegen brauchen wir die Konzentrationauf ein starkes Europa und mehr Subsidiarität. Wir sa-gen: – Damit die Subsidiarität funktioniert, bleibt dieKlärung dieser Kompetenzfrage von zentraler Bedeu-tung.

Jetzt hört man, wir brauchen eine Art Verfassungs-vertrag. Den Begriff mögen nicht alle in Europa. Esgeht mir nicht um den Begriff, aber wir brauchen eineKlärung der Frage, wofür Europa und wofür die Mit-gliedstaaten zuständig sind. Dieser Tatbestand muß ver-fassungsfest sein, er darf nicht einseitig geändert werdenkönnen. Zudem muß der Europäische Gerichtshof einneutraler Richter sein und nicht ein Integrationsorgander Europäischen Union. Das ist er nämlich heute – unddamit keine neutrale Instanz. Deswegen brauchen wirdiese Klärung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P.)

Wenn wir das geklärt haben, bekommen wir die Ent-scheidungsfähigkeit in der Europäischen Union besserhin. Sie muß verbessert werden.

Damit sind wir bei der Frage – da stimme ich Ihnennicht zu, Herr Bundeskanzler –, ob es wirklich reicht,die Regierungskonferenz auf die drei Punkte zu kon-zentrieren, die Sie genannt haben, die sogenannten „left-overs“, die wenigen Punkte, die übriggeblieben sind. Er-stens will ich darauf aufmerksam machen, daß Sie esbesser wissen: Es wird für einige Mitgliedsstaaten sehrschwer sein, sich bei einer Einigung auf die drei „left-overs“ zu konzentrieren. Machen Sie das Paket ein biß-chen umfangreicher, dann haben Sie eine größere Chan-ce, einen Konsens zu bilden.

Zweitens. Natürlich ist der Zeitplan wichtig. Aberman darf die Akteure nicht überfordern. Der Herr Bun-deskanzler selber hat in seiner Regierungserklärungsibyllinisch von „einigen wenigen weiteren Fragen“ ge-

Dr. Wolfgang Schäuble

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sprochen, dann aber wohlweislich verschwiegen, welcheer meint. Ich sage Ihnen, welche nach unserer Überzeu-gung ganz dringend sind: die Subsidiarität besser klären,die Kompetenzabgrenzung verfassungsfest machen undFlexibilität gewährleisten. Wir brauchen mehr Flexibi-lität; sonst werden wir eine Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik nicht schaffen. Das liegt doch auf derHand: Wir haben Mitglieder der Europäischen Union,die in der NATO sind; wir haben Mitglieder der Euro-päischen Union, die nicht in der NATO sind usw. Esgibt also die unterschiedlichsten Formen. Das alles be-kommen Sie nur mit Flexibilität unter einen Hut.

Ich stimme Ihnen ja zu, daß wir dringend die Harmo-nisierung der Besteuerung von Kapitaleinkünftenbrauchen. Sie werden erlauben, daß wir Sie an etwaserinnern: Wenn man schon gemeinsame Papiere verfaßt,wie Mitte des Jahres geschehen, dann wird man denMitautor – vielleicht kriegen Sie sogar gemeinsameTantiemen – doch daran erinnern dürfen, daß er dieBlockade aufgeben soll. Ich möchte zu erwägen geben,ob wir unseren britischen Freunden nicht sagen sollten:Wenn sie partout nicht wollen, daß wir in der Europäi-schen Union zu einer Harmonisierung der Besteuerungder Kapitaleinkünfte kommen, dann gehen wir diesenersten Schritt im Rahmen der Eurozone – das ist flexi-bles Vorgehen –, dann harmonisieren wir die Besteue-rung der Kapitaleinkünfte in der Eurozone. Schauen wirmal, wie lange es dann dauert, bis andere zur Eurozonedazukommen. Jedenfalls: Stillstand durch Blockadeeines Mitglieds können wir unter gar keinen Umständenertragen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der SPD und der F.D.P. und des Abg.Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN])

Deswegen: mehr Flexibilität, klare Kompetenzabgren-zung, Subsidiarität – Aufbau von unten nach oben undnicht andersherum!

Ich würde übrigens einen weiteren Punkt angehen:Herr Bundeskanzler, ich möchte dringend an Sie appel-lieren, beim Europäischen Rat dafür einzutreten, daß dieKommission beauftragt wird, der Regierungskonferenzeinen Vorschlag zu unterbreiten. Ich glaube, die Regie-rungskonferenz hat eine sehr viel größere Chance, imLaufe des Jahres 2000 – also noch während der französi-schen Präsidentschaft – zum Abschluß zu kommen,wenn die Kommission vom Rat in Helsinki förmlich be-auftragt wird, einen Vorschlag dafür zu machen, was inder Regierungskonferenz laufen soll. Die Kommissionmuß in gewisser Weise die Rolle des Motors haben.Deswegen sollten Sie, so finde ich, diesen Vorschlagmachen. Dann wären wir schon einen ganzen Schrittweiter und hätten eine bessere Chance voranzukommen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ich muß eine andere Bemerkung machen: Wenn wirein großes und starkes Europa wollen, dann müssen wirunsere Beiträge dazu leisten. Man darf nicht schön da-herreden – ob in der Assemblée nationale oder anderswo– und zu Hause das Gegenteil dessen tun. Ich glaube,wir brauchen eine Gemeinsame Außen- und Sicher-

heitspolitik. In diesem Zusammenhang muß man dasernst nehmen, was beispielsweise der amerikanischeVerteidigungsminister Cohen in dieser Woche auf derKommandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Allerdings!)Ich stehe ja nicht im Verdacht, immer nur zu sagen, daßdie Amerikaner in allem recht haben. Aber daß für eineStärkung der europäischen Krisenreaktionskräfte, derAufklärungskräfte und der Transportfähigkeit mehrMittel in den Verteidigungshaushalten der Mitglied-staaten notwendig sind, weiß jeder, der sich damit be-schäftigt.

Man kann nicht auf der einen Seite eine stärkereeuropäische Verteidigungs- und Sicherheitsidentitätfordern und gleichzeitig auf der andere Seite im Allein-gang den nationalen Verteidigungshaushalt entgegenallen Zusicherungen und Absprachen kürzen. Damit gibtman ein miserables Beispiel für alle anderen Partner inder Europäischen Union wie in der NATO. Das ist auchklar. Das ist der falsche Weg.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: Falscher Gegensatz!)

– Nein, das ist kein falscher Gegensatz. Das ist das Pro-blem von Sprüchen und Taten. Wir wissen – wir machenuns nicht größer, als wir sind; das ist auch gut am Endedieses Jahrhunderts –: Deutschland hat in der Europäi-schen Union die Verantwortung, eher an der Spitze zustehen, eher Motor, Lokomotive der europäischen Ent-wicklung zu sein, als im Bremserhäuschen oder am Endedes Zuges zu sitzen. Das ist unsere Verantwortung. Wirliegen mitten in Europa, wir haben das größte Interesse anEuropa, und wir sind eines der größeren Mitgliedsländer.

Wenn die Politik der Bundesrepublik Deutschland diefalschen Signale sendet – das war es, was der amerikani-sche Verteidigungsminister Cohen so eindrucksvoll aufder Kommandeurstagung gesagt hat –, hat das nicht nurfür Deutschland verheerende Konsequenzen. Dies gibtdas genau falsche Beispiel für alle anderen Mitglied-staaten in der NATO wie in der Europäischen Union.Man kann nicht den Beitrittskandidaten sagen, sie müß-ten mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts fürden Verteidigungshaushalt aufwenden, und gleichzeitigselbst den Verteidigungshaushalt auf nahezu 1 Prozentdes Bruttoinlandprodukts zurückfahren. Das ist das fal-sche Beispiel. Das ist keine verantwortliche Politik.Damit wird Deutschland seiner Rolle und seiner Ver-antwortung nicht gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Im übrigen muß ich Sie nach wie vor fragen: Wie ge-

hen Sie eigentlich mit der Kommission um, die Sie sel-ber eingesetzt haben? Am Beginn Ihrer Regierungszeithaben Sie eine Wehrstrukturkommission unter dem Vor-sitz des früheren Bundespräsidenten Richard von Weiz-säcker mit der Aufgabe eingesetzt, dies alles zu definie-ren. Dann haben Sie anschließend die Ergebnisse vor-weggenommen, indem Sie den Haushalt einseitig völligzusammengekürzt haben.

(Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist nicht dieRealität, Herr Kollege Schäuble!)

Dr. Wolfgang Schäuble

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– Doch, genau so ist es. Übrigens hat Herr Scharpingdas Amt des Verteidigungsministers nur angenommen –so ist es öffentlich gesagt worden, er hat ja einige Wo-chen lang gezögert,

(Dr. Peter Struck [SPD]: Man liest so manchesdarüber!)

bis er gesagt hat, er wolle doch Verteidigungsministerund nicht Fraktionsvorsitzender sein, Herr KollegeStruck, und dann hat er erklärt, warum er gezögert hat –,weil er die Zusage erhalten hat, daß es beim Verteidi-gungsbudget in Höhe von 47 Milliarden DM bleibt. Dashat auch drei Monate gehalten. Man wird wohl nochdaran erinnern dürfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Das ist die falsche Politik, weil wir ein großes und

starkes Europa brauchen und wollen. Ich füge hinzu: Ichglaube, ein großes und starkes Europa ist der beste Bei-trag, den wir langfristig zur Stärkung der AtlantischenAllianz leisten können und müssen. Das ist kein Gegen-satz oder Ersatz, sondern eine notwendige Bedingung.Die Erfahrungen aus dem Kosovo sind die, daß der Un-terschied im Atlantischen Bündnis sowohl hinsichtlichder Technologie als auch im strategischen Denken im-mer größer wird und daß die Lücke sowohl bei dentechnologischen Möglichkeiten als auch im strategi-schen Denken zwischen diesseits und jenseits des At-lantiks zunehmend zu einer Gefahr für die AtlantischeAllianz und den Zusammenhalt werden kann. Dieskönnte im Ergebnis sogar die Tendenzen zum Unilate-ralismus in den Vereinigten Staaten begünstigen. Wennwir etwas dagegen tun können, dann ist es das, daß wirden europäischen Pfeiler in der Atlantischen Allianzstärken. Wir brauchen die Atlantische Allianz.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Sie müssen deswegen in Ihrer Politik die richtigen

Prioritäten setzen. Sie aber setzen diese falsch. Dassollten Sie ändern.

(Zuruf von der SPD: Wie wollen Sie sie dennsetzen?)

– Das habe ich gerade beschrieben. Ich würde zunächsteinmal fragen: Was brauchen wir, was erfordert die Si-cherheit? Sie müssen die Fragen schon in der richtigenReihenfolge stellen. Im übrigen wollen wir hier keineHaushaltsdebatte führen.

(Zuruf von der SPD: Das haben wir dochschon!)

– Das haben wir in der letzten Woche getan. Ich warnicht da. Sie haben mir alle Genesungswünsche über-mittelt; ich bedanke mich dafür.

Wenn ich in der letzten Woche hier gewesen wäre,hätte ich daran erinnert: Natürlich ist es richtig, daß ge-spart werden muß. Das ist völlig unstreitig. Insofern istder Haushalt des Jahres 2000 unter FinanzministerEichel weniger schlecht als der Haushalt des Jahres1999 unter Finanzminister Lafontaine. Das ist völlig un-streitig.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –Zurufe von der SPD)

– Bei dem Zwischenruf müssen Sie die Antwort schonhinnehmen.

Der Haushalt des Jahres 1998 unter FinanzministerWaigel war im Ausgabeplafond wesentlich niedriger,und die mittelfristige Finanzplanung der RegierungKohl/Waigel für das Jahr 2000 lag unter dem Ausgabe-plafond des verabschiedeten Haushaltes für das Jahr2000.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: Es war nicht alles etati-siert! Verlorene Schlachten kann man nichtnachträglich gewinnen!)

Sie setzen die falschen Prioritäten.

(Zuruf von der SPD: Schattenhaushalte!)

Ich glaube, die Priorität, ein großes, starkes Europa zubauen, die Priorität, die Atlantische Allianz durch dieStärkung des europäischen Pfeilers zukunftsfest zu ma-chen, ist wichtiger als das meiste andere, und für diesePriorität werbe ich. Daß Sie hier mit Ihren Zwischenru-fen dagegenreden, spricht nicht dafür, daß wir schon dengleichen Erkenntnisstand haben oder daß wir die Priori-täten richtig bewerten.

(Wolfgang Gehrcke [PDS]: Weniger Militärund mehr Soziales!)

Ich mache eine weitere Bemerkung; auch sie hat mitnationaler Politik zu tun, denn man muß für das, wofürman in Europa eintritt, wozu wir vielleicht nicht so un-terschiedliche Standpunkte hinsichtlich der Zielsetzun-gen vertreten wie bei vielen anderen Fragen, natürlich zuHause seine Beiträge leisten.

Nun kann man ja sagen, niedrige Wechselkurse sindfür die Exporte nicht so schlecht – eine Auffassung, dieauch in anderen Mitgliedsländern der EuropäischenUnion gelegentlich vertreten worden ist, auch bei unse-ren französischen Nachbarn.

Ich finde es übrigens gar nicht schlecht, Herr Bun-deskanzler, daß Sie jedenfalls bei dem, was Sie heute inIhrer Regierungserklärung zur Priorität der deutsch-französischen Beziehungen, der deutsch-französischenZusammenarbeit gesagt haben, meinen Überzeugungenmehr entsprechen als bei der Politik, die Sie in den letz-ten Monaten betrieben haben.

Ich will jetzt etwas zum Thema Wechselkurs undEuro-Kurs sagen. In einer Welt, in der die Kapital-märkte so ungeheuer wichtig sind und in der aufden globalisierten Märkten in unglaublich sensiblen,schnellen und reagiblen Prozessen über Standorte vonInvestitionen, Kapital und Arbeitsplätzen mit ungeheu-rer Wirkung entschieden wird und in der für die Ent-wicklung an den Kapitalmärkten Vertrauen und Ein-schätzung der Investoren das Allerwichtigste sind – dasist ja das ganz Neue, daß die realen Daten, die realenFakten gar nicht mehr so wichtig sind, sondern das Ver-trauen –, in einer solchen Welt ist es ein ziemliches Pro-blem, daß der Euro inzwischen nahezu die Dollarparitäterreicht hat – in der vergangenen Nacht war er offenbarsogar einmal für ein paar Minuten unter einem Dollar –,weil sich darin geringer werdendes Vertrauen in Europa

Dr. Wolfgang Schäuble

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widerspiegelt, und das ist gefährlich für die Zukunft ander Schwelle zum neuen Jahrhundert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Herr Bundeskanzler Schröder, das können Sie drehenund wenden, wie Sie wollen. Alle internationalen Fi-nanzmärkte machen als Grund für geringeres Vertrauenin den Euro in erster Linie die Politik Ihrer Bundesregie-rung, der Regierung des größten Mitgliedslandes in derEuropäischen Union, verantwortlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Joachim Poß [SPD]: So ein Klops!)

– Das mußte natürlich deshalb kommen, Herr KollegePoß, weil es unbestreitbar ist.

(Joachim Poß [SPD]: Lesen Sie doch malIssing!)

Es ist unbestreitbar, und es ist unbestritten. Ich wie-derhole noch einmal den Satz: Die internationalen Fi-nanzmärkte, also die Einschätzungen der Agierendenauf den Finanzmärkten, die maßgeblich dafür sind, daßder Euro inzwischen nahe bei der Dollarparität ange-kommen ist, sagen alle – das können Sie überall nachle-sen –, der Hauptgrund sei die Schwäche des größtenMitgliedslandes des Euro-Verbreitungsgebietes. So istdas.

(Widerspruch bei der SPD)

Das größte und wirtschaftsstärkste Mitgliedsland istnun einmal die Bundesrepublik Deutschland, und derGrund für die Schwäche ist die Einschätzung Ihrer Poli-tik, die als Zickzackkurs, nicht beständig, nicht vertrau-ensbildend angesehen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Das beruht gar nicht nur auf einem Ereignis, machtsich manchmal auch in einzelnen Ereignissen und ein-zelnen Debatten Platz, aber der Kern sind Ihr ständigerZickzackkurs und die mangelnde Klarheit, zum Beispieldie Tatsache, daß bis heute nicht klar ist, welche Art vonUnternehmensteuerreform Sie machen oder nicht, daßSie keinen klaren Kurs haben, daß Sie ständig dieGrundlinie Ihrer Politik verändern.

(Joachim Poß [SPD]: Sie wissen doch, daß dasAnfang Januar klar ist!)

Volker Rühe hat in der vergangenen Woche den „In-dependent“ zitiert: Sie haben mehr Kehrtwendungengemacht als ein Berliner Taxifahrer während seiner gan-zen beruflichen Laufbahn. So hat es in einer englischenZeitung gestanden.

(Joachim Poß [SPD]: Jetzt kommt der polemi-sche Pflichtteil!)

– Nein.

(Weitere Zurufe von der SPD)

– Ich will Ihnen das erklären; das kann man ganz schnellbeschreiben.

Angetreten sind Sie vor einem Jahr im Bundestags-wahlkampf mit der Linie, nicht alles anders, aber ein

bißchen moderner zu machen, ein bißchen mehr Refor-men zu machen. Dann war die Wahl vorüber, und Siehaben alle Reformen zurückgenommen. Das war die ÄraLafontaine. Sechs Monate später, nach dem Abschiedvon Lafontaine, haben Sie gesagt: So, jetzt zurückmarsch, marsch! Kehrtwendung, jetzt geht es in die ent-gegengesetzte Richtung. – Das war die Zeit vor derSommerpause, einschließlich des Schröder/Blair-Papiers.

Es folgte in der Sommerpause die bittere Zeit derSPD-internen Diskussionen. Struck hat gesagt: Wirbrauchen eine Steuerreform, die den Namen verdient.Dann kamen die Wahlniederlagen im Herbst. Inzwi-schen haben Sie eine weitere totale Kehrtwende vollzo-gen. Jetzt machen Sie wieder, wie vor einem Jahr, einePolitik à la Lafontaine. Das verunsichert die internatio-nalen Märkte. Darin besteht der Zusammenhang.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: HerrKollege Schäuble, erlauben Sie eine Zwischenfrage desKollegen Poß?

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bitte schön.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte,Herr Poß.

Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Schäuble, wiebeurteilen Sie die Aussage von Herrn Issing, der dieSchwäche des Euro gegenüber dem Dollar auf die Diffe-renz zwischen den Leitzinsen in der Euro-Zone und inden USA zurückführt, während der Faktor Wechselkurseeine abnehmende Bedeutung habe? In dem Zusammen-hang verweist Herr Issing auf den Umstand, daß derEuro zu Anfang sicherlich überbewertet war. Seiner An-sicht nach – auch Duisenberg meint das – besteht nachwie vor eine Aufwärtstendenz. Das sind die Fakten, umdie es hier geht. Es geht hier nicht um Ihre innenpoliti-schen Spekulationen, die Sie damit verbinden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr KollegePoß, erstens: Herr Issing drückt sich immer sehr vielklarer aus, als es Ihnen in Ihrer Frage gerade gelungenist.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU undder F.D.P.)

Zweitens. Wenn einer von uns beiden Mitglied desDirektoriums der Europäischen Zentralbank wäre,dann dürften auch wir vieles nicht sagen, was frei ge-wählte Abgeordnete sagen müssen; denn die Mitgliederdes Direktoriums der Europäischen Zentralbank habeneine ganz andere Verantwortung. Sie müssen die Aus-wirkungen ihrer Aussagen auf die Kapitalmärkte in einerganz anderen Weise bedenken.

Dr. Wolfgang Schäuble

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Drittens. Natürlich spielt die Einschätzung der Stärkeder amerikanischen Finanzmärkte eine Rolle. Das ist garkeine Frage. Ich würde gerne darüber streiten, ob derEuro am Anfang überbewertet worden ist.

(Dr. Helmut Haussmann [F.D.P.]: Das warenandere Erwartungen damals!)

Zum Zeitpunkt seiner Einführung war die finanzielleund wirtschaftliche Lage in Deutschland sehr viel robu-ster, und inzwischen ist sie schwächer geworden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Viertens. Sie können im Ernst nicht bestreiten – eshandelt sich um ein einhelliges Meinungsbild in allenÄußerungen nationaler und internationaler Sachverstän-diger; lesen Sie doch bitte noch einmal das Jahresgut-achten des Sachverständigenrats zur Begutachtung dergesamtwirtschaftlichen Entwicklung –: Die substantielleSchwäche der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitikder Regierung der Bundesrepublik Deutschland ist einerder Gründe dafür, daß der Euro weniger stark ist, als eran der Schwelle zum neuen Jahrhundert sein müßte.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Damit schließt sich der Kreis dessen, was ich gernesagen wollte: Wir befinden uns an der Schwelle zueinem neuen Jahrhundert. Noch gar nicht lange hängt imPlenarsaal des Deutschen Bundestages neben unsererFahne Schwarz-Rot-Gold auch die Europafahne. Das hatdoch eine wichtige Bedeutung. Deswegen wiederholeich den Satz, mit dem ich begonnen habe: Ein großesund starkes Europa ist das wichtigste Erbe dieses zu En-de gehenden Jahrhunderts, es ist die beste Vorausset-zung für das, was wir in der Vorbereitung für das kom-mende Jahrhundert erarbeiten müssen. Das ist der Auf-trag des Gipfels in Helsinki. Daran müssen wir in Euro-pa wie in Deutschland – jeder an seinem Platz, jeder imRahmen seiner Verantwortung – arbeiten.

Die CDU/CSU wünscht Ihnen für Helsinki jeden Er-folg, weil Europa unsere Chance, unsere Hoffnung undunsere Zukunft ist. Aber wir glauben, daß Sie bessereChancen haben und daß Sie Ihrer Verantwortung bessergerecht werden, wenn Sie in Deutschland eine besserePolitik machen, und vor allen Dingen, wenn Sie in Hel-sinki dafür werben, daß wir die fundamentalen Fragen,die in der Europäischen Union geklärt werden müssen,jetzt beantworten. Wir sollten die Chance der Erweite-rung – auch den damit verbundenen Druck – nutzen, umdie Reformen, die notwendig sind, damit Europa dieHoffnungen erfüllen kann, voranzutreiben. In diesemSinne begleiten Sie unsere guten Wünsche und unsereKritik auf dem Weg zum Gipfel nach Helsinki.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU undder F.D.P.)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsnächster Redner hat das Wort der BundesaußenministerJoseph Fischer.

Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege

Haussmann, lassen Sie mich mit einer persönlichenVorbemerkung beginnen: Sollte ich Sie in der letztenDebatte in der Hitze des Gefechts durch rhetorischeÄußerungen persönlich verletzt haben, so möchte ichmich in aller Form dafür entschuldigen, damit nichtsPersönliches – trotz aller politischer Kontroversen –zwischen uns steht.

Die heutigen Reden der Kollegen Schäuble und Stoi-ber könnten gegensätzlicher nicht sein, wenn man beideReden ernst nähme. Der Kollege Schäuble hat mit sei-nen grundsätzlichen Erwägungen und Aussagen über dieProbleme, die vor uns liegen und die wir bewältigenmüssen, an die überhaupt nicht zu verneinende großeeuropapolitische Tradition der Christlich Demokrati-schen Union angeknüpft. Dies haben wir in der Opposi-tion anerkannt; dies erkennen wir auch jetzt in der Re-gierungsverantwortung an.

Der Kollege Stoiber hat sich zunächst rhetorisch vorKonrad Adenauer und Helmut Kohl sowie ihrer europa-politischen Tradition verbeugt. Dann hat er sich aller-dings in eine scharfe Rechtskurve begeben und miteinem entschiedenen Sowohl-Als-Auch in einem Satzdie Notwendigkeit der Osterweiterung betont, zugleichaber in hundert Sätzen deren Gefahren und Risiken be-schrieben. Dazu kann ich Ihnen, Herr Kollege Stoiber,nur sagen: So werden Sie die Menschen nicht mitneh-men. Der Anfangssatz des Kollegen Schäuble kann sichdoch nur an Sie gerichtet haben, nämlich daß dieOsterweiterung der Europäischen Union eine großarti-ge Chance sei, der wir uns stellen müßten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Ich denke, mit Ihren heutigen Ausführungen mußman sich nicht weiter auseinandersetzen. Sie haben aufden mißglückten Boxenstopp hingewiesen. Sie habenheute einen Wagenheber gebraucht, um überhaupt ausder rednerischen Box herauszukommen.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN und bei der SPD)

Ich möchte mich vor allen Dingen mit dem auseinan-dersetzen, was Herr Kollege Schäuble an Bedenkens-wertem gesagt hat, aber auch mit den Aussagen, denenklar widersprochen werden muß. Der erste Teil IhrerRede, auf den ich später zu sprechen komme, unter-schied sich klar vom zweiten Teil, mit dem Sie – es warnicht Ihre Schuld, daß Sie krankheitsbedingt nicht an derHaushaltsdebatte teilnehmen konnten – die Haushalts-debatte nachholen wollten. Zu Ihrer These, Herr KollegeSchäuble, daß an einem sinkenden Euro-Kurs die Re-gierung schuld sei und ein steigender Euro-Kurs dasVerdienst der Opposition sei, möchte ich Ihnen sagen:So einfach können Sie es sich nicht machen! Darauf istes in Ihrer Rede aber hinausgelaufen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wenn ich uns einen Fehler vorwerfe – Sie haben vor-hin das zu Ende gehende Jahr, das zu Ende gehendeJahrhundert und das zu Ende gehende Jahrtausend be-schrieben –, dann den, daß wir nicht eine objektive Er-

Dr. Wolfgang Schäuble

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öffnungsbilanz über das erstellt haben, was wir vorge-funden haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Herr Kollege Schäuble, wenn Sie in diesem Hause be-haupten, die jetzige Schwäche der Wirtschaft sei ein Er-gebnis dessen, was wir in dem Jahr unserer Regierungs-tätigkeit gemacht haben – ich komme noch auf denVerteidigungshaushalt und die Verteidigungspolitik zusprechen –, dann möchte ich darauf antworten: Wir sindim Herbst 1998 in die Regierung gewählt worden. Washaben wir damals vorgefunden? Wir haben deutlich über4 Millionen Arbeitslose und eine Staatsverschuldungvorgefunden, die wir jetzt unter größten Anstrengungenmit dem Zukunftsprogramm 2000, mit dem Sparpaketund mit dem Haushalt anpacken und abbauen, damit derStaat wieder handlungsfähig wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wir haben einen Stau bei der Gesundheits- und derRentenreform vorgefunden. Wir haben eine allgemeinewirtschaftliche Schwäche vorgefunden. Warum? Wirhaben dies alles vorgefunden, weil die Notwendigkeitender deutschen Einheit und des zu Ende gehenden kaltenKrieges zwar angepackt wurden, aber nicht mit der jet-zigen Energie. Mit den Reformen wurde nicht ernst ge-macht. Wir haben einen Reformstau vorgefunden, denwir jetzt endlich auflösen, damit die Arbeitslosigkeitsinkt und der Staat wieder handlungsfähig wird. DieseSchwäche werfen Sie uns heute vor.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie haben völlig recht: Europa braucht eine deutscheVolkswirtschaft, die ihre Führungsfunktion als größteVolkswirtschaft ernsthaft wahrnehmen kann. Aber dafürdie Voraussetzungen nicht geschaffen zu haben ist derHauptvorwurf, den wir der Regierung Kohl in ihrerSpätphase und ihrer Koalition machen müssen. Dies hatnichts mit Polemik zu tun, sondern ausschließlich mitden Fakten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wenn die PDS gemeinsam mit Richard Cohen Be-denken gegen die sogenannte Militarisierung der Euro-päischen Union vorträgt, bewegt sie sich in ihrer Kritikimmer mehr – das gilt übrigens auch für den Euro; dawaren Sie Vertreter des Dollars – außerhalb europäi-scher Vorstellungen. Dazu kann ich nur sagen – viele indiesem Hause sehen das unabhängig von ihrer Parteizu-gehörigkeit genauso –, daß wir eine Vollendung dereuropäischen Integration wollen. Man muß sich verge-genwärtigen, was der historische Kern der EuropäischenUnion in diesem zu Ende gehenden, zweigeteilten Jahr-hundert ist. Etwa zur Jahrhundertmitte änderte sich dochunsere Nationalgeschichte dramatisch, zumindest imWesten. Der Kern ist, daß die Europäische Union dieAntwort auf die Jahrzehnte des Europas des Nationalis-mus und der Kriege ist, nämlich ein Europa der Inte-gration.

Die Vollendung dieses Europas der Integration be-deutet aber eine Übertragung der wesentlichen Souve-ränitätsrechte der Nationalstaaten auf das politischeSubjekt Europäische Union.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Wenn Sie das wollen, dann wird die militärische Ebenenicht nationalstaatlich bleiben und Europa nicht auf dieBereiche beschränkt werden können, die heute als wün-schenswert gelten, die aber noch nicht Wirklichkeit sind.Selbstverständlich werden Sie auch die Sicherheitspoli-tik, die Außenpolitik und auch die militärischen Kom-ponenten auf Europa übertragen müssen, wenn Sie die-ses Subjekt Europäische Union wollen. Diesen Schritthalte ich für genauso dringend geboten wie die Ent-wicklung einer europäischen Demokratie und eineseuropäischen Rechtsraumes. Ohne diese Entwicklungkönnen wir das politische Subjekt Europäische Unionnicht vollenden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Herr Kollege Schäuble, Haushaltsdebatten sollten wirimmer noch in den Parlamenten führen – dort gehörensie hin – und nicht mit Verteidigungsministern, und sei-en sie von noch so wichtigen Bündnispartnern.

Ich habe hier eine klare außenpolitische Priorität: DieHandlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschlandwiederzugewinnen muß an erster Stelle stehen, soschmerzhaft das auch für mich als Ressortminister ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Ich hätte mir vom Oppositionsführer gewünscht, daß Sieauch einmal in Richtung Amerikas die Leistungen an-sprechen, die Deutschland für die europäische Sicherheitunter anderem durch die Erweiterung erbringt. Sie wis-sen doch so gut wie ich, daß ein wesentlicher Teil derOsterweiterung der Europäischen Union gleichzeitigpräventive Sicherheitspolitik ist, für die wir unsereLeistungen erbringen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hans-PeterRepnik [CDU/CSU]: Hat er doch angespro-chen!)

Ich erinnere Sie nur an die Süderweiterung derEuropäischen Union. Herr Stoiber hat so getan, als wä-re sie eine Kleinigkeit gewesen. Griechenland hatte inden 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre eine Militär-diktatur, Spanien die Diktatur von Franco, Portugal dieDiktatur von Salazar und seinem Nachfolger, und in Ita-lien drohte in den 70er Jahren ein Umsturz. Das alles istdefinitiv Vergangenheit. Heute reden wir, wenn wir überSüdeuropa reden, über einen Teil der Europäischen Uni-on, der sich hinsichtlich der Sicherheit, der Stabilität, derDemokratie und der Menschenrechte in nichts mehr vonNord- oder Westeuropa unterscheidet. Darin liegt einbedeutender Sicherheitsgewinn der Europäischen Union.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Bundesminister Joseph Fischer

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Schauen wir uns das langfristige Engagement imRahmen des Stabilitätspaktes und die Leistungen an,die die Europäer und auch die Bundesrepublik Deutsch-land dort übernehmen, dann muß uns klar sein, daß dasHeranführen Südosteuropas an das Europa der Integra-tion – das ist ein langwieriger Prozeß – nicht umsonst zuhaben ist. Auch das müssen wir unseren amerikanischenFreunden sagen: Wir sind bereit, durch das Heranführendieser Region an das Europa der Integration in präven-tive Sicherheitspolitik zu investieren.

Auch die Türkeipolitik ist in diesem Zusammenhangzu sehen. Herr Schäuble, Sie haben diesen Punkt bewußtausgespart. Aber auch er ist unter dem Gesichtspunkteiner Investition in präventive Sicherheitspolitik zusehen.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Dazu braucht eskeine Vollmitgliedschaft!)

Wir haben verschiedene Interessen an diesem Punkt, dieich Ihnen nochmals erläutern möchten, weil wir uns davielleicht annähern können oder uns von dem einen oderanderen in Ihrer Fraktion gar nicht unterscheiden.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Wir sind da ganzweit auseinander!)

Der entscheidende Punkt ist nicht nur, daß hier über2 Millionen Menschen dauerhaft leben – viele von ihnenhaben mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft, undnoch mehr werden die deutsche Staatsbürgerschaft be-kommen –, die persönlich, familiär und von ihrer Ab-stammung her mit der Türkei verbunden sind. Ich ver-stehe Union so, daß die Probleme eines Mitgliedslandes– dazu gehören auch die Probleme Griechenlands, auchwenn wir in der Bewertung unterschiedlicher Meinungsind – immer auch die Probleme der Union sind, weildie Union eine Solidargemeinschaft ist. Union bedeutetfür mich Solidarität auf Gegenseitigkeit. Auf diese Soli-darität können sich unsere griechischen Freunde verlas-sen. Wir nehmen ihre Probleme sehr ernst. Ich sage um-gekehrt aber auch: Wenn es zu einer dauerhaften Ent-spannung des Verhältnisses zur Türkei, ja wenn es zueiner Europäisierung der Türkei kommen wird, wirdGriechenland der Hauptgewinner einer solchen politi-schen Entwicklung sein, die von uns gewünscht wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]:Unsinn!)

Darüber hinaus muß man sehen, daß sich die Türkei– das ist nicht eine Frage der militärischen Aufrüstung –in einer sicherheitspolitisch und strategisch bedeutsamenSituation befindet, in der wir ein Interesse daran habenmüssen, daß sich die Türkei zu einem stabilen Partner– ich komme gleich noch zur Definition von Stabilität –entwickelt. Der Nahost-Friedensprozeß hängt im we-sentlichen von dieser Stabilität ab.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Allesunstreitig!)

– Lassen Sie mich diesen Punkt erläutern, auch wenn erunstreitig ist. Das Parlament kann doch auch Punkte, überdie Konsens besteht, ausdiskutieren. Wir müssen unsdoch nicht immer unterschiedliche Auffassungen in

polemischer Weise um die Ohren hauen. Es ist doch her-vorragend, wenn in einigen Punkten Einigkeit besteht.

Auch im Kaukasus und in Zentralasien wird dieStabilität der Türkei eine wichtige Rolle spielen. Siehängt aber heute nicht von den militärischen Fähigkeitender Türkei, sondern von der inneren Stabilität des türki-schen Staates und der türkischen Demokratie ab.

(Michael Glos [CDU/CSU]: Dazu braucht esdoch keine Vollmitgliedschaft in der EU!)

Das heißt: Wenn man ja zu dieser Stabilitätsfunktionder Türkei in der Region sagt, dann stellt sich in derTat die entscheidende Frage, welche Türkei in Zukunftdieser Partner sein wird. Ist es eine Türkei, die sich überihren Weg selbst im unklaren ist und die isoliert ist, oderist es eine europäisch ausgerichtete Türkei, die den Wegin Richtung Demokratie, Marktwirtschaft, Minderhei-tenschutz und Achtung der Menschenrechte gemäß denKopenhagener Kriterien geht? Das ist die entscheidendeFrage.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Ich sage Ihnen: Darin liegt der Sicherheits- und Stabili-tätsgewinn. Deswegen wollen wir die Blockade vonLuxemburg auflösen.

Wir sehen das Verhältnis zur Türkei – der Bundes-kanzler hat sich heute schon dazu geäußert – völlig rea-listisch. Die Türkei erfüllt zum gegenwärtigen Zeitpunktdie Kopenhagener Kriterien nicht. Die Kommission hatsehr gute Vorschläge hinsichtlich der Sonderrolle derTürkei als Beitrittskandidat gemacht. Sie ist ja bereitsdurch die Gipfel in Cardiff und Luxemburg als Kandidatbenannt worden. Ihr wurde aber ein Sonderstatus zuge-wiesen, damit sie an der Europakonferenz aller Mit-gliedstaaten und Kandidaten teilnehmen konnte. Dereinzige Stuhl aber, der immer leer blieb, war der derTürkei. Es ist also eine unsinnige Konstruktion: Mantrifft sich – Mitgliedstaaten und Kandidaten – auf diesenKonferenzen, um eigentlich mit der Türkei zu sprechen;aber das einzige Land, das nicht daran teilnimmt, ist dieTürkei.

Wenn man die Türkei aus dieser Isolation heraus-holen will, dann muß man diesen von der Türkei als dis-kriminierend empfundenen Sonderstatus auflösen,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

allerdings unter Beachtung der Verhältnisse in der Tür-kei. Die Türkei will der Europäischen Union beitretenund nicht wir der Türkei.

(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)

Das heißt: Die Türkei muß die Kopenhagener Krite-rien akzeptieren. Dieser Punkt ist völlig klar und ist vonPremierminister Ecevit in dem Schreiben an den Bun-deskanzler bestätigt worden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Bundesminister Joseph Fischer

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Dennoch muß ich sagen, daß die letzen Schwierig-keiten in diesem Zusammenhang noch nicht ausgeräumtsind. Ich hoffe aber, daß wir mit der griechischen Seitenoch einen Konsens erzielen können.

Sie haben weitere Punkte angesprochen, die es wertsind, hier vertieft zu werden. Herr Kollege Schäuble, ichdenke – das hängt auch mit unserer Verfassungs- undRechtstradition zusammen –, daß es in diesem Punktkeinen Dissens gibt. Ich unterstützte eine Abgrenzunganalog etwa der Abgrenzung zwischen Bund, Ländernund Gemeinden. Sie müssen aber beachten, daß wir mitdieser Erfahrung ziemlich singulär in der EuropäischenUnion dastehen. Entweder sind die Länder kleiner alswir – das heißt, sie kennen dieses Abgrenzungsproblemnicht, das wir alltäglich erfahren und das uns in Fleischund Blut übergegangen ist –, oder es handelt sich um diegrößeren Länder, die zentral staatlich verfaßt sind unddaher dieses Abgrenzungsproblem ebenfalls nicht ken-nen. Aus meiner Sicht wird sich diese Frage in Helsinkinicht lösen lassen, weil wir in diesem Punkt singulari-siert sind, nicht etwa, weil wir nicht wollen.

Ich befinde mich in diesem Zusammenhang über-haupt nicht in einem Dissens zu dem, was Sie vorgetra-gen haben. Ich bin allerdings der Meinung, daß imRahmen einer Verfassungsdebatte – diese Debatte, diejetzt langsam beginnt, ohne daß sie so genannt wird,wird noch einige Zeit andauern – diese Fragen definitivzu klären sein werden, weil das Hauptproblem in derKlärung des Verhältnisses der Nationalstaaten zur euro-päischen Ebene im Rahmen weiterer Souveränitätsüber-tragungen und der damit verbundenen Abgrenzungspro-blematik liegt.

Gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang einigePunkte, die Sie angesprochen haben, zu vertiefen. Sienennen die "leftovers". Beim bayerischen Ministerpräsi-denten hörte sich das ein bißchen nach „Peanuts“ an. Eswird sehr schwierig, bei der Regierungskonferenz zueinem Einvernehmen zu gelangen. Wir brauchen dasEinvernehmen, weil die neuen Gewichtungen erheblichsein werden. Das Prinzip der Mehrheitsentscheidungenetwa wird nur bei einer gleichzeitigen Ausdehnung derRechte des Europäischen Parlaments funktionieren, wasfür uns einfacher ist als für andere Mitgliedstaaten.

(Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber [Bay-ern]: Bei den Kompetenzabgrenzungen gehenSie in ein unsicheres Feld hinein!)

– Das Problem, Herr Stoiber, ist gar nicht so sehr, daßSie uns überzeugen müssen: Vielmehr sind wir in einerbesonderen Position, die sich daraus ergibt, daß uns, diewir in einem föderalen Staatswesen leben, diese Tradi-tionen geläufig sind. Da gibt es, denke ich, keinen Un-terschied zwischen den Parteien, daß wir darauf stolzsind und diese Traditionen auch für europafähig halten,ohne jeden Zweifel.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Der Punkt ist ein anderer: Bei der Erweiterung hätteich mir vom Bayerischen Ministerpräsidenten mehr En-gagement gewünscht, statt dauernd diese düsteren Sze-

narien von der Überfremdung, die aus dem Osten droht,zu hören. Herr Stoiber, Sie müssen Ihren Wählerinnenund Wählern sagen, daß der Einwanderungsdruck, wenndie neuen Demokratien nicht beitreten, höher sein wird.

(Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber [Bay-ern]: Das weiß ich selber!)

Die Erfahrung des Beitritts von Spanien, Portugal undGriechenland hat gezeigt, daß der Einwanderungsdruckin Richtung Zentraleuropa zurückgegangen ist und nichtzugenommen hat. Dasselbe werden wir bei Polen erle-ben, dessen bin ich ganz sicher.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Die Erfahrung zeigt dies, Herr Stoiber.

Deswegen sage ich Ihnen nochmals: Für uns ist derGipfel als Erweiterungsgipfel von zentraler Bedeutung.Wir müssen diesen Erweiterungsgipfel jetzt zum Erfolgmachen, weil sonst die Handlungsfähigkeit der Europäi-schen Union in ihrem Kernbereich, nämlich der europäi-schen Idee, schweren Schaden nehmen würde. Insofernmüssen wir in Helsinki bei der Beitrittsfähigkeit derEuropäischen Union einen Erfolg erzielen, und ich den-ke, wir werden ihn auch erzielen.

Damit die Prioritäten klar sind: Die Voraussetzungfür die Erweiterung ist die Vertiefung. Es nützt nichts,einer handlungsunfähigen Union beizutreten. Insofernmuß an erster Stelle immer die Handlungsfähigkeit derEuropäischen Union stehen, damit wir unseren Integra-tionsaufgaben auch in Zukunft gerecht werden können.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Als zweites muß man die Barrieren abbauen, die zwi-schen den unterschiedlichen Gruppen der Beitrittsländerexistieren. Insofern unterstützen wir mit allem Nach-druck die Position der Kommission, hier eine Gruppe zuformieren und die Differenzierung dann entlang derrealen Fortschritte vorzunehmen. Diesen Zahn, HerrStoiber, kann ich Ihnen gleich ziehen, auch im Namenvon Romano Prodi.

(Lothar Mark [SPD]: Hoffentlich tut es nichtweh!)

– Ein paar europapolitische Schmerzen würde ich demBayerischen Ministerpräsidenten in diesem Zusammen-hang durchaus gönnen; ich denke, das kann ich auch imNamen der CDU sagen.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Lesen Sie den letzten Fortschrittsbericht der Kom-mission, Herr Stoiber. Auf ihn wurde zu Recht hin-gewiesen. Sie können nun wirklich nicht sagen, daß dairgend etwas geschminkt, schöngeredet oder schönge-schrieben worden wäre.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das ist ein sehr nüchterner, ein sehr realistischer und,wie ich finde, ein sehr guter Fortschrittsbericht genauentlang dieser Linie.

Bundesminister Joseph Fischer

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Wir wissen, wie schwierig es ist, Volkswirtschaften,soziale Systeme, Infrastrukturen, Wissenschaftskulturenund Traditionen zusammenzufügen, sie nicht nur ineinen gemeinsamen Markt, sondern mehr und mehr auchin einen gemeinsamen institutionellen Rahmen einzufü-gen. Weil wir das wissen, werden wir mit aller Sorgfaltdarauf achten, daß die Fortschritte realistisch gesehenwerden. So war die Haltung dieser Bundesregierung vonAnfang an, und so hat es der Bundeskanzler zu Beginnder Regierungszeit im letzten Jahr in Warschau gesagt.Er hat es eingehalten. Heute müssen Sie einmal nachWarschau gehen und fragen, ob dort noch Sorgen beste-hen, daß die neue Bundesregierung die Interessen derBeitrittsländer nicht mindestens so gut vertritt wie diealte Bundesregierung. Wir tun dies nur mit mehr Rea-lismus, und das hat Anerkennung gefunden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Ich muß Ihnen sagen: Volksparteien sind bisweilenmerkwürdig. Sie erleben das ja gerade, Herr Schäuble,in einem anderen Zusammenhang.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sie sindja keine!)

– Wir sind keine. Manchmal sage ich aber: Gott seiDank, wenn ich mir das so anschaue.

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: WennSie nur schon eine Rechtsstaatspartei wären,wäre schon viel gewonnen!)

– Ach ja. Aber nachdem ich heute Herrn Stoiber gehörthabe, wie er versucht hat, sozusagen ein bemühtes Ja zuEuropa hinzubekommen

(Lothar Mark [SPD]: Eiertanz!)

– das war nicht nur ein Eiertanz, sondern ein Balancie-ren auf rohen Eiern –, aber hinter diesem Ja die üblichenVerdächtigungen formuliert hat, weiß ich um die Müh-sal.

Einer der wichtigen Punkte in diesem Haus war im-mer, daß es einen breiten europapolitischen Konsensgegeben hat.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Herr Kollege Schäuble, bei aller Kritik, die Sie zu Rechthatten: Die Opposition ist dazu da, daß sie die Regie-rung kritisiert. Abgeordnete dürfen das sagen, was ande-re nicht sagen dürfen. Sie könnten demnächst gefragtwerden, ob sie tatsächlich diese Positionen vertreten.Die Abgeordneten dürfen das freie Wort führen. Wirfreuen uns darauf und hoffen, daß sie dieses tun werden.

Angesichts der Gemeinsamkeiten, die heute zwischender großen Oppositionspartei, der F.D.P., der Bundesre-gierung und der Koalition deutlich geworden sind,möchte ich mich für die Unterstützung bei der vor unsliegenden Arbeit auf dem Gipfel bedanken. Ich hoffe,daß wir das Unsere dazu beitragen können, das gemein-same Haus Europa konkret weiterzubauen, die Europäi-sche Union wirklich zu einem politischen Subjekt zumachen und zur vollen Integration zu bringen, was im

Interesse unseres Landes ist. Ich denke, das muß derKernsatz sein. In dem Punkt kann ich Wolfgang Schäu-ble nur zustimmen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die europäische Einheit ist das Wichtigste. DieseErkenntnis nehmen wir aus der alten Bundesrepublikund als Konsequenz aus unserer Nationalgeschichte, diein der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts katastrophal da-nebengegangen ist, mit. Die Vollendung der europäi-schen Einheit ist nicht nur eine historische Verpflich-tung; sie liegt vielmehr auch im Interesse der Zukunftunseres Landes. Deutschland hat nicht nur große Lastenzu übernehmen, sondern wir sind auch die großen Ge-winner des europäischen Einigungsprozesses – nicht nurökonomisch, sondern auch sicherheitspolitisch, kulturellund unter vielen anderen Gesichtspunkten. Deswegendenke ich, wird der Gipfel in Helsinki ein entscheiden-der Schritt nach vorne zur Vollendung der europäischenIntegration werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD sowie bei Abgeordneten derF.D.P.)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DasWort hat jetzt der Kollege Ernst Burgbacher von derF.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (F.D.P.): Herr Präsident! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Herr Außenminister,in einem Punkt stimmen wir Ihnen zu – ich denke, dashat die Rede von Helmut Haussmann gezeigt –: Wirbrauchen in der Europapolitik den Konsens, den wirauch von Ihrer Seite in unserer Regierungszeit verspürthaben. Das schließt aber nicht aus, daß wir den Wegkritisch begleiten und auf Dinge hinweisen, bei denenwir andere Akzente setzen und bei denen wir skeptischsind. Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen,Herr Bundeskanzler, daß ich in Ihrer Rede vergeblichauf das innere Engagement gewartet habe, auf die Vi-sion, die dieser europäische Prozeß erfordert und die wirvon früheren Regierungen – von den Kanzlern, aberauch von den liberalen Außenministern – immer ge-wohnt waren.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Herr Außenminister, Sie haben beklagt, Sie hättenden Fehler gemacht, keine Eröffnungsbilanz vorzulegen.In dieser Eröffnungsbilanz hätte als positiver Posten diehervorragende Entwicklung des deutsch-französischenVerhältnisses gestanden. Ich erlaube mir, Sie, HerrBundeskanzler, zu zitieren. Sie sagten vor der Assem-blée Nationale am vergangenen Dienstag:

Europa zählt auf Deutschland und Frankreich. Kei-ne der großen europäischen Aufgaben ist je gelöstworden, wenn Deutschland und Frankreich nichteinig waren. Keines der großen europäischen Inte-grationsprojekte wäre jemals verwirklicht worden,hätten nicht Frankreich und Deutschland den An-stoß gegeben. Am Ausgang dieses Jahrtausends

Bundesminister Joseph Fischer

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kommt es wiederum auf Deutschland und Frank-reich an.

Wie wahr, Herr Bundeskanzler! Selten haben wir diegemeinsame Rolle Deutschlands und Frankreichs mehrgebraucht als gerade in dieser Phase der Osterweiterung.

(Beifall bei der F.D.P.)

Nur: Das Verhältnis zwischen Frankreich undDeutschland ist im Moment zumindest angespannt. EineMenge Ungeschicklichkeiten und Fehler wurden began-gen. Ich erinnere an die Absage des Bundeskanzlers beider Einladung zu den Feiern zum Jahrestag des Waffen-stillstandes, an die Position der Bundesregierung bei derAgenda 2000, an das Schröder-Blair-Papier, das unserefranzösischen Partner tief verunsichert hat, aber auch anden unsäglichen Auftritt des Umweltministers Trittin,der unsere französischen Partner nun wirklich vor denKopf gestoßen hat.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-ten der CDU/CSU)

Das deutsch-französische Verhältnis ist belastet. Die„Berliner Zeitung“ schrieb in dieser Woche: „Schröderund Jospin haben von Anfang an große Probleme ge-habt, sich zu verstehen.“ Ich muß hinzufügen: In vielenGesprächen mit französischen Politikern wird diese Sor-ge immer wieder zum Ausdruck gebracht. Es wird ge-sagt, daß dieses Verhältnis ein Stück weit unter den vonmir genannten Vorgängen gelitten hat.

Wen wundert es also, daß auch der deutsch-französische Gipfel nur vom Nachbessern geprägt warund daher nur magere Ergebnisse bringen konnte? Werwenige Tage vor dem Europäischen Rat von Helsinkientscheidende deutsch-französische Impulse für dieErweiterung erwartet hatte, wurde enttäuscht. Gemein-same Spaziergänge ersetzen keine gemeinsamen Initia-tiven, mit denen die Weichen gestellt werden könnten.

(Beifall bei der F.D.P.)

Herr Außenminister, meine Damen und Herren, ichbetrachte es als eine der größten Leistungen in dieserNachkriegszeit, daß die deutsch-französische Erb-feindschaft überwunden wurde in einer Weise, von derunsere Väter und Großväter nicht einmal träumenkonnten. Da waren viele beteiligt, und das ging nicht nurauf der politischen Schiene, sondern es wurde etwas insWerk gesetzt, was aus heutiger Sicht nicht hoch genugeinzuschätzen ist: das Deutsch-Französische Jugend-werk, die zahlreichen Städtepartnerschaften. Ich kommeaus einer Region in der Nähe der französischen Grenzeund weiß, wieviel dort heute gemeinsam geplant undausgeführt wird, wo über die Grenzen hinweg gedachtwird und wo langsam – und das begrüße ich auch sehr –eine Neuorientierung stattfindet, wo zum Teil alte histo-rische Räume wieder neu entdeckt werden

(Beifall bei der F.D.P.)

und wo vor allem Freundschaften über die Grenzenhinweg bestehen.

Das deutsch-französische Verhältnis lebt von diesenFreundschaften. Freundschaft heißt nicht, daß man

immer derselben Meinung ist. Deutschland und Frank-reich haben es aber bisher immer geschafft, unter-schiedliche Positionen im Vorfeld zu vereinen, und ha-ben es damit geschafft, Europa insgesamt weiterzu-bringen.

Wir, die Deutschen, sind vielleicht ein Stück weitmehr nach Osten orientiert, weil wir näher dran sind.Frankreich hat traditionelle Bindungen nach Süden.Wenn wir die Erweiterung wirklich packen wollen undwenn die Erweiterung gelingen wird in dieser Integra-tion Europas, dann nur, wenn das deutsch-französischeVerhältnis lückenlos funktioniert. Deshalb sage ich demBundeskanzler: Machen Sie das deutsch-französischeVerhältnis wieder zur Chefsache! Deshalb bitte ich Sie,Herr Außenminister, alles zu tun, damit das deutsch-französische Verhältnis zu dem zurückfindet, was esüber viele Jahre hinweg war.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Pe-ter Ramsauer [CDU/CSU] – Peter Dreßen[SPD]: Dummes Zeug war das!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsnächster Redner hat der Kollege Markus Meckel von derSPD-Fraktion das Wort.

Markus Meckel (SPD): Verehrter Herr Präsident!Meine Kolleginnen und Kollegen! Verehrter KollegeBurgbacher, ich kann überhaupt nicht nachvollziehen,was Sie uns hier jetzt dargestellt haben, weil wir docheinfach sehen müssen, was gerade in den letzten Tagenim deutsch-französischen Verhältnis passiert ist. Sie ha-ben soeben den Gipfel angesprochen. Wir haben ja alleverfolgen können, daß der Kanzler als der erste deutscheKanzler vor der französischen Nationalversammlung ge-redet hat – ein Wunsch, der vielleicht lange gehegt wur-de, dessen Erfüllung aber dem Kanzler Kohl nicht zuteilgeworden ist.

(Beifall bei der SPD)

Wenn Sie uns auffordern, dieses Verhältnis zu pfle-gen, so sage ich: Da stimme ich Ihnen zu. Das ist garkeine Frage. Das gilt übrigens für das Verhältnis zuallen Nachbarn. Es ist ein Verhältnis, das sensibel ist,das wir pflegen müssen und auf das wir konkret achtenmüssen. Aber hier irgendeinen Vorwurf abzuleiten, halteich für völlig abwegig.

Ich möchte eher die Frage an Sie richten, wie Sie sichdas vorstellen, wenn ich von seiten der Opposition imZusammenhang mit der Diskussion um die Agenda2000 höre und gleichzeitig auch in einem Antrag – indiesem Falle der CDU – lese, daß bei der Agenda 2000nachgebessert werden soll. Auch in Ihrem Antrag stehtähnliches. Die Frage ist aber, wie Sie dieses durchführenwollen. Sie wissen ganz genau, daß es bei der Agenda2000 Probleme mit Frankreich gab. Wie wollen Sie danachbessern? Das heißt doch, zu Lasten Frankreichsnachbessern und dadurch natürlich im Grunde das euro-päische Projekt gefährden.

Ernst Burgbacher

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Ich denke, was in diesem Jahr gelungen ist – geradeauch, in schwierigen Punkten mit Frankreich zu einemErgebnis zu kommen –, kann sich wahrhaftig sehen las-sen. Es ist übrigens kein Zufall, daß die Staaten, um diees dabei geht, dies auch anerkennen.

Ich möchte zum Grundsätzlichen zurückkommen. Esist schon angesprochen worden: Die wichtigste Errun-genschaft dieses Jahrhunderts ist die europäische Inte-gration, die mit den Römischen Verträgen begonnenhat. Vor wenigen Tagen haben wir den zehnten Jah-restag des Mauerfalls und damit das Ende des kaltenKrieges und der Teilung Europas gefeiert. Was in diesenzehn Jahren geschehen ist, ist überwältigend.

(Beifall bei der SPD)

Niemand, denke ich, hätte erwarten können, daß Europasowohl in der Dimension der Vertiefung als auch in derDimension der Erweiterung in diesen zehn Jahren soweit vorankommen würde. Ich denke an den Binnen-markt, ein wesentliches Projekt, das zu Ende geführtworden ist, und an die Verträge von Maastricht und Am-sterdam. Der Vertrag von Amsterdam ist in diesem Jahrin Kraft getreten. Ich denke an die Währungsunion, beider es zwar heute die Diskussion gibt, wie stark oder wieschwach der Euro ist; aber daß wir sie brauchen und daßsie ein ganz wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft undfür uns eine zentrale Bedingung für unsere eigene wirt-schaftliche Kompetenz ist, ist doch von niemandem inAbrede zu stellen.

Oder denken wir an die Erweiterung! Die StaatenMittel- und Osteuropas haben zunächst auf die Europäi-sche Gemeinschaft und später auf die EuropäischeUnion – sie war für diese Staaten wie ein Magnet – ge-schaut. 1993 kam dann – vielleicht mit etwas Verzöge-rung, wie man durchaus sagen muß, weil es drei Jahregedauert hat, bis man diese Herausforderung in derEuropäischen Union angenommen hat – die Einladungmit den klaren Kriterien, die für uns heute nach wie vorGültigkeit haben. Daß wir heute soweit sind, ist natür-lich auch ein Verdienst des alten Bundeskanzlers. Nie-mand wird das abstreiten. Ich denke aber, daß es für un-sere Debatte ganz wichtig ist, festzustellen, daß wir einegemeinsame Grundlage und ein gemeinsames Ziel ha-ben. Es geht doch darum, die jeweiligen Schritte mitBedacht, aber auch mit dem notwendigen Engagementund der entsprechenden Vision zu vollziehen. Sie sagen,daß eine solche Vision nicht da ist. Schauen Sie sichdoch einmal die Reden an, die Sie heute gehört haben!Sie enthielten doch eine klare Perspektive für das Zu-sammenwachsen Europas unter den Kriterien und denBedingungen, die im Westen entstanden sind und dieMagnet, Anziehungspunkt und damit Modell für dieEinigung Europas sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Beim nächsten Gipfel – wir haben schon von denEntscheidungen, die anstehen, gehört – wird beschlossenwerden, mit sechs weiteren Staaten Verhandlungen auf-zunehmen: Lettland, Litauen, die Slowakei, Bulgarien,Rumänien und Malta. Jeder, der in den letzten Jahren indiesen Staaten war, weiß, daß es ein großer Wunsch die-

ser Staaten – jedenfalls für die fünf ost- oder südost-europäischen Staaten; bei Malta ist es umstritten, daswissen wir – ist, endlich dazuzugehören; und dieserWunsch wird nun in Erfüllung gehen. Dazu muß ichallerdings eines sagen: Ich halte die Entscheidung, daßjetzt mit diesen Staaten Verhandlungen aufgenommenwerden sollen, für ausgesprochen richtig und auchwichtig. Man muß aber gleichzeitig vorsichtig sein, daßdie Erwartungen in diesen Staaten selbst nicht zu hochgeschraubt werden. Denn zu verhandeln heißt noch lan-ge nicht, daß dieser Prozeß schnell geht, heißt noch lan-ge nicht, daß damit eine für die Bürger erfahrbare Stufeerreicht wird. Deshalb muß sehr deutlich sein, daß dieVerhandlungen nur so schnell vorangehen können, wie– das wird sehr unterschiedlich sein – auch wirklichFortschritte in den jeweiligen Ländern gemacht werden.

Natürlich sind die Herausforderungen in diesen Län-dern ungeheuer groß. Wir erleben ja in Ostdeutschland,wie schwierig Transformationsprozesse sind. Dabeihaben wir im geeinten Deutschland ideale Bedingungen;denn es werden viele Milliarden DM nach Ostdeutsch-land transferiert, um eine tragfähige Entwicklung zu er-reichen. Die neuen Beitrittskandidaten erwarten Hilfeder Europäischen Union und sie bekommen sie – fürdenjenigen, der sie erwartet, natürlich immer zuwenig –auch. Wir sollten ihnen zusagen, daß diese Hilfen weitergewährt werden. Gerade mit der Agenda 2000 und mitden Heranführungshilfen ist sichergestellt worden, daßdiese Mittel vorhanden sind. Gleichzeitig muß aber klarsein: Die eigentlichen Aufgaben liegen in den Ländernselbst. Wie schwierig es für ein Land ist, das keine de-mokratische Tradition hat, ganz schwerwiegende undwichtige Transformationsprozesse und Reformvorhabenumzusetzen, kann sich jeder vorstellen, der miterlebt,welche Schwierigkeiten eine schon so entwickelte De-mokratie wie die unserige mit konkreten Reformprojek-ten hat. Diese sind ja auch bei uns nötig, nachdem vieleJahre in wichtigen Bereichen nichts passiert ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist wichtig, daß die Verhandlungen künftig indivi-dueller geführt werden. – Ein Kollege von mir wird dar-über noch Weiteres sagen. – Wir sollten die Erweite-rungsvorhaben mit großem Engagement und mitNachdruck verfolgen. In diesem Jahr ist auch deutlichgeworden, daß die Ängste mancher ost- und mitteleuro-päischer Länder, daß Deutschland als Motor des Erwei-terungsprozesses nicht mehr genügend Kraft aufbringt,unbegründet waren, insbesondere dank der Verabschie-dung der Agenda 2000, die Sie verschieben wollten.Deutschland hat sich gerade dadurch als Motor erwie-sen, daß es klargemacht hat, daß es diesen Prozeß reali-stisch voranbringen will.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben beim Helsinki-Prozeß und bei den Erwei-terungsüberlegungen natürlich auch Zypern zu berück-sichtigen; von der Türkei wurde hier ja schon gespro-chen. Zypern stellt gerade wegen des besetzten nördli-chen Teils ein Problem dar. Gerade deshalb ist es wich-tig, daß die Türkei den Status als Beitrittskandidat er-hält. Dann können die Gespräche intensiviert werden

Markus Meckel

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und ein freundschaftlicher Druck darauf ausgeübt wer-den, die Verhältnisse im eigenen Land zu ändern. Nichtnur die Frage der Menschenrechte, der fehlendenRechtsstaatlichkeit und das Kurdenproblem, sondernauch die Tatsache, daß eigene Truppen auf fremdemTerritorium stehen, sind große Hindernisse auf demWeg nach Europa. Diese Punkte müssen klar angespro-chen werden.

Ich würde es sehr befürworten, wenn man mit Zyperngenauso verfährt, wie man mit Deutschland verfahrenist. Auch die alte Bundesrepublik konnte damals Mit-glied der Europäischen Gemeinschaft werden, ohne daßdie Einbeziehung des Ostens Deutschlands, der nichtdazugehören konnte, weil er damals noch ein eigenerStaat war, zur Bedingung gemacht wurde. Im Zuge derVereinigung war es dann möglich, ohne Verhandlungenauch diesen Teil Deutschlands in die Europäische Unioneinzugliedern. Bei den Verhandlungen mit Zypern sollteähnlich verfahren werden. Diese Frage darf jedenfallskein Hindernis für Zypern auf dem Weg in die Europäi-sche Union sein.

Noch einen anderen wichtigen Punkt möchte ich zumSchluß wenigstens noch kurz aufgreifen: In der Ge-meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wurde imletzten Jahr ein ungeheurer Fortschritt erzielt. Der Am-sterdamer Vertrag ist – ich sagte es schon – am 1. Mai1999 in Kraft getreten.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wegender Engländer wurden Fortschritte erzielt! Eswar alles schon vorher da!)

– Der Amsterdamer Vertrag hatte mit den Engländernüberhaupt nichts zu tun. Die Engländer haben ihre Posi-tion Ende letzten Jahres geändert und sich in Saint Maloauf diesen Weg begeben.

Es war nicht zuletzt das Verdienst Deutschlands, daßauf dem Kölner Gipfel die Personalentscheidung zugun-sten von Herrn Solana gefallen ist. Ich glaube, daß ge-rade diese Personalentscheidung für die Entwicklung derGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und dereuropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eineganz zentrale Rolle spielen wird. Dabei müssen dieeuropäischen NATO-Staaten, die noch nicht der Euro-päischen Union angehören – drei von ihnen werden inwenigen Jahren beitreten –,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

an Gesprächen über diese Themen beteiligt werden. Ins-besondere, weil die Türkei diese Entwicklung mit äußer-ster Skepsis betrachtet, ist es wichtig, einen General-sekretär zu haben, der die NATO kennt und kompatibleStrukturen aufbauen kann. Wir sollten Javier Solanadabei unterstützen und dafür sorgen, daß er der Vorsit-zende des sicherheitspolitischen Ausschusses wird, derjetzt gebildet werden soll. Außerdem wird ein Militär-ausschuß gebildet werden, um der Europäischen Unionzu einer wirklichen Handlungsfähigkeit zu verhelfen.Dieses Integrationsmoment, das der Europäischen Unionbisher fehlte, muß weiterentwickelt werden.

Es ist eben schon deutlich gesagt worden: Dies allesrichtet sich nicht gegen die NATO, sondern bedeutet

eine Stärkung des europäischen Pfeilers der NATOund macht uns handlungsfähiger. Der NATO tut es nichtgut, wenn die Vormacht USA so stark ist und die ande-ren Staaten so schwach, wie sich an unseren Kompeten-zen und Fähigkeiten im Kosovo-Krieg gezeigt hat. Diesstellt für uns eine zentrale Herausforderung dar; sie wirdEnde nächsten Jahres ihre Vollendung finden. Ich denke,daß dafür alles getan werden sollte – auch im Rahmender Regierungskonferenz; dort werden die notwendigenVertragsänderungen beschlossen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: HerrMeckel, bitte kommen Sie zum Schluß.

Markus Meckel (SPD): Man kann uns und der Euro-päischen Union nur viel Glück auf diesem Weg wün-schen; denn dies ist nicht nur für Europa wichtig, son-dern weltweit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsnächster Redner hat der Kollege Klaus Grehn von derPDS-Fraktion das Wort.

Dr. Klaus Grehn (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Es ist ein sehr wichtiger Fort-schritt, daß sich dank französischer Beharrlichkeit undgegen den Widerstand unter anderem der vormaligendeutschen Regierung heute jede nationale Regierung fürunzureichende Anstrengungen oder ausgebliebene Maß-nahmen im Kampf um mehr Beschäftigung und den Ab-bau sowie die Verhinderung der Arbeitslosigkeit vor denanderen Mitgliedstaaten und der Union als Ganzes ver-antworten muß. Ebenso ist die ursprünglich französischeErkenntnis zu unterstützen, daß solche Maßnahmen undAnstrengungen auch den Arbeitsmarkt und die sozialeLage der Beschäftigten und Erwerbslosen betreffenmüssen,

(Beifall bei der PDS)

der Arbeitsmarkt also nicht länger von Unternehmerin-teressen dominiert wird.

Der Bundeskanzler hat in wenigen Worten festge-stellt, daß die europäische BeschäftigungsstrategieFrüchte zu tragen beginnt. Die Bäume aber, die dieseFrüchte tragen, Herr Bundeskanzler, wachsen wahrlichnicht in den Himmel, und die Früchte sind entsprechendklein. Arbeitslosigkeit bleibt das Problem Nummer einsin Europa. Deshalb hoffen die Menschen, insbesonderedie Betroffenen, daß es bei der Bekämpfung des Pro-blems Arbeitslosigkeit nicht nur Brosamen sein werden,die in Helsinki vom Tisch fallen.

(Beifall bei der PDS)

Kritisch bleibt festzustellen, daß das Instrumenta-rium aus beschäftigungspolitischen Leitlinien der Euro-päischen Union, nationalen Aktionsplänen und bilanzie-renden Berichten allein noch nicht für einen Um-

Markus Meckel

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schwung auf dem deutschen Arbeitsmarkt gereicht hat.Die relative Unverbindlichkeit der Leitlinien und dernationalen Aktionspläne, das Fehlen von Standards undverbindlichen Normen und das Vermeiden von Auflagenan die Wirtschaft sind wichtige Ursachen dafür. Nur anwenigen Stellen erhalten die arbeitslosen Bürgerinnenund Bürger wenigstens auf dem Papier mehr Rechte. Sostellen die Pflicht zur Arbeitsplatz- oder Weiterbil-dungsvermittlung an Jugendliche nach sechs MonatenArbeitslosigkeit und die Pflicht, das gleiche auch für er-werbslose Erwachsene nach zwölf Monaten Arbeitslo-sigkeit zu tun, ein Bekenntnis zur Verantwortung desStaates für seine arbeitslosen Bürgerinnen und Bürgerdar. Diese Verpflichtung war unter der Regierung Kohlso nicht zu registrieren. Aber einen einklagbarenRechtsanspruch auf die Erfüllung dieser Pflicht hat einArbeitsloser auch heute nicht. Und erfüllt wird diesePflicht in keiner Weise.

(Beifall bei der PDS)

Im beschäftigungspolitischen Aktionsplan wird im-mer wieder von „Problemgruppen“ gesprochen. Men-schen, die nicht den Verwertungsvorstellungen des Un-ternehmens entsprechen, werden diesen Gruppen zuge-ordnet. Im Grunde genommen ist es ein Skandal, wennFrauen, Jugendliche, über 55jährige, Schwerbehinderte,Geringqualifizierte oder Ausländer diesen Problemgrup-pen zugeordnet werden. Wer bleibt denn eigentlich nochübrig? Wer gehört nicht zu den „Problemgruppen“?

(Beifall bei der PDS)

Ist denn der Mensch an sich das „Problem“ der Wirt-schaft?

In der Zusammenfassung des Aktionsplans hat dieBundesregierung unter sieben Anstrichen Maßnahmenaufgelistet, die auf Beschäftigungszuwachs gerichtetsind. Sieht man von dem Jugendprogramm ab, so bleibtdie Frage, wo die beschäftigungspolitischen Wirkungenin Form des Abbaus von Arbeitslosigkeit gebliebensind? Ökosteuer, unsoziale Einkommensbesteuerungund Sparpaket haben das Ziel, mehr Arbeitsplätze zuschaffen und damit zum Abbau der Arbeitslosigkeit bei-zutragen, bisher verfehlt. Einer „Richtschnur soziale Ge-rechtigkeit“ – so die Leitlinie 4 – folgen diese Maßnah-men wahrlich nicht. Auch in der Koalition muß sichendlich die Erkenntnis durchsetzen, daß eine wirksame,energische und zielgerichtete – nicht nur verbale und zu-fällige – Bekämpfung der Arbeitslosigkeit der wichtigsteBeitrag zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzenund zur Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit ist.

(Beifall bei der PDS)

Völlig zu Recht wird die Bundesrepublik von derEuropäischen Union für diese unausgewogene undbeschäftigungsfeindliche Politik gerügt. Zwar sind dievorliegenden Anträge von CDU/CSU und F.D.P. er-staunlich, weil auch sie in ihrer Regierungszeit beimAbbau der Arbeitslosigkeit nicht sonderlich erfolgreichwaren, aber im Kern ist diese Kritik berechtigt. InStichworten: Langzeitarbeitslosigkeit, Anwachsen desprozentualen Anteils der älteren Arbeitslosen, Lohnun-terschiede zwischen Frauen und Männern, West-Ost-

Unterschiede bei der Beschäftigung und der Arbeits-losigkeit.

Mit Nachdruck weisen wir in diesem Zusammenhangauf die Vorschläge unserer Fraktion zur Schaffung einesöffentlich geförderten Beschäftigungssektors hin.

(Beifall bei der PDS)

Einzelne Sektoren, etwa den Dienstleistungssektor, inden Mittelpunkt zu stellen und davon eine wundersameGenesung zu erwarten, das löst das Beschäftigungspro-blem nicht.

Beschäftigungspolitik, meine Damen und Herren– lassen Sie mich das zum Abschluß sagen –, muß inden Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union einewichtige Rolle spielen. Da die wirtschaftlichen und so-zialen Folgen eines Beitritts für jedes einzelne beitreten-de Land exakt berechenbar und voraussehbar sind, solltesich die deutsche Bundesregierung dafür einsetzen, daßauf diesen Gebieten Beitrittskriterien gelten. Die Vorla-ge konkreter und kontrollierbarer beschäftigungspoliti-scher Aktionspläne für die Zeit vor und nach dem Bei-tritt sowie soziale Auffangstrukturen sollten mit Hilfeder Europäischen Union geschaffen und für den Beitrittverbindlich gemacht werden.

(Beifall bei der PDS)

Nur dann wäre zu gewährleisten, daß Europa zu demwird, wofür wir alle eintreten: ein Europa der Bürgerin-nen und Bürger, die Freiheit, Demokratie undWohlstand dazugewinnen.

(Beifall bei der PDS)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsnächster Redner hat der Kollege Michael Roth von derSPD-Fraktion das Wort.

Michael Roth (Heringen) (SPD): Herr Präsident!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir macht die heutigeDebatte wirklich Spaß, weil es nicht der 27. Aufguß des-sen ist, was wir hier im Hause schon immer gehört ha-ben, sondern weil es ein offener und spannender Prozeßhinsichtlich der Frage ist, welches Europa wir wollen.Da muß auch der Deutsche Bundestag Flagge zeigen.Wir bräuchten eigentlich öfter solche grundsätzlichenDebatten – auch hier im Hohen Hause –, um deutlich zumachen, mit welchem Ziel, mit welchen Ansprüchenund mit welchen Vorstellungen über die Wege wir in dienächsten Jahre gehen. Ich habe – da ich etwas jünger bin– das Glück, daß ich wahrscheinlich das eine oder ande-re dessen, was auf den zukünftigen Gipfeln von denStaats- und Regierungschefs beschlossen wird, erlebenwerde.

(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Andere werden dasauch noch erleben – das eine oder andere! –Zurufe von der CDU/CSU)

– Ich wünsche es Ihnen. Ich bin erstaunt, mit welchemEngagement auf diesen Ansatz reagiert wird. Es gibt nuneinmal ein paar biologische Unterschiede, die in diesemFall etwas mit dem Alter zu tun haben.

Dr. Klaus Grehn

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Ich meine, wir sollten die europapolitische Debatteaus dem akademischen Hinterstübchen herausholen undsie in die Mitte der Gesellschaft stellen. Sie gehört inden Bundestag. Das ist wichtig. Deswegen ist die heuti-ge Debatte von großer Bedeutung.

(Beifall bei der SPD)

Ich will noch auf einen Zusammenhang hinweisen,der heute etwas zu kurz gekommen ist: auf den Zusam-menhang zwischen der Vertiefung einerseits und derErweiterung andererseits. Wenn wir die Reformen aufder Regierungskonferenz nicht so erfolgreich abschlie-ßen, wie wir es uns alle wünschen, dann wird es auchkeine Erweiterung geben. Ich verstehe deshalb die Un-stimmigkeiten innerhalb der CDU/CSU-Fraktion über-haupt nicht. Noch vor wenigen Monaten ist die SPD vonIhnen wie die Sau durchs Dorf getrieben worden, weilSie ständig ein festes Datum für die Erweiterung habenwollten.

(Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Das stimmtdoch gar nicht!)

Wir haben aus wohlerwogenen Gründen gesagt, daß eskein festes Datum geben kann, weil die EU erst einmalintern ihre Hausaufgaben erledigen muß. Das, was wirjetzt – auch auf die Initiative von Außenminister Fischerhin – auf den Weg gebracht haben mit dem Ziel, die EUbis zum 1. Januar 2003 erweiterungsfähig zu machen, istmeines Erachtens der richtige Ansatz. Aber da müssenwir noch eine ganze Menge tun.

Die Left-overs werden auf der anstehenden Regie-rungskonferenz nur deshalb die entscheidende Rollespielen, weil sie in Amsterdam nicht gelöst worden sind.Wir sollten jetzt nicht zuviel in die Regierungskonferenzhineinpacken; denn Zusammensetzung und Größe derKommission, Stimmengewichtung im Rat und vor allemdie grundsätzliche Mehrheitsentscheidung im Rat sindganz zentrale und wichtige Anliegen, die in Amsterdamgescheitert sind. Ich komme nicht auf die Idee, Ihnenoder Helmut Kohl das vorzuwerfen; der Arme hat imAugenblick wahrlich genug Probleme. So sollten wir dieDebatte nicht führen. Sie sollte schon etwas fairer sein.

(Beifall bei der SPD)

Ich meine, daß die grundsätzliche Einführung vonMehrheitsentscheidungen, wenn sie denn mit den Mit-entscheidungsbefugnissen des Europäischen Parlamentsverknüpft wird, auch eine Stärkung der demokratischenLegitimität ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir brauchen eine viel stärkere Partnerschaft derParlamente: des Europäischen Parlaments auf der einenSeite und auch des Deutschen Bundestages auf der ande-ren Seite. Ihr Antrag enthält einige Aspekte dazu, wiewir diese Zusammenarbeit, diese Partnerschaft vertiefensollten. Darüber sollten wir im Europaausschuß oderauch im Plenum des Deutschen Bundestages noch ein-mal reden. Ich halte das für wichtig, weil die COSAC,ein Gremium, das eigentlich niemand kennt, dazu nichtausreicht.

Wir müssen bei dem Verfassungsgebungsprozeßaber auch zur Kenntnis nehmen, daß es erhebliche Emp-findlichkeiten bei bestimmten Mitgliedstaaten gibt. Ichnehme nur einmal den Begriff „Verfassung“. Ich hattekürzlich Gelegenheit, in London und Paris an Konferen-zen teilnehmen zu dürfen. Über „Verfassung“ brauchtman mit den Engländern gar nicht zu reden. Deshalbsollten wir bestimmte Begrifflichkeiten nicht in die Re-gierungskonferenz hineinpacken; denn dann würde esnoch schwieriger, bei den sogenannten Left-overs zuLösungen zu kommen, die uns alle zufriedenstellen.Man sollte Herrn Stoiber manchmal in die anderen Mit-gliedstaaten, in die Partnerländer schicken. Dann würdeer feststellen, daß er dort überhaupt keine Zustimmungfindet.

(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Erweiß es doch!)

– Daß er das weiß, ist eine ganz andere Geschichte. Erweiß vieles, sagt es aber dann doch anders.

Ich stimme auch vielen Kolleginnen und Kollegen indiesem Hause darin zu, daß noch weitere Reformennotwendig sind. Ich denke etwa an die Zusammenset-zung des EuGH und der anderen Organe; da muß nocheine Menge gemacht werden. Ich habe deshalb auch vielSympathie für manche Vorschläge der Opposition. Daswar in diesem Hause immer so. Meines Erachtens hattenwir bei der strukturellen Ausgestaltung der EU immerein großes Einvernehmen.

Ich glaube, daß der Kommissionspräsident Prodi ineinem Punkt irrt. Er hat nämlich behauptet, daß ein per-manenter Reform- und Verfassungsgebungsprozeß in-nerhalb der EU Verdrossenheit bei den Bürgerinnen undBürgern erzeugen werde. Ich glaube das nicht; denn die-sen Verfassungsgebungsprozeß gibt es schon seit Jahren.Wir müssen einfach einmal anerkennen, daß nicht alles,was im Deutschen Bundestag beschlossen wird, in den14 anderen Mitgliedsländern genauso gesehen wird.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist auch ein Stückchen Selbstbescheidung. Wirdürfen nicht diese nationalstaatliche Arroganz nachaußen tragen. Das müssen wir uns einmal deutlich vorAugen führen. Es liegt nicht an dem ständigen Reform-prozeß, daß viele Bürgerinnen und Bürger auch in bezugauf das Thema Europa verdrossen sind, sondern es liegteher daran, daß wir oftmals noch zaudern und zögernbeim Anpacken von Problemen.

Ich möchte auf einen kontroversen Punkt hinweisen,der uns als Bundestagsabgeordnete fraktionsübergrei-fend massiv beschäftigt: der mühsame Prozeß der Ak-zeptanz eines politisch starken Europa. Wir haben unsin dieser und in der vergangenen Woche mit einigenpolitisch höchst umstrittenen Fragen beschäftigt, bei de-nen die EU auf einmal nicht nur mitwirkt, sondern maß-geblich mitentscheidet. Das müssen wir den Menschenaber auch sagen. Wenn wir bestimmte Kompetenzen inder Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in be-stimmten Fragen der Wettbewerbspolitik auf EU-Ebenehaben, dann müssen wir anerkennen, daß die eine oder

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andere Frage kontrovers diskutiert wird. Und dann müs-sen wir eben auch – das ist die andere Seite der Medaille– engagiert unsere Position vertreten.

Ich habe nicht verstanden, warum die CDU/CSU aufder einen Seite – das kommt auch in Ihrem Antrag zumAusdruck – den Bericht der drei Weisen massiv unter-stützt, aber auf der anderen Seite Ihr Ministerpräsidentvon der CSU ganz zentrale Punkte in Frage stellt. Mankann sich aus dem Dehaene-Bericht nicht das heraus-pflücken, was einem gerade ins politische Kalkül paßt.

(Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Warumdas? Natürlich kann man einige Elemente gutund andere weniger gut finden!)

Man muß den Bericht schon in Gänze sehen – und ihnentweder unterstützen oder kritisch einige Fragen stel-len, wie das die Bundesregierung, wie das meine Frak-tion und die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen tun.

Unser Ziel auf der nächsten Regierungskonferenzmuß sein – der Gipfel von Helsinki wird da wichtigeVorentscheidungen treffen –: ein handlungsfähigesEuropa, ein klarer strukturiertes Europa und ein demo-kratischeres Europa. Gemeinsam mit dem EuropäischenParlament und den anderen nationalstaatlichen Parla-menten können wir eine ganze Menge tun. Zuvor solltenwir unserer Bundesregierung für Helsinki aber allesGute und ein herzliches „Glückauf!“ wünschen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsnächster Redner hat das Wort der Kollege FriedbertPflüger von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident!Meine Damen und Herren! Außenminister Fischer hatzu Beginn seiner Rede gefragt, was er beim Regie-rungswechsel in der Europapolitik vorgefunden hat.Herr Fischer, Sie haben vorgefunden: ein Land, daseinig war – Deutschland –, eine europäische Einheit,Frieden und Freiheit in Europa, eine gemeinsame Wäh-rung, den Euro. Das ist die beste Bilanz, die man über-haupt vorfinden kann. Die Frage ist nicht, was gewesenist, sondern die Frage ist, was Sie in diesem Jahr ausdieser Bilanz, aus dem Gewicht Deutschlands gemachthaben. Das ist die Frage, die wir heute zu klären haben.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)Deutschland ist zusammen mit Frankreich in den

letzten Jahrzehnten immer der Motor der europäischenEinigung gewesen.

(Peter Hintze [CDU/CSU]: So ist es!)Vor jedem Gipfel haben wir uns bemüht, mit den Fran-zosen eine gemeinsame Linie zu finden.

(Bundesminister Joseph Fischer: Haben wir!)Wenn Paris und Bonn – jetzt Paris und Berlin – sicheinig waren, dann, so zeigt die Erfahrung, konnten wirin ganz Europa substantielle Fortschritte erreichen.

(Ernst Burgbacher [F.D.P.]: Das ist der ent-scheidende Punkt!)

Der Berliner Gipfel wäre fast gescheitert, weil sichDeutschland und Frankreich nicht einig waren. Das istnun nicht nur ein Fehler der Deutschen. Natürlich habenauch die Franzosen ihren Anteil an diesem Streit. Aberdurchweg lauteten die Kommentare im letzten Jahr: Derdeutsch-französische Motor hat eine Panne. Es gehtnicht mehr zwischen Paris und Berlin, so wie es früherzwischen Paris und Bonn gegangen ist.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Unsin-niges Nachkarten!)

Das, was wir in dieser Woche bei den deutsch-französischen Konsultationen erlebt haben, ist ohne je-den Zweifel ein Fortschritt. Es ist ein Versuch der Repa-ratur dessen, was ein ganzes Jahr lang versäumt wordenist, nämlich ein Vertrauensverhältnis zu den Franzosenaufzubauen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt[Salzgitter] [SPD]: Sie sind nicht auf der Höheder Zeit!)

– Herr Kollege Schmidt, lesen Sie doch einmal, was füh-rende französische Intellektuelle in den Zeitungenschreiben!

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: DieTatsachen sprechen doch für sich! Dazu brau-che ich keine Intellektuellen!)

Da kommt wieder die alte Angst vor Deutschland zumAusdruck, zum Beispiel dann, wenn der Eindruck ent-steht – so ein bißchen war das auch in der Innenpolitikzu beobachten –, die Deutschen würden gar keine Rück-sicht mehr auf das nehmen, was man in Frankreichdenkt.

(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: LesenSie mal die Rede vom Kanzler vor der Natio-nalversammlung nach! Das ist doch Unsinn,was Sie erzählen!)

Man geht einfach drauflos, kündigt plötzlich einen Ver-trag über nukleare Zusammenarbeit, veröffentlichtplötzlich das Schröder-Blair-Papier. Diese Art und Wei-se des Umgangs mit unserem französischen Partner isteine Katastrophe für das Verhältnis zu Frankreich undeine Katastrophe in Europa.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Aber wir nehmen ja zur Kenntnis, daß es Versuche gibt,dieses Verhältnis zu verbessern. Wir hoffen und wün-schen sehr, daß Sie in Helsinki dieses deutsch-französische Gewicht wieder stärker entfalten.

Was ist die größte und wichtigste strategische Aufga-be für Europa in den nächsten Jahren? Das ist ohneZweifel die Erweiterung – ich würde eher sagen: dieWiedervereinigung – Europas.

(Lothar Mark [SPD]: Sagen Sie das mal demStoiber!)

Deshalb begrüßen wir es, daß jetzt in Helsinki mit ins-gesamt zwölf Staaten verhandelt werden soll; sechs

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weitere Staaten sollen dazukommen. Das ist der aufbreiter Grundlage stehende Versuch, die Länder in Mit-tel- und Osteuropa sowie Zypern und Malta an dieEuropäische Union heranzuführen. Das ist gut, und dasist richtig.

Die Frage ist nur, ob dieser Prozeß richtig vorbereitetist, ob jemand die Führung übernimmt in diesem Prozeß.Die Frage ist, ob die Beitrittsperspektive nicht dadurch,daß man die Union jetzt so schnell erweitern will – auchdie Türkei kommt noch hinzu –, verwässert wird. MeineSorge ist, daß wir die Prioritäten im Rahmen des Bei-trittsprozesses nicht richtig setzen. Diese Sorge hörenSie aus Polen, Ungarn und Tschechien. Diese Ländersagen: Die Erweiterung um andere Beitrittskandidatenkönnte dazu führen, daß diejenigen, die sich besondersangestrengt haben, darunter zu leiden haben und auf derStrecke bleiben. Ich schlage vor, daß Sie das sehr ernstnehmen. Es macht keinen Sinn, die Erweiterung zubetreiben, immer mehr Länder einzuladen, auch derTürkei den Status eines Beitrittskandidaten zu geben,aber den Ländern, die für uns am wichtigsten sind – ichnenne Polen –, oder denjenigen Ländern, die die meistenFortschritte gemacht haben, zum Beispiel Ungarn, keineklare Perspektive zu geben. Diese Länder müssen dabei-sein und an erster Stelle stehen. Das ist unser Anliegenin diesem Zusammenhang.

Ich glaube, Europa – die Wiedervereinigung, dieÜberwindung der europäischen Krise – ist noch auseinem anderen Grund sehr wichtig, nämlich mit Blickauf das transatlantische Verhältnis. In Amerika – derVorsitzende Schäuble hat darauf hingewiesen – gibt eseine gewisse Tendenz, die Welt unilateralistisch zu be-trachten, also nicht mehr so sehr aus der Sicht der Part-ner, sondern ausschließlich aus der nationalen Interes-senlage Amerikas.

Bisher ist die amerikanische Macht überall dort, wosie auf der Welt eingesetzt wird, positiv und gut. Siebalanciert: im Pazifik, in Südostasien und auch in Euro-pa. Aber wenn man sich zum Beispiel die Reden desPräsidentschaftsbewerbers George Bush jr. anhört,

(Günter Gloser [SPD]: Wer ist Bush jr.?)

hat man den Eindruck, daß sich Amerika vom Multilate-ralismus verabschiedet, ihn jedenfalls weniger ernstnimmt. Man hat den Eindruck, daß der ABM-Vertrag,einer der großen Abrüstungsverträge zwischen Moskauund Washington, 1972 geschlossen, das Rückgrat desgesamten Abrüstungsprozesses, einseitig aufgekündigtwird. Ich glaube, es ist sehr wichtig, Herr Außenmi-nister, daß wir das, was in Amerika eventuell passiert,sehr ernst nehmen.

Es gibt in Europa heute niemanden – das ist die großeSorge, die wir haben –, der wirklich Gewicht, Ansehenund den notwendigen Führungswillen hat, um inWashington mit einer gewissen Chance auf Erfolg auf-zutreten. Herr Schröder jedenfalls wird auf dem CapitolHill nicht sehr ernst genommen. Herr Schröder hat keineMöglichkeiten, dort Einfluß zu nehmen.

(Widerspruch bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: HerrKollege Pflüger, denken Sie bitte an die Redezeit.

Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Er hat dort keingroßes Gewicht, und das ist ein großes Problem.

Ich sage ganz deutlich: Wir brauchen dieses vereinteEuropa und sollten es als Chance auch für das transat-lantische Verhältnis begreifen. Gemeinsam mit Amerikamüssen wir in Zukunft die globalen Gefahren und Risi-ken der kommenden Jahre auf uns nehmen und Lösun-gen zuführen. Das machen wir zusammen.

Ich darf noch einmal sagen, Herr Außenminister: Wirwünschen Ihnen für Helsinki viel Erfolg und viel Glück.Machen Sie es richtig – und machen Sie es vor allenDingen ein bißchen besser als im vergangenen Jahr!

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-ordneten der F.D.P. – Zuruf von der SPD: Daswar jetzt wirklich überflüssig!)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Alsletzter Redner in dieser Aussprache hat der KollegeWinfried Mante von der SPD-Fraktion das Wort.

Winfried Mante (SPD): Herr Präsident! Meine sehrverehrten Damen und Herren! Herr Dr. Pflüger, FreundEuropas, etwas weniger Polemik wäre am Ende dieserDebatte vielleicht hilfreicher und nützlicher gewesen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordnetendes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir hätten angesichts der großen Übereinstimmung, diebei diesem Thema in diesem Hause herrscht, dann etwaszufriedener nach Hause gehen können. Das war eineRolle rückwärts und gleichzeitig eine Rolle vorwärts.

Meine Damen und Herren, der Gipfel von Helsinki– darauf wollen wir uns konzentrieren – wird vielleichtdas einzige Ereignis am Ende dieses Jahrtausends sein,das die inzwischen schon etwas abgenutzte Wortschöp-fung „Millennium“ wirklich verdient. Dieser Jahrtau-sendgipfel wird das Tor in eine europäische Zukunfts-politik weiter aufstoßen, die die geographischen Gren-zen Europas und die politischen Grenzen der Europäi-schen Union in absehbarer Zeit weitgehend deckungs-gleich machen wird.

Sicher unterscheidet sich die Osterweiterung in we-sentlichen Aspekten von den bisherigen Beitritten: DieAnzahl der Beitrittskandidaten ist ungleich höher, derBesitzstand der Union hat sich wesentlich erweitert, dieQualität des EG-Rechts hat zugenommen, die Beitritts-staaten selbst befinden sich in einem Prozeß der politi-schen und wirtschaftlichen Transformation. Aber – dassage ich mit allem Nachdruck – auch die politische unddie strategische Situation in Europa ist anders als bei denvorherigen Beitritten. Daher ist eine gewisse Dringlich-keit und eine höhere Geschwindigkeit bei der Gestaltungdes Beitrittsprozesses nicht nur geboten, sondern sogarunverzichtbar.

(Beifall bei der SPD)

Dr. Friedbert Pflüger

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Meine Damen und Herren, die vorliegenden Fort-schrittsberichte der Kommission tragen nicht nur denpolitischen Entwicklungen in den Beitrittsländern Rech-nung. Sie erhalten auch auf Grund ihrer Sachlichkeit undRealitätsnähe bei der Einschätzung der Wirtschafts-strukturen allgemein Beifall und Zustimmung. Das läßtauch darauf schließen, daß sowohl die positiven Aspekteals auch die Problempunkte von den Beitrittsländernakzeptiert und auch die vollständige Einhaltung allerKopenhagener Kriterien als Grundvoraussetzung für denBeitritt nicht in Frage gestellt werden.

Am Mittwoch haben wir im Europaausschuß von denBotschaftern aller 12 Länder die Bestätigung dafür er-halten, daß die von der Kommission vorgeschlageneÖffnung des Beitrittsprozesses für die Länder dersogenannten zweiten Gruppe akzeptiert und auch befür-wortet wird. Die Besorgnisse und Befürchtungen der er-sten Gruppe, daß der Beitrittsprozeß dadurch verlang-samt werden könnte, scheinen mir allerdings nicht ganzunbegründet zu sein. Aber gerade hier kommt dem Hel-sinki-Gipfel die Aufgabe zu, die Dynamik des europäi-schen Entwicklungsprozesses neu zu formulieren unddie Akzente neu zu setzen. Der offene Charakter desBeitrittsprozesses sowie das vorgeschlagene Differen-zierungsprinzip sollen und werden den Beitrittsver-handlungen eine neue Qualität und Dynamik verleihen.

Meine Damen und Herren, die Mitgliedsländer ihrer-seits stellen sich mit dem Datum der Aufnahmebereit-schaft, dem 1. Januar 2003, ein großes Ziel. Bis dahinsind in den 15 Ländern – das wurde heute schon mehr-fach gesagt – noch einige Hausaufgaben zu machen, dienicht gerade leicht sind.

Mit dem Berliner Gipfel im März wurde ein soliderFinanzrahmen für die Europäische Union bis 2006 ge-schaffen. Damit würde auch und vor allem der Weg fürdie Erweiterungsfähigkeit der Union und die Aufnahmeweiterer Länder geebnet. Wer heute verlangt, meineDamen und Herren, daß die Ergebnisse der Agenda2000 neu zu verhandeln oder nachzuverhandeln sind,gleichzeitig aber fordert, die zügige Umsetzung der Er-weiterung durchzusetzen, der muß auch sagen, wie die-ser Widerspruch aufzulösen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit der Intensivierung und Stärkung der Heranfüh-rungsstrategien und der Schaffung neuer Instrumenteneben den bewährten Programmen wie PHARE werdenausreichende Mittel bereitgestellt: 22 Milliarden Eurofür die Heranführung, 58 Milliarden Euro für erweite-rungsbedingte Aufgaben. Das ist auch angesichts derAbsorptionsfähigkeit der Beitrittsländer sowie der Maß-gabe der hohen Eigenverantwortung der Beitrittsländerzur Erreichung ihrer Beitrittsfähigkeit eine ganze Men-ge. Ein Aufschnüren des Finanzkonzeptes insgesamtkann deswegen nur eine Verzögerung des Gesamtpro-zesses bedeuten. Ich sehe eigentlich niemanden hier, derdas wirklich will.

Außerdem kann ich nur empfehlen, den Beitritt nichtnur unter Kostenaspekten zu sehen. Die Mitgliedsländerder Europäischen Union werden nicht nur wirtschaftlich,sondern auch politisch einen erheblichen Nutzen aus

einer Erweiterung ziehen, der sich nicht in Zahlen undBeträgen messen läßt. Darüber hinaus wird der Prozeßder europäischen Erweiterung mit seinen Assoziierun-gen, mit den Heranführungsstrategien und mit den In-strumenten der Beitrittspartnerschaft und dem Beitrittselbst die jungen Demokratien politisch, wirtschaftlichund gesellschaftlich stabilisieren und weiter an Europabinden. Die Erweiterung ist also weder wirtschaftlichnoch politisch eine Einbahnstraße.

Meine Damen und Herren, ich bin Brandenburgerund komme aus der unmittelbaren Grenzregion zuPolen. Ich haben also sozusagen die erste Stufe derOsterweiterung der Europäischen Union bereits seit10 Jahren miterleben dürfen, und ich habe auch ver-sucht, sie ein wenig mitzugestalten.

Die Menschen in den neuen Bundesländern und wiralle kennen inzwischen die Probleme des notwendigenStrukturwandels sowie die Auswirkungen auf den Ar-beitsmarkt und die gesellschaftlichen Verwerfungen alsdessen Folgen. Vor diesem Hintergrund und vor demHintergrund von 15,4 Millionen Arbeitslosen in derEuropäischen Union, davon knapp 3,9 Millionen alleinin Deutschland, wird auch die Sorge der Menschen ge-rade in den Grenzregionen verständlich, daß insbeson-dere die Freizügigkeit des Binnenmarktes bei derErweiterung zu weiteren Problemen auf dem Ar-beitsmarkt führen kann. Diese Sorge müssen wir sehrwohl ernst nehmen und dürfen sie nicht geringschät-zen.

Meine Mitbürgerinnen und Mitbürger im grenznahenRaum erleben täglich die Probleme einer europäischenAußengrenze, die noch immer mehr trennt als verbin-det, und zwar nicht nur, weil uns Brücken und Übergän-ge fehlen, sondern auch, weil noch zu viele Vorurteileprägend sind und weil oberflächliche Eindrücke Mei-nungen bilden.

Aber wir haben auch zahlreiche positive Beispieleguter Nachbarschaftsbeziehungen: Die Euroregionenwerden zunehmend zu einem Motor der grenzüber-schreitenden Entwicklung. Der Export BrandenburgerFirmen nach Mittel- und Osteuropa entwickelt sich seitJahren positiv. Die zunehmende Kaufkraft in Polenfließt sichtbar in den Einzelhandel, nicht nur in den derGrenzstädte. Junge Deutsche und Polen lernen, forschenund gestalten ihre Zukunft gemeinsam. Das Verständnisfüreinander wächst.

Deswegen sage ich Ihnen: Die Chancen der grenz-überschreitenden Entwicklung sind größer als ihre Ri-siken.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Osterweiterung der Europäischen Union wird nichtnur im grenznahen Raum Impulse für Wachstum undBeschäftigung geben. Sie wird sich gesamteuropäischauswirken, und zwar positiv: Ängste und Vorbehaltewerden abnehmen; die Kulturen werden sich vermi-schen; die Wirtschaft wird gestärkt; das Lebensniveauwird sich erhöhen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Winfried Mante

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Genau das müssen wir den Menschen in Deutschlandund in Europa vermitteln, damit die Akzeptanz für dieeuropäische Sache zunimmt und Europa nicht nur einThema für Politiker wird.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich sage zum Abschluß: Es gibt zur europäischen In-tegration keine vernünftige Alternative. Deshalb wird– um mit Willy Brandt zu sprechen – „zusammenwach-sen, was zusammengehört“.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ichschließe die Aussprache.

Mit Ihrem Einverständnis nehme ich eine Erklärungzur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung desKollegen Dr. Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion, zuProtokoll.*)

Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmun-gen. Anschließend wird die Sitzung auf Antrag der SPD-Fraktion unterbrochen.

Wir kommen zuerst zu den Vorlagen, über die wir inder Sache abstimmen. Die Abstimmungen über dieÜberweisungen werden wir anschließend vornehmen.Wir stimmen zunächst über drei Entschließungsanträgezur Regierungserklärung ab.

Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 14/2248. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderenFraktionen angenommen.

Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/2245. Wer stimmtfür diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Damit ist dieser Entschlie-ßungsantrag mit den Stimmen aller anderen Fraktionengegen die Stimmen der PDS abgelehnt.

Abstimmung über den Entschließungsantrag derFraktion der PDS auf Drucksache 14/2280. Wer stimmtdafür? – Wer stimmt dagegen? – Damit ist der Ent-schließungsantrag mit dem gleichen Stimmenverhältniswie zuvor abgelehnt.

Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 b: Be-richt des Ausschusses für die Angelegenheiten derEuropäischen Union zu der Unterrichtung der Bundes-regierung über die EU-Charta der Grundrechte, Druck-sache 14/1819. Ich gehe davon aus, daß Sie den Berichtdes Ausschusses zur Kenntnis genommen haben. – Dasist der Fall.

Abstimmung über den Tagesordnungspunkt 13 c: Be-schlußempfehlung des Ausschusses für die Angelegen-—————*) Anlage 2

heiten der Europäischen Union zu der Entschließung desEuropäischen Parlaments zum Wahlverfahren für dieWahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments,Drucksache 14/685. Der Ausschuß empfiehlt, die Ent-schließung des Europäischen Parlaments auf Drucksa-che 14/74 Nr. 1.9 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmtfür diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen?– Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlußempfeh-lung einstimmig angenommen.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tages-ordnungspunkt 13 d: Antrag der Fraktion der CDU/CSU„Festigung und Fortentwicklung der Europäischen Unionwährend der deutschen Ratspräsidentschaft im 1. Halbjahr1999“. Der Ausschuß für die Angelegenheiten der Euro-päischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/845, denAntrag auf Drucksache 14/159 abzulehnen. Wer stimmtfür diese Beschlußempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Dann ist diese Beschlußempfehlungdes Ausschusses bei Zustimmung der Koalitionsfraktio-nen und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSU undeiner Gegenstimme der F.D.P. bei Enthaltung der F.D.P.im übrigen angenommen worden.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Tages-ordnungspunkt 13 g: Entschließungsantrag der FraktionCDU/CSU zur Abgabe einer Erklärung der Bundesre-gierung zur aktuellen Lage im Kosovo nach dem Ein-greifen der NATO und zu den Ergebnissen der Sonder-tagung des Europäischen Rates in Berlin, Drucksache14/675. Der Ausschuß für die Angelegenheiten derEuropäischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/1288,den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/675 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung?– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Be-schlußempfehlung ist bei Zustimmung der Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Ent-haltung von F.D.P. und PDS angenommen worden.

Zusatzpunkt 9: Abstimmung über den Antrag derFraktion der F.D.P. mit dem Titel „Europäischer Rat inHelsinki: EU-Erweiterung voranbringen, politischeUnion vertiefen“. Wer stimmt für diesen Antrag aufDrucksache 14/2246? – Wer stimmt dagegen? – Werenthält sich? – Damit ist dieser Antrag bei Zustimmungder F.D.P.-Fraktion gegen die Stimmen der Koalitions-fraktionen und der PDS bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt worden.

Wir kommen nun zu den Überweisungen, zunächst zuTagesordndungspunkt 13 a. Interfraktionell wird vorge-schlagen, die Entschließungsanträge der Fraktionen derSPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und F.D.P. aufDrucksache 14/2279 und der PDS auf Drucksache14/2289 zur Regierungserklärung zur federführendenBeratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitbe-ratung an den Ausschuß für Menschenrechte und huma-nitäre Hilfe zu überweisen. Gibt es anderweitige Vor-schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlos-sen.

Tagesordnungspunkte 13 e und 13 f: Interfraktionellwird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-chen 14/1000 und 14/1955 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit

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einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.

Zusatzpunkt 8: Weiterhin wird interfraktionell vorge-schlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/2233 zur fe-derführenden Beratung an den Ausschuß für die Ange-legenheiten der Europäischen Union und zur Mitbera-tung an den Auswärtigen Ausschuß, den Innenausschuß,den Rechtsausschuß, den Finanzausschuß, den Ausschußfür Wirtschaft und Technologie, den Ausschuß für Er-nährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuß fürArbeit und Sozialordnung, den Verteidigungsausschuß,den Ausschuß für die Angelegenheiten der neuen Länderund den Haushaltsausschuß zu überweisen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Dies ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung beschlossen.

Ich unterbreche jetzt die Sitzung auf Antrag der SPD-Fraktion für zirka eine Stunde. Der Wiederbeginn derSitzung wird rechtzeitig durch Klingelsignal angekün-digt.

Die Sitzung ist unterbrochen.

(Unterbrechung von 12.44 bis 13.50 Uhr)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die unter-brochene Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich rufe die Punkte 14a bis 14c auf:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur strafverfahrensrechtlichen Verankerungdes Täter-Opfer-Ausgleichs– Drucksache 14/1928 –(Erste Beratung 66. Sitzung)Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur Änderung des Gesetzesüber Fernmeldeanlagen– Drucksache 14/1315 –(Erste Beratung 61. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses(6. Ausschuß)– Drucksache 13/2258 –

Berichterstattung:Abgeordnete Hedi WegenerDr. Wolfgang GötzerJörg van EssenSabine Jünger

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten der Frak-tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs

eines … Gesetzes zur Änderung der Strafpro-zeßordnung – § 100 a StPO– Drucksache 14/162 –(Erste Beratung 16. Sitzung)Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses(6. Ausschuß)– Drucksache 14/2192 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm)Norbert GeisVolker Beck (Köln)Jörg van EssenSabine Jünger

c) Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jür-gen Rüttgers, weiteren Abgeordneten und derFraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfseines dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzeszur Änderung des Strafgesetzbuches, der Straf-prozeßordnung und des Versammlungsgesetzesund zur Einführung einer Kronzeugenregelungbei terroristischen Straftaten(Drittes Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz)– Drucksache 14/1107 –(Erste Beratung 61. Sitzung)Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses(6. Ausschuß)– Drucksache 14/2259 –Berichterstattung:Abgeordnete Alfred HartenbachNorbert GeisJörg van Essen

Zu dem Gesetzentwurf zur Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und zum Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetz liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion derF.D.P. vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Wider-spruch gibt es nicht. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächstdie Abgeordnete Hedi Wegener.

Hedi Wegener (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zu dem Ge-setzentwurf ist schon sehr viel gesagt worden. Deshalbmöchte ich mich auf einige Anmerkungen beschränken.

Der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen undJugend hat mich gebeten, noch einige Punkte zur Täter-orientierung bzw. zur Opferorientierung zu sagen. Tä-terorientiert ist dieses Gesetz ganz sicherlich nicht.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Nicht mehr!)

Der Gesetzentwurf beinhaltet weder therapeutische nochBeratungsinhalte und enthält auch keinerlei erzieheri-

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

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schen Aspekte, so daß man von einem täterorientiertenGesetz nicht reden kann.

(Norbert Geis [CDU/CSU: Jetzt nicht mehr!)

Sie wissen, daß es sich bei den Beratungsstellen, dieden Täter-Opfer-Ausgleich durchführen, ausschließlichum professionelle Kräfte handelt. Das Bild dieser Mitar-beiter ist das selbstbestimmter Menschen, die von derIdeologie und Philosophie ausgehen, daß die kreativenAnlagen grundsätzlich eine Selbstheilung und auch Ver-änderung der Menschen zulassen.

Zu dem Beratungsprozeß gehört auf jeden Fall, daß erfreiwillig und vertraulich ist und die Handlungsautono-mie der Betroffenen selbst unterstützt. Das sind expliziteVoraussetzungen für den Täter-Opfer-Ausgleich. Ineinem angstfreien Raum werden – gegebenenfalls inAnwesenheit des Täters, des Verletzten, des Geschädig-ten, des Opfers – die Vorgänge aus der Sicht des Opfers,werden die Verletzlichkeiten, die Schädigungen, dieWünsche und die Forderungen vorgebracht.

Darüber hinaus bin ich auch der Meinung, daß sichder Täter-Opfer-Ausgleich für jede Tat eignet. Die hoheZahl der Körperverletzungen bestätigt allerdings, daß derTäter-Opfer-Ausgleich vor allen Dingen bei diesen De-likten geeignet ist, weil es bei den Opfern einen hohenGrad der Betroffenheit gibt. Die Selbstbestimmtheit derBeteiligten läßt es jedoch zu, daß jeder/jede sich ent-scheiden kann, ob er/sie sich in diesen Prozeß begibtoder nicht. Die bisherigen Erfahrungen haben allerdingsgezeigt, daß 71 Prozent der Opfer bereit sind, sich aneinem Täter-Opfer-Ausgleich zu beteiligen.

Ich sage es noch einmal: Wir sollen davon ausgehen,daß die Täter nicht unbedingt daran interessiert sind,ihren Opfern oder den Verletzten zu begegnen. StarkeMuskeln, die große Klappe und die geballte Faust sindnämlich dann nicht mehr gefragt.

Beim Täter-Opfer-Ausgleich müssen kleine Brötchengebacken werden, sind Nachgeben und das Übernehmender Sichtweise des Opfers, das Erfassen von dessen Per-spektive – das sagte ich schon in meinem ersten Beitrag– von seiten des Opfers gefragt. Es muß also hinsichtlichder Perspektive des Täters eine Veränderung geben.

Die jeweils unterschiedlichen Taten und die Bedürf-nisse der Betroffenen machen in der Praxis auch unter-schiedliche Beratungsformen, unterschiedliche Räumeund unterschiedliche Situationen erforderlich. Es machteinen Unterschied, ob mediiert wird, wenn eine Gruppejunger Männer eine andere Gruppe junger Männerdrangsaliert hat, ob ich in einem Prozeß mediiere, in demes darum geht, daß ein besoffener Mann in den frühenMorgenstunden bei Edeka mit dem gerade geliefertenJoghurt herumgeschmissen hat, oder ob ich im sozialenNahraum bei Körperverletzungen mediiere. Das ist auchfür den Prozeß, der dann stattfindet, ein gewaltiger Un-terschied.

Aus den Ausführungen entnehmen Sie, daß es sichalso um einen Prozeß handelt, in dem das Opfer zu jederZeit ein- und aussteigen kann. Es besteht erstmalig dieChance, daß ein Opfer durch eigenes Handeln in einenProzeß eingreifen kann und nicht dadurch, daß der

Rechtsanwalt des Opfers dem Rechtsanwalt der Gegen-partei irgendein Schriftstück mit einer Forderung zu-kommen läßt.

Wie gesagt, die Erfolgsquote ist relativ hoch. Eskommt in 76 Prozent der Fälle nach bisheriger Erfahrungzu einem Abschluß in Form des Täter-Opfer-Ausgleichs.Nur 20 Prozent der bisher zugewiesenen Fälle lassenkeinen Täter-Opfer-Ausgleich und die Bemühungen da-zu zu. Aber auch die Möglichkeit, am Widerstand derOpfer zu arbeiten, ist eine Chance. Manche begeben sicherst nach den Kontaktaufnahmen und nach dem Ge-spräch darüber, was eigentlich mit ihnen passiert ist, inweitere Beratungen. Nach einer Untersuchung der Uni-versität Tübingen gibt es im übrigen bei der Geschlech-teraufteilung folgendes Bild: Täter bzw. Beschuldigtesind zu rund 82 Prozent Männer und zu 17 Prozent Frau-en, Opfer wiederum zu 67 Prozent Männer und zu33 Prozent Frauen. Je bedeutsamer der Eingriff in diepersönliche und psychische Identität ist, um so höher istdie Anzeigebereitschaft.

Die Länder sind nach Inkrafttreten dieses Gesetzesnun also gefordert. Die Gerichte sollen ausufernde Ver-handlungen eindämmen. Die Richter sollen Akzeptanzund Rechtsfrieden schaffen. Es muß in ihren Köpfenverankert werden, daß der Täter-Opfer-Ausgleich ein In-strument dazu ist. Die Beratungsstellen müssen Qualifi-kation, Weiterbildung und Praxisberatung zur Verfügungstellen. Ich verhehle allerdings nicht, daß mir die For-mulierung „soll die Eignung nicht angenommen werden“im geplanten § 155a StPO einige Probleme macht. Beiallen Opferinteressen kann das Opfer nicht Herr des Ver-fahrens werden. Den Richtern muß die Entscheidungüberlassen bleiben, ob sie eine Einstellung vornehmenoder nicht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN und der F.D.P.)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Wolfgang Götzer.

Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Frau Präsiden-tin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestat-ten Sie mir, daß ich mich als Mitglied des Rechtsaus-schusses hauptsächlich mit den juristischen Gesichts-punkten des Täter-Opfer-Ausgleichs befasse.

Ich glaube, wir alle stimmen im Grundsatz darinüberein, daß der Täter-Opfer-Ausgleich, wenn er richtigpraktiziert wird, eine gute Sache ist. Deswegen hat ihndie alte Koalition 1994 auch mit dem Verbrechensbe-kämpfungsgesetz im Strafrecht verankert. Aber der Tä-ter-Opfer-Ausgleich und seine Akzeptanz in der Rechts-gemeinschaft steht und fällt mit der Wahrung der Opfer-belange. Das heißt, die Interessen des Opfers müssen anerster Stelle stehen.

Der Grundgedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs ist es,durch individuellen Ausgleich zwischen Täter und OpferRechtsfrieden zu schaffen. Diesem Anspruch ist der bis-herige Entwurf nicht gerecht geworden. Deswegen ha-

Hedi Wegener

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ben wir im Rechtsausschuß darüber sehr intensiv disku-tiert.

(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Es gab aus der Sicht der Union vor allem zwei Kritik-punkte, Herr Kollege Ströbele. Zum einen haben wirkritisiert, daß es gemäß dem bisherigen Entwurf nach§ 155 a Satz 3 StPO möglich war, gegen den Willen desOpfers einen Täter-Opfer-Ausgleich durchzuführen.

Ich weiß nun nicht, Frau Kollegin Wegener, wie ichIhre letzten Worte verstehen soll. Haben Sie die neueVersion des Entwurfs nicht gelesen, wollen Sie sich da-mit nicht anfreunden oder wollen Sie dem Entwurf nichtzustimmen? Es steht nicht mehr drin, ein Täter-Opfer-Ausgleich „soll“ nicht gegen den Willen des Opfersdurchgeführt werden, sondern jetzt steht drin, er „darf“nicht durchgeführt werden. So steht es in der Beschluß-vorlage – wenn es denn drucktechnisch geklappt hat.

(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie können esnachlesen!)

Wir haben in letzter Zeit ja schon anderes erlebt. Dasscheint ja fast schon zur Gewohnheit bei dieser Koalitiongeworden zu sein.

(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie haben es dochgelesen!)

Ich hoffe, daß jetzt drinsteht, daß er nicht gegen denWillen durchgeführt werden darf. Frau Kollegin, Siemüssen sich, wie gesagt, wenn Sie gegen diese Formu-lierung sind, überlegen, ob Sie dem Entwurf in der jetztvorliegenden Fassung überhaupt zustimmen können.

(Hedi Wegener [SPD]: Ihre Belehrung braucheich nicht!)

Der zweite Kritikpunkt aus der Sicht der Union warder neu im § 153 a StPO aufgenommene Tatbestand, daßdas Bemühen des Täters um einen Täter-Opfer-Ausgleich ausreichend sein solle.

Wir waren der Meinung, daß diese beiden Gesichts-punkte eindeutig die Interessen des Täters in den Vor-dergrund stellen und die Opferbelange vernachlässigen.Deswegen haben wir entsprechende Änderungsanträgewährend der Beratungen im Rechtsausschuß gestellt.

Übrigens befinden wir uns mit unserer Kritik in inter-essanter Gesellschaft. Zum einen hat der Ausschuß fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend eine Anregung anden Rechtsausschuß gegeben – ich zitiere –:

Weiterhin ist aus Sicht des Ausschusses für Familie,Senioren, Frauen und Jugend klarzustellen, dass inder Begründung die Interessen des Opfers beimTäter-Opfer-Ausgleich im Vordergrund zu stehenhaben.

Der Ausschuß war wohl bei dieser Entschließung mitden Stimmen aus der Regierungskoalition der Meinung,daß das bisher nicht der Fall ist.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Nein, die sind offene Türen beiuns eingerannt!)

– Ach ja, dann hätten Sie es ja gleich so formulierenkönnen. Wir freuen uns über jeden Fortschritt.

(Alfred Hartenbach [SPD]: Sie müssen so et-was bis zum Ende lesen und dürfen nicht vor-her abbrechen!)

– Herr Kollege Hartenbach, Sie regen sich vielleichtnoch mehr auf, wenn ich jetzt auch noch den Zwischen-bericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichenSanktionensystems erwähne. Diese Kommission, die janicht von uns, sondern vom BMJ eingesetzt wurde,stimmt mit unseren Kritikpunkten überein,

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir sind keinebesseren Juristen!)

indem sie die alte Fassung des § 155 a StPO ablehnteund eine Änderung des § 153 a Abs. 1 Satz 5, wo es umdas Bemühen geht, verlangte. Die beiden von uns ange-sprochenen Punkte werden also in dem Zwischenberichtder vom BMJ eingesetzten regierungsnahen Kommissionaufgegriffen, und es wurde für eine Änderung in unse-rem Sinne votiert.

Auf Grund unserer Kritik hat – das sage ich mit Freu-de – offensichtlich ein Umdenken bei der SPD einge-setzt. Wir haben die Hoffnung, daß das bei vernünftigenVorschlägen in Zukunft häufiger der Fall ist. Gerade inder Weihnachtszeit sind wir ja alle voll der Hoffnung.Ich hoffe, daß das nicht mit dem Ende der Weihnachts-zeit wieder vorbei ist, sondern auch in Zukunft öfter derFall sein wird.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann kommt dieFaschingszeit! Ich bin gespannt, was uns dannerwartet!)

Ich möchte hier vor allen Dingen auch dem KollegenStünker dafür danken, daß er im Rechtsausschuß dieÄnderung der Formulierung von „soll“ in „darf“ vorge-schlagen hat. Im nunmehr vorliegenden Entwurf sindentscheidende Verbesserungen enthalten. Nach der jetztzu beschließenden Regelung darf der Täter-Opfer-Ausgleich nicht gegen den Willen des Opfers durch-geführt werden. Ein bloßes Bemühen des Täters ohnedie Zustimmung des Opfers läuft ins Leere, weil dieRegelung in § 153 a StPO nicht in Betracht kommt,wenn das Opfer dem Täter-Opfer-Ausgleich nicht zu-stimmt.

Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen undKollegen, da es uns gelungen ist, diese entscheidendenVerbesserungen im Interesse des Opferschutzes durch-zusetzen – darüber freut sich die CDU/CSU-Frak-tion natürlich –, stimmen wir heute diesem Gesetzent-wurf zu.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.

(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt wird es ge-fährlich! – Jörg van Essen [F.D.P.]: Womit ha-ben wir das verdient?)

Dr. Wolfgang Götzer

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Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Heute hören Sie von mir nur Gutes.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Sie meinen, es ge-schehen noch Wunder, Herr Kollege?)

– Wir sammeln die guten Tage in diesem Jahrtausend.Ich denke, heute ist ein guter Tag für die Justizpolitik indiesem Lande. Wenn ich es richtig sehe, werden auchSie gleich zustimmen.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber nur in demPunkt! Das wissen Sie doch!)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Unter dem Täter-Opfer-Ausgleich, dem soge-nannten TOA, können sich nicht viele Leute etwas vor-stellen. Durch den Täter-Opfer-Ausgleich – das ist rich-tig und wichtig – können in Zukunft Strafprozesse ver-mieden oder verkürzt werden, können im vorausSchlichtungen herbeigeführt werden, nämlich dann,wenn sich der Täter bemüht – das steht nach wie vor imGesetz, Herr Kollege –, sich mit dem Opfer zu einigenund die Tat sowie die Folgen der Tat wiedergutzuma-chen. Das Bemühen allein ist wesentlich, auch wenn esnicht immer zum Erfolg führen wird.

Richtig ist, daß das niemals gegen den Willen des Op-fers geschehen soll. Ich halte das für völlig in Ordnung,weil zum Beispiel die Vorstellung, daß eine Frau, dievon einem Mann verprügelt worden ist, gegen ihrenWillen dazu gezwungen wird, sich mit dem Täter zu-sammenzusetzen, Händchen zu halten und zu sagen:„Wir sind uns wieder einig.“ grauenhaft ist. Das wollenwir nicht Wirklichkeit werden lassen, und aus diesemGrund haben wir dies im Gesetz klargestellt. Das Wort„soll“ bedeutet für den Richter und auch für den Staats-anwalt, daß eine Einigung in solchen Fällen überhauptnicht in Betracht kommt. Es handelt sich also lediglichum eine Klarstellung der Intention der Koalitionsfraktio-nen, Herr Kollege Geis.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Jörg van Essen [F.D.P.]:Peinlich! – Norbert Geis [CDU/CSU]: HerrStröbele, Sie können ruhig zugeben, daß Siegescheiter geworden sind! – Weiterer Zurufvon der CDU/CSU: Späte Einsicht ist besserals gar keine!)

Wir haben dies getan, weil wir dachten, daß diejenigen,die diesen Text lesen und keine Juristen sind, vielleichtIrrtümern unterliegen könnten.

In Zukunft also wird der Staatsanwalt, wird der Rich-ter zu jeder Zeit des Verfahrens zu prüfen haben: Ist dasein Fall für einen Täter-Opfer-Ausgleich? Trifft dies zu,wird er die Initiative zu ergreifen haben. Das kann inVerfahren wegen Diebstahls, in Verfahren wegen Sach-beschädigung, etwa beim Sprayen an Hauswänden, inVerfahren wegen Körperverletzung, eigentlich bei allenTaten, die als Vergehen zu qualifizieren sind, geschehen.

Wir erhoffen uns dadurch erstens eine verbesserteSituation für die Opfer. Für viele ist es wichtiger, daß derTäter erscheint und sagt: „Es tut mir leid!“ oder: „Ichhabe eingesehen, das war nicht in Ordnung! Wie kann

ich das wiedergutmachen?“ und den Schaden tatsächlichmateriell oder ideell wiedergutmacht.

Zweitens wäre es für den Täter besser: Er brauchtkeine Geldstrafe zu zahlen. Er ist nicht vorbestraft. Ermuß unter Umständen nicht in das Gefängnis.

Auch für die Gesellschaft wäre es besser; denn derRechtsfrieden wird eher dadurch hergestellt, daß jemandeinsieht, daß er etwas falsch gemacht hat, und sich be-müht, dies wiedergutzumachen, als daß er in das Ge-fängnis geht, dem Staat Kosten verursacht und mögli-cherweise die Konfrontation nach der Entlassung ausdem Gefängnis oder nach der Zahlung der Geldstrafe an-steht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist also insgesamt eine gute und wichtige Rege-lung. Diese wollen wir, ich glaube: unisono verabschie-den.

Wir unterhalten uns heute aber auch über einige ande-re Gesetze. Richtig und gut ist der Kompromiß – wir ha-ben ihn nach langen Diskussionen gefunden – über dieFortgeltung des § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes.Auch darunter kann sich keiner etwas vorstellen. Eshandelt sich um die Befugnis des Richters, beim Fern-meldeamt zum Beispiel nachzufragen: Wer hat gesternabend diese Telefonnummer gewählt und eine Frau odereinen Mann beschimpft, beleidigt, oder in sexueller Wei-se übel belästigt?

Diese Vorschrift gibt es schon lange; wir wollen sieauch grundsätzlich erhalten. Sie leidet aber unter erhebli-chen datenschutzrechtlichen Mängeln, weil nicht sicher-gestellt ist, daß von dieser Möglichkeit auch in den FällenGebrauch gemacht wird, in denen sich nachher heraus-stellt, daß nichts war oder daß der Falsche festgestelltwurde, weil jemand anderes das Telefon benutzt hat.

Wir wollen deshalb die ersten datenschutzrechtlichenVerbesserungen in das Gesetz aufnehmen und haben nurunter dieser Voraussetzung einer Verlängerung dieserVorschrift zugestimmt. In Zukunft ist es vor allem wich-tig, daß die von solchen Feststellungen durch das Ge-richt, durch einen Richter, Betroffenen nachträglich un-terrichtet werden und sich dagegen zur Wehr setzenkönnen.

Das ist aber nicht genug. Wir haben weiterhin einenochmalige Befristung bis zum Jahre 2001 abgespro-chen. Dies bedeutet, daß die Koalitionsfraktionen – Siesind aufgerufen, hier mitzumachen –, daß die Regierungbis zum Jahre 2001 – wir haben die Zusicherung, daß esmöglichst bis zum Beginn des Jahres 2001 geschehensoll – eine weitere datenschutzrechtliche Regelung in dasGesetz aufnehmen wird und daß eine grundsätzliche Re-formierung erfolgt. Das ist wichtig und richtig. Denn wirwollen, daß zum Beispiel die Berufsgeheimnisträger,also Rechtsanwälte, Ärzte, Geistliche, Journalisten, inZukunft einen Schutz haben, damit sie in ihrer Be-rufsausübung nicht behindert und belästigt werden, wenndie Telefonnummern festgestellt werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

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Lassen Sie mich noch etwas zum dritten Gesetzent-wurf der Union sagen, der heute beraten werden soll undden wir ablehnen. Wir wollen, daß die Kronzeugen-regelung, die von Anfang an ein befristetes Sonderrechtgewesen ist, entstanden aus einem angeblichen Fahn-dungsnotstand 1989 in der Bundesrepublik Deutschland,zum Ende des Jahres 1999 ausläuft und ersatzlos weg-fällt. Diese Kronzeugenregelung war unserem Rechtfremd. Sie hat den Zweck, zu dem sie erlassen wordenist, nie erreicht. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem daserreicht wurde, was der Gesetzgeber 1989 erreichenwollte, nämlich Menschen aus dem Kern terroristischerVereinigungen zu lösen, um dadurch für die ZukunftStraftaten zu verhindern oder Straftaten aufzuklären. DasGesetz ist lediglich in Fällen angewandt worden, in de-nen auf andere Art und Weise eine Aufklärung möglichgewesen ist und wo sich die Leute aus anderen Gründenzur Aussage bereit erklärt haben. Deshalb ist die Vor-schrift nicht nur gefährlich – das war sie auch in derVergangenheit –, sondern sie hat sich als überflüssig er-wiesen. Darum wollen wir sie nicht fortsetzen.

Lassen Sie uns diesen guten Tag am Ende des Jahr-tausends damit schließen, indem wir den Täter-Opfer-Ausgleich beschließen, die Fortgeltung des FAG befri-stet beschließen und die Kronzeugenregelung endlichauslaufen lassen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Jörg van Essen.

Jörg van Essen (F.D.P.): Frau Präsidentin! MeineDamen und Herren! Ich bin immer hoch alarmiert, wennder Kollege Ströbele sagt, daß es einen guten Tag fürden Rechtsstaat gibt. Denn dann gibt es Gelegenheit,darüber nachzudenken, ob das wirklich der Fall ist. Vieleder Auffassungen, die er vertritt – das hat der gestrigeTag gezeigt –, lassen sich nicht unbedingt mit demRechtsstaat vereinbaren.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Oha!)

Ich möchte deshalb mit den erfreulichen Dingen be-ginnen, und zwar mit dem Täter-Opfer-Ausgleich.Auch hier ist die grüne Sicht deutlich geworden. Ich bindem Kollegen Ströbele dankbar, daß er ausführlich dar-auf hingewiesen hat, welche Dinge gut für den Tätersind. Das ist der Schwerpunkt der grünen Rechtsüberle-gung. Wir haben einen anderen Schwerpunkt, nämlichden, was gut für das Opfer ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Ich denke, daß wir gut beraten sind, das tatsächlich zumSchwerpunkt unserer Überlegungen zu machen.

Ich stimme meinen Vorrednern zu, daß es hier gelun-gen ist, zu einer Verbesserung für das Opfer zu kommen,denn der Täter-Opfer-Ausgleich darf dem Opfer nichtaufgezwungen werden. Es tritt nämlich nur dann eineBefriedung ein, wenn auch das Opfer das Gefühl hat,daß seine Interessen berücksichtigt worden sind.

Auf der anderen Seite stimme ich zu, daß der Täter-Opfer-Ausgleich positive Wirkungen haben kann, insbe-sondere auf die Täter, die auf diese Weise erleben, wel-che Wirkungen ihre Tat beim Opfer gehabt hat.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jetzt denken Sie schon wieder andie Täter!)

Wer einmal erlebt hat, welche Wirkungen ein Hand-taschendiebstahl auf eine ältere Frau hat, die sich aufeinmal unsicher fühlt und deren Freiheit beeinträchtigtist, weil sie sich zu bestimmten Zeiten nicht mehr traut,auf die Straße zu gehen, weil sie zum Beispiel in derDunkelheit Angst hat, bestimmte Wege zu gehen, derversteht, daß es einem Täter sehr gut tut, wenn er einmaldie Auswirkungen seiner Tat sieht.

Ich finde es auch gut, daß Täter zum Beispiel dazuangehalten werden, die Folgen ihrer Tat zu beseitigen,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Völlig richtig!)

also zum Beispiel die Graffitis, die an einem Haus an-gebracht worden sind, zu entfernen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Dagegen haben wir auch nichts!)

Von daher sagen wir ein klares Ja dazu.

Zu den anderen Punkten, die heute eine Rolle spielen,haben wir differenzierte Auffassungen. Zunächst einmallehnen wir den Antrag der CDU/CSU, die Vorschriftenfür die Telefonüberwachung um weitere zu ergänzen,ab; denn wir möchten eine Überprüfung, in welchenFällen die Telefonüberwachung notwendig ist. In man-chen Bereichen der Kriminalität – Sie wissen, ich binOberstaatsanwalt und weiß es deshalb genau –, etwa beider Drogenkriminalität, können wir auf die Telefon-überwachung nicht verzichten. Da brauchen wir sie drin-gend, um insbesondere die Dealer zu überführen. Vondaher sagen wir ein klares Ja.

Aber wir möchten gern eine Überprüfung, um zu klä-ren, in welchen Fällen die Telefonüberwachung tatsäch-lich erforderlich ist und in welchen Fällen nicht. Wir ha-ben bisher dafür keine Grundlage geliefert bekommen.Ich bedauere das außerordentlich; denn wir beobachtenauf der anderen Seite – Sie wissen, daß ich mir jedesJahr die entsprechenden Zahlen vom Bundesjustizmini-sterium geben lasse – einen erheblichen Anstieg der Zahlder Telefonüberwachungen. Deshalb muß es eine Über-prüfung des Kataloges geben und darf es kein blindesErweitern geben, wie es in dem Antrag der CDU/CSUgefordert wird.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollegevan Essen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle-gen Ströbele?

Jörg van Essen (F.D.P.): Ja.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Christian, wir wollendoch heim!)

Hans-Christian Ströbele

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Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN): Herr Kollege, ich soll es kurzmachen; daswill ich auch tun. Können Sie mir erklären, warum Sie inden letzten zehn Jahren nicht all diese Arbeit geleistethaben und uns einen Gesetzesvorschlag vorgelegt haben,den wir bereits Ende 1998 oder spätestens Anfang 1999hätten verabschieden können?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENund bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]:Weil er sich dem Diktat der Macht gebeugthat!)

Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Kollege Ströbele, ichweiß, daß die neue Koalition die alte Leier, es hätte in16 Jahren irgend etwas geschehen können, besondersgerne spielt.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: „Zehn“ habe ich gesagt! – Zurufvon der SPD: Alte Leier spielt sehr gut!)

Dadurch wird die Leier aber überhaupt nicht besser. Siewissen, daß in einer Koalition nicht alle Punkte umzu-setzen sind. Die Grünen sind ein typisches Beispiel da-für. Deshalb würde ich gern in meiner Rede fortfahren,zumal ich gerade zu einem Punkt kommen möchte, beidem ich wirklich betroffen darüber bin, daß die Grüneneingeknickt sind, nämlich zu der Frage des Fernmelde-anlagengesetzes.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Er möchte nicht mitder Wahrheit konfrontiert werden!)

Ich bin der Auffassung, daß wir diese Vorschriftbrauchen, aber in geänderter Form. Daß wir sie brau-chen, ist klar. Wer zum Beispiel erlebt hat, welche Kon-sequenzen der Telefonterror, der sich insbesondere ge-gen Frauen richtet, bei den betroffenen Frauen hat, dieNacht für Nacht aus dem Bett geschellt werden und nichtmehr durchschlafen können, der weiß, daß wir diesewichtige Ermittlungsmaßnahme brauchen.

Trotzdem bedarf es hier einiger Ergänzungen. Wirmüssen hierbei zu einem besseren Datenschutz kommen.Ich denke, daß das eine Aufgabe ist, die die neue Bun-desregierung in diesem Jahr hätte erledigen können.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Haben Sie nicht gele-sen, daß wir das gemacht haben?)

– Nein, Sie haben einen ersten Schritt getan. Sie habenkeine wirklich vernünftige, umfassende Regelung getrof-fen.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Er bleibt zehn Jahreim Sessel und beschimpft uns wegen des erstenSchritts! Das ist unglaublich!)

Es wäre innerhalb eines Jahres möglich gewesen. DieBundesregierung wußte, daß die Regelung Ende des Jah-res auslaufen würde. Sie hätte innerhalb eines Jahres ei-ne entsprechende Neuregelung vorlegen können. Wirbedauern es ganz außerordentlich, daß das nicht gesche-hen ist, und schlagen vor, die Regelung lediglich um ein

Jahr zu verlängern, um die Bundesregierung endlich zumTätigwerden zu zwingen.

(Beifall bei der F.D.P. – Alfred Hartenbach[SPD]: Da klatschen die auch noch! Das isteine Frechheit! – Ludwig Stiegler [SPD]: Washabt ihr bloß in den letzten Jahren gemacht?Wart ihr eingefroren, tiefgefroren?)

Das gleiche sehen wir bei der Kronzeugenregelungvor. – Ich wiederhole den Satz, damit auch die Kollegender SPD, die ständig dazwischenreden, ihn verstehenkönnen. Wir sagen ein klares Nein zum Auslaufen derKronzeugenregelung Ende dieses Jahres. Sie haben kei-ne wirkliche Begründung vorgetragen, Herr KollegeStröbele.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Soll ich Ihnen vorlesen, was derKollege Hirsch dazu gesagt hat?)

Sie haben keine wirkliche Begründung vorgetragen,wenn Sie ehrlich sind. Sie wissen, daß es dazu eine Un-tersuchung durch den hochangesehenen Chef des Krimi-nologischen Forschungsinstituts in Niedersachen, denProfessor Pfeiffer, gibt, der Praktiker und andere Perso-nen befragt hat, die mit dieser Regelung zu tun hatten,und klar gesagt hat, daß es insoweit einer Neuregelungbedarf.

Genau das fordern wir als F.D.P. Wir wollen einekurzfristige Verlängerung und dann eine Bestandsauf-nahme, die leider auch hier durch die Bundesregierungnicht erfolgt ist.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Das hätten Sie langegenug machen können!)

Daß wir eine Kronzeugenregelung wirklich brauchenund daß all die Vorwürfe völlig unberechtigt sind, zeigtdie Tatsache, daß Richter und Staatsanwälte tagtäglichden § 31 Betäubungsmittelgesetz in Deutschland anwen-den, der sich außerordentlich bewährt hat.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Aber nicht bei Mord!)

– Sie selbst, Herr Ströbele, haben bei der Sitzung desRechtsausschusses zu erkennen gegeben, daß auch Sieoffen sind für eine Neuregelung.

(Norbert Geis [CDU/CSU]: Abschaffen will ersie!)

Wenn das so ist, wenn wir tatsächlich eine Regelung derKronzeugeneigenschaft brauchen, dann sollten wir jetztdafür sorgen, daß es hier keinen abrupten Schluß gibt,sondern wir zu einer vernünftigen Neuregelung kom-men. Die F.D.P. setzt sich dafür ein.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordnetender CDU/CSU)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.

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Sabine Jünger (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da-men und Herren! Seit fünf Jahren ist mit dem § 46 a desStrafgesetzbuches die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs nicht mehr nur im Jugendstrafrecht, sondernauch im allgemeinen Strafrecht vorgesehen. Bisher wur-de diese Maßnahme allerdings nicht so häufig und nichtso breit angewandt, wie auch wir uns das wünschenwürden.

Wir begrüßen es nachdrücklich, daß der Täter-Opfer-Ausgleich jetzt auf eine breitere Grundlage gestellt wird.Er zwingt aus unserer Sicht den Täter, die Verantwor-tung für seine Tat zu übernehmen und sich den Folgendieser Tat für das Opfer zu stellen. Der Täter muß sichselbst Gedanken über eine mögliche Wiedergutmachungmachen und aktiv darauf hinwirken. Dem Resozialisie-rungs- und Erziehungsgedanken des Strafrechts wird da-durch besser entsprochen als durch von außen bzw. vonoben ausgesprochene Strafen.

Gleichzeitig ist der Ausgleich aber auch eine Maß-nahme, die das Opfer und dessen Interessen in denMittelpunkt stellt und sich nicht alleine mit der Sank-tionierung des Täters begnügt. Häufig finden sich Op-fer in Strafverfahren ja lediglich in der Rolle des Zeu-gen oder der Zeugin wieder. Die möglichen physischenoder emotionalen Folgen einer Tat finden im her-kömmlichen Rahmen relativ wenig Beachtung. Jetztgibt es immerhin die Möglichkeit, daß einige dieserFolgen für das Opfer durch die Auseinandersetzung mitdem Täter abgemildert oder zumindest besser bewältigtwerden können.

Wir halten die Ausweitung des Täter-Opfer-Aus-gleichs für ein rechtspolitisch und gesamtgesellschaftlichbedeutsames Projekt. Aber bei aller Bedeutung dieserMaßnahme: Opfer dürfen selbstverständlich nicht unterDruck gesetzt werden, einem Ausgleich mit dem Täterzuzustimmen. Es ist wichtig, daß diese Tatsache jetzt in§ 155 a der Strafprozeßordnung eindeutig geregelt ist.

Daß der Gesetzentwurf der Regierung um Art. 3 a er-weitert wurde, trübt unsere eindeutig zustimmende Hal-tung allerdings merklich. Der Art. 3 a bezieht sich – dar-auf hat der Kollege Ströbele schon hingewiesen – auf§ 12 des Fernmeldeanlagengesetzes. Wir halten diedarin enthaltenen Änderungen für unnötig und schädlich.Sie machen einen weitgehenden Eingriff ins Fernmelde-geheimnis möglich und stellen damit eine weitereBeschränkung der Rechte von Bürgerinnen und Bürgerdar.

Diese Problematik sehe ich übrigens auch in der Er-weiterung des Deliktkatalogs des § 100 a der Strafpro-zeßordnung, die die CDU/CSU-Fraktion fordert. Wirwerden diesen Antrag selbstverständlich ablehnen.

Abschließend komme ich noch ganz kurz zur Kron-zeugenregelung. Es ist Zeit, daß diese unsägliche Re-gelung endlich ausläuft. Sie hat dem Rechtsstaat mehrSchaden zugefügt, als sie jemals zur Aufklärung vonStraftaten hätte beitragen können. Die Kronzeugen-regelung durchbricht das Rechtsstaats- und das Legali-tätsprinzip. Außerdem verletzt sie den Gleichheitsgrund-satz, indem sie Strafverdächtige oder überführte Täterganz oder teilweise von einer Bestrafung ausnimmt.

Schon bei ihrer Einführung 1989 – gegen die Kritikfast der gesamten Fachwelt – war klar, daß die verspro-chenen Strafminderungen einen Anreiz schaffen, anderezu bezichtigen, um sich selber Vorteile zu verschaffen.So etwas birgt immer die Gefahr, daß der Zeugenbeweisentwertet wird. Außerdem wird der Bezichtigung Un-schuldiger Tür und Tor geöffnet.

Ein gerade wieder aktuelles Beispiel dafür ist derehemalige V-Mann und Kronzeuge Siegfried Nonne,dem psychiatrische Gutachten erneut jede Glaubwürdig-keit absprechen. Die Aussagen von Nonne haben dazugeführt, daß Christoph Seidler jahrelang als Terrorist ge-sucht wurde. Seidler hat sich vor drei Jahren gestellt,weil er nicht mehr länger auf der Flucht und in der Ille-galität leben wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wirddas Verfahren gegen ihn in Kürze eingestellt. Es wäreaus unserer Sicht dringender, Christoph Seidler zu reha-bilitieren, als hier erneut eine Verlängerung einer so un-säglichen und schädlichen Regelung wie der Kronzeu-genregelung zu debattieren. Es wird Zeit, sich von ihr zuverabschieden.

(Beifall bei der PDS)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Pick.

Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun-desministerin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damenund Herren! Ich denke, daß heute unabhängig von denunterschiedlichen politischen Einschätzungen Überein-stimmung darin besteht, daß dies ein guter Tag – hierknüpfe ich an Herrn Ströbele an – gerade für die Opfervon Straftaten und nicht in erster Linie für die Täter ist.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir setzen heute den Schlußpunkt unter die Beratungdes Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur strafverfah-rensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Aus-gleichs. Ich freue mich, daß im Rechtsausschuß bei allerZügigkeit der Beratungen gemeinsam ein Ergebnis ge-funden worden ist, das zeigt, daß die Opferinteressensehr ernst genommen werden. Vor allen Dingen standdie Rechtsstellung der Opfer im Vordergrund.

Ich denke, der Täter-Opfer-Ausgleich stärkt die Op-ferinteressen in vielfacher Weise. Wir wissen, daß erzwei Hauptanliegen erfüllen muß, nämlich auf der einenSeite einen Ausgleich für das erlittene Unrecht zu schaf-fen. In diesem Zusammenhang ist auch das Interesse derOpfer an Genugtuung sowie daran sehr wichtig, daß derTäter mit den Folgen seiner Tat wirkungsvoll konfron-tiert wird.

Auf der anderen Seite erwarten wir vom Täter-Opfer-Ausgleich eine verbesserte Akzeptanz der Arbeit derJustiz. Dies ist auch ein Gesichtspunkt, der aus unsererSicht sehr wichtig ist. Das Opfer tritt aus seiner Neben-rolle als Zeuge heraus, die es bisher in vielen Fällenspielte, und wird aktiv in die Aufarbeitung der Folgendes Unrechts einbezogen. Ich denke, das ist ganz wich-tig.

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Insofern erwarten wir, daß auch die Justiz von dennun eröffneten Möglichkeiten mehr Gebrauch macht alsbisher. Diese Möglichkeiten gab es im materiellen Rechtauch bisher schon. Vor allen Dingen die Beispiele ausdem Jugendstrafrecht lassen erwarten, daß der Täter-Opfer-Ausgleich an Bedeutung gewinnen wird.

Ich möchte noch auf den Vorwurf zu sprechen kom-men, der erste Entwurf habe zu Zweifeln Anlaß gegeben,daß hier gegen den Willen des Opfers gehandelt werdenkönne. Es mag eine typisch juristische Betrachtungswei-se sein, daß wir das Wort „soll“ etwas mehr schätzenund insofern anders interpretieren als die Allgemeinheit.Es war nie beabsichtigt, daß ein Täter-Opfer-Ausgleichgegen den Willen des Opfers durchgeführt wird, denndann funktioniert er nicht. Insofern sind wir mit der ge-troffenen Klarstellung durchaus einverstanden.

Ich will noch etwas zum § 12 des Fernmeldeanla-gengesetzes sagen. Herr van Essen, Sie haben uns einganzes Bündel von Gesetzen hinterlassen, die alle zum31. Dezember dieses Jahres enden.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das war seit vielenJahren bekannt!)

– Es geht nicht nur um dieses Gesetz. Es gibt viele Ge-setze, die auslaufen, so das Eigentumsfristengesetz, überdas wir uns möglicherweise noch unterhalten, und auchdie Kronzeugenregelung. Ich habe fast den Verdacht,daß Sie geahnt haben, daß jetzt die neue Koalition, dieneue Bundesregierung vor der Aufgabe steht,

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Nein, Herr Kollege!Solche Alpträume habe ich nie gehabt!)

das alles bis zum Ende des Jahres 1999 so zu regeln, daßes dann auch Dauerrecht werde könnte. Selbst diese Re-gierung und dieses Haus sind nicht in der Lage, all diessofort dauerhaft in Ordnung zu bringen.

Eine Verlängerung des § 12 FAG um weitere zweiJahre kann nur den Sinn haben,

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Viel zu lange!)

hier eine Regelung zu finden, die sicher auch Ihren Bei-fall findet. Herr van Essen, Sie sind dazu herzlich ein-geladen.

Diese Zwischenregelung, die ja immerhin auch schonVerbesserungen im rechtsstaatlichen Sinne bringt – dashaben Sie anerkannt –, werden wir jetzt in der Tat nichtzum Anlaß nehmen, zwei Jahre zu warten, sondern wirwollen möglichst bald, aber im Rahmen dessen, was wirvon der Kapazität her leisten können, zu einer endgülti-gen Lösung kommen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich will noch eine Bemerkung zu dem Gesetzentwurfder CDU/CSU zur Erweiterung des Katalogs der Straf-taten in § 100 a StPO machen. Sie wissen, daß wir unsüber das Problem der telefonischen Abhörmaßnahmenim Rechtsausschuß schon oft unterhalten haben. Ichweiß nicht, wie es Ihnen geht – der Bundesregierung undauch der Koalition macht der Anstieg der Zahl der tele-

fonischen Überwachungen große Sorgen, meine Damenund Herren.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Berechtigt!)

Wenn in diesem Jahr ein Anstieg um 30 Prozent festzu-stellen ist, dann müssen wir genau prüfen, was eigentlichdahintersteckt. Welche Tatbestände geben für die Ver-folgungsbehörden Anlaß zu telefonischen Abhörmaß-nahmen? Man muß sich in der Tat ganz genau überlegen,was man hier eventuell neu einführt.

Wir werden allerdings überprüfen, ob die Ergebnisse,die die letzten Reformen im Strafrecht gebracht haben,Anlaß geben, hierzu neue Entscheidungen zu fällen,allerdings dann nur in Ruhe und unter Zugrundelegungder Fakten.

Eine letzte Bemerkung zur Kronzeugenregelung.Gutachten haben das Schicksal, daß sie von allen sozusa-gen als Steinbruch für die Argumentation benutzt werden.

(Alfred Hartenbach [SPD]: So ist es!)

Nach meiner Interpretation – ich trete da dem Verfasserdes Gutachtens

(Alfred Hartenbach [SPD]: Professor Doktor!)

gar nicht zu nahe – ist es eine Arbeit, die auf Grund vonBefragungen der Beteiligten angefertigt wurde, die abernicht in der Lage war – das ergibt sich wohl auch nichtaus dem Auftrag –, einmal wirklich zu hinterfragen, inwelchen Fällen die Kronzeugenregelung denn tatsächlichetwas gebracht hat. Dazu muß man Akten studieren. Daszu untersuchen, was Herr Ströbele gesagt hat, daß invielen Fällen wohl andere Gründe entscheidend dafürsind, daß sich jemand den Ermittlungsbehörden öffnet,ist natürlich in diesem Gutachten gar nicht zu leistengewesen.

Nach unseren Erkenntnissen hat die Kronzeugenre-gelung erstens im Bereich des Terrorismus überhauptnichts gebracht – weder ist eine Tat verhindert worden,noch sind die Organisationen deswegen zerschlagenworden, weil sich etwa Mitglieder offenbart hätten –,

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Aber Taten sind auf-geklärt worden! Genau das war ja der Zweck!)

und zweitens sind auch im Bereich der organisiertenKriminalität die Erfolge sehr, sehr bescheiden. Insofernerwarten wir von einer Novellierung etwa des § 46 desStrafgesetzbuches, daß dem Täter entsprechende Zusa-gen gemacht und damit auch Privilegierungen verschafftwerden können. Dem sollte allerdings eine Diskussionvorausgehen, die tatsächlich auch die Grundlagen be-achtet und die Rechtstatsachen mit einbezieht.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hatjetzt der Abgeordnete Norbert Geis.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jetzt geht es los!)

Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick

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Norbert Geis (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meinesehr verehrten Damen und Herren! Verehrter HerrStaatssekretär! Wenn Sie an eine Novellierung denken– ich kann Ihnen jetzt schon prophezeien: es wirdschwierigste Verhandlungen mit den Grünen dazu ge-ben; und ich weiß nicht, ob Sie überhaupt dazu kommenwerden –, dann ist es doch überhaupt nicht einzusehen,daß Sie dem Vorschlag dieses Gutachtens, wie immerman dazu stehen mag, nicht folgen, nämlich so lange, bisdie Reformvorstellungen auf dem Tisch liegen, dieKronzeugenregelung gelten zu lassen, ihre Geltungs-dauer also heute zu verlängern – für ein Jahr, für zweiJahre – und dann in dieser Frist einen neuen Vorschlagzur Verbesserung der Kronzeugenregelung vorzulegen.

Ich weiß gar nicht, wie Sie das der Bevölkerungklarmachen wollen und wie Sie ernsthaft argumentierenwollen. Es gibt doch überhaupt kein ernsthaftes Argu-ment, wenn Sie schon verändern, wenn Sie schon ver-bessern wollen, gegen eine Verlängerung bis zur Verbes-serung – so, wie der Sachverständige das vorgeschlagenhat.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Es gibt keinen Grund dafür! Dasstimmt!)

Wir haben die Kronzeugenregelung seit zehn Jahren,seit 1989 im terroristischen Bereich, 1994 ausgedehntauf den Bereich der organisierten Kriminalität. Kern derKronzeugenregelung ist, daß der Mittäter, der ausgestie-gen ist, seine Kenntnisse von der Struktur, von der Stra-tegie, von den Zielen, von den verbrecherischen Vorha-ben, von den Verbrechern selbst der Polizei, dem Staats-anwalt, dem Richter weitergibt. Weil er sie weitergibt,begibt er sich in Lebensgefahr; denn er muß damit rech-nen, daß er von seinen ehemaligen Komplizen ermordetwird. Deswegen wird er nur dann etwas weitergeben,wenn er dafür eine Gegenleistung des Staates erhält.Diese erhält er in der jetzigen Kronzeugenregelung undoffenbar auch in der von Ihnen gedachten Reform da-durch, daß man ihm Strafmilderung oder Straferlaß ver-spricht. Das kommt auf die Schwere seiner eigenen Tatan.

Natürlich weiß ich, daß hier ein Deal geschieht unddaß dies das eigentliche rechtsstaatliche Problem ist. Daswollen wir nicht verniedlichen. Wir haben dieses Pro-blem in den vergangenen Jahren, 1989 und 1994, disku-tiert. Das war der Grund, weshalb wir uns in der Koali-tion letztendlich nie zu einer Reform entschließen konn-ten. Wir von der CDU/CSU wollten das, während dieF.D.P. größere rechtsstaatliche Bedenken hatte. Das willich überhaupt nicht hintanstellen. Das ist keine Kritik,sondern durchaus lobenswert. Wegen der Bedenken derF.D.P. haben wir die Geltung der bestehenden Regelungimmer wieder verlängert. Wir wollten die ganze Ent-wicklung und die Wirkungsweise der Kronzeugenrege-lung einmal abwarten.

In der Abwägung zwischen Legalitätsprinzip, das einwichtiges Verfassungsprinzip ist, und der inneren Si-cherheit der Bevölkerung, der Sicherheit des einzelnenBürgers vor einem Verbrechen, haben wir uns für dieKronzeugenregelung entschieden. Wir haben uns also

dazu entschlossen, demjenigen, der sich offenbart undInformationen gibt, einen Vorteil zu gewähren. Andersbekommen wir diese Informationen nicht.

Wir brauchen die Kronzeugenregelung. Sie hat sichim Gegensatz zu dem, was hier gesagt worden ist,durchaus bewährt. Ich werde Ihnen einige Beispiele da-für nennen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Jetzt sind wir gespannt!)

– Herr Ströbele, ich finde es in höchstem Maße peinlich,daß sich ausgerechnet Sie mit Ihrer Vergangenheit – wiralle kennen die Ereignisse aus den Jahren 1982 und 1983– zum Wortführer derer machen, die die Kronzeugenre-gelung abschaffen wollen. Das empfinde ich als in höch-stem Maße schlimm und peinlich. Sie sollten ganz stillsein und sich nicht so laut vorwagen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. –Jörg van Essen [F.D.P.]: Hautgout! Mit ande-ren Worten: Es stinkt!)

Wir halten die Kronzeugenregelung im Interesse derinneren Sicherheit für eminent wichtig. Es ist völligausgeschlossen, in einen so abgeschotteten Kreis wie deneiner terroristischen Vereinigung oder einer mafiosenGruppierung hineinzukommen, ohne daß sich die Mit-glieder der terroristischen Vereinigung selbst äußern.Die Telefonüberwachung ist wichtig. Auch der Lausch-angriff, also die elektronische Wohnraumüberwachung,ist wichtig. Aber mit diesen Mitteln hat man beimKampf gegen diese abgeschotteten Gangster keineChance. Diese Verbrecher haben Geld genug, um sich inabhörsichere Räume zu begeben, wenn sie verhandeln.Deswegen haben diese Instrumente bislang wenig Wir-kung gezeigt, deswegen sind wir zur Kronzeugenrege-lung gekommen, und deswegen wollen wir sie auch bei-behalten.

Natürlich – das gebe ich zu – waren es nicht zu vieleFälle: Es waren im terroristischen Bereich 25 und auchin der organisierten Kriminalität exakt 25. Aber immer-hin: Von zehn ausgestiegenen ehemaligen Terroristenwaren sieben bereit, im Rahmen der Kronzeugenrege-lung auszusagen. Dadurch war es möglich, Strafverfol-gungen einzuleiten. Es ist für einen Rechtsstaat nicht ge-rade wenig, wenn er begangene Straftaten verfolgt; denndie Verfolgung von Straftaten hat immer auch eine prä-ventive Note.

Sie müssen noch eines bedenken: Diese Kronzeugen-regelung hat zweifellos einen sehr stark präventivenSinn. Diese Ansicht vertrete ich nicht allein. Der ehe-malige Generalbundesanwalt Dr. Kurt Rebmann hat er-klärt, daß einer der wichtigen Gründe für die Tatsache,daß der Terrorismus bei uns auf Null herabgesunken istund keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat – dar-über freuen wir uns alle –, die Kronzeugenregelung ist.Sie hat eine Verunsicherung dieser Banditen bewirkt, diein einem engen Kreis ganz abgeschottet zusammenlebenund sich austauschen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: So ein Quatsch!)

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Allein die Furcht dieser Banditen, daß sich der Mittätereines Tages offenbaren kann, hält sie ganz offenbar da-von ab, die eine oder andere Straftat zu begehen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Eine blühende Phantasie!)

Zumindest wirkt die Kronzeugenregelung wie einKeil, der in mafiose Strukturen und in terroristische Ver-einigungen hineingetrieben wird und der sie zerschlägt.Nur durch diese Möglichkeiten hat die Polizei die Chan-ce, solche mafiosen Gruppierungen auseinanderzuspren-gen, sie zu zerschlagen, Straftaten zu verfolgen undVerbrechen zu verhindern.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Warum hat sie es nicht getan?)

Dies gilt ganz sicher für den Bereich des Terrorismus.Dies gilt auch für den Bereich der organisierten Krimi-nalität,

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Zehn Jahre nicht ein einzigesMal!)

wiewohl ich zugebe, daß die Kronzeugenregelung in die-sem Bereich nicht die Wirkung erzielt hat, die sie ei-gentlich hätte erzielen sollen.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: So ist es!)

Das ist wahr.

Dies hängt damit zusammen, daß die jetzige Kron-zeugenregelung an § 129 des Strafgesetzbuches – Mit-gliedschaft in einer kriminellen Vereinigung – gebundenist. Diese kriminelle Vereinigung muß erst einmal nach-gewiesen werden. Alle Staatsanwälte sagen uns: Wir ha-ben keine Chance, kriminelle Vereinigungen nachzuwei-sen. Sie schotten sich ja ab, damit wir nichts nachweisenkönnen. Deswegen müßt ihr die Kronzeugenregelung anden Straftatenkatalog und nicht an § 129 des Strafge-setzbuches, also nicht an den Nachweis einer kriminellenVereinigung binden. So lautet der Vorschlag der Staats-anwälte. Dieser Vorschlag wird auch in dem Gutachtengemacht, das schon vorhin erwähnt worden ist. Diessollten wir uns vornehmen. Wir sollten die Kronzeugen-regelung gelten lassen, weil sie nach meiner Meinungein wichtiges Instrument gegen die organisierte Krimi-nalität und auch gegen den Terrorismus ist. Sie ist keinso schwerwiegendes Instrument wie der Lauschangriff.

Verehrte Damen und Herren von der SPD, es ist mirunerklärlich, wie Sie dem Lauschangriff, also der elek-tronischen Wohnraumüberwachung, zustimmen konnten,mit der ja viel weiter in die Rechte des einzelnen einge-griffen wird als mit der Kronzeugenregelung, und jetztdie Kronzeugenregelung abschaffen wollen. Dies ist einWiderspruch. Sie müßten eigentlich beides abschaffen.Der Lauschangriff hat einen viel engeren Wirkungsgrad;dies wollen wir auch so. Aber die Kronzeugenregelungist ein viel wichtigeres Instrument. Deswegen ist es mirvöllig unverständlich, meine sehr verehrten Damen undHerren von der SPD, daß Sie die Kronzeugenregelungabschaffen und den Lauschangriff beibehalten wollen.Dies können Sie einem Normalsterblichen überhaupt

nicht klarmachen. Geben Sie zu: Sie sind Opfer IhresKoalitionspartners! Hier wackelt der Schwanz mit demHund!

(Widerspruch bei der SPD)

Herr Ströbele hat sich durchgesetzt. Die Grünen habenschon immer die großen Überschriften Ihrer politischenAgitation bestimmt. Die Grünen, die kein Verständnisfür die innere Sicherheit haben – dies möchte ich Ihnennicht im geringsten absprechen –, haben Sie in dieserFrage einfach über den Tisch gezogen. Man muß hierlaut aussprechen: Die Grünen haben sich zu ihren eige-nen Lasten, aber auch zu Ihren Lasten durchgesetzt.

(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Die Alt-achtundsechziger!)

– Die Altachtundsechziger und die Grufties haben sichhier durchgesetzt.

(Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr KollegeGeis, Ihre Redezeit ist leider abgelaufen.

Norbert Geis (CDU/CSU): Ich habe nur noch einenSatz.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie dürfennoch einen Satz zum Schluß sagen. Aber ich bitte darum,keinen neuen Punkt anzuschneiden.

(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN]: Wie ist das mit den Grufties? Istdas parlamentarisch?)

Norbert Geis (CDU/CSU): Die Ausdehnung derTelefonüberwachung auf Korruptions- und schwereSexualdelikte halte ich für dringend erforderlich. Dieshaben wir vor zwei Jahren gemeinsam vereinbart, als wirden Lauschangriff eingeführt haben und als wir gemein-sam die Verfassung geändert haben. Jetzt müßten Siesoweit sein, mit uns zu stimmen. Unser Gesetzentwurfliegt seit einem Jahr auf dem Tisch. Sie können nichtewig das gesamte Konzept überdenken. Irgendwannmüssen Sie zu dem Ergebnis kommen, –

(Alfred Hartenbach [SPD]: Ein Satz!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr KollegeGeis, bitte. Ich muß Sie jetzt bitten, zum Schluß zukommen.

Norbert Geis (CDU/CSU): – daß Sie zustimmenmüssen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-ChristianStröbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Esist nicht zu fassen! – Alfred Hartenbach [SPD]:Das wird mir nicht von der Redezeit abgezo-gen!)

Norbert Geis

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Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, dies wirdIhnen nicht von der Redezeit abgezogen. Leider habenauch Sie nur vier Minuten zur Verfügung.

Bitte schön, Herr Kollege Hartenbach.

Alfred Hartenbach (SPD): Verehrte Frau Präsiden-tin! Liebe interessierte Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe gar nicht gewußt, daß Norbert Geis den Täter-Opfer-Ausgleich auf SPD und Grüne ausdehnen will.Wir fühlen uns nicht als Opfer.

(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN]: Vor allem, da er jünger als die 68er ist!)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, lassen Siemich gleichwohl – nicht nur, aber auch weil morgen derzweite Advent ist – einige Worte

(Zurufe von der CDU/CSU: Übermorgen!)

– übermorgen –

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Nicht einmal dablickt die SPD durch!)

des Dankes aussprechen. Ich bedanke mich sehr herzlichbei den Praktikerinnen und Praktikern meiner Fraktion,bei den Fachleuten im Bundesjustizministerium und beiIhnen, Herr Staatssekretär, daß wir nach einer gemein-samen Beratung über viele Stunden diesen Gesetzent-wurf so vorlegen konnten und heute beraten können.Dies war ein sehr guter Akt der Gemeinsamkeit. Ich be-danke mich auch sehr herzlich bei den anderen Kolle-ginnen und Kollegen des Rechtsausschusses. Ich habegar nicht gewußt, daß man der CDU/CSU mit einemWort mit vier Buchstaben – es geht darum, daß man„soll“ durch „darf“ ersetzt – eine solche Freude machenkann. Aber wenn das so sein sollte, werden wir Ihnendiese Freude des öfteren machen.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Sie machen damitallen Opfern eine Freude, Herr Kollege!)

Im übrigen haben uns die Petitionen des Ausschusses fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend davon überzeugt,das Wort „soll“ durch „darf“ zu ersetzen. Wenn es nunein gemeinsamer Antrag ist, ist es auch gut.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollenhinsichtlich § 12 FAG, in dem es um die Möglichkeitgeht, Auskünfte über geführte Telefongespräche zu be-kommen, eine vernünftige Regelung in den §§ 100 ff.der Strafprozeßordnung. Bis es soweit ist, müssen wiretwas mehr Rechtsstaatlichkeit schaffen, was Sie, meinelieben Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P. – vonIhnen sind ja nur noch Männer da –

(Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt hier„nur“?)

bisher versäumt haben. Es ist schon ein richtiges StückDreistigkeit, Herr van Essen, wenn Sie uns hier vorwer-fen, wir müßten endlich etwas tun. Sie hatten 16 Jahrelang nicht die Kraft, etwas zu tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Alles, was in den letzten vier Jahren an vernünftigen Ge-setzen in der Justizpolitik gemacht worden ist, hat nurdeswegen geklappt, weil wir mitgeholfen haben. Dasstecken Sie sich einmal hinter die Ohren!

(Beifall bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Dr.Wolfgang Götzer [CDU/CSU] – Norbert Geis[CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selbernicht! – Jörg van Essen [F.D.P.]: Wie peinlich,Herr Hartenbach!)

Es ist gut, daß wir hier eingeführt haben, daß nach Been-digung der Maßnahme der Betroffene unterrichtet wirdund die Aufzeichnungen gelöscht werden.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Das reicht dochnicht! Das wissen Sie doch auch!)

Selbst der Datenschutzbeauftragte lobt uns.

(Dr. Wolfgang Götzer [CDU/CSU]: Sind Sieda sicher?)

Wir werden in den nächsten beiden Jahren, Kollege vanEssen, einen vernünftigen Gesetzentwurf erarbeiten.

Wir werden der von Ihnen beantragten Ausdehnungder Abhörung des Telefonverkehrs im Moment sonicht zustimmen. Zum einen glaube ich ohnehin nicht,daß hinsichtlich des sexuellen Mißbrauchs von Kindernüber das Telefon sehr viel zu erfahren sein wird. Außer-dem brauchen wir erst einmal eine vernünftige Bera-tungsgrundlage, in welchen Fällen überhaupt noch abge-hört werden kann. So kann heute immer noch abgehörtwerden, wenn gegen den Viermächtestatus in Berlin ver-stoßen wird. Das muß doch einmal geändert werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – NorbertGeis [CDU/CSU]: Dann ändern Sie es dochendlich! Sie sagen das schon ein Jahr lang! DerGesetzentwurf ist ein Jahr alt!)

– Dann werden wir nach einer vernünftigen Beratung,lieber Norbert, auch hier einen ordentlichen Gesetzent-wurf vorlegen.

Nun zu Ihrer Kronzeugenregelung: Meine liebenKolleginnen und Kollegen, der Kronzeuge ist dem deut-schen Recht ziemlich fremd.

(Jörg van Essen [F.D.P.]: Falsch! § 31 BtMG!– Norbert Geis [CDU/CSU]: Schon 1982 kamer hinein!)

Wir haben ihn in einer Situation eingeführt, wie es HerrStröbele dargestellt hat, als es darum ging, gegen denTerrorismus anzugehen. Wir alle wissen, daß wir mitt-lerweile keine Erfolge damit mehr haben. Selbst dasLand mit der klassischen Kronzeugenregelung, Italien,will, wenn es um die Bekämpfung der Mafia-Krimi-nalität geht, diese Regelung so einschränken, daß nebender Aussage des Kronzeugen auch noch andere Beweis-mittel vorhanden sein müssen. Herr van Essen, ich binzwar kein Oberstaatsanwalt gewesen; ich habe es nur biszum Staatsanwalt gebracht. Aber ich habe in dieser Zeitauf Anordnung meiner Behördenleitung in zwei Fällendie Kronzeugenregelung auf Verbrecher anwenden müs-sen, Deals machen müssen. Wer das einmal gemacht hat,

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geht an diese Regelung sehr vorsichtig heran; denn unserRechtsstaat darf nicht davon abhängen, daß er nur dannfunktioniert, wenn wir mit Verbrechern zusammenar-beiten, Deals machen. Wir sind absolut dagegen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [F.D.P.]: Dasind wir nicht auseinander!)

Nun habe ich meine Redezeit gleich um eine Minuteüberzogen, und ich möchte die Frau Präsidentin nicht ver-ärgern. Daher beschränke ich mich auf eine kurze Bemer-kung: Seien Sie doch dankbar, daß wir die Kronzeugenre-gelung abschaffen. Stellen Sie sich einmal vor, HerrSchreiber und Herr Leisler Kiep würden von der Kron-zeugenregelung, wie Sie sie vorhaben, Gebrauch machen!

Vielen Dank.(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und demBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von derCDU/CSU: Diese Rede geht in die Annalen ein!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließedie Aussprache.

Wir kommen zu den Abstimmungen.Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-

gebrachten Gesetzentwurf zur strafverfahrensrechtlichenVerankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Die Fraktionder F.D.P. verlangt getrennte Abstimmung. Ich rufe zu-nächst Art. 1 bis Art. 3 in der Ausschußfassung auf. Ichbitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Art. 1 bis 3sind einstimmig angenommen worden.

Ich rufe jetzt Art. 3 Buchstabe a in der Ausschußfas-sung auf. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionder F.D.P. auf Drucksache 14/2260 vor. Wer stimmt fürden Änderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der F.D.P. abgelehnt.

Wir kommen damit zur Abstimmung über Art. 3Buchstabe a in der Ausschußfassung. Wer stimmt dafür?– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Art. 3 Buchstabe ain der Ausschußfassung ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gegen die Stimmenvon F.D.P. und PDS angenommen.

Ich rufe Art. 4, Einleitung und Überschrift, in derAusschußfassung auf. Wer stimmt dafür? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Art. 4, Einleitung und Über-schrift sind angenommen. Damit ist der Gesetzentwurfinsgesamt in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratungund Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in der dritten Lesung mit den Stimmen der SPD,Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS bei Ent-haltung der F.D.P. angenommen.

Wir kommen jetzt zur Beschlußempfehlung desRechtsausschusses zu dem Gesetzentwurf der Fraktionder CDU/CSU zur Änderung des Gesetzes über Fern-meldeanlagen. Der Ausschuß empfiehlt, den Gesetzent-

wurf auf Drucksache 14/1315 für erledigt zu erklären.Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung des Aus-schusses? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlußempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bünd-nis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung derStrafprozeßordnung auf Drucksache 14/162. Der Rechts-ausschuß empfiehlt auf Drucksache 14/2192, den Ge-setzentwurf abzulehnen. Ich lasse jetzt über den Gesetz-entwurf der Fraktion der CDU/CSU abstimmen. Ich bittediejenigen, die zustimmen wollen, um das Handzeichen.– Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen dieStimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurfeines Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes der Fraktionder CDU/CSU. Der Rechtsausschuß empfiehlt, den Ge-setzentwurf abzulehnen. Es liegt ein Änderungsantragder Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2261 vor,über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesenÄnderungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmenvon CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.

Ich lasse jetzt über den Gesetzentwurf der Fraktionder CDU/CSU abstimmen. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen dieStimmen von CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nachunserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Fortentwicklung der Altersteilzeit– Drucksache 14/1831 –(Erste Beratung 63. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss)– Drucksache 14/2254 –Berichterstattung:

Abgeordnete Renate Rennebach

Die Abgeordneten Rennebach, Schemken, Meckel-burg, Dückert, Schwaetzer, Balt und der Parlamentari-sche Staatssekretär Andres haben darum gebeten, ihreReden zu Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie einver-standen? –

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist der Fall.—————*) Anlage 3

Alfred Hartenbach

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Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über denvon der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfzur Fortentwicklung der Altersteilzeit. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit inzweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN, CDU/CSU und PDS gegen dieStimmen der F.D.P. angenommen worden.

Dritte Beratung

und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben.

– Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Gibt es keine.Der Gesetzentwurf ist damit angenommen worden.

Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen

Bundestages auf Mittwoch, den 15. Dezember, 13 Uhrein.

Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen und denletzten Besuchern auf der Tribüne einen schönen zweitenAdvent.

Die Sitzung ist geschlossen.(Schluß: 14.56 Uhr)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

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Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

3.12.99

Behrendt, Wolfgang SPD 3.12.99 *Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 3.12.99Bodewig, Kurt SPD 3.12.99Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 3.12.99Brunnhuber, Georg CDU/CSU 3.12.99Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 3.12.99 **Büttner (Schönebeck), Hartmut

CDU/CSU 3.12.99

Bulling-Schröter, Eva-Maria

PDS 3.12.99

Catenhusen, Wolf-Michael SPD 3.12.99Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN3.12.99

Formanski, Norbert SPD 3.12.99Friedhoff, Paul K. F.D.P. 3.12.99Friedrich (Altenburg), Peter

SPD 3.12.99

Fritz, Erich G. CDU/CSU 3.12.99Fuchs (Köln), Anke SPD 3.12.99Gebhardt, Fred PDS 3.12.99Graf (Friesoythe), Günter SPD 3.12.99Grill, Kurt-Dieter CDU/CSU 3.12.99Gröhe, Hermann CDU/CSU 3.12.99Großmann, Achim SPD 3.12.99Günther (Plauen), Joachim

F.D.P. 3.12.99

Frhr. von Hammerstein, Carl-Detlev

CDU/CSU 3.12.99

Hauser (Bonn), Norbert CDU/CSU 3.12.99Hollerith, Josef CDU/CSU 3.12.99Ibrügger, Lothar SPD 3.12.99Jung (Düsseldorf), Volker SPD 3.12.99Kampeter, Steffen CDU/CSU 3.12.99Kemper, Hans-Peter SPD 3.12.99Dr. Kolb, Heinrich L. F.D.P. 3.12.99Lengsfeld, Vera CDU/CSU 3.12.99Dr. Leonhard, Elke SPD 3.12.99Leutheuser-Schnarren- berger, Sabine

F.D.P. 3.12.99

Lintner, Eduard CDU/CSU 3.12.99 **

Abgeordnete(r)entschuldigt biseinschließlich

Dr. Lippold (Offenbach), Klaus W.

CDU/CSU 3.12.99

Maaß (Wilhelmshaven), Erich

CDU/CSU 3.12.99 **

Neuhäuser, Rosel PDS 3.12.99Neumann (Gotha), Gerhard

SPD 3.12.99 **

Ohl, Eckhard SPD 3.12.99Pau, Petra PDS 3.12.99Dr. Penner, Willfried SPD 3.12.99Pofalla, Ronald CDU/CSU 3.12.99Ronsöhr, Heinrich- Wilhelm

CDU/CSU 3.12.99

Rühe, Volker CDU/CSU 3.12.99Dr. Rüttgers, Jürgen CDU/CSU 3.12.99Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 3.12.99Scharping, Rudolf SPD 3.12.99Schmitz (Baesweiler), Hans Peter

CDU/CSU 3.12.99 **

von Schmude, Michael CDU/CSU 3.12.99 **Schösser, Fritz SPD 3.12.99Dr. Schwall-Düren, Angelica

SPD 3.12.99

Siebert, Bernd CDU/CSU 3.12.99 **Simm, Erika SPD 3.12.99Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 3.12.99Störr-Ritter, Dorothea CDU/CSU 3.12.99Stünker, Joachim SPD 3.12.99Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 3.12.99Uldall, Gunnar CDU/CSU 3.12.99Dr. Volmer, Ludger BÜNDNIS 90/

DIE GRÜNEN3.12.99

Volquartz, Angelika CDU/CSU 3.12.99Dr. Wieczorek, Norbert SPD 3.12.99Wieczorek (Duisburg), Helmut

SPD 3.12.99

Wieczorek-Zeul, Heidemarie

SPD 3.12.99

Wiesehügel, Klaus SPD 3.12.99Willner, Gert CDU/CSU 3.12.99Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 3.12.99Wolf (Frankfurt), Margareta

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

3.12.99

Zierer, Benno CDU/CSU 3.12.99 **

—————* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-

lung des Europarates** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union

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Anlage 2

Erklärung nach § 31 GOdes Abgeordneten Dr. Gerd Müller (CDU/CSU)zur Abstimmung über den Entschließungsan-trag zu der Regierungserklärung des Bundes-kanzlers zum bevorstehenden Europäischen Ratin Helsinki am 10./11. Dezember 1999 (Tages-ordnungspunkt 13)Mein ablehnendes Stimmverhalten ist durch folgende

Gründe bestimmt:Das weitere Voranschreiten des Europäischen Inte-

grationsprozesses darf nicht an den Bürgern und Parla-menten vorbei erfolgen. Da sich der europäische Recht-setzungsprozeß immer mehr innenpolitisch höchst rele-vanten Kernfragen zuwendet, müssen die Mitwirkungs-rechte der nationalen Parlamente und des DeutschenBundestages verstärkt werden. Den nationalen Parla-menten müssen bei grundlegenden Richtungsentschei-dungen im sekundärrechtlichen RechtsetzungsprozeßMitwirkungs- und Kontrollrechte zuerkannt werden.

Die Erweiterung der Europäischen Union muß sichan den auf dem Europäischen Rat in Kopenhagen ver-einbarten politischen und wirtschaftlichen Kriterien aus-richten. Es muß sichergestellt sein, daß in den Politikbe-reichen, wo die Erweiterung nachhaltige wirtschaftlicheund soziale Folgen hat, etwa in der Landwirtschaft, aufdem Arbeitsmarkt, im Dienstleistungssektor und bei densozialen Sicherungssystemen, ausreichend bemesseneÜbergangsfristen auch im Sinne der Beitrittskandidatenvereinbart werden.

Für die EU-Osterweiterung sollte auch der Weg einerdifferenzierten Integration geprüft werden. Die Vollmit-gliedschaft wird und kann nicht in jedem Fall das richti-ge Angebot einer Zusammenarbeit der EuropäischenUnion mit den Staaten Mittel- und Osteuropas sein.Überprüft werden sollte auch ein Konzept, das auf einedifferenzierte Teilhabe der Mittel- und OsteuropäischenStaaten am Binnenmarkt ohne eine volle Mitgliedschaftin der EU hinausläuft. Die Osterweiterung ist auf derBasis der Beschlüsse zur Agenda 2000, zur Finanz-struktur, zur Reform der Agrarpolitik und zur Struktur-reform nicht umsetzbar.

Gegenüber der Türkei muß es im Interesse der EUund Deutschlands liegen, eine verstärkte wirtschaftlicheund politische Zusammenarbeit zu forcieren. Notwendigist dabei die Einlösung der Verpflichtungen aus denFinanzprotokollen und ein weiterer Ausbau der Wirt-schafts- und Handelsbeziehungen. Die Perspektive einerEU-Vollmitgliedschaft ist nicht realistisch.

Anlage 3

Zu Protokoll gegebene RedenzurBeratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Fort-entwicklung der Altersteilzeit (Tagesordnungs-punkt 15)Renate Rennebach (SPD): Ausgangspunkt für die

Fortentwicklung der Altersteilzeit ist die gemeinsame

Erkenntnis von Arbeitgebern, Gewerkschaften und derBundesregierung, daß die Altersteilzeit ein sinnvollesInstrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist. Im„Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfä-higkeit“ wurde Einigung darüber erzielt, daß die beste-henden Regelungen den arbeitsmarktpolitischen Erfor-dernissen nicht genügen und die Altersteilzeit angepaßtwerden muß.

Die Grundidee der Altersteilzeit beruht darauf, älterenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen gleitendenÜbergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand zu er-möglichen und die frei gewordenen Stellen neu zu be-setzen.

An dieser Grundidee hält die Koalition fest. Aller-dings führen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurfwesentliche Verbesserungen ein, um die arbeitsmarkt-politischen Effekte zielgruppenorientiert zu erhöhen.Mit der Fortentwicklung der Altersteilzeitarbeit ver-bindet sich die Zielsetzung, daß die Altersteilzeit stär-ker in Anspruch genommen werden wird als bisher unddie Wiederbesetzungsquote von zuletzt 1:7 nachhaltigverbessert werden kann. Dazu werden im wesentlichenzwei Neuregelungen eingeführt, durch die erstens derPersonenkreis für den Zugang zur Altersteilzeitarbeiterweitert und zweitens das Verfahren für die Wieder-besetzung der frei gewordenen Stellen vereinfachtwird.

Nach dem Gesetzentwurf der Koalition können auchTeilzeitbeschäftigte in Altersteilzeit gehen. Sie müssenwie bisher die Vollzeitbeschäftigten ihre Arbeitszeithalbieren und trotz geringerer Stundenzahl versiche-rungspflichtig in der Arbeitslosenversicherung bleiben.Wir reagieren damit auf die Entwicklungen auf dem Ar-beitsmarkt und eröffnen den mittlerweile sechs Millio-nen überwiegend weiblichen Teilzeitbeschäftigten über-haupt die Möglichkeit, von den Regelungen der Al-tersteilzeit zu profitieren. Das ist längst überfällig, dennwir erreichen damit fast 20 Prozent der Beschäftigten inDeutschland, für die der Zugang zur Altersteilzeit unddamit zum gleitenden Übergang in den Ruhestand ver-sperrt war. Wir kommen damit den Interessen der vor-wiegend teilzeitbeschäftigten Frauen nach und setzengleichzeitig effektive Anreize dafür, daß Altersteilzeit-arbeit in höherem Maße genutzt wird als bisher.

Mit dem zweiten Kernpunkt unseres Gesetzentwurfsbeabsichtigen wir, die praktischen Probleme bei derUmsetzung der bestehenden Altersteilzeitregelung auf-zuheben. Wir sind uns mit den Sozialpartnern einig, daßes zwingend notwendig ist, die Voraussetzungen für dieWiederbesetzung der durch Altersteilzeit frei geworde-nen Stellen zu verbessern. Weil erst mit der Wiederbe-setzung die Förderung durch die Bundesanstalt für Ar-beit eintritt, können beschäftigungspolitische Impulsenur durch eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbe-dingungen gesetzt werden. Darum wird die Neubeset-zung nicht mehr an den zwingenden Nachweis einerkonkreten Umsetzungskette gebunden sein. Die Diffe-renzierung zwischen kleinen und großen Betrieben sollbesonders den kleinen und mittleren Unternehmen beider Umsetzung helfen und dazu beitragen, den Umfangder Altersteilzeit zu erhöhen.

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Die Neuregelungen sehen außerdem die Berücksich-tigung von arbeitslosen Jugendlichen und Auszubilden-den bei der Besetzung der frei gewordenen Stellen vor.Damit schafft die Koalition die Voraussetzung dafür,daß Auszubildende zukünftig übernommen werden kön-nen und junge Arbeitslose neue Beschäftigungsmöglich-keiten erhalten. Gemeinsam mit dem Jugendsofortpro-gramm JUMP, das nach dem ersten erfolgreichen Jahrauch 2000 auf gleichem Niveau weitergeführt werdenwird, eröffnet sich die Perspektive für Jugendliche, zu-künftig einen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu er-halten.

Die Koalition belegt mit der Fortentwicklung der Al-tersteilzeit, daß sie sich zielgenau an den strukturellenUrsachen der Arbeitslosigkeit orientiert und dafür dieeinzelnen Bausteine der aktiven ArbeitsmarktpolitikSchritt für Schritt zusammensetzt. Zusammen mit der er-reichten Wiedereinführung des Schlechtwettergeldesund den Verbesserungen in der Arbeitsförderung fürältere Arbeitnehmer haben wir die Instrumente in denersten Schritten neu ausgerichtet und an die Bedingun-gen der Arbeitslosigkeit angepaßt.

Um das Arbeitsförderungsrecht langfristig wirksamerzu gestalten, wird die Koalition in naher Zukunft einegrundlegende Reform der Arbeitsförderung vorlegen,mit der wir die Voraussetzung für eine Verzahnung derArbeitsförderung mit der regionalen Strukturpolitik, fürden Ausbau der Frauenförderung und für präventive Ar-beitsmarktpolitik schaffen.

Die Verantwortlichkeit für die Arbeitslosigkeit kannletztlich jedoch nicht allein bei der Politik liegen. Ar-beitgeber, die Subventionen oder Fördermittel abschöp-fen und Privilegien in unserer Gesellschaft einfordern,müssen auch Verantwortung für mehr Beschäftigung inunserem Land übernehmen. Aber diese Verantwortungkann nicht so aussehen, daß ein Arbeitgeberpräsidentalle vier Wochen weitere Verschlechterungen des Ar-beitsrechts oder wie gestern zu hören war, der Präsidentdes DIHT, Stihl, erneut die 40-Stunden-Woche einfor-dert. Diese Forderungen werden auch durch Wiederho-lungen nicht besser. Im Gegenteil: Neben den Verbesse-rungen der arbeitsmarktpolitischen Instrumente wirdauch darüber zu reden sein, die Arbeitszeit der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zu ver-kürzen, um dadurch Beschäftigung auf mehrere Schul-tern zu verteilen.

Die Fortentwicklung der Altersteilzeit ist ein Projektder Vernunft. Es wird von Arbeitgebern wie Gewerk-schaften gleichermaßen getragen und braucht nun dieZustimmung des Bundestages.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Oppositi-on, ich lade Sie sehr herzlich ein, den gesellschaftlichenKonsens in dieser Frage auch im Abstimmungsergebniszum Ausdruck zu bringen und mit uns gemeinsam fürdas Gesetz zu stimmen.

Vielen Dank.

Heinz Schemken (CDU/CSU): Mit dem Gesetzschreibt Rotgrün eine Regelung fort, die in der Regie-

rungszeit von Helmut Kohl eingeführt wurde. Es ist eineder wenigen Taten, die der Regierung Schröder im Jahr1999 gelungen sind; es ist ja auch eine Nachfolgerege-lung. Daß nunmehr stärker die mittelständische Wirt-schaft, kleinere und mittlere Betriebe in ihren speziellenProblemen der Personalgestaltung berücksichtigt wer-den, ist die Folge dieser Fortschreibung.

In Deutschland gab es im Jahr 1998 schon 5,9 Millio-nen Teilzeitbeschäftigte. Das waren 18,5 Prozent allerArbeitnehmer. Mit anderen Worten: Etwa jeder fünfteabhängig Beschäftigte hat einen Teilzeitjob.

Am weitesten verbreitet ist diese Form der Arbeits-gestaltung im Dienstleistungsbereich. So zum Beispielbei der Post, wo rund ein Drittel der Mitarbeiter Teil-zeitkräfte sind.

Diese Fortentwicklung der Altersteilzeit trägt zueinem Teil dem Rechnung, daß wir im Arbeitsmarktmehr Flexibilität brauchen, um auf die Herausforderun-gen auf Mobilität und Technikabfolge am Arbeitsplatz,der Rationalisierung und der Teilzeitarbeit und ihrerAuswirkungen eine Antwort zu geben. Das Gesetz gibtkeine abschließende Antwort auf die Langzeitarbeits-losigkeit, die gerade bei älteren Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern ein folgenschweres Schicksal bedeutet.Es kann nur die gravierendsten Fälle des Übergangs inden verdienten früheren Ruhestand regeln.

Es bleibt nun den Arbeitgebern und Arbeitnehmernüberlassen, wie sie mit der Regelung bei Stützung durchdie Arbeitslosenversicherung umgehen. Den jüngerenArbeitslosen bleibt dabei die Hoffnung und Chance aufeinen Arbeits- und Ausbildungsplatz.

Es ist ein Weg, aber sicher nicht der einzige, den wirunter anderen gehen müssen, um den sozialen, wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen im Be-reich der Arbeitswelt und der demographischen Ent-wicklung Rechnung zu tragen.

Bei allem bleibt allerdings die vorrangige Aufgabe,neue Arbeitsplätze zu schaffen, und hier hat die Regie-rung von Rotgrün nach einem Jahr keine sichtbaren Er-folge vorzuweisen. Dies schlägt erst recht so negativ inder Gesellschaft draußen durch, weil der Kanzler nichtnur im Wahlkampf, sondern auch darüber hinaus vorge-geben hat, daß er sich an der Zahl der Arbeitslosen inseiner Amtszeit messen lassen wird.

Das Gegenteil ist der Fall, und es rächen sich nachund nach die vollmundigen Versprechungen nicht nur indieser Frage. Immer mehr läßt erst recht das Angebot anArbeitsplätzen nach, und die letzten Zahlen machendeutlich, wie eine falsche Wirtschafts-, Steuer- und Ar-beitsmarktpolitik die Arbeitslosen in eine fatale Lageführt.

So werden wir auf diesem Hintergrund gerade gegen-über den mittelständischen Betrieben diese Möglichkeiteiner flexiblen Handhabung weiter öffnen. Dies ist dasPositive, das uns die Zustimmung erleichtert.

Allerdings wird dieses Gesetz zwar zur Fortentwick-lung der Altersteilzeit dienen, aber der Bundesregierungnicht. Ihr Versagen auf der ganzen Linie in den Ele-

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mentarbereichen der Wirtschaftspolitik, der Steuerge-setzgebung und der Arbeitsmarktpolitik wiegt dies nichtauf. Es kann doch nicht sein, daß es bei ständigen An-kündigungen bleibt – und dies nach einem Jahr der Pan-nen und Fehleinschätzungen mit folgenschwerer Wir-kung für Handwerk, Handel, Wirtschaft und damit gera-de für die Arbeitslosen. Es war für die Bürgerinnen undBürger draußen ein Jahr des politischen Stillstandes.

Es wäre jetzt an der Zeit, nicht nur fortzuschreiben,sondern deutliche Signale für die Zukunft zu setzen unddamit zumindest ein wenig Vertrauen zu schaffen; denndiejenigen, die uns Arbeitsplätze schaffen, sind Hand-werker, Einzelhändler und Dienstleister. Sie brauchenbessere Rahmenbedingungen und keine weiteren Mehr-belastungen.

Sie brauchen die Spielräume, um den Wettbewerb zubestehen. Erst dann haben wir wieder Erfolge am Ar-beitsmarkt, und darum geht es mir und meinen Kolle-ginnen und Kollegen in der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):Die Altersteilzeit stößt auf breite gesellschaftliche Ak-zeptanz. Das liegt vor allen Dingen an zwei Aspekten:erstens der Möglichkeit für ältere Arbeitnehmer, sich inden letzten Arbeitsjahren vor ihrem Ruhestand durchArbeitszeitverkürzung Arbeitserleichterung zu verschaf-fen, ohne dabei gleichzeitig unvertretbar hohe Einkom-menseinbußen hinnehmen zu müssen. Das ist ein ausge-sprochen soziales Angebot an die Betroffenen. Zwei-tens. Gleichzeitig ist die Idee der Altersteilzeit verknüpftmit der Aufgabe, neue Beschäftigungsmöglichkeiten fürnachrückende Arbeitskräfte zu eröffnen. Die Förderungdurch die Bundesanstalt für Arbeit, wenn zukünftigeArbeitskräfte für Altersteilzeitbeschäftigte eingestelltwerden, ist beschäftigungspolitisch deshalb gesamt-volkswirtschaftlich gesehen ausgesprochen positiv zubewerten.

Die zurückliegende Erfahrung in der Praxis derAltersteilzeit aber hat Mängel aufgewiesen, zu denendas „Bündnis für Arbeit“ Lösungsvorschläge unterbrei-tet hat, über die wir hier heute abstimmen.

Zum einen soll die Möglichkeit für Altersteilzeit auchfür Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eröffnet wer-den, die zuvor schon in Teilzeit beschäftigt sind. Dies istinsbesondere unter frauenpolitischen Aspekten ausge-sprochen sinnvoll. Gerade auch die Lockerung der Wie-derbesetzungskette für kleinere und mittlere Betriebe er-folgt mit der Intention, daß dort die Möglichkeiten zurAnwendung der Altersteilzeit verbessert werden. Wieweit dieses tatsächlich in der Praxis erreicht werdenwird, wird die Zukunft zeigen. Zusammengenommenwürden beide Änderungsvorschläge dazu führen, daß diePraxis der Altersteilzeit in der Zukunft besser ange-nommen wird.

Die Diskussion um die Altersteilzeit ist im „Bündnisfür Arbeit“ aufgenommen worden, und sie ist noch nichtabgeschlossen. Hier ist die erste Etappe erreicht. Wie dieöffentliche Debatte im Vorfeld der nächsten Sitzung des„Bündnisses für Arbeit“ im Dezember dieses Jahreszeigt, wird die weitere Unterstützung der Altersteilzeit

durchaus als Alternative zum von den Gewerkschaftenunterbreiteten Vorschlag zur Rente mit 60 gesehen.

Für meine Fraktion kann ich an dieser Stelle sagen,daß wir Tariffondsmodelle zur Unterstützung vonAltersteilzeit, von Teilzeit für alle Jahrgänge oder auchvon Modellen des Job-sharings unter beschäftigungspo-litischen und unter sozialpolitischen Gesichtspunkten fürweitaus fruchtbarer und sinnvoller halten als die Mo-delle zur Rente mit 60.

Die verschiedenen Formen von Teilzeit – Teilzeit,Jobrotation, Job-sharing und die Entwicklung vonLebensarbeitszeitkonten – sind moderne Antworteneiner Arbeitsmarktpolitik der Integration.

Die Altersteilzeit ist ein Element einer solchen Poli-tik, jedenfalls dann, wenn sie nicht zur Blockbildung,sondern zur echten Altersteilzeit genutzt wird.

Wir verändern hier die gültige Altersteilzeitregelung,aber ich denke, damit sind wir auf dem Weg der Weiter-entwicklung zur Regelung der Altersteilzeit noch nichtam Ende angelangt. Die Altersteilzeit kann auch in Zu-kunft flott gemacht werden für ein Modell für die befri-stete Förderung von Teilzeit in allen Altersgruppen.

Die jetzt gültige Altersteilzeitregelung bietet prakti-sche Anknüpfungspunkte für eine Teilzeitförderungdurch die Aufstockung des Arbeitsentgeltes auf 70 Pro-zent und der Rentenbeträge auf 90 Prozent.

Für die Zukunft ist zu diskutieren, ob die Streichungder bestehenden Altersgrenze von 55 Jahren aus be-schäftigungspolitischer Perspektive nicht einen sinnvol-len Weg eröffnen würde. Die Altersteilzeit könnte fürBeschäftigte mit ausreichender Vorbeschäftigungszeit ineine bis zu fünfjährige Lebensphasen-Teilzeit weiter-entwickelt werden. Die Ausgleichszahlungen solltendann durch die Bundesanstalt für Arbeit den Arbeitge-bern erstattet werden, wenn für die Dauer der Teilzeiteine Wiederbesetzung durch einen Arbeitslosen oderAuszubildenden nachgewiesen werden kann.

Wir stellen dies hier für eine zukünftige Debatte zurDiskussion, auch im „Bündnis für Arbeit“, mit einembefristeten Programm der Begünstigung von Lebenspha-senteilzeit, damit die Teilzeitbarrieren gerade in kleinenund mittleren Unternehmen durchbrochen werden kön-nen.

Eine Inanspruchnahme von öffentlichen Mitteln wäredurch die obligatorische Wiederbesetzung mit einemhohen Refinanzierungsgrad verbunden und gerechtfer-tigt. Zugleich würde der Gedanke einer solidarischenArbeitsumverteilung gestärkt, denn dieses geförderte 50-Prozent-Sabbatical betont die Integration von Erwerbs-losen und nicht die Ausgliederung von älteren Arbeit-nehmern.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Han-delstages, Hans-Peter Stihl, fordert im Moment dieRückkehr zur 40-Stunden-Woche und behauptet, dieshabe positive arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischeEffekte. Die vergangenen 20 Jahre in der Bundesrepu-blik Deutschland haben gezeigt, daß die schrittweiseVerkürzung der Arbeitszeit ein ganz zentrales Element

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war, um die Arbeitslosigkeit nicht noch weiter in dieHöhe schnellen zu lassen.

Deshalb sind intelligente Modelle der Arbeitszeitver-kürzung und der Arbeitsumverteilung, wie sie etwa indem Ansatz zur Altersteilzeit enthalten sind, die richti-gen Anknüpfungspunkte für die Fortentwicklung ar-beitsmarktpolitisch wirksamer Vorschläge im „Bündnisfür Arbeit“.

Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Die Änderungenim Altersteilzeitgesetz, die wir hier heute in zweiter unddritter Lesung beraten, sind ein gutes Beispiel dafür, daßKonsensrunden nicht immer das beste Forum sind, umsinnvolle Ergebnisse zu erarbeiten. Die Verhandler imsogenannten „Bündnis für Arbeit“ haben sich daraufverständigt, das Altersteilzeitgesetz zu erweitern. We-sentliche Änderungen sind, daß auch Teilzeitbeschäf-tigte einbezogen werden, daß auch die Übernahme vonAuszubildenden die Voraussetzungen des Altersteilzeit-gesetzes erfüllt, und vor allem entfällt künftig derNachweis einer unmittelbaren Nachbesetzungskette zwi-schen Altersteilzeiter und Wiederbesetzer.

Es verwundert überhaupt nicht, daß die Bundesregie-rung diese Korrekturen im Altersteilzeitgesetz zu einemgroßen Erfolg hochstilisiert. Dieser Gesetzentwurf isteines der ganz wenigen Ergebnisse, das sie aus der Ver-anstaltung „Bündnis für Arbeit“ überhaupt präsentierenkann. Kurz gesagt: Seit einem Jahr tagen die Spitzenvon Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerk-schaften mit dem großen Ziel, die Arbeitslosigkeit inDeutschland zu bekämpfen, und präsentieren nicht mehrals einen zweieinhalbseitigen Gesetzentwurf. Hiermitwerden Sie die Arbeitslosigkeit nicht nachhaltig ein-dämmen. Vielmehr verfeinern Sie ein Instrument, mitdem die Großkonzerne in der Vergangenheit ihre Um-strukturierung zu Lasten von Beitrags- und Steuerzah-lern finanziert haben. Das ist nicht nur mager. Das istgeradezu ein Witz angesichts von vier Millionen Ar-beitslosen, die von diesem Bündnis echte Impulse fürden Arbeitsmarkt erwarten und nicht nur Korrekturenauf Nebenkriegsschauplätzen.

Das Bündnis ist nicht mehr und nicht weniger als einepompöse Medienveranstaltung unseres Medienkanzlers,das bisher keinem einzigen Arbeitslosen einen Job ge-bracht hat. Die Meßlatte für den Erfolg dieser Regierungund dieses Kanzlers ist nach ihren eigenen Worten derAbbau der Arbeitslosigkeit. Nach einem Jahr Rotgrünstelle ich fest: Die strukturelle Arbeitslosigkeit hat unterIhrer Führung zugenommen. Die Perspektiven sind dü-ster. Nicht ein einziger Impuls für den Arbeitsmarkt isterkennbar, wenn wir von der demographischen Ent-wicklung einmal absehen. Aber hierfür kann nicht ein-mal die Regierung etwas.

Im übrigen: Ob das Ganze so kostenneutral ist, wieSie es in der Gesetzesbegründung behaupten, ist letztlichauch noch nicht ganz klar. Wenn nicht, haben Sie sich inIhrer Konsensrunde auch noch in Form eines Vertrageszu Lasten Dritter auf Kosten des Beitrags- bzw. Steuer-zahlers geeinigt.

Sowenig die Altersteilzeit dem Arbeitsmarkt insge-samt gebracht hat, sowenig werden die von Ihnen vor-genommenen Verschlimmbesserungen den Arbeitslosenbringen. Ich möchte daran erinnern, daß die Altersteil-zeit den Vorruhestand über die vorgezogene Altersrenteab 60 wegen Arbeitslosigkeit abgelöst hat. Schon dieseRente ab 60 wegen Arbeitslosigkeit ist von den Arbeit-gebern unter Duldung der Gewerkschaften ausschließ-lich dazu mißbraucht worden, die Strukturen in den Un-ternehmen zu verschlanken und sich zu reorganisieren –zu immensen Kosten, die auf den Beitrags- und Steuer-zahler abgewälzt wurden.

Mit dem Altersteilzeitgesetz ist das nicht viel andersgeworden. Auch diese ist vor allem von den Großunter-nehmen genutzt worden, um sich zu verschlanken. DieEinstellung neuer Arbeitskräfte stand dabei nie im Vor-dergrund. Mit der jetzt vorgenommenen Änderung ver-schlimmern Sie diesen Zustand. Die Handhabung desAltersteilzeitgesetzes ist eh kompliziert und fast nur vonGroßunternehmen mit eigener Personalabteilung hand-habbar. Dies dürfte erst recht bei Altersteilzeit für Teil-zeitkräfte gelten. Kleine und mittlere Unternehmen kön-nen gar nicht daran denken, so etwas bei sich einzufüh-ren.

Des weiteren wird mit dem Gesetzentwurf auf diekonsequente Wiederbesetzung eines über Altersteilzeitfreigewordenen Arbeitsplatzes zwar nicht verzichtet, dieKriterien der Wiederbesetzung werden jedoch deutlichaufgeweicht. Ich prophezeie Ihnen, daß Sie Mitnahme-effekte im großen Stil damit lostreten. Ihr Bundeswirt-schaftsminister hat einmal gesagt, nach seinen persön-lichen Berufserfahrungen komme auf sieben wegenAlters freigesetzter Arbeitnehmer eine Neueinstellung.Ich weiß nicht, ob diese Größenordnung realistisch ist.Sicher ist nur, daß Sie mit dem vorliegenden Gesetzent-wurf zum Abbau der Arbeitslosigkeit mit Sicherheit we-nig bis nichts beitragen. Für die Liberalen sehe ich daherkeinen Grund, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Monika Balt (PDS): Wir begrüßen es, wenn dreiein-halb Jahre nach Inkrafttreten des Altersteilzeitgesetzesseine arbeitsmarktpolitischen Wirkungen analysiert undSchlußfolgerungen in Form der uns heute vorliegendenNovelle gezogen werden.

Es hat sich gezeigt, daß die Erwartungen derCDU/CSU-geführten Bundesregierung in eine spürbareEntlastung des Arbeitsmarktes und in die Schaffungneuer Arbeitsplätze nicht eingetreten sind. Deshalb un-terstützen wir das Bestreben der jetzigen Bundesregie-rung, Wege zu suchen, um das Altersteilzeitgesetz in derPraxis wirksamer greifen zu lassen. Die Einbeziehungvon fortan auch Teilzeitbeschäftigten in die Altersteil-zeitregelungen entspricht den Forderungen der PDSnach selbstbestimmten und flexiblen Übergängen ausdem beruflichen in das nachberufliche Leben. Das be-trifft immerhin knapp 6 Millionen Teilzeitbeschäftigteoder – mit anderen Worten – jeden fünften in Deutsch-land abhängig Beschäftigten. Am stärksten könnte dieNeuregelung im Dienstleistungsbereich greifen, so zumBeispiel bei der Post, wo rund ein Drittel der MitarbeiterTeilzeitkräfte sind. Die Einbeziehung von Teilzeitar-

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beitnehmern wirkt sich besonders auf Frauen positivaus. Sie ermöglicht es, Rentenansprüche zu erhöhen,und das ist allemal besser, als aus Arbeitslosigkeit inRente zu gehen.

Bei der Beschäftigtengruppe aus Teilzeit ist aber eingroßes Problem nicht zu übersehen. Die Halbierung derbisherigen Teilzeitarbeit ginge bis zur Versicherungs-pflichtgrenze von 15 Wochenstunden Beschäftigung.Das daraus resultierende Nettoarbeitsentgelt ist bei ei-nem durchschnittlichen Monatsbrutto – Vollbeschäfti-gung und gesamtdeutsch – von 4 180 DM im Jahre 1998doch arg wenig. Es könnten Einkommenssituationenentstehen, die äußerst prekär wären. Und da entstehtdoch die Frage: Hat die Novellierung den gewünschtenEffekt, oder verzichten Teilzeitkräfte genau aus diesemGrund auf Altersteilzeit? Aus unserer Sicht wäre essinnvoller gewesen, die Regelungen so zu treffen, daßAltersteilzeit mindestens die Hälfte der regelmäßigen ta-riflichen Arbeitszeit betragen würde.

Die Regelungen zur Altersteilzeit sollen tariflich oderüber Betriebsvereinbarungen erfolgen. Das ist in Ord-nung, schafft die Novelle Erleichterungen für die Ge-staltung von Tarifverträgen, da sie einvernehmlich seinmüssen. Aber völlig unverständlich ist für uns, daß dasEntgelt bei Altersteilzeit um 20 Prozent, mindestens je-doch auf 70 Prozent des letzten Nettoentgeltes, aufge-stockt werden soll. Da viele Tarifverträge 85 Prozentvorsehen, wäre dieser Prozentsatz auch für die gesetzli-che Rahmenregelung sinnvoll. Außerdem wäre das eingrößerer Ansatz zur Inanspruchnahme von Altersteilzeit.Im übrigen wäre es angemessen, das Altersteilzeitbegeh-ren als individuellen Rechtsanspruch zu regeln, auchdann, wenn kein Tarifvertrag vorliegt.

Wir begrüßen die geplanten Erleichterungen bei derWiederbesetzung von Altersteilzeitstellen. Bislang mußteja in Unternehmen bis zu 50 Beschäftigten grundsätzlichder freigemachte Arbeitsplatz wiederbesetzt werden; beiUnternehmen über 50 Beschäftigten war der Nachweisder Umsatzkette im Unternehmen zwingend erforder-lich, wenn man die Fördergelder des Arbeitsamtes er-halten wollte. Jetzt soll es ja so werden, daß in Unter-nehmen bis zu 50 Arbeitnehmern eine beliebige Stellewiederbesetzt werden soll. In Unternehmen mit mehr als50 Beschäftigten soll die Regelung so greifen, daß För-derleistungen bereits dann gezahlt werden, wenn für ei-nen in Altersteilzeit gehenden Mitarbeiter ein andererMitarbeiter in seinen Aufgabenbereich nachrückt undder Wiederbesetzer ein Arbeitsloser oder ein Arbeit-nehmer ist, der nach der Ausbildung in demselbenFunktionsbereich übernommen wird. Das entsprichtdurchaus den Bedürfnissen der Unternehmen nach fle-xibler innerbetrieblicher Gestaltung von Struktur- undFunktionsbereichen entsprechend dem technologischenFortschritt.

Sehr sinnvoll erscheint uns – angesichts der nach wievor bestehenden Ausbildungsmisere –, daß eine Förde-rung auch dann erfolgt, wenn für einen in AltersteilzeitGehenden ein Azubi eingestellt wird. Einmal abgesehendavon, daß in Großunternehmen und Konzernen – undnur diese können die Altersteilzeit in größerem Umfangerealisieren – die Ausbildung in Größenordnungen durch

das Arbeitsamt finanziert wird, sehen wir noch eineweitere Gefahr: Es gibt für die Auszubildenden keineWeiterbeschäftigungsgarantie, die man doch für minde-stens ein Jahr hätte gesetzlich regeln können, damit fürdie Betroffenen Ansprüche aus der Arbeitslosenver-sicherung erwachsen würden.

Neben weiteren Unzulänglichkeiten des uns vorlie-genden Gesetzentwurfes, wie das Fehlen der Präferenzdes „Blockmodells“, das fast 100 Prozent der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer favorisieren und dasman mit 1 oder 2 Prozent Erhöhung des Altersteilzeit-entgeltes durch die BfA hätte anreizen können, die feh-lende Harmonisierung von Altersteilzeitgesetz und Steu-errecht, die unzureichende Regelung der sozialen Siche-rung bei Arbeitsunfähigkeit, die fehlende Regelung zurInsolvenzsicherung, um bereits erworbene Ansprücheder Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gesetzlich ab-zusichern, und anderes, lassen Sie mich zum Schluß sa-gen: Wenngleich der Gesetzesentwurf nicht das Gelbevom Ei ist, so weist er doch in die richtige Richtung.

Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Nach einemJahr Rotgrün in Deutschland steht die Bekämpfung derArbeitslosigkeit nach wie vor als das zentrale Thema aufder Tagesordnung der Politik. Eine wesentliche Entla-stung hat es im ersten Jahr Rotgrün nicht gegeben. Ganzim Gegenteil: vergleicht man das letzte Jahr der Regie-rung Kohl mit dem ersten Jahr Schröder, dann sind dierotgrünen Ergebnisse negativ. Von Oktober 1997 bisOktober 1998 ist die Arbeitslosigkeit unter Helmut Kohlum 400 000 zurückgegangen, von Oktober 1998 bisOktober 1999 hat es Schröder auf lediglich 8 000 Ar-beitslose weniger gebracht. Das entspricht absolut nichtden Erwartungen, die Schröder als Kandidat im Wahl-kampf erweckt hat.

Und auch die Aussichten für die kommenden Jahresind nicht rosiger. Für die nächsten Jahre sind jährlichzwar ca. 200 000 Arbeitslose weniger prognostiziert.Aber dieser Rückgang der Arbeitslosigkeit geht ledig-lich auf die demographischen Entwicklungen zurück. Esscheiden jährlich 200 000 ältere Arbeitnehmer mehr ausdem Arbeitsleben aus, als junge Arbeitnehmer in denArbeitsmarkt nachfolgen.

Vor diesem Hintergrund sind alle gesetzlichen Maß-nahmen und Instrumente daraufhin zu überprüfen, wel-chen Beitrag sie zur Entlastung des Arbeitsmarktes undzum Aufbau neuer Arbeitsplätze leisten. Es ist bei jederMaßnahme zu fragen: Ist dies ein wirksamer Bausteinzur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit?

Das jetzt von der Regierungskoalition vorgelegte Ge-setz zur Fortentwicklung der Altersteilzeit ist ein solcherBaustein. Zwar entstehen durch das Gesetz keine neuenArbeitsplätze, es trägt aber zur Entlastung des Arbeits-marktes bei. Angesichts der nach wie vor hohenArbeitslosigkeit stimmt die CDU/CSU-Fraktion demGesetz zur Fortentwicklung der Altersteilzeit zu.

Erstens. Blüms Modell der Altersteilzeit bleibt dieBasis. Der Gesetzentwurf der jetzigen Regierungskoali-tion entwickelt fort, was die Regierung Kohl 1996 ein-geführt hat. Altersteilzeit hat zur Idee, das Ausscheiden

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aus dem Arbeitsleben für ältere Menschen gleitend zugestalten und gleichzeitig den Eintritt junger Menschenin den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Es ist ein Instru-ment, bei dem die Tarifparteien im Rahmen gesetzlicherVorgaben diesen Prozeß organisieren und öffentlich ge-fördert werden. Schon 1998 ist die Altersteilzeit unterder Regierung Kohl erweitert und fortentwickelt wor-den.

Zweitens. Die Altersteilzeit war und bleibt die Ant-wort die Politik auf die viel zu kostspieligen Frühver-rentungsvarianten der Vergangenheit. Die Frühverren-tungsmöglichkeiten waren als Ausnahme gedacht, An-fang der neunziger Jahre haben sie sich zu einem perso-nalpolitischen Instrument der Großbetriebe entwickelt.Ältere Arbeitnehmer sind auf Kosten der Beitragszahler,insbesondere des Mittelstandes, in die Frührente ge-schickt worden. 1991 gab es 54 000 Frührentner, 1995waren es schon 300 000. Auf die Rentenkasse hatte die-ses Instrument milliardenschwere Auswirkungen. Wirhaben damals die Frühverrentung gestoppt und das Mo-dell der Altersteilzeit an seine Stelle gesetzt.

Drittens. Ebenso wie die grundlegende Entscheidungfür das Modell der Altersteilzeit von 1996 ist auch diejetzt vorzunehmende Fortentwicklung zwischen den Ta-rifpartnern und der Politik im Bündnis für Arbeit vorbe-reitet worden. Damit sind die Regelungen des Gesetzeskonsequent auf die Umsetzung in der Praxis orientiert.

Viertens. Die Altersteilzeit ist die bessere Alternativezur derzeit diskutierten Rente mit 60. Diese ist nicht fi-nanzierbar, denn sie könnte eine Belastung von 60 bis70 Milliarden DM umfassen. Allein für die Vorfinanzie-rung der Frührenten würden die Kosten für die Renten-versicherung rund 7 Milliarden DM betragen. Dage-gen liegen die Kosten für Altersteilzeit bei rund290 Millionen DM (Haushaltsansatz für 1999).

Fünftens. Die bisherigen Erfahrungen mit der Al-tersteilzeit sind positiv. Das Modell der Altersteilzeitwird von den Tarifparteien gut angenommen. Das bele-gen ca. 330 Tarifverträge, die mittlerweile den gleiten-den Ausstieg aus dem Arbeitsleben regeln. Dies belegenauch die Zahlen: rund 20 000 Arbeitnehmer in geför-derter Altersteilzeit, weitere rund 35 000 gestellte För-deranträge (Stichtag September 1999).

Sechstens. Geförderte Altersteilzeit ist die Variantedes vorzeitigen Renteneintritts eines älteren Arbeitneh-mers, bei der am meisten sichergestellt ist, daß dafür einjunger Mensch einen Arbeitsplatz bekommt. Sie kommtder 1:1-Regelung am nächsten.

Siebtens. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung derAltersteilzeit wird dieses Instrument weiter flexibilisiertund mittelstandsfreundlicher gestaltet. So sollen z.B.künftig auch Teilzeitkräfte in Altersteilzeitarbeit wech-seln können. Bei der Wiederbesetzung freigewordenerStellen sollen insbesondere für Unternehmen mit bis zu50 Beschäftigten Erleichterungen erfolgen, z.B. dadurch,daß die freigewordene Stelle nicht nur durch arbeitsloseArbeitnehmer, sondern auch durch Auszubildende nachAbschluß ihrer Ausbildung wiederbesetzt werden kann.

Bei all den Argumenten, die für die Fortentwicklungder Altersteilzeit sprechen, muß uns klar sein: DiesesInstrument schafft keine neuen Arbeitsplätze. Es kannnicht als Ersatz für weiterhin notwendige Anstrengun-gen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze gelten.

Lassen sie mich, trotz unserer Zustimmung, aucheinige kritische Fragen ansprechen, die wir bei der wei-teren Umsetzung der Altersteilzeit im Blick behaltenmüssen.

Erstens. Wir müssen die Kostenentwicklung genaubeobachten. Zwar sind die Altersteilzeitmodelle über-haupt nicht vergleichbar mit der teuren Frühverrentungund der Rente mit 60, aber dennoch stiegen die Ausga-ben der Bundesanstalt für Arbeit an: von ca. 20 Millio-nen DM im Jahr 1997 auf 96 Millionen DM im Jahre1998. Im Jahresverlauf 1999 betrugen sie bis Oktoberbereits rund 165 Millionen.

Zweitens. Altersteilzeit in Form des sogenanntenBlockzeitmodells muß in den kommenden Jahren be-sonders kritisch begleitet werden. Das Blockzeitmodellstellt am ehesten eine Variante der Frühverrentung dar.Sie ist daher am weitesten von der Idee eines gleitendenÜbergangs in die Rente entfernt. Hinzu kommt, daß dasModell in der Tendenz steigend ist. Hier gilt es, mittel-fristig den Aspekt des gleitenden Ausscheidens aus demArbeitsleben zu verstärken.

Drittens. Insbesondere muß unser Augenmerk der öf-fentlich nicht geförderten Altersteilzeit gelten. Auch dasBMA bestätigt die bisherige Beobachtung, daß das AtGvielfach genutzt wird, um auch ohne Wiederbesetzungund damit ohne Förderung durch die Bundesanstalt fürArbeit den Personalbestand in den Betrieben sozialver-träglich zu reduzieren.

Das Prinzip 1 zu 1 – ein älterer Arbeitnehmer schei-det aus, ein Arbeitsloser steigt ein – wird in diesen Fäl-len umgangen.

Viertens. Ob die jetzt geschaffenen Neuregelungenwirklich zu einer mittelstandsfreundlichen Gestaltungder Altersteilzeit führen, bleibt abzuwarten. Auf unsereAnregung hin ist beabsichtigt, im Ausschuß für Arbeitund Sozialordnung einen Bericht nach einem Jahr vor-zulegen.

Fünftens. Langfristig müssen wir der demographi-schen Entwicklung Rechnung tragen. Die Daten sagenuns, daß wir zukünftig immer mehr ältere und immerweniger jüngere Arbeitnehmer haben werden. Je mehrberufserfahrene Ältere wir ausscheiden lassen, destomehr Probleme werden wir zu einem gewissen Zeit-punkt bekommen, weil wir nicht mehr genügend Men-schen mit Erfahrung im Berufsleben haben. Deshalbkann es mittelfristig nicht darum gehen, immer mehrBrücken und immer breitere Wege in die Rente zuschaffen. Wir müssen vielmehr Konzepte entwickeln,wie wir ältere Arbeitnehmer stärker in den Arbeitspro-zeß einbinden können. Hierzu kann auch Altersteilzeiteinen Beitrag leisten, wenn sie stärker zu einem Modellgleichzeitiger Teilzeitarbeit und Teilzeitrente ausgebautwird.

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Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-nister für Arbeit: Heute ist ein erfreulicher Tag: für denArbeitsmarkt und für die Sozialpolitik, für ältere und fürjüngere Arbeitnehmer. Denn heute nehmen wir die letzteHürde, um das Altersteilzeitgesetz zu reformieren. Da-bei freue ich mich ganz besonders darüber, daß die Neu-regelung von einer breiten Zustimmung im DeutschenBundestag getragen wird. Der zuständige Ausschuß hatvorgestern mit überwältigender Mehrheit der Neurege-lung zugestimmt. Eine breite Zustimmung zeichnet sichebenfalls im Bundesrat ab. Dort hat der Ausschuß fürArbeit und Sozialpolitik den Entwurf gestern im Vor-griff behandelt. Alle 16 Bundesländer haben sich dabeifür diese Neuregelung ausgesprochen. Es ist ein positi-ves Zeichen, daß hier im Bundestag fast die gesamteOpposition mit uns gemeinsam den Weg freimachenwill, damit mehr ältere Beschäftigte Altersteilzeit in An-spruch nehmen können und damit mehr jüngere Men-schen die Chance für einen neuen Arbeitsplatz bekom-men.

Die erfreuliche breite Zustimmung hier im Parla-ment spiegelt auch den Konsens der relevanten gesell-schaftlichen Gruppen wieder, die sich im Bündnis fürArbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit auf dieNeuregelungen bei der Altersteilzeit geeinigt haben.Was wir hier heute parlamentarisch umsetzen, wirdvon den Bündnispartnern gemeinsam getragen. Das istein sehr erfreuliches Ergebnis unserer Bemühungen imBündnis. Ich erinnere daran: Die Vertreter der Wirt-schaft haben im Bündnis verbindlich zugesagt, in die-sem Jahr für eine ausreichende Zahl von Lehrstellen zusorgen. Ein ebenso wichtiger Erfolg des Bündnisses ist,daß sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften unserSofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit unter-stützen. Diese Ergebnisse zeigen, daß unser Ansatzrichtig ist, im Bündnis für Arbeit, Ausbildung undWettbewerbsfähigkeit gemeinsam mit Vertretern derArbeitgeber und der Gewerkschaften nach Lösungsan-sätzen im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit zusuchen.

Das Bündnis funktioniert und arbeitet erfolgreich.Wenn wir heute die Änderung des Altersteilzeitgesetzesverabschieden, dann ist das ein guter und sichtbarer Be-weis dafür – und sicher auch ein gutes Omen für dieweitere Arbeit im Bündnis. Die im Bündnis verabrede-ten Verbesserungen zur Altersteilzeit hat die Bundesre-gierung schnell auf den Weg gebracht. Bereits am 1.September hatte das Kabinett die Eckpunkte beschlos-sen, durch die das Altersteilzeitgesetz flexibler, prakti-kabler und attraktiver werden kann.

Am Ende der Neuregelung der Altersteilzeit steht eingroßes Ziel: Künftig sollen mehr Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, aber auch mehr Unternehmen Al-tersteilzeit nutzen können. Die Altersteilzeit ist bis heutein über 325 Tarifverträgen verankert. In ihren Geltungs-bereich fallen fast 13 Millionen Beschäftigte. Aber esgibt Hinweise auf Umsetzungsprobleme. Das neue Ge-setz verbessert und vereinfacht, gibt mehr Planungssi-cherheit und sorgt für weniger Verwaltungsaufwand.Wir erweitern den Kreis derer, die früher aus dem Er-werbsleben ausscheiden können, und schaffen gleich-zeitig einen zusätzlichen Anreiz, neue Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter einzustellen. Damit haben wir die Vor-aussetzungen dafür geschaffen, daß die Altersteilzeitwirklich angenommen wird.

Altersteilzeit hat die früher übliche Frühverrentungs-praxis zu Lasten der Sozialversicherung abgelöst. Ge-meinsames Ziel von Bundesregierung, Sozialpartnernund Parlament war es, einen gleitenden Übergang vomArbeitsleben in den Ruhestand zu ermöglichen und dieszu fördern, wenn die freigewordene Stelle mit einemArbeitslosen wiederbesetzt wird.

Dieser Gedanke war und ist richtig. Bei den Gesprä-chen im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbe-werbsfähigkeit ist jedoch eines deutlich geworden:Nach Ansicht der Praktiker verhindern bestehenderechtliche Regelungen, daß Altersteilzeit stärker in An-spruch genommen wird. Es galt also, die Altersteilzeitso weiterzuentwickeln, daß sie besser genutzt werdenkann. Dabei bleibt die Voraussetzung zwingend, daßdie sozialen Sicherungssysteme finanziell nicht über-fordert werden. Vor allem dürfen wir den eigentlichenFörderungszweck der Altersteilzeit nicht in Frage stel-len, nämlich die Öffnung von Beschäftigungsperspek-tiven für sonst arbeitslose Arbeitnehmer. Bundesregie-rung und Sozialpartner waren sich deshalb einig, daßeine Förderung durch die Bundesanstalt auch in Zu-kunft nur dann erfolgen soll, wenn die AltersteilzeitBeschäftigung schafft.

Was ist neu? Mit der Änderung kommen wir denForderungen von vielen Teilzeitbeschäftigten, insbeson-dere der Frauen, nach. Wir berücksichtigen damit diegroße Gruppe der Personen, die bisher keine Altersteil-zeit in Anspruch nehmen konnte. Der Wechsel in Al-tersteilzeit soll künftig auch Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern möglich sein, die bereits teilzeitbeschäftigtsind. Sie sollen dazu – wie Vollzeitbeschäftigte – ihrebisherige Arbeitszeit halbieren. Auch nach der Vermin-derung ihrer Arbeitszeit müssen sie voll versicherungs-pflichtig, also nicht nur geringfügig beschäftigt, sein.Der zweite Punkt betrifft Erleichterungen bei der Wie-derbesetzung. Wiederbesetzung ist die wichtigste Vor-aussetzung für die Förderung durch das Arbeitsamt.Wenn für den ausscheidenden Beschäftigten ein Ar-beitsloser oder ein neu Ausgebildeter eingestellt wird,dann ist die Förderung unproblematisch.

In der Praxis ist dies aber häufig nicht der Fall. Des-halb müssen umfangreiche Wiederbesetzungskettennachgewiesen werden – mit einem erheblichem Auf-wand für die Betriebe. Künftig wird dieser Nachweiserleichtert. So soll künftig der Nachweis aller Gliedereiner Kette nicht mehr zwingend erforderlich sein, diebei der Umsetzung zwischen den in Altersteilzeit gehen-den Mitarbeitern und den neu eingestellten Mitarbeiterneine Rolle spielen. Für kleine und mittlere Unternehmenmit bis zu 50 Arbeitnehmern gehen wir noch einenSchritt weiter, um Bürokratie abzubauen. Bei diesenUnternehmen ist in der Regel davon auszugehen, daß sieim Zusammenhang mit dem Ausscheiden eines Mitar-beiters in Altersteilzeit einen Arbeitslosen als „Ersatz“einstellen. Hier wird der Nachweis der Wiederbesetzungeinfach unterstellt. Die Wiederbesetzung erfüllen Unter-nehmen mit bis zu 50 Beschäftigten auch durch die An-stellung eines Auszubildenden. Bisher war diese Rege-

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lung auf Unternehmen mit bis zu 20 Arbeitnehmern be-schränkt.

Last but not least vereinfacht der Gesetzentwurf dieVerfahren, um Altersteilzeit zu beantragen und geneh-migen zu lassen. Das schafft Planungssicherheit bei derAnwendung des Rechts und vermeidet unnötigen Ver-waltungsaufwand.

Der Gedanke der Altersteilzeit und die Neuregelunghaben vor allem arbeitsmarktpolitische Aspekte. So ge-sehen profitieren davon im Ergebnis besonders jüngereMenschen, die einen Arbeitsplatz suchen. Aber auch äl-teren Beschäftigten bringt die Altersteilzeit einen großenGewinn. Sie schafft nämlich die Voraussetzungen fürmehr Lebensqualität, ein ganz anderer Aspekt, der in derDiskussion häufig vernachlässigt wird.

Natürlich können wir heute nur schwer prognostizie-ren, wie häufig Altersteilzeit zukünftig in Anspruch ge-nommen wird. Das hängt sowohl vom Verhalten der Ta-rifparteien als auch der einzelnen Arbeitgeber und Ar-beitnehmer ab. Wir verbessern aber mit dem Gesetzent-wurf die Ausgangsbedingungen, damit Altersteilzeitbreiter genutzt werden kann. Deshalb sind wir zuver-sichtlich, daß die Praxis das verbesserte Gesetz auchverstärkt nutzen wird. Die Voraussetzungen dafür wer-den heute geschaffen. Ich hoffe, daß der Gedanke derAltersteilzeit im Anschluß daran viele neue Freunde undAnhänger findet – bei den Tarifparteien, bei den Ver-antwortlichen in den Unternehmen und bei den Be-schäftigten. Jetzt kommt es darauf an, daß alle Verant-wortlichen Werbung machen für dieses Arbeitszeit-Modell.

Anlage 4

Erklärung

des Abgeordneten Paul K. Friedhoff (F.D.P.)

zur namentlichen Abstimmung über den Ent-wurf eines Gesetzes über die Feststellung desBundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr2000 – Drucksachen 14/1400, 14/1680, 14/1901bis 1924 – Tagesordnungspunkt II (74. Sitzung,26. November 1999, Seite 6833)

In der Abstimmungsliste ist mein Name unter den Ja-Stimmen aufgeführt. Ich erkläre, mein Votum lautet„nein“.

Anlage 5

Amtliche Mitteilungen

Der Bundesrat hat in seiner 745. Sitzung am 26. No-vember 1999 beschlossen, den nachstehenden Gesetzenzuzustimmen, bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab-satz 2 Grundgesetz nicht zu stellen:

– Gesetz zur Sanierung des Bundeshaushalts (Haushaltssanie-rungsgesetz – HSanG)

– Gesetz zur Fortführung der ökologischen Steuerreform

– Gesetz über die Änderung währungsrechtlicher Vorschrifteninfolge der Einführung des Euro-Bargeldes (Drittes Euro-Einführungsgesetz – Drittes EuroEG)

– Gesetz über die Umwandlung der Deutschen Siedlungs- undLandesrentenbank in eine Aktiengesellschaft (DSL Bank-Umwandlungsgesetz – DSLBUmwG)

– Gesetz zur Änderung insolvenzrechtlicher und kreditwesens-rechtlicher Vorschriften

– Gesetz zur Verleihung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit andie Internationale Kommission zum Schutze des Rheins(KSRRechtsG)

– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 9. September 1998 zwi-schen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland, derRegierung der Französischen Republik, der Regierung derItalienischen Republik und der Regierung des VereinigtenKönigreichs Großbritannien und Nordirland zur Gründungder Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation (Or-ganisation Conjointe de Coopération en Matière d’Armement)OCCAR (OCCAR-Übereinkommen)

– Gesetz zu dem Abkommen vom 5. November 1998 zwischender Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Re-gierung der Arabischen Republik Ägypten über ihre gegen-seitigen Seeschiffahrtsbeziehungen

– Zweites Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zumGerichtsverfassungsgesetz

Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse habenmitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu dernachstehenden Vorlage absieht:

Innenausschuß

– Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für die Un-terlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deut-schen Demokratischen Republik

Vierter Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für dieUnterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligenDeutschen Demokratischen Republik – 1999

– Drucksachen 14/1300, 14/1577 Nr. 4 –

Ausschuß für Kultur und Medien

– Erster Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Zukunftder Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – DeutschlandsWeg in die Informationsgesellschaft“ gemäß Beschluß desDeutschen Bundestages vom 7. Dezember 1995

zum Thema

Meinungsfreiheit – Meinungsvielfalt – Wettbewerb

Rundfunkbegriff und Regulierungsbedarf bei den Neu-en Medien

– Drucksachen 13/3219, 13/6000, 14/272 Nr. 13 –

– Schlußbericht der Enquete-Kommission „Zukunft derMedien in Wirtschaft und Gesellschaft – DeutschlandsWeg in die Informationsgesellschaft“

zum Thema

Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft

– Drucksachen 13/11004, 14/272 Nr. 181 –

Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit-geteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das EuropäischeParlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be-ratung abgesehen hat.

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7120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 3. Dezember 1999

(A) (C)

(B) (D)

Ausschuß für Wirtschaft und Technologie

Drucksache 14/671 Nr. 2.8Drucksache 14/671 Nr. 2.9Drucksache 14/671 Nr. 2.31Drucksache 14/1276 Nr. 2.24Drucksache 14/1617 Nr. 2.10Drucksache 14/1617 Nr. 2.17Drucksache 14/1617 Nr. 2.21Drucksache 14/1617 Nr. 2.26Drucksache 14/1617 Nr. 2.28Drucksache 14/1617 Nr. 2.34Drucksache 14/1617 Nr. 2.38Drucksache 14/1617 Nr. 2.40Drucksache 14/1617 Nr. 2.41Drucksache 14/1617 Nr. 2.48Drucksache 14/1617 Nr. 2.55Drucksache 14/1617 Nr. 2.56Drucksache 14/1778 Nr. 2.11Drucksache 14/1778 Nr. 2.14

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ISSN 0720-7980