Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

31
Platons 'Ungeschriebenen Lehren': derVortrag 'uber dasGute' K.-H. ILTING I n der Platonforschung geht wieder ein Gespenst um: das Gespenst des Esoterismus.l Das ist nicht neu, aber der Zeitpunkt ist erstaun- lich. Denn vor anderthalb Jahrhundertenwar die Meinung derer, die die moderne Platonforschung begriindeten, in der Konfrontation mit der neuen Wissenschaft lose sich die Vorstellung einer esoterischen Philosophie Platons in nichts auf. So beendete Eduard Zeiler seine 'Platonischen Studien' mit dem Satz: "Sollte (die gegenwartige Untersuchung) dazu beigetragen haben, das Gespenst eines esoteri- schen Platonismus zu verscheuchen, so wiirde dies nicht zu verachten- der Gewinnsein." Diese Bemerkung Zellers ist auch darum interessant, weil sie am SchiuB einer Abhandlung fiber die Darstellung der platonischen Philosophie bei Aristoteles steht. Die Rekonstruktion des aristoteli- schen Platonbildes, die heutzutage Platons esoterische Philosophie freilegen soll, diente den Begriindern der modemen Platonforschung zur Widerlegung der Meinung, Platons "eigentliche" Philosophie sei eine Geheimlehre gewesen. A. Brandis hat mit seiner Schrift 'De perditis Aristotelis libris de ideis et de bono s. philosophia' (1823) die Voraussetzung zu einer Analyse des aristotelischen Platonbildes geschaffen. Heute ist nicht mehr zweifelhaft: Wenn man verstehen will, wie Aristoteles zu seiner jeden Platonleser iiberraschendenDarsteilung gekommen ist, so muB man zunachst auf diese beiden aristotelischen Friihschriften zuriick- gehen. Mit seiner Berliner Dissertation 'Platonis de ideis et numeris 1 Vgl. H. J. Krimer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Abh. Akad. Wiss. Heidelberg, philos.- Hist. KI. 1959, 6; ders., Mus. Helv. 21, 1964, 137-167; ders., Kantstudien 55, 1964, 69-101; ders., Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begriindung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963; ders., Arch. f. Gesch. d. Philos. 46, 1964, 241-292; ders., Synousia (Schadewaldt-Festschrift), Pfullingen 1965, 173-222; ders., Frankfurter All- gemeine Zeitung 23. 10. 1965; Klaus Oehler, Hermes 93, 1965, 397-407; ders., Zeitschr. f. philos. Forschg. 19, 1965, 393-420. 1

description

Phronesis, Vol. 13, No. 1 (1968), pp. 1-31

Transcript of Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Page 1: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Platons 'Ungeschriebenen Lehren': der Vortrag 'uber das Gute'

K.-H. ILTING

I n der Platonforschung geht wieder ein Gespenst um: das Gespenst des Esoterismus.l Das ist nicht neu, aber der Zeitpunkt ist erstaun- lich. Denn vor anderthalb Jahrhunderten war die Meinung derer,

die die moderne Platonforschung begriindeten, in der Konfrontation mit der neuen Wissenschaft lose sich die Vorstellung einer esoterischen Philosophie Platons in nichts auf. So beendete Eduard Zeiler seine 'Platonischen Studien' mit dem Satz: "Sollte (die gegenwartige Untersuchung) dazu beigetragen haben, das Gespenst eines esoteri- schen Platonismus zu verscheuchen, so wiirde dies nicht zu verachten- der Gewinn sein."

Diese Bemerkung Zellers ist auch darum interessant, weil sie am SchiuB einer Abhandlung fiber die Darstellung der platonischen Philosophie bei Aristoteles steht. Die Rekonstruktion des aristoteli- schen Platonbildes, die heutzutage Platons esoterische Philosophie freilegen soll, diente den Begriindern der modemen Platonforschung zur Widerlegung der Meinung, Platons "eigentliche" Philosophie sei eine Geheimlehre gewesen.

A. Brandis hat mit seiner Schrift 'De perditis Aristotelis libris de ideis et de bono s. philosophia' (1823) die Voraussetzung zu einer Analyse des aristotelischen Platonbildes geschaffen. Heute ist nicht mehr zweifelhaft: Wenn man verstehen will, wie Aristoteles zu seiner jeden Platonleser iiberraschenden Darsteilung gekommen ist, so muB man zunachst auf diese beiden aristotelischen Friihschriften zuriick- gehen. Mit seiner Berliner Dissertation 'Platonis de ideis et numeris

1 Vgl. H. J. Krimer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Abh. Akad. Wiss. Heidelberg, philos.- Hist. KI. 1959, 6; ders., Mus. Helv. 21, 1964, 137-167; ders., Kantstudien 55, 1964, 69-101; ders., Der Ursprung der Geistmetaphysik. Untersuchungen zur Geschichte des Platonismus zwischen Platon und Plotin, Amsterdam 1964; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begriindung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963; ders., Arch. f. Gesch. d. Philos. 46, 1964, 241-292; ders., Synousia (Schadewaldt-Festschrift), Pfullingen 1965, 173-222; ders., Frankfurter All- gemeine Zeitung 23. 10. 1965; Klaus Oehler, Hermes 93, 1965, 397-407; ders., Zeitschr. f. philos. Forschg. 19, 1965, 393-420.

1

Page 2: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

doctrina ex Aristotele illustrata' (1828) hatte Trendelenburg das von Brandis angeschlagene Thema aufgenommen. Zellers Abhandlung von 1839 war die dritte wissenschaftliche Studie uiber diesen Gegen- stand. Aber ebenso wie Trendelenburg2 wollte Zeller seine Analyse der aristotelischen Darstellung als Beitrag zur Widerlegung einer angeblichen esoterischen Philosophie Platons verstanden wissen.

Aristoteles liuBt nirgends erkennen, schon Zeller hat das festgestellt,3 daB die Quelle seiner Darstellung eine Geheimlehre war, die den eso- terischen Hintergrund der platonischen Dialoge gebildet hatte. Der inzwischen erreichte Stand der Forschung erlaubt die Feststellung, daB die Quelle der aristotelischen Nachrichten fiber Platon weder eine esoterische noch eine (wie es manchmal etwas vorsichtiger heiBt) "innerakademische" Lehre Platons ist.

Alle in den erhaltenen Schriften des Aristoteles vorkommenden Nachrichten fiber Platons philosophische Lehren, die nicht in den platonischen Dialogen bezeugt sind, lassen sich entweder als spaitere Interpretation des Aristoteles erklaren oder auf die beiden von Brandis wiederentdeckten Schriften 'tJber die Ideen' und 'tJber das Gute' zuruickverfolgen.4 Nun behauptet niemand, die Schrift fiber die Ideen enthalte jene esoterische oder "innerakademische" Lehre Platons, da die Argumente dieser Schrift ganz eng mit den Lehren der platonischen Dialoge zusammenhangen. Die Schrift fiber das Gute aber ist lediglich die Nachschrift oder Ausarbeitung eines Vortrags, den Platon in seinem Alter 6ffentlich gehalten hat.

Wie Aristoteles namlich, einem Bericht seines Schuilers Aristoxenos zufolge,5 bei bestimmten Gelegenheiten zu erzahlen pflegte, kamen

2 Trendelenburg beginnt seine Dissertation mit der stolzen Bemerkung: An- tequam ostentum erat, quae esset certa sibique constans Platonis dialogorum continua series, qua sequens antecedenti tanquam fundamento nititur, et priori posterior lucem affundit: saepius factum est, ut historiae philosophiae interpretes, si quid obscuri et abrupti in dialogis invenisse sibi viderentur, ad arcanas quasdam Platonis scholas tanquam ad commune confugium decurrerent. 3 Philosophie der Griechen II 1, Leipzig 1922, 486 f. 4 Brandis identifiziert, wie der Titel seiner Untersuchung erkennen laft, die beiden aristotelischen Schriften 'Ober das Gute' und 'tVber die Philosophie'. Dieser Irrtum geht auf die Verwechslung beider Schriften bei den antiken Kommentatoren Simplikios (In de an. 28, 5 Hayduck) und Philoponos (In de an. 75, 34 Haydruck) zuruck. Abschliefend zur Auflosung dieses folgenreichen MiB3verstandnisses: H. D. Saffrey, Le Hlepl pXoocaoca d'Aristote et la th6orie platonicienne des idWes nombres, Leiden 1955, 7-23. 5 Aristox Harm. 2. 20.16-31. 3 Macran (= p. 111 Ross): K0&7rep 'ApLtao'iX-n &et 8vanyctroroy TO tru -trv &xoua&v-trcv 7rmp& fX&mcovog 'rv 7ep1 'r&yAOoi5 aCxp6-

2

Page 3: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

die meisten Zuhbrer in der Erwartung zu diesem Vortrag, sie wiirden etwas Bemerkenswertes fiber irgendeines der uiblichen menschlichen Guter wie Reichtum, Gesundheit oder Kraft erfahren, - Leute also, die vermutlich weder einen sokratischen Dialog, und sei es auch nur von ferne, kennen gelernt, noch gar Platons Darlegungen fiber die transzendente Idee des Guten im Mittelstiick der 'Politeia' gelesen haben k6nnen. Selbst Novizen der platonischen Akademie oder die Kandidaten, die in sie aufgenommen zu werden wiinschten, werden nicht so ganzlich unvorbereitet gewesen sein, daB sie mit ahnlichen Erwartungen zu einem Vortrag Platons erschienen waren. Man kann die Lehren, die vor einem so wenig vorbereiteten Publikum vorgetragen wurden, nicht einfach "esoterisch" oder "innerakademisch" nennen.6

Da Platons Vortrag offenbar allgemein zuganglich und doch wohl auch nicht geradezu improvisiert, sondern nach einem vorbereiteten Manuskript gehalten war, unterschied er sich der Art seiner Ver- breitung nach von den veroffentlichten Dialogen nur dadurch, daB Platon das Manuskript seines Vortrags weder sofort noch spater zur Vervielfaltigung freigab. Veroffentlicht war dieses Manuskript indes durch eben diesen Vortrag, wenn anders der eigentlich editorische Akt, nach Dirlmeiers kuirzlicher Feststellung,7 im Vorlesen des Ma- nuskripts bestand.

Was bei Platons Vortrag fiber das Gute ausblieb, ist allein die

OSOLV 7M(OCV. 7rpoaLikVa O yVp oXCaXovo 67oXx4vov'x )B4JeaOOa( ' L Th)Vt ?v vot0o[Av(V 'ro6'rwv &vOptonvov &yaOi4v otov 7Xoi3'ov uty(cLxv IaXiv 'o6 V?ov ?VSaLovEav 'nva

Omup.asa'v. 6're 8i qpv-av ot X6yoL 7tpl 6m6&'Lckv xxl &pLO.LGv xal yc'p(ojptcr x.l &crpoXoy[ocq xxl TO 7ripas 68TL &yc66v $tv Ev, Xv'reqX olFt =rp&8ot6v 'rL

padve-co oc&otr E eol [L&v U7oxMTC9p6vouv to5 np&yFawoq ot 8& xavcptoVwo. 6 G. J. De Vries (Marginalia bij een esoterische Plato, Tijdschrift voor Philo- sophie 26, 1964, 705-709) erinnert daran, daB noch Platons Spatphilosophie in der zeitgenossischen Komodie verspottet wurde und eine gewisse allgemeine Bekanntschaft mit akademischen Lehren ohne weiteres beim athenischen Publikum vorauszusetzen ist. - H. Herter (Platons Akademie, Bonn 1946, 13) betrachtet den platonischen Vortrag als "zusammenhangende Darlegung zur Einfiihrung der Neulinge". - Moderne Interpreten neigen, zumal seit Cohen und Usener, dazu, sich die platonische Akademie nach dem Muster ihrer eigenen Universitaten vorzustellen: vgl. H. Cherniss, The riddle of the early Academy, Berkeley, Calif. 1945, 61-63. - Zu den Versuchen, den Vortrag uber das Gute zu einer regelmiifig gehaltenen Vorlesungsreihe zu machen: vgl. G. Vlastos, Gnomon 35, 1963, 650-652; Ph. Merlan, Gymnasium 72, 1965, 545 f. 7 Merkwurdige Zitate in der Eudemischen Ethik des Aristoteles, Sitz.-Ber. Heidelberg, phil.-hist. Kl. 1962, 9; vgl. Fr. Kenyon, Books and readers in ancient Greece and Rome, Oxford 1951w, 25.

3

Page 4: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

buchh5mdlerische Edition. Unvollkommen wurde sie spater, vermutlich schon vor dem Jahre 352 und ohne die Zustimmung Platons, von mindestens funf Schiilern, darunter Aristoteles, durch die Verbreitung von Nachschriften und Ausarbeitungen nachgeholt. Aus dieser Sach- lage erklart sich der Titel, mit dem sich Aristoteles einmal auf den platonischen Vortrag bezieht: Er spricht von den 'Ungeschriebenen Lehren' Platons, d.h. von bestimmten, unter diesem Titel bekannten Lehren;8 so bezeichnet konnten sie doch wohl nur darum werden, weil sie im Unterschied zu allen anderen Lehren Platons nicht schrift- lich vorlagen. Die Bestimmtheit dieses Titels stellt also klar, daB3 es eine sonstige miindliche Lehrtatigkeit Platons nicht gegeben hat. Aber selbst wenn Platon in der Akademie philosophische Vorlesungen gehalten hatte, Nachrichten dariuber konnten bisher nicht nachge- wiesen werden. Als Quellen der platonischen Philosophie kommen demnach fur uns, auler den platonischen Dialogen, nur noch die Nachschriften des Vortrags fiber das Gute und allenfalls die Frag- mente der aristotelischen Schrift fiber die Ideen in Betracht.

Das philosophiegeschichtliche Interesse an der Rekonstruktion des Vortrags fiber das Gute liegt auf der Hand. Es betrifft zum ersten das Verhaltnis Platons zu seinen Schuilern und unter ihnen vor allem zu Aristoteles. Wir wissen inzwischen, daB die traditionelle Gegen- uberstellung des Idealisten Platon und des Realisten Aristoteles, wie sie etwa Raffaels Fresko in der Stanza della segnatura zugrunde liegt und noch Werner Jaegers Deutung der philosophischen Ent- wicklung des Aristoteles tragt, eine Tauschung war. Schon Hegel hat sie uibrigens uiberlegen zuriickgewiesen.Y Die Kontinuitat zwischen Platon und Aristoteles ist viel stairker, als die herbe Platonkritik des Aristoteles ahnen lieB3; auch die groBe Frage nach der Einheit der aristotelischen Metaphysik kann heute nur noch von der Spatphilo- sophie Platons her angegangen werden.

Zum anderen hangt die Gesamtinterpretation der platonischen Philosophie entscheidend davon ab, welche Bedeutung man den Lehren des Vortrags fiber das Gute im Gesamtwerk Platons zuzu- schreiben hat. Erstens niimlich handelt es sich darum, das Verhiiltnis der in den Dialogen mitgeteilten Philosophie zu den 'Ungeschriebenen

8 Arist. Phys. A 2, 209 b 11 -16: At6 xac ItIXkrcv '9v 5)nv xxl 'v X?pav aur6

pqatv Elvm & v 'r TL.cxEcp 'r6 y&p ",rmXr=Tx6v xxM rqv Xpcxv tv xacl 'rcTmr6v. Mov

8i -p67rov &xet m 'yvr6 T C 7)7rrTLXV xoc &v roLq )yOvyLkvoLt &ypkpOLq 86y?aMclv,

6[Lcaq 'rv T67rov xml '?v xcvpav s'o Crr &cinpvao. 9 Geschichte der Philosophie, WW XIX (XVIII) 299.

4

Page 5: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Lehren' zu ermitteln, und zweitens kommt es dadurch zu einer wichti- gen Vorentscheidung fiber die Frage, ob die platonische Philosophie einheitlich oder entwicklungsgeschichtlich interpretiert werden muB.

Die Aufgabe der folgenden Darlegungen ist es, eine moglichst zu- verlassige Vorstellung von Platons Vortrag zu geben. Nachdem Paul Wilpert'0 und Harold Cherniss" die Ergebnisse ihrer Forschungen vorgelegt haben, sind die Bedingungen ffir einen solchen Versuch ungemein giinstig. Es soll sodann die These vertreten werden, daB Platons Vortrag fiber das Gute, so wie er der athenischen Offentlich- keit und den Mitgliedern der Akademie bekannt geworden ist, ein Systemfragment blieb. Abschliel3end werden einige Bemerkungen fiber die Stellung des Vortrags im Ganzen der platonischen Philosophie vorgebracht, die eine Datierung des Vortrags in die Zeit zwischen 360 und 355 nahelegen.

DaB Platon in seinem Vortrag 'fiber das Gute' nicht von ethischen Fragen handelte, geht schon aus der Anekdote des Aristoxenos her- vor. Danach beschaftigte sich Platon mit Mathematik im weitesten Sinne, namlich mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie. Es ist allerdings zu bezweifeln, daB Platon auch die Astronomie behandelt hat; sicher aber hatte das in der Linie des Vortrags gelegen. Genauere Anga- ben fiber Inhalt und Gang des Vortrags finden wir bei Theophrast12:

In seiner Zuruckfuhrung auf die Prinzipien scheint Platon alles ubrige in den Griff zu bekommen, indem er es an die Ideen anknupft, diese aber von den Zahlen abhangen laMt und von ihnen den tbergang zu den Prinzipien macht. Darauf fuhrt er, in der Richtung des Werdens und Entstehens, seine Unter- suchung bis zu den genannten Gegenstanden hin durch.

Theophr. Metaph. 6 b 11-15

Der Vortrag fiber das Gute war also eine Abhandlung fiber die Prin- zipien, in der von Arithmetik und Geometrie nur im Hinblick auf die

10 Hermes 76, 1941, 225-250; Zwei aristotelische Friihschriften uber die Ideen- lehre, Regensburg 1949. 11 Aristotle's criticism of Plato and the Academy, Baltimore 1944. The riddle of the early Academy, Berkeley 1945 (iibers. v. J. Derbolav: Heidelb. (C. Winter) i. Vorb.) - Durch diese Arbeiten ist der zuvor bedeutendsten Untersuchung uber die Darstellung der platonischen Philosophie bei Aristoteles, L. Robin, La th6orie platonicienne des idees et des id6es-nombres d'apres Aristote (Paris 1908), der Boden entzogen. 12 Theophr. Metaph. 6 b 11-15: ll)Tcav iiv o5v &v 'p &Tvai&ynv cs ?ts asP%

86OeLeV &V &7r'eaOmL 'Cv &X&v e?t r& tas &v&,=TCV, aU-OCq 8't5 'ro6q &pLOto6q, a o 'M ?t pxa5, etTo xvr& risv y?vCaLv p?XpL 'CE? CtpLV&V.

5

Page 6: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Prinzipien des Seienden die Rede war. Nach den Angaben des Theo- phrast gliederte er sich in mindestens zwei Teile: Zuerst handelte es sich darum, das Seiende auf dem Wege iiber Ideen und Zahlen auf die Prinzipien zuriickzufiihren; darauf soilte das Seiende, umgekehrt, aus den Prinzipien irgendwie hergeleitet werden. Mit diesem metho- dischen Programm liiBt sich bequem eine Bemerkung des Aristoteles in der 'Nikomachischen Ethik' verbinden :13

Wir durfen nicht vergessen, daB die Darlegungen, die von den Prinzipien aus- gehen, und diejenigen, die auf sie hinfuhren, verschieden sind. Vorzuglich hat auch Platon dies zum Gegenstand einer kritischen Untersuchung gemacht; ob der Weg von den Prinzipien weg oder auf sie hinfuhrt, ebenso wie im Stadion die Bahn von den Kampfrichtern weg bis hin zur Wendemarke und wieder zuruck. Beginnen musse man namlich mit dem Bekannten; dies aber habe eine zweifache Bedeutung. Teils sei es das fur uns Bekannte, teils sei es schlechthin bekannt.

Arist. EN A 4, 1095 a30 - b3

Die Unterscheidung der beiden Methoden hat Platon (vermutlich in der Einleitung seines Vortrages) in Anlehnung an das bekannte Heraklit-Wort, Hin- und Riickweg seien dasselbe, erliutert: Beide Wege, so konnte man heraklitisierend sagen, sind dasselbe und nicht dasselbe; was in der Bewegung auf die Prinzipien hin das erste ist, das erweist sich in der Bewegung von den Prinzipien her als das letzte (und umgekehrt). Nun ist aber das in der Bewegung auf die Prinzipien hin Erste das in der Bewegung unseres Erkennens zuerst Bekannte, also das fur uns Erste, und das Ende dieser Bewegung, die Prinzipienerkenntnis, das fur uns Letzte; in der Begriindung der Erkenntnis hingegen sind die Prinzipien das Erste und das Objekt der Wahrnehmung das Letzte. Es lag nahe, und spatestens Aristoteles hat das bekanntlich getan, den Anfang der einen Bewegung als das 7rp6-repov 7cp6( 4p und den Anfang der anderen als das 7tp6'repov q cpuaet zu bezeichnen.14 Man weiB, welche Bedeutung die Unterschei-

" Arist. Eth. Nicom. A 4, 1095 a30-b3: M' )uvOacvk-wA 8'"& OTC 8taq&)pOucLv ol &7r6 'rCov &pXCov X6yOl xal ot &nd vx'r &pXi&. ci y&p 6 HaXc,.'v ~ir6pct 'ro5,ro xot C4'T?L, 7r6'cpov &r6 'rCv &pXov % &i '' &pXi& &artv i o86q, &car7ep &v 'rxC aTcX&c

&n6 'Cv &OXo-cO&v &nt4 Tr npa & v&inXmLv. &pX'rov Vkv y&p &s4 t@v yvwp[up wv, r &;aS 8t-rG)& 'a' TiLV yap iFlvr 8'&c\X&g. "4Anal. Post. A 2, 71 b33-72 a6; vgl. Top. Z 4, 141 a23-142 a16; Phys. A 1, 184 a 16-21; Metaph. Al 11, 1019 a 2-4; Z 3, 1029 b 3-12. - Der Ausdruck 7rpr7rov (7p6'Tcpov) t q uVac begegnet bereits in den Hept ?r&yaOo5 - Referaten des Alexander von Aphrodisias (in met. 55,23; ap. Simpl. in phys. 454,23) und in den Divisiones Aristoteleae des Codex Marcianus (p. 64, 15-19 Mutschmann u.o.).

6

Page 7: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

dung dieser beiden Wege in der aristotelischen Philosophie und in aller spateren Methodologie, etwa unter den Titeln 'Induktion und De- duktion', 'Analyse und Synthese', 'metodo risolutivo-compositivo', erhalten hat. In Platons Vortrag iiber das Gute hat diese Unterschei- dung ihren geschichtlichen Ursprung, wenn auch ihre Voraussetzungen teils in Demokrits Atomismus, teils in Platons friiherer Methodologie zu suchen sind, - erinnert sei nur an Synopsis und Diairesis, an die hypothetische Methode, an das Hohlengleichnis und damit an die Lehre von der Wiedererinnerung. In der Methodenlehre des Aristoteles sind zwar auch diese weiterreichenden Zusammenhiinge platonischen Denkens noch gegenwartig. Der AnstoB kam jedoch zweifellos von Platons Vortrag fiber das Gute und die Prinzipien.15

I. Es ist nun zunachst Platons Darstellung des Aufstiegs von den Erscheinungen zu den Prinzipien und hier wieder die (laut Theophrast) erste Phase, die Verkniipfung der Erscheinungen mit den Ideen, zu betrachten.

1. DaB Platon von einem gewissen Zeitpunkt an die in der Wahr- nehmung gegebenen Erscheinungen stets in irgendeiner Weise mit den Ideen verkniipft und dies auch in seinem Vortrag getan hat, steht auBer Zweifel. Das wird auBer durch Theophrast auch noch von zwei anderen wichtigen Autoren, Alexander von Aphrodisias und Sextus Empiricus, bezeugt.16 Diese berichten uiberdies uibereinstimmend, nach Platons Lehre sei das Werdende auf die Ideen "hingeordnet" (np64 Iroca,; M elvcL). Nach den Fragmenten der aristotelischen Schrift fiber die Ideen ist diese Wendung als Hinweis auf den paradigmatischen Charakter der Ideen zu verstehen.17 Platon hat demnach noch in seinem Vortrag eine Form der Ideenlehre vertreten, die Aristoteles in der 'Metaphysik' einmal ausdruicklich als die "fruihere" Gestalt

"6 Gerade die frihen methodologischen Bemerkungen des Aristoteles (vgl. z.B. Top. Z 4; Protrept. fr. 5 Ross = Iambl. Protr. 38, 3-14 Pistelli; Metaph. A 11, 1019 a 2-4) verweisen immer wieder auf den Vortrag fiber das Gute. 16 Alex. in met. 55, 26-56, 2 (= p. 113-114 Ross): Tx c181 7npir' T xal al Wcu

7ep&)rOxL 'rCv p W'or& v Kvc' OXC'Yr6v xKct 7mmp ou'vr 'vo CIvL iX6vrcoV (& OnL a-Tt,

8L& 7=XCL6VWV &knlp&o 8O CLXV6VL), Sext. Emp. Adv. Math. X 258: 'Igo6 yap xat (Xi W8OL &a(Y)tLxr.oL O5coCL xaOc1xa r6v fl? &Va 7poo(piasm r6v a6?vitv, xol gxmKwrov

,rDv yLwo4vscov 7p6q OC'UT'vO yEVE'Mxt.

17 Das auf die Idee Hingeordnete (TOC 7rp6q Tr t& aq yLv6>cv) ist in Alexanders Referaten aus der Schrift fiber die Ideen das Bild (elx'v) im Verhaltnis zum Modell (ncxp&8ictys): Alex. in met. 86, 16-24 = p. 127, 13-21 Ross).

7

Page 8: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

der Ideenlehre bezeichnet.18 Das verdient nicht zuletzt darum fest- gehalten zu werden, weil der Vortrag fiber das Gute der einzige Ort ist, wo Platon neben diese "friihere" Form der Ideenlehre eine spatere (die Ideen-Zahlen-Theorie) gestellt haben k6nnte.

2. Wenn Theophrast berichtet, Platon habe die Erscheinungen zuerst an die Ideen und dann die Ideen an die Zahlen "angeknuipft", so setzt auch dies voraus, daB Platon in seinem Vortrag die Ideen als eine selbstandige Klasse von Gegenstanden zwischen den Erscheinun- gen und den Zahlen ansetzte. Dagegen steht aber das Zeugnis des Aristoteles, Platon habe zwischen Ideen und Erscheinungen unter- schieden und den mathematischen Gegenstanden den Ort zwischen diesen beiden Bereichen zugewiesen; die Ideen aber habe er als Zahlen begriffen.19 Nach der einen Version hatte Platon die Ideen auf Zahlen zuriickgefiihrt, nach der anderen hatte er sie mit den Zahlen identifiziert.

Angesichts dieser widerspriichlichen Aussagen ftilt auf, daB Aristo- teles weder anzugeben vermag, wie man sich diese angebliche Identifi- kation von Ideen und Zahlen zu denken habe, noch Beispiele daf ur an fiihren kann, welche Idee denn nun nach Platon mit welcher Zahl identifiziert werden soll, noch uberhaupt eine Regel mitteilt, nach der man bestimmte Ideen bestimmten Zahlen zuordnen konnte; und was

"8 Metaph. M 4, 1078 b 9-13: T*v 18tav &xv &? kntcwrov, I-0^v &udiOVW

pk 'r?v 'V ov &ptOtLov cp6aL, &)X' 5; 6)7s&?aov kt &pXNS ot npC&rOL. Als die ursprung- liche Auffassung fiuhrt Aristoteles zwar zunachst die Deutung der Idee als r6 xaO6%)ou Xcapw-r6v ein; spater (M 5, 1079 b 23-35) tritt die Idee jedoch auch als Paradigma auf. Nach Alexanders Ilcpl [8civ-Referat (in met. 86, 15, 127 Ross) heif3t 'Idee' nichts anderes als 'Paradigma': 'Eat B& 'I Mc r6 etvcxL L8&i IV t4 napC.EytLOt tlvaoc.

Die Feststellung, daB noch im Vortrag uber das Gute die Idee als Modell vor- gestellt wurde, scheint, ebenso wie die Deutung der Idee als Paradeigma im 'Timaios' (28 a 7), die These W. Kamlahs (Platons Selbstkritik im Sophistes, Zetemata 33, Munchen 1963) zu widerlegen, Platon habe seit dem 'Parmenides' die Urbild-Abbild-Beziehung nicht mehr zur Deutung der Ideenlehre verwendet (aaO 12ff.). Mit der prazisierten These (aaO 52), Platon habe eine bestimmte Form dieser Deutung der Idee (die Deutung des Verhiltnisses von Urbild und Abbild als Unterschied von Sein und Schein) in seiner Spatphilosophie preis- gegeben, sind die hier vorgetragenen Beobachtungen uber die Ideenlehre des Vortrags uber das Gute hingegen bequem zu vereinbaren. 19 Metaph. A 6, 987 b 22; A 9, 991 b 9. 992 b 15-16; A 8, 1073 a 17-19; M 7, 1082 b 23-29; M 8, 1083 a 17-18; M 9, 1086 a 11-12; N 2, 1090 a 16-17; N 3, 1091 b 26.

8

Page 9: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

wir bei Aristoteles vermissen, finden wir auch in der gesamten ubrigen Literatur nicht. Wohl aber kennen wir eine Argumentation des Aristo- teles, mit der er zu beweisen sucht, daB die Ideen entweder uberhaupt nicht existieren oder aber mit den Zahlen identifiziert werden miissen. Sie wird erg5nzt durch eine Beweisfiihrung Alexanders und beruht auf der tJberlegung, daB die Zahlen im System des Vortrags iiber das Gute genau diejenige Steile innehaben, die man nach platonischer Lehre den Ideen zuweisen miilte, - wenn es sie uiberhaupt soil geben k6nnen:

Wenn aber die Ideen nicht Zahlen sind, so k6nnen sie uiberhaupt nicht existieren. Denn aus welchen Prinzipien waren die Ideen? - Die Zahl ist namlich aus der Eins und der Unbestimmten Zweiheit, und von Pnnzipien und Elementen sagt man, sie seien Prin- zipien und Elemente der Zahl. - Die Ideen aber kann man den Zahlen weder vor- noch nachordnen.

Arist. Met. M 7, 1081 a 12-17

Als Prinzipien des Seienden setzten Platon und die Pythagoreer die Zahlen an. Denn zum Prinzip erklar- ten sie das Erste und das Voraus- setzungsfreie... Und da das Erste alles dessen, was auf sie hingeordnet ist, die Ideen seien..., nannten sie die Ideen Zahlen. Wenn niamlich das Eingestaltige von allem, was auf es hingeordnet ist, das Erste und nichts der Zahl vorgeordnet ist, so sind die Ideen Zahlen. Daher erk1irte er auch die Prinzipien der Zahi zu Prinzipien der Ideen und die Eins zum Prinzip von allem. Alex. in met. 55, 20-56, 4'0

Man kommt wohl um die SchluBfolgerung nicht langer herum, daB die altvertraute These von den platonischen Ideen-Zahlen, die so mancher Abhandlung in anderthalb Jahrhunderten den Titel gab, eine ziemlich schlecht fundierte Interpretation des Aristoteles war.

'l Ar. met. M 7, 1081 a 12-17

Et gi pL. ellsv &ptOFo act I8iML, 048' 0\(5

ot6v wc at&5 gtvaL. kx 'dV@V yap *eOv'roTL &PXCOV al I8UL; 6 y&p &pLO.L6; 1,rLV &x 'rol &66 xodl rq 8u&8oq rq &opEa'-ou, xMI Mt &pxad xad T& aT ot-

xCloc )?yov'xLt 'ToiU &pL6O[LO ctVOcL, 'r&cot ,re O6Ste npoipc; L8ixcrcXt -r&v dpLotArv

6. vk 056,60. pc

Alex. in met. 55, 20-56, 4 (= p. 113-114 Ross) 'ApXi& >LV TIV 6V-rWV TO69 &LpLe.LOi

fl1)\d Tte xal ol fluOay6petot n'7ve0-v'O gn 186xcL aol 'r 7p&Srov &.pA) cTVaL

xa lr6 &vso i68Ocov... xal biel 'r& tte rp&'rE( TC xal Ol& I L 7rpCTML 'TrV 7rp64

Ou'r& 6vrcov..., 'r Cti1 &tPLOtLO'J 1?C'YeV. ti yip 6 OVO8UU 7rp45rOV T45V 7rp6

auO'r& 6VTCEV, L1>86 8i 7rpc,trOV &-pLODLOS,

ct& &ttrJ ipLOLo(. &M xal -r&; 'ro5 &pLOt?oi5 &PX4 'r&@v 'rs ct8gv &.Pxa; 9tcycv CtvXt xal 'b TV 7r&wirCO.

9

Page 10: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Damit wird naturlich a fortiori eine Deutung der angeblichen pla- tonischen Ideen-Zahlen-Theorie hinf.ilig, die zumal in der deutschen Literatur der letzten vier Jahrzehnte eine bemerkenswerte Rolle gespielt hat: der Versuch, die Ideen-Zahlen mit Hilfe der diairetischen Methode zu deuten, den Julius Stenzel 1924 in seinem Buch 'Zahl und Gestalt' zum ersten Male vorgetragen hat. Danach soil sich aus der Stellung einer Idee in der sogenannten Begriffspyramide ihre Zuordnung zu einer bestimmten Zahl ergeben. Es gibt uibrigens, schon Sir David Ross hat das festgestellt,21 keinen Hinweis, daB die diairetische Methode irgend etwas mit den angeblichen Ideen- Zahlen zu tun hat. Aus der aristotelischen Schrift fiber die Ideen, die noch zu Platons Lebzeiten erschienen sein diirfte, wissen wir viel- mehr, daB es im Anschlul3 an Platons Vortrag zu Auseinandersetzun- gen zwischen den Anhangern der diairetischen Methode und (wenn dieser Ausdruck erlaubt ist) Vertretern des " Neuen Kurses" gekommen ist:

OYberhaupt hebt die Ideenlehre etwas auf, dessen Existenz uns wichtiger ist als die Existenz der Ideen: Es folgt aus ihr namlich, daB nicht die Zweiheit das Erste ist, sondern die Zahl und daB das Verhaltnis den Vorrang vor dem An- sichsein hat, und vieles andere, was gewisse Anh/anger der Ideenlehre gegen die Prinzipien vorgebrachi haben.

Arist. Met. A 9, 990 b 17-2222

21 There is no suggestion that aLSXpCaL5 has anything to do with it... The starting- point of Plato's derivation of number is not 8tc(pc3L5 at all. (Plato's theory of ideas, Oxford 1953, 195). 22 Arist. Metaph. A 9, 990 b 17-22: "OXC5 re 'dcvocpo5iLV oE nepl 'Cv et8rov X6yOl

a [i&XXov ?tVCL PouX6eO% 'o5 TOUTX t' i 8q5 ?9ct vV- UXvLPe y&p [L eZvat qv 8N'ax

Jpc@'qv, &XW '69v &pLOIL6v, xal 'o6 np64 ' O T zoU3 xa0'o &r, xoal nv'6aac rtLV&

cxoXou0O,)00cV 1T5 nept &v 18e&v 86cctq 7v LMc5 pXo5.

Aus der aristotelischen Schrift fiber die Ideen teilt Alexander (in met. 85, 18-86, 13) eine Reihe von Argumenten mit, die die zitierte Metaphysikstelle erklIren. Demnach stammten die Angriffe von anonym bleibenden Anhangern der Ideenlehre, die die diairetische Methode und die Prinzipienlehre des Vortrags uber das Gute fur unvereinbar hielten. Aristoteles stellte sich bereits in der Schrift uber die Ideen auf den Standpunkt, die von den Anhangern der Ideen- lehre vorgebrachten Argumente wurden in der Tat die Prinzipienlehre zer- storen, um hinzuzufugen: Damit hoben sie auch das durch die Prinzipien Kon- stituierte, die Ideen, auf; und folglich musse man eben die Ideenlehre fallen lassen (vgl. Alex. in met. 85, 18-21; 87, 24-88, 2).

10

Page 11: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Spuren der Geschichte dieser Auseinandersetzungen lassen sich in den logischen Schriften und in der 'Metaphysik' des Aristoteles nach- weisen.23

Man wird sich daher an die von Theophrast mitgeteilte Version zu halten haben, nach der Platon die Ideen auf Zahlen zuriickgefiihrt hat. Es bleibt freilich die Frage, was man in diesem Falle unter 'Zuriick- fiihrung' zu verstehen habe. Es gibt nur eine Stelle, die uns dariuber einigen AufschluB gibt, und sie befindet sich in einem besonders auf- falligen Kontext des an sich schon mancherlei Zweifeln ausgesetzten Sextus- Referats:

Aber (die Ideen) sind keineswegs Prinzipien des Seienden, wenn anders jede Idee fur sich genommen 'eine' genannt wird, zusammengenommen mit einer oder mehreren anderen jedoch 'zwei', 'drei' und 'vier'. Es gibt also etwas, was fiber ihre Seinsstufe hinausreicht, die Zahl, so daB die Eins oder die Zwei oder die Drei oder eine noch grofere Menge von Ideen ausgesagt werden kann, in- sofern sie an der Zahl teilhaben. Sext. Emp. Adv.math. X 25824

23 Es gab mehrere Versuche, diairetische Methode und Prinzipienlehre zu einer einheitlichen Theorie zu verbinden. Der wichtigste darunter ist die oft Platon (ohne hinreichenden Grund) zugeschriebene Lehre, Prinzip und Element des Seienden sei das Allgemeinste ('r6 xeom66ou ,u&Xta'm), die Aristoteles haufig be- handelt (bes. Met. B 3, 998 b 9-11. b 14-21; 3, 1014 b 6-9). In der 'Topik' scheint Aristoteles diese Lehre noch selbst vertreten zu haben (Top. Z 4, 141 b 29-30; vgl. 2, 123 a 14-15; Anal. Post. A 2,72 a 5; Cat. 13, 15 a 5), wahrend er sie in der Metaphysik bekanntlich widerlegt (B 3, 998 b 22-27; vgl. Z 16, 1040 b 16-27). Im Aporienbuch der 'Metaphysik' fuhrt Aristoteles die Auseinandersetzung zwischen Anhangern der diairetischen Methode und Vertretern der Prinzipien- lehre auf die Frage zuruck: Ob die allgemeinsten Gattungen oder die elemen- taren Bestandteile (. T.v &vu upX6vcw,v &a-dv &xa-rov 7rpcrwv) Prinzip und Ele- ment des Seienden seien (Met. B 3, 998 a 20-b14). Diese Alternative ist offen- bar fur die Ausbildung der aristotelischen Unterscheidung von Form- und Materialprinzip von grof3er Wichtigkeit gewesen (vgl. Phys. B 3, 195 a 16-21). Aus derselben Auseinandersetzung um die Prinzipienlehre des platonischen Vortrags uber das Gute stammt ein Argument, das Aristoteles in den Ethiken (EEA8, 1218 a 2-32; ENA4, 1096a17-23) gegen die Idee des Guten ver- wendet: Woc 18acr, o'ix g:a' np6repov (vgl. Alex. in met. 87, 9-19). Eine Rekonstruktion dieser folgenreichen innerakademischen Diskussion, die der platonische Vortrag ausloste, durfte manchen interessanten Aufschlu i uber die Entstehung der aristotelischen Metaphysik bringen. 24 Sext. Emp. Adv. math. X 258: 'A)X) o5x etaLV 'r&v 6v-rcv &pXxt, k7rclt7rp jxO'caT7

tLci xar' 18tav XxuOcavO[Lk Vw tvm stv X ycTzt, xa'r& ci6xAn; 8i itpocx e &XXv 860 xm pel xacl raaotpe, &ate etvod tL &n kvcePx6 iX6v 'Tr Voa'rdiecg, r6v &pLe06v, o6 x& pLToxivr b v r& 8o ' Tk rptm i 'r& Nou'rov (TL 7lovX intxaT-

11

Page 12: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Hier aber handelt es sich nicht darum, bestimmte Ideen auf bestimmte Zahlen zuriickzufiihren oder doch wenigstens bestimmte Zahlen und Ideen einander eindeutig zuzuordnen; es handelt sich um etwas viel Einfacheres: Da man eine Vielheit von Ideen annehmen miisse, so erfahren wir, sei iiber die Ideen hinauszugehen zu den Zahlen. Auf der Suche nach den Prinzipien und Elementen des Seienden, heiBt das, kann man nicht bei den Ideen stehen bleiben; aber das heift in keiner Weise, daB Zahlen die Prinzipien oder Elemente der Ideen sind oder daB man umgekehrt die Ideen aus Zahlen "ableiten" kann. Von einer anderen "Zuriickfiihrung" der Ideen auf Zahlen ist aber nirgends die Rede. Aus allem muB man, so scheint es, schlieBen, daB eine wirkliche Reduktion der Ideen auf Zahlen in Platons Vortrag iuber das Gute weder stattgefunden hat noch intendiert war. Aber ein groBer Teil der durch die aristotelischen Interpretationen verur- sachten Verwirrung diirfte darauf zuruickzufiihren sein, daB Platon weder in seinem Vortrag noch nachher nahere Erklarungen iiber das Verhiltnis seiner neuen Lehren zur alteren Ideenlehre gegeben hat.

3. Entweder vor oder nach2 dem soeben behandelten Abschnitt iiber die Ideen enthielt dieser erste Teil des platonischen Vortrags eine Zuriickfiihrung der K6rper auf Flachen, der Flachen auf Strecken und schlieBlich der Strecken auf Zahlen. Hier lag zweifellos der aus dem 'Timaios' gelaufige Gedanke zugrunde, daB die Elementar- teilchen der Korper aus den regelmiBigen K6rpern der Stereometrie gebildet und daher schlieBlich auf Elementarstrecken und Zahlen- verhiltnisse zuriickzufiihren sind. tJber diesen Abschnitt des Vortrags iuber das Gute lesen wir bei Alexander:

Das Erste der Korper seien die F1achen - der Natur nach Erstes sei namlich das Einfachere und das, was nicht mitaufgehoben wird -, das Erste der Flachen seien, aus demselben Grunde, Strecken, der Strecken aber Punkte. Die Punkte nennen die Mathematiker 'Marken', sie selbst nannten sie 'Einheiten', die ganz-

yOpetTC zCUTWV. tYber den zweifelhaften Quellenwert des Sextus-Berichts fur die Rekonstruktion des Vortrags uber das Gute: G. Vlastos, Gnomon 35, 1963, 644-648. Die Moglichkeit der Kontrolle durch andere Quellen erlaubt jedoch eine vorsichtige Benutzung. Die besondere Unsicherheit von X 258 rihrt daher, dalB Sextus in seinem ganzen Referat pythagoreische Lehren wiederzugeben meint, hier jedoch Platons Lehre dagegen absetzt. " Alex. (in met. 55, 20-56, 5) und Sextus (X 258-260) stimmen in der Reihen- folge nicht uberein.

12

Page 13: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

lich unzusammengesetzt seien und nichts mehr vor ihnen hatten. Die Ein- heiten aber seien Zahlen und Zahlen folglich das Erste des Seienden.

Alex. in met. 55, 22-28*6

Wie sich diese atomare Konstitution der Korper zur Teilhabe an den Ideen verhalten sollte, scheint in Platons Vortrag wieder unklar geblieben zu sein. Nachrichten daruiber haben uns jedenfalls nicht erreicht.27

Mit dieser Unklarheit hangt es zusammen, daB aus dem bisher Dar- gelegten nicht recht klar werden konnte, was bei dieser Zuriick- fiihrung auf Prinzipien denn nun eigentlich unter 'Prinzip' verstanden ist. In der Lehre von der atomaren Konstitution der Korper ist nach dem Ersten im Sinne von 'Elementarteilchen' oder, um einen aristote- lischen Ausdruck zu gebrauchen, nach dem Ersten, das in einem Seienden enthalten ist, gefragt (r6 -tp&Tov bvunoapov). Ein k6rperliches Gebilde kann aufgelost werden, ohne daB die ihn konstituierenden Elementarteilchen mitaufgelost werden. Ebenso kann man einen regelmaBigen geometrischen K6rper, wenigstens in der Vorstellung, auflosen, ohne die ihn begrenzenden Flachen mitaufzulosen. Das- selbe gilt auch fur das Verhaitnis von Fliichen zu Strecken und von Strecken zu Punkten oder (wohl mehr im Sinne des platonischen Vortrags: ) zu Zahlen.

4. 'Zuriickfiihrung auf Prinzipien' bedeutet im Bereich der Zahlen, da jede Zahl die jeweils vorangehende voraussetzt, da3 nach dem Anfangsglied der Zahlenreihe gefragt werden muB. Da das griechische Wort &pLOti64 nicht eigentlich 'Zahl' meint, sondern 'Menge' bedeutet, ist in der Zahlenreihe das Anfangsglied die Zwei. Die Frage nach den Prinzipien der Zahlen fiihrt daher auf die Frage, welche Prinzipien in der Zwei enthalten sind.

Die hier einsetzende Analyse, mit der der erste Teil des platonischen Vortrags abschloB, ist besser iuberliefert als irgendein anderer Ab- schnitt der aristotelischen Nachschrift. Sie liegt uns namlich einmal in einem zusammenfassenden Referat des Alexander von Aphrodisias

Alex. in met. 55, 22-26: Txv && &'cs>i v 7p&-rm s'a &brbctk ClvML (T& yip

OtWXO6:Ttpi aV9pot&cX p ' ) &w8Xv 8& yp aq..to xdr sr6v xi&6v X6yov, ypC[ uLCo Bi a'y[LmE, &q oL Oa.mOrqvrxol wtacTl a'ol 8c jiovk8mq E)eyov, &auvOe 7ravrc&7rxmLV 6v'X xol ou8v irpb mXrv lxovrm ot at l.ov&8c; &ptOI?oE, ol &PLOL0ol PMc 7rp&'tOL T&V 6V'CIV.

27 K. Gaiser (Platons ungeschriebene Lebre) versucht diese Lucke mit Hilfe einer "Dimensionalontologie" zu fallen; vgl. dazu meine Rezension: Gnomon 37, 1965, 131-144.

13

Page 14: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

zu Met. A 6, 987 b33 vor (d.i. zu jener Stelle, wo sich Aristoteles fiber die Funktion der Zweiheit in der Konstruktion der Zahlen au3ert); ein zweites Referat Alexanders iiberliefert Simplikios in seinem Physikkommentar; es stimmt genau mit jenem ersten Referat zusammen, ist aber von ihm unabhingig.28

Auszugehen ist von Platons Zahlbegriff: Er betrachtet die Zweiheit nicht einfach als eine Menge von zwei Elementen, sondern zugleich als eine synthetische Einheit dieser Elemente. Wie jede Menge ist sie zugleich eine Vielheit von Elementen und, als bestimmte Vielheit, eine Einheit. Aber auch die Elemente dieser Vielheit sind ihrerseits wieder Einheiten. Wenn man nun die Menge als Einheit setzt, so ist jedes Element kleiner als die Einheit; setzt man dagegen dieses Element als Einheit, so ist die Menge grdBer als die Einheit. Vom Element als Einheit her gesehen ist die Zweiheit das Doppelte; von der Menge als Einheit aus betrachtet, ist das Element die Halfte des Ganzen. Als Grundbegriffe zur Beschreibung der Zweiheit braucht man so zum ersten den Begriff der Einheit, - sie wird in doppelter Funktion, als Einheit der Menge und als Einheit der einzelnen Ele- mente der Menge, verwendet -, und zum anderen die Relation des

28 Alex. in met. 56, 21-32 (= p. 114-115 Ross) HIpIr@oT v & ptL6O4 S UXOcq a6r5 &pXxl TO -re cNepXov xcxt -r repcXg6e- vov. brl &v jLiv n &&u&8t 7rrpc')rf r6 &nXd&aLOv XOdt '6 i[Ltau r' TlAv y&p 8L7rX&aLOV xxt

T6 *tjaU UCpiXOV 'E xMc (itepCEX61uvoV, o6xENC 8U6 0 NrcpkXovr c xot 5tpcX64ie-

VOV 800,&CROV XXt ALC7U S sxeMa

TO5 8eX0aOMoU CtaVOC aTOLXe X.

xal knel 6ptaOkvta -r6 VeppXovr e xxl t6 U7repCX6OLCvOv 8Ls)aLOV xMI &L5Cuu yYE-v- SXm - oUx&Tt y&p &6pLa'r TamGrm, &anep O68i '6 Trpl&7r?aLOV xal 'r 'rptrov % -r

'rp7nX>&aLov % '&p'rov % t rCv &XXcv

Tr&v C'Op L pVV iX6vrcov 'tv u7t7poXv %8-, rOUTO 8i & r VO, Ucv6aL 7rOLCL (gv

yap gxm'nov, x06 TO68e T' &arl xal (pLa- ,vov), et& v a'rOLXclm 8u&80o '^q &v 'rotg

&pLOJLOtI 'r6 -re ev xmi '0 pym xal r6

I.LXp6V.

Alex. ap. Simpl. in phys. 454, 28-35 (= p. 116 Ross)

Xcy?v r6 Tr tv xmi 't kdym xalr6 ULLXp6v.

xoc6 y&p 8u& &a-kv, nXOoq xloc o'ty6- 'r-' XeLvtv & zury- xoc06 pLv r6 8t=X&- aLOV la'rLV kV XQ, 7rX7)0 (7tXi00q yap xt 67)poX L xXt -?ycE Tl6T 8L7X&CaLOV),

XCX06 8i lj5.LLa, UAty6rr-. 8L6 u'7cpoXyv xaL IXSLeJtV xal pdya xxl .lLXp6V ctVOCL kV mur~, _crm ucu

xa66 8i Lx&rep6v Te XVTg riTjv Lopkcv ,Lovocq, xoc m56'n Ev Tt eT86 &att r6 vau8t- x6v, ,uov&Aoq mavrrv ,LesiXeLv.

8L6 'p71q auc8oq 9heye s6 IV xal -r6 Oya xal6 sLLXp6v.

14

Page 15: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

GroBen und Kleinen. Die Einheit und das GroBe und Kleine sind daher nach Platon die Prinzipien der Zweiheit und, da die Zahlenreihe auf die Zwei als ihr Anfangsglied zuruickfiihrt, also aller Zahlen.

Mit einigen Vorbehalten - sie beziehen sich ebenso sehr auf den Aussagewert unserer Quellen wie auf den erkennbaren Gedankengang des platonischen Vortrags - kann man der Zusammenfassung zu- stimmen, die Alexander von diesem ersten Teil gegeben hat:

Platon suchte die Prinzipien dessen, was ist. Da ihm nun unter allem ubrigen die Zahl das Erste von Natur aus zu sein schien ..., erklarte er diese zum Prinzip. Die Prinzipien der ersten Zahl wiederum hielt er fur die Prinzipien jeder Zahl. Erste Zahl aber ist die Zweiheit; als deren Prinzipien gab er die Eins und das GroBe und das Kleine an. - Die Zahlen sind Prinzipien alles dessen, was ist. Daher sind die Eins und das Grote und Kleine zugleich Prinzipien von allem.

Alex. ap. Simpl. in phys. 454, 19-455.29

II. Wie wenig diese Satze durch die Darlegungen des ersten Teils ausgewiesen sind, geht schon daraus hervor, daB Platon im AnschluB daran eine zweite, ganzlich anders geartete Zuriickfuihrung auf Prin- zipien vorgetragen hat. Ober diesen zweiten Teil hat Aristoteles im zweiten Buch seiner veroffentlichten Nachschrift berichtet. Referate davon haben sich bei Alexander, Sextus Empiricus und Hermodor erhalten. Der Versuch, als vierte Quelle die Schriften des Porphyrios nachzuweisen, den kiirzlich Klaus Oehler zur Diskussion gestellt hat, ist mi8lungen.30 29 Alex. ap. Simpl. in phys. 454, 19-455, 5 (= p. 115-116 Ross): Z-1'riv y&p -a'm &PXc& 'N7v 6vmwv 6 II)&irCwv, &1TCI Trp7Do 6 &ptO[6; &86XEL X')c rn Q' ac ctvmL -Cov &WXov..., &PpXtV rO5rOV tJyelrO Elvo(L xoct trxcq 'Ot) IrP( )'rOU &PLO ApL0 &pXM' xaXl 7riv'r6g &pLO,Lou) &PXX&q. iproq 8i &pL0V.L6 0 8tu&;, j; &t7pX& 9ey?V etVaL vor6 re Lv xxl -r tUkyo

xxl T' ,uwp6v ... ot i &pt0uoI arotXcta 'r& 6ivrcv 7rkv iVmv. ?arcre xoct 7r&v'rOv &pxxl 'r6 Lv xd 'r6 ltdyac xal tLxp6v X'rOL t &6pptoaro 8uck;. 80 Neue Fragmente zum esoterischen Platon, Hermes 93, 1965, 397-407. Oehler versichert, es bestehe kein Grund zu der Annahme, daf3 die Quellenlage fur Porphyrios ungiinstig war (aaO 398); aber das Gegenteil ist der Fall: Porphyrios schreibt wortlich ein Referat des Derkylides aus, in dem dieser die hier interes- sierenden Lehren des Vortrags uber das Gute nach dem Bericht des Platon- biographen Hermodor wiedergibt (vgl. Simpl. in phys. 247, 30-248, 15); in seinem Philebos-Kommentar (vgl. Simpl. in phys. 453, 31-454, 16) schopft Porphyrios, wie wortliche tbereinstimmungen beweisen, aus dem Referat Alexanders, das Simplikios im selben Kontext zitiert (vgl. H. Cherniss, AJPh 68, 1947, 243 f.) . Die Frage, ob aus Porphyrios, wie der Titel des Aufsatzes verspricht, wirklich neue Fragmente zu gewinnen sind, ist erst zu bejahen, wenn nachgewiesen ist, daB die in Frage kommenden Texte Aussagen uber den platonischen Vortrag enthalten, die nur durch die Annahme zu erklaren sind, daB Porphyrios gute,

15

Page 16: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

1. Auch in diesem zweiten Teil geht es um eine Zuriickffihrung auf Prinzipien; aber wahrend es sich im ersten Teil um eine physikalisch- mathematische Reduktion handelte, ist sie jetzt ontologisch-kate- gorial. Alles Seiende wird zunichst31 in drei Klassen eingeteilt: An- sichsein, Gegensatz und Verhiltnis. Als Ansichseiendes gelten die- jenigen Gegenstande, die fur sich existieren konnen, wie Mensch oder Pferd. Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daB damit die allgemeinen, transzendenten Ideen gemeint sind. Die Unterscheidung von Gegen- satz und VerhUltnis wird bei Hermodor anders erklart als bei Sextus Empiricus; die Erkliirungen sind indes nicht unvereinbar, sondern erganzen einander. Sie lauten:

a) Gegensatze treten an einem Seienden nicht gleichzeitig auf,

uns heute verschlossene Quellen noch einsehen konnte. Einen solchen Nachweis versucht Oe. erst gar nicht; seine angeblichen Fragmente halten einer Prufung aber nicht stand: Fast alles, was Oe. anfuhrt, ist aus Aristoteles bekannt, durchweg aber nicht in den charakteristischen Gedankenverbindungen des platonischen Vortrags dargestellt. In seinem fr. 2 (Porph. Eisag. 6, 13-18 Busse) findet sich von einer "Deduktion der Welt aus den Prinzipien entsprechend der Dimensionenfolge und umgekehrt (einer) Reduktion von den Erscheinungen zu den Prinzipien" (aaO 402) nichts. Der Inhalt seines fr. 5 (Porph. in cat. 107, 31-36) weicht von dem einzigen hierhin geh6rigen Referat, das Porphyrios mit Sicherheit gekannt hat, dem Hermodor-Zitat, ab: Was Porphyrios hier Gegensatz nennt, wird in den Referaten Hermodors und des Sextus als 'Verhaltnis' gerade vom 'Gegensatz' abgegrenzt. Einige von Oe. beigebrachte Texte lassen es zweifelhaft erscheinen, daB Por- phyrios eine genauere Kenntnis von Platons Vortrag fiber das Gute hatte: Wihrend in seinem fr. 3 (Eisag. 14, 10-12) 'verniinftig' fruiher ist als 'Lebe- wesen', ist es im nichsten Text (Eisagoge 14, 21-15, 2) genau umgekehrt. Platonisch ist weder die eine noch die andere Auffassung (s.o. Anm. 22 und 23); aber wahrend die Auffassung von fr. 3 wenigstens akademisch ist, kann die Meinung von fr. 4 als friihestens neuplatonisch gelten. In Oe. s fr. 7 (in cat. 118, 24-119, 3) begegnet zwar die aus Aristoteles bekannte und auf den platonischen Vortrag zuruckzufuhrende Methode des Auffiebens (vgl. dazu Wilpert, Zwei aristotelische Friihschriften, 148ff); aber Porphyrios wendet sie nun auch auf das (aristotelische) Verhiltnis von Substanz und Akzidenz an; nach dieser Regel muBte man jedoch das Prinzip der Unbestimmten Zweiheit auf die Akzidentien, diese auf die Substanzen und die Substanzen endlich auf das Prinzip der Einheit reduzieren; die Konstruktion des platonischen Vortrags ware damit aus den Angeln gehoben. Zusammenfassend mufB man leider feststellen, daBl sich in den von Oe. beige- brachten Porphyrios-Texten keine einzige Aussage findet, die unsere Kenntnis des platonischen Vortrags fiber das Gute erweitern k6nnte. *1 Vgl. Sextus Emp. Adv. math. X 263-276.

16

Page 17: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

sondern das Auftreten des einen bedingt das Verschwinden des an- deren; in einem Verhaltnis treten die beiden Glieder der Beziehung gleichzeitig auf.

b) Die beiden Glieder einer Verhailtnisbeziehung sind jeweils skala- rische GroBen (sie verhalten sich jeweils wie 'groB' und 'klein' zu- einander und haben stets die Bestimmung des 'mehr' oder 'weniger'); bei Gegensatzpaaren hingegen ist stets nur die eine Seite des Gegen- satzes der Steigerung fahig, die andere kann nicht nach 'mehr' und 'weniger' bestimmt werden. (Die von Platon ins Auge gefaBte Ver- hiltnisbeziehung ist also nur ein Spezielfall von Relation oder mehr- stelliger Pradikation.)

c) Zwischen den beiden Gliedern einer Verhaitnisbeziehung gibt es stets ein Mittleres; zwischen den beiden Seiten eines Gegensatzpaares gibt es ein Mittleres nicht.

Sextus gibt zahlreiche Beispiele von Gegensatzen und Verhailtnissen; es ist allerdings zu bezweifeln, daB sie alle zu der von Platon gemeinten Unterscheidung passen. Als Gegensatzpaare hat Platon offenbar vor allem das Gute und Schlechte und das Gesunde und Kranke angesehen; eine charakteristische Verh5ltnisbestimmung diurfte der Unterschied von hohen und tiefen Tonen sein. Welche Beziehungen zwischen den drei Klassen bestehen und welcher Einteilungsgesichtspunkt zugrunde liegt, das kann auf dieser Stufe noch nicht deutlich werden.

2. Nachdem alles Seiende unter diese drei Klassen gebracht ist, kommt es nun darauf an, jede von ihnen auf einen "h6heren" Begriff zu bringen.

a) Alles Ansichseiende ist, insofern es fur sich bestehen kann, eins. Es fallt daher unter die Eins als seinen hoheren Begriff. Im Hinblick auf andere von Aristoteles erwihnte Theorien fillt auf, daB hier, ebenso wenig wie in anderen Berichten fiber Platons Vortrag, daran gedacht zu sein scheint, das Ansichseiende k6nnte nach dem Schema der Begriffspyranide auf allgemeinste Begriffe gebracht und schlieB- lich auf die Eins als das Allgemeinste zuruckgefuhrt werden.Y

*9 Hier ware der Ort gewesen, die Lehre, Prinzipien des Seienden sei das All- gemeinste (s.o. Anm. 23), anzuwenden. Sextus benutzt diese Lehre im Rahmen seines Referats (X 269: 7,rxv yvoq 7rpou7r&pXcv 'r7v U'p'oi,6 ray?vtv eL8&v). Wenn er sie gleichwohl im folgenden nicht dazu verwendet, das Ansichseiende auf dem Wege uber immer allgemeinere Gattungen auf das Eine als den all- gemeinsten Begriff zurnickzufuhren, sondern sich darauf beschrankt, die Einheit eines jeden Ansichseienden zu betonen, so darf daraus geschlossen werden, daB die ihm vorliegenden Quellen diese Art der Zuruckfuhrung auf Prinzipien vermieden.

17

Page 18: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

b) Alle Gegensatze werden als besondere Falle des allgemeinen Gegensatzes 'gleich-ungleich' aufgefa3t, so insbesondere (bei Her- modor) der Gegensatz von Ruhe und Bewegung, des Harmonischen und des Unharmonischen. Da auch gut und schlecht, gesund und krank als Gegensatzpaare genannt waren, ist zweifellos gemeint, daB das Gute wohlgefiigt, gleichmaf3ig ausgewogen und dauerhaft, das Schlechte hingegen dieser Bestimmungen nicht teilhaftig ist. Man glaubt hier wohlbekannte Anklange an Platons eleatistische Ontologie zu vernehmen.

c) Alle Verhaltnisse werden auf das allgemeine Verhaltnis von QJbermaB und Mangel zuriickgefiihrt. Als skalarische Gr6Ben konnen sie immer nur relativ zueinander bestimmt werden, jedoch so daf3 es fur sie immer noch die Mbglichkeit der Steigerung oder Minderung gibt. Hier ist nun endlich angedeutet, daB die eine Systoichie, von der Aristoteles gelegentlich einfach als der "schlechten" spricht, mit den Verhaltnisbestimmungen zusammenfallt.

Ausgefiihrt wird dies erst auf der nachsten und letzten Reduktions- stufe.

3. Gleichheit wird jetzt auf die Eins und Ungleichheit auf das Verhiltnis von tYbermaB und Mangel zuriickgefiihrt. An der Einheit, so lautet die im Rahmen des Vortrags fiber das Gute durchaus ein- leuchtende Erklarung bei Sextus Empiricus, zeige sich namlich als erstem die Gleichheit. Das Verhiltnis von (YbermaB und Mangel hingegen weist eine Doppelung auf; wesentlich aber ist, daB das Verhaltnis dieser beiden Momente zueinander unbestimmt ist. Uber- maB und Mangel sind daher nichts anderes als das zweite Prinzip: das GroBe und Kleine oder, wie es hier heiBt, die "Unbestimmte Zweiheit".

Man kann die Reduktion dieses zweiten Teils, zusammenfassend, durch das folgende Schema darstellen:

v7=cpR3Q? -

Tyo?*-t LaQCV-&vLaOv -E+g

eww04 XMe MUTO ?99tq 7rp64 'n

Der zweite Teil des Vortrags fiber das Gute scheint bei Sextus recht gut wiedergegeben zu sein. Da wir fast keine Moglichkeit des Ver- gleichs mit anderen Darstellungen haben, bleibt unser Urteil hier

18

Page 19: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

freilich mehr als sonst unsicher. In jedem Falle aber wird man sich die Vorlagen wesentlich subtiler und differenzierter ausgefiihrt zu denken haben. Es geniigt daran zu erinnem, bis zu welcher Genau- igkeit der Unterscheidungen und Bestimmungen die denselben Gegen- stand betreffenden Analysen des Aristoteles in der Kategorienschrift bereits gediehen sind, um zu ermessen, wie wenig das Sextus-Referat rein als solches befriedigen kann.

Die Bewegung auf die Prinzipien hin, die Platon in diesen beiden ersten Teilen seines Vortrags auf zwei verschiedenen Wegen ausfiihrte, ist damit zum AbschluB gebracht. Zu hymnischem Preis besteht angesichts unserer diirftigen Quellenlage keine Veranlassung. Wenn man auf die Idee des Ganzen und vor allem auf die naher ausgefiihrten Teile achtet, soweit sie uns noch kenntlich sind, so wird man dem Autor des Vortrags uiber das Gute seine Bewunderung nicht versagen. Ohne die Vielfalt des Seienden zu verkennen, hat Platon in kiihner Linienfiihrung (aisthetische Vergleiche bieten sich hier an) und mit seltener synoptischer Kraft, von dieser Vielheit herkommend, uiber mehrere Stufen hinweg die Einfachheit zweier Prinzipien als das wahrhaft Erste uibrig behalten.

III. Die weitaus grdBere Aufgabe steht indes noch bevor. Denn im dritten Teil des Vortrags soil nun, nach der Zuriickfiihrung auf Prinzipien, die Deduktion oder Konstruktion der Welt des Werdens aus den Prinzipien folgen. An den ersten Teil anschlieBend beginnt dieser Teil mit der Konstruktion oder, wie Platon sich ausgedriickt zu haben scheint, mit der "Erzeugung" der Zahlen. 1. Zu beginnen hat die Konstruktion der Zahlen, wie aus dem ersten Teil des platonischen Vortrags hervorgeht, mit der Konstruktion der Zwei aus den Prinzipien Einheit und Unbestimmte Zweiheit. Obgleich nur wenig Brauchbares iiberliefert und dies mit Unverein- barem vermischt ist, kann man doch den Grundgedanken einiger- maBen sicher wiederherstellen.

Es wurde gezeigt: Zweiheit ist nach Platon die kleinste Menge oder die erste Zahl, und als Menge eine Einheit, die auch ihrerseits wieder aus Einheiten besteht, so daB Zweiheit in doppelter Weise als Ver- haltnis beschrieben werden kann. Setzt man eins der Elemente der Menge als MaBeinheit an, so ist das Ganze das Doppelte; setzt man dagegen das Ganze als MaBeinheit, so ist jedes der Elemente die Halfte. Zweiheit ist also, nach den Begriffsbestimmungen des zweiten Teils, als Verhaltnis zu beschreiben, u.z.w. als das Verhaltnis des

19

Page 20: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Doppelten und Halben. Mit dem Prinzip der Unbestimmten Zweiheit aber ist nur das unbestimmte Verhaltnis von Teil und Ganzem ge- meint: Das Vbertreffende und das Obertroffene werden durch Begrenzung zum Doppelten und Halben. Dieses Verhaltnis ist ja nicht mehr unbegrenzt und unbestimmt, ebenso wenig wie das Verhiltnis des Dreifachen und des Drittels oder des Vierfache und des Viertels oder irgendein anderes Verhaltnis, das bereits eine Bestimmung des tVbertreffens erfahren hat.

Alex. in met. 56, 18-21"3

Man kann die so angegebene Verhaltnisbestimmung der Unbestimmten Zweiheit (UZ) oder des GroBen und Kleinen leicht durch zwei Formeln ausdriicken (G = Ganzes; T = Teil):

T a UZ G (la) G a+b

UZ = G a + b (lb) T a

Da es nach der platonischen Theorie fur Verhaltnisbestimmungen wesentlich ist, daB beide Glieder der Relation unterschiedslos als MaB gesetzt werden konnen, sind beide Gleichungen zur Beschreibung der Unbestimmten Zweiheit erforderlich.

Die so verstandene Unbestimmte Zweiheit ist nun, wie schon das &-metpov der Pythagoreer (von dem sie abstammt), ein Kontinuum, und zwar ein solches, in dem man in zwei und nur zwei Richtungen beliebig fortschreiten kann:

Er nannte diese Zweiheit unbestimmt, weil sie am Grofen und Kleinen oder GroBeren und Kleineren teilhat und dadurch die Bestimmung des Mehr und Weniger hat. In der Richtung der Anspannung und des Nachlassens weiter- gehend kommt sie zu keinem Stillstand, sondern sie schreitet fort zum Un- begrenzten der Unendlichkeit.

Alex. ap.Simpl. in phys. 456, 1-2"

33 Alex. in met. 56, 18-21 (= p. 114 Ross): &M xoc &6pLaDov am6v x&KXeL 8udc8,

86't I&n8Epov, IAtc 'r6 tc VpiXov 0xt tc r6 O xpx66 'oOuoOVO6, crpLG[LkVOV,

&?X&6pLa-r6v re xat &7rtLpov. 6pLaOt7Va 8i r& kvl T?v &opEarov 8u&&z ytyvcGoaL rhv dv tro! &ptOj,o! 8u&& h iv y&cp 'j cIL i 8U)' ' OLOCU'TN.

" Alex. ap. Simpl. in phys. 456, 1-2 (= p. 116 Ross) XMT& yAp &7TtaCLV XOXI &tVLV 7rpOL6vrm

pT 6x La TMrXpL, &X 6P tO E &E.t-

P(Mq &6pLrtOV 7CpOXpCOPC.

Porphyr. ap. Simpl. in phys. 453, 33- 35 (= p. 117 Ross) 67JOU yap av 'XU'a kvt xamx riv &7'Ot(asLv

xal &tveaLv npOt6v'r, oUX tatxrxt olu'

7rCpMtVeL T'6 .le&Xvo acu'rv ,&?XX 7rp6- etaJv cE; &netLpLO &6pta-rov.

20

Page 21: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Man kann diesen Begriff durch eine Funktionsgleichung beschreiben, wenn man in den Gleichungen (1 a.b) den Teil, bzw. das Ganze als Einheit setzt. So erhOit man:

1 + x (2a)

Y2 1_x (2b)

Diese funktionalen Beziehungen kann man leicht an einer Strecken- teilung veranschaulichen, wie sie Aristoteles in der 'Physik' benutzt und Porphyrios5 in seinem Philebos-Kommentar Platon ausdrucklich zugeschrieben hat:

(2a) 1 1 __x_ I 1+x

(2b) x x

Mit den uns geliufigen Mitteln der analytischen Geometrie laBt sich die Veranschaulichung noch weitertreiben, wenn man ein Kurven- bild der beiden Funktionen YL und Y2 zeichnet. Es entstehen dann zwei zu einander spiegelbildliche Hyperbeln, in denen sich das als Unbestimmte Zweiheit bezeichnete Kontinuum darstellt. Der hier zugrunde liegende mathematische Sachverhalt (p : q = c) war Platon nicht nur gelaufig, sondern spielte sogar in seinen mathematischen Erorterungen eine betrachtliche Rolle."

Zur Konstruktion der Zwei aus den Prinzipien Einheit und Unbe- stimmte Zweiheit ist jetzt nur noch erforderlich, die Variable x in den Gleichungen (2 a.b) zu bestimmen. Wie dies geschehen soil, konnen

s Porphyr. ap. Simpl. in phys. 453, 25-454, 7 (vgl. Arist. Phys. 6, 203 b 27-29). - Diese Stelle benutzt auch van der Wielen (De Ideegetallen van Plato, Am- sterdam 1941, 118-137), um die platonische Konstruktion der Zahlen zu er- klaren. Die im Text folgende Darstellung beruicksichtigt die von Ross (Pl.s theo- ry of id. 201-205) dazu vorgeschlagenen Korrekturen. "6 Platon nimmt Tim. 31 c2 - 32 c4 die doppelte mittlere Proportionale - sie war bekanntlich von Archytas zur Wurfelverdopplung benutzt worden - als Modell, um das Verhiltnis der Elemente zueinander zu beschreiben.

21

Page 22: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

wir aus mehreren AuBerungen des Aristoteles in den beiden letzten Metaphysikbiichern entnehmen:

Die Einheiten in der ersten Zweiheit werden gleichzeitig konstruiert, und zwar (wie der erste, der diese Theorie vorturg, lehrte) aus Ungleichem. Sie enstanden namlich, indem Ungleiches einander gleich gemacht wurde.

Ar. Met M 7, 1080 a 23-2537

Das Ungleiche, von dem Aristoteles spricht, sind offenbar die beiden ungleichen Teile, aus denen das Ganze noch besteht, nachdem in der ersten Phase der Konstruktion der Zwei das Ganze und ein Teil als Einheit gesetzt worden sind. In dieser zweiten Phase der Konstruk- tion soll nun der ungleiche mit dem als Einheit gesetzten Teil gleich gemacht werden. Es ergeben sich dann die Formeln:

a 1 1 1 __=i_ _ - -_ - -(3a) Y1 a + b 1 + x 1 + 1 2 (a

a? b 1 1 2 Y2-- 1 x 1 1(3b)

Es entsteht m.a.W. tatsachlich das Verhiiltnis des Doppelten und des Halben. An der Streckenteilung und an den Kurvenbildern lI8t sich die angegebene Operation wiederum veranschaulichen.

2. Nachdem erst die Zahl zwei konstruiert ist, kann es nicht mehr schwer fallen, nun auch die folgenden Zahlen zu konstruieren. Die gr6fte Verwirrung ist hier indes dadurch eingetreten, daB Aristoteles im ersten Metaphysikbuch, wo er scheinbar nur von Platon spricht, die Lehre erwahnt, die Unbestimmte Zweiheit verdopple jede jeweils gegebene Zahl (Met. A 6, 987b33-988a 1). Dadurch entstand der Eindruck, Platon habe in seinem Vortrag die Zahlen nicht in ihrer natiirlichen Reihenfolge konstruiert. Das ist aber ganz un- wahrscheinlich, und jene Theorie diirfte eher dem Xenokrates zu- zuschreiben sein.3" Wie nun Platon die Zahlenreihe konstruiert hat, dariiber sind uns keine Nachrichten erhalten. Nach der soeben vor- getragenen Konstruktion der Zwei laBt sich freilich auch die Drei

3" Arist. Metaph. M 7, 1081 a 23-25: 'A[Lm y&p aot 8v v u& 'r- 7prn lovi8 yevvov'TXL, etTre 6rp 6 7rpCOO E7r=v & &vLarv (taCacOkivr y&p yivovro) t-r

88 Vgl. Cherniss, Ar.'s Crit. of PI., 195 und Ross, Metaphysikkommentar, I, LXII; 173-175.

22

Page 23: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

und fortlaufend jede weitere Zahl leicht konstruieren. Es geniigt, das jeweils erreichte Ergebnis in die Ausgangsformel einzusetzen:

a 1 1 1 Y_ -- -(4a) a+b 1+x 1+ 2 3

a+ b 1 1 3 Y2 a - 1- - 1 (4b)

Gelegentlich horen wir von Aristoteles, Platon habe die Zahlen nur bis zur Zehn konstruiert; eine erkennbare Bedeutung fur die Lehre des Vortrags uiber das Gute und die Prinzipien des Seienden hat dieser Umstand jedoch nicht gehabt.Y9 3. Auf der nachsten Stufe der Konstruktion der Welt des Werdens aus den beiden Prinzipien sind nun, entsprechen der Ordnung des ersten Teils, die drei raumlichen Dimensionen nacheinander zu pro- duzieren. Auf die Grundlegung der Arithmetik folgt so die Grundlegung der Geometrie.

An dieser Stelle des Vortrags beginnen nun unsere Quellen voll- staindig zu versiegen. Obwohl uns zwei Losungsversuche zu dieser Aufgabe aus dem Umkreis des Vortrags bekannt sind, laBt sich keiner von beiden auf Platon zuriickfuihren.

In der Platonkritik des ersten Metaphysikbuches begegnet bei Aristoteles die Vorstellung, es gebe mehrere Arten des GroBen und Kleinen, im Bereich der Zahlen naimlich das Viel-und-Wenig, im Bereich der Strecken das Lang-und-Kurz, bei den Fliichen das Schmal-und-Breit und bei den Korpern schlieBlich das Tief-und- Flach.40 Diese Lehre hat Alexander von Aphrodisias (in met. 117,22- 118,1) jedoch nicht in der Nachschrift des Vortrags uiber das Gute, sondern in der aristotelischen Schrift " Cber die Philosophie" wieder- gefunden. Sie steht in einem Abschnitt, der (wie der Fortgang zeigt) gegen Platoniker gerichtet ist; Platon selbst wird anschliefend

89 Vgl. Ross, Pl.s theory of id. 179. - Die Auszeichnung der Zahl Zehn durfte gewiB3 damit zusammenhangen, daB in der pythagoreischen Lehre der Tetraktys (1 + 2 + 3 + 4 = 10) eine vielseitige Bedeutung zugeschrieben wurde. In den Berichten iiber Platons Vortrag findet sich nichts Vergleichbares; denn das Referat des Aristoteles in De anima A 2, 404 b 16-27 gehort nicht hierher (s.u. Anm. 47). 40 Arist. Metaph. A 9, 992 a 10-13 (vgl. M 9, 1085 a 9-12): Bou)ALcvoL 8i ras o'Uktoiq &ivyeL Vtq rx'q &px(o( ix [LFV 'Sei.[ev lX 3PpX&oq xal pLaOxpou, lx rLvo4 .LLKpou

xol syck)ou, xod ITAne8ov &x TcXao-rioq xal aCV01oi3, a&sO WEX XOCOi xOa X raTOMEvoi5.

23

Page 24: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

zu ihnen in Gegensatz gesetzt.4l Andere AuuBerungen des Aristoteles lassen erkennen, daB Platon verschiedene Arten der Unbestimmten Zweiheit nicht angenommen hat.42

Die andere Konstruktion der Dimensionen arbeitet mit den Zahlen zwei, drei und vier und bestimmt die Strecke, wegen der Anzahl der dazu ben6tigten Punkte als Zweiheit, die Flache entsprechend als Dreiheit und den K6rper als Vierheit.43 Aber dieser Losungsversuch ist nur fur Xenokrates bezeugt, und alle Versuche, ihn auch fur Platon selbst in Anspruch zu nehmen, waren nicht erfolgreich.4" Es bleibt also nur die Feststellung, daB Platon in seinem Vortrag die Kon- struktion der Dimensionen mit Hilfe der Prinzipien irgendwie angedeutet haben muB, ohne daB wir nahere Angaben iiber die Art und Weise machen konnten.

4. Auf die Konstruktion der einfachsten dimensionalen Gebilde Strecke, Dreieck und Tetraeder - man bezeichnet sie im AnschluB an einige Redewendungen des Aristoteles haufig als "Ideale GroBen" - hatte nach der Anlage des dritten Teils der tJbergang in den Bereich

41 In dem Abschnitt Met. A 9, 992 a 10-24 gibt Aristoteles zunachst (a 10-13; vgl. vorige Anm.) die Lehre wieder, nach der das Grote und Kleine als Gattung und das Kurze und Lange, das Schmale und Breite sowie das Flache und Tiefe als besondere Arten dieser Gattung anzusehen ist. Seine Kritik (a 13-19) geht nun zunachst dahin, daB diese Arten weder einander gleichgeordnet noch ein- ander untergeordnet sein konnten; ein anderer Fall sei nicht denkbar (vgl. dieselbe Kritik, u.a. auch gegen Speusipp gewandt: Met. M 9, 1085 a 16-19, b 1-4). Alsdann (a 19-20) gibt er zu bedenken, daB nach jener Lehre die Punkte keine Materie haben (was die Vertreter jener Lehre demnach wohl fur notig halten). Er schlielt mit einer Bemerkung (a 20-22), aus der zu entnehmen ist, daB er selbst, anders als die Vertreter der kritisierten Lehre, die Annahme von Punkten fur unnotig hielt: Auch Platon habe sich gegen die Annahme von Punkten gewandt und sie zu einem rein geometrischen Lehrgegenstand erklirt. Der Zusammenhang lehrt also, daB a 10-13 und 19-20 eine (in der Schrift " Uber die Philosophie" besprochene: vgl. Alex. in met. 117, 22ff.) einheitliche Lehre vorliegt, die von der platonischen verschieden ist. 42 Vgl. Metaph. B 4, 1001 b 19-25; N 3, 1090 b 36-1091 a 1; dazu Cherniss, Ar.s crit. of P1. 478-487.

Arist. Met. N 3, 1090 b 21-24: rIOLO-uLv y&p -r& utay&On tx U- nX; xmt &pOtLOou, kx AiuLv '6j" 8U&80o'r& [ipuXl, c 'rPpL&8o& 8'tcoc ; -r&L &rbrc, &x 8& ';,, rtsp&.&o4 'or a'tpc&.

% X&( I &XcWv &pLOI,V' 8tXPtL y&p o'8&v. "4 Damit soll nicht gesagt sein, daB die Evidenz der aristotelischen Zeugnisse es nicht zulasse, diesen L6sungsversuch in nahere Verbindung mit Platon zu bringen, sondern lediglich: daB die Evidenz fur eine positive Zuschreibung nicht ausreicht.

24

Page 25: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

der realen Gegenstande zu erfolgen. Auf die Gundlegung der Geometrie folgte so die Grundlegung der Physik.

Auch von diesem Abschnitt des platonischen Vortrags ist so gut wie nichts mehr bekannt, aber wir haben Grund zu der Annahme, daB er die Ausfiihrung dieser Aufgabe iiberhaupt nicht mehr enthielt. Immerhin teilt Aristoteles mit, Platon habe den Punkt lediglich als geometrischen Gegenstand gelten lassen, ihn im ubrigen aber durch unteilbare Linien ersetzt.45 Dieser Satz gehort, nach einer einleuchten- den Erklarung Walter Brockers," offenbar in diese Grundlegung der Physik und ist dann bequem mit der Konstruktion der Elementar- dreiecke im 'Timaios' zu verbinden. Daraus ergibt sich, daB die Fort- setzung des Vortrags fiber das Gute in diesem spatplatonischen Dialog zu suchen ist.47

45 Arist. Met. A 9, 992 a 21-23: 'E-rt oI 'tyl?oc x rEVoq lvunc&p0ouaLv; '0oThW Vi o5v 'W ykvct xotI 8xt,&cX'To IIfX&muv YtC4,U TPLXC 86yLmtC, &XX' &Kx?XcL &pXAv

ypOC,tL; (Tro5-ro Si 7rouXXt5L I-r(OcL) rXc dcT6F0ouq ypd,u,asLc. 46 Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, Frankfurt 1965, 76. 47 Nicht unter die Nachrichten fiber den Vortrag zu rechnen ist ein seltsamer, seit Brandis (s.o. Anm. 4) immer wieder diskutierter Text (Arist. De an. A 2, 404 b 18-27): 'O,O(Eco 8t xocl &v 'roZ; Ipcpl )oaocpEats ),cyo0.v&o0L 8tcup(uOn, MJ

[Liv '6 (cpov &T aOL' 'r o kvb6 18L;oC xocl TroV npC)'OU LK0Xou; xOtl nvxdrou xKal r3&Oout, 'r& 8'&c 6j.otorp67rw TL' 8& XLi &)Xdqc, VoUV [LiV 'r L, &b Lq0v 8i TX'

&60 ([.toVMXCo Y&p &1 'Lv), 'r6v 8i ro5in &vr8ou &pLO??v 86oxv, xaO-naLV 8' To6 To OTCpCoi.

ot jLbv yT&P &p;LOolt 'ra ct87n mCvYsi xCml ME &px(l Wyov'ro, t:l 8' X 'TCV cfYO/LXc(,)V * XP(vcx 8i 'c' 7p&ytLxot 'r& ,u v r&, 'A 8i ima vn, '& 8i 86 on, -r& 8U CadijcL v ctr& 8' ol &pLOW0ol ?i'rL 'rv 7)pVy>&csv. Der Kontext und das Zeugnis antiker Kommentatoren schien die Zuweisung dieses Referats aus der aristotelischen Schrift " Uber die Philosophie" an Platon zu rechtfertigen:

1. 6tuo(oq 8i xxt (b 18) konnte die Ahnlichkeit der folgenden Lehre und der zuvor (b 16-18) erwahnten Seelenlehre des 'Timaios' feststellen; tatsachlich ist dieser Ausdruck jedoch mit '6v mC6v 8i 'rp67rov (b 16) zu verbinden: Aristote- les gibt drei Beispiele fur seine These 68oL 8'&1i 'r ytLv6XcLV xod T6 XE:0&vcaOXt 'r&v &vrdcov (&nipX,40CV), o0ToL 8i X&youcLv +ux*v r&q &pX&i (b 9-10), die Lehre des Empedokles (b 12-15), die Seelenlehre des 'Timaios' (b 16-18) und die in der Schrift fiber die Philosophie referierte Lehre (b 18-27). Wessen Lehre in dieser Schrift vorgetragen wurde, ist nicht gesagt.

2. Die Zeugnisse der antiken Kommentatoren sind wertlos (vgl. Saffrey, o. Anm. 4). So bleibt zu prufen, ob sachliche Grunde es notig oder moglich machen, die De anima - Stelle auf Platon und den Vortrag fiber das Gute zuriickzufuhren: 1) DaB in diesem Text zahlreiche aus dem Vortrag gelaufige Gedanken und

25

Page 26: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

5. Zu erwahnen ist schlieBlich noch die Feststellung des Aristoxenos, die erst den Titel des ganzen Vortrags verstandlich macht: die Er- klarung, Platon habe das Gute mit dem Prinzip des Einen identifi- ziert. Sie wird durch eine Bemerkung des Aristoteles erganzt, nach der Platon das Gute und das Schlechte den beiden Prinzipien zuge- wiesen hat.48 Der Stand der tJberlieferung hIBt den SchluB zu, daB es in Platons Vortrag eine ausfuhrliche Begriindung dieser Zuordnung nicht mehr gab.

tJberblickt man diese Skizze des platonischen Vortrags iiber das Gute und die Prinzipien des Seienden, die alles Wesentliche des in unseren Que3len Enthaltenen zusammenfaBt und zugleich vollstandig genug ist, um ermessen zu lassen, welche AusmaBe die durch unsere Quellenlage bedingten Liicken in diesem Bilde h6chstenfalls haben

Vorstellungen vorkommen, ist klar, aber allein noch kein Grund, ihn ganz Platon zuzuweisen; denn die Platonschuler haben bekanntlich in verschieden- sten Variationen die Lehren des Vortrags uber das Gute aufgenommen und weitergebildet. 2) Eine solche Weiterbildung liegt nun aber auch in dem Referat aus flepl

BoaoxzCq vor: Die Idee der Einheit bildet jetzt, zusammen mit den "Idealen GroB3en" Strecke, Dreieck und Tetraeder "das Lebewesen selbst". 'Lebewesen' steht hier, wie haufig in der platonischen Spatphilosophie, fur eine konkrete, organische Ganzheit. Als eine solche Ganzheit ist die pythagoreische Tetraktys, vorgestellt als Vereinigung von Einheit und Idealen GroBen, aufgefal3t. Damit wird den elementaren dimensionalen Gebilden eine Bedeutung zugeschrieben, die sie in den Berichten iber den platonischen Vortrag sonst nie haben. Nach dem Modell der Tetraktys sollen nun auch die vier Erkenntnisvermogen gebildet sein. Dieses Deutungsschema kann jedoch nicht durchgehalten werden: Der Vernunft wird Einheit zugesprochen, weil sie mit ihrem Gegenstand eins ist; das Wissen ist eindeutig auf ihren Gegenstand bezogen, aber von ihm ver- schieden; die Meinung bezieht sich, als wahre und als falsche, in doppelter Weise auf ihren Gegenstand, kann also immerhin als Dreiheit dargestellt werden; die Wahrnehmung hingegen wird nicht mehr mit der Vierheit verbunden, weil sie selbst in irgendeiner Weise vierfaltig wire, sondern weil ihr Gegenstand an der Vierheit teilhat (das sinnlich Wahrnehmbare ist korperlich, und der ein- fachste Korper ist der Tetraeder). In der Linie dieser Weiterbildung wurde es liegen, nun allenthalben die Tetrak- tys als Modell des Seienden nachzuweisen. Aber davon ist in den Berichten iuber Platons Vortrag nie die Rede. Mit den Intentionen des Vortrags ist diese Weiter- und Umbildung vielmehr unvereinbar: An die Stelle der platonischen Analyse- Synthese tritt der Versuch, Analogien des Tetraktysmodells zu finden. 8 Arist. Metaph. A 6, 998 a 14-15: E-rL 8i rrv -oi3 C5 xacl 'roi xocxuW cttarv 'ots

TOtXCtOLq &7&8CXeV Oxc'rpOLc kxwcipow.

26

Page 27: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

konnen, so stellt sich als erstes der Eindruck ein, daB die zugrunde- liegenden Darlegungen schwerlich einen groBeren Umfang gehabt haben diirften als ein mittlerer platonischer Dialog. Damit stimmt die Nachricht, die aristotelische Ver6ffentlichung fiber Platons Vortrag habe drei Buicher umfaBt, gut zusammen.49 Wenn wir die Veroffent- lichung einer Schrift zu Platons Zeit vor allem in der ersten Lesung vor einem grOBeren Publikum zu erblicken haben, so steht nichts im Wege, sich Platons Vortrag als eine solche an einem Tage sich ab- spielende Lesung vorzustellen. Mit einer Vorlesung im akademischen Sinne hatte er natuirlich nicht das geringste zu tun. Wenn Platon iiberhaupt, wie spater sein Schiiler Aristoteles, Vorlesungen abge- halten hatte, so ware eine Nachricht dariiber doch wohl zu uns ge- kommen.

Auch bei dem bedauerlichen tberlieferungsbestand ist nicht daran zu zweifeln, daB dieser Vortrag im platonischen Gesamtwerk einen bemerkenswerten Platz einnimmt, - vielleicht genau die Stelle, die nach Platons eigenem Programm im Anschluf an den 'Politikos' der Dialog 'Philosophos' einnehmen sollte. Dieser Bedeutung des Vortrags enspricht die erstaunliche Wirkung bei Platons unmittelbaren Schuilern vollkommen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, d;e Konzeption der aristotelischen Metaphysik als einer Prinzipienlehre habe in diesem platonischen Vortrag ihren Ursprung.

Gleichwohl ist der Vortrag fiber das Gute nichts weniger als ein Kompendium der platonischen Philosophie oder gar die systematische Darstellung jener Philosophie, die gleichsam als Cantus firmus allen platonischen Dialogen unterzulegen ware, so man eine authentische Interpretation des literarischen Gesamtwerks erzielen m6chte. Es gibt, um damit anzufangen, Anzeichen dafuir, daB3 Platon in seinem Vortrag nicht einmal die angesetzte Thematik vollstandig abgehandelt hat.

Die Gliederung des Vortrags ist auffallig disproportioniert: Den beiden analytischen Teilen am Anfang entspricht nur ein synthetischer Teil; wahrend der physikalisch-mathematischen Analyse im ersten Teil des Vortrags eine Synthese im dritten Teil korrespondiert, fehlt der ontologisch-kategorialen Analyse des zweiten Teils eine ent- sprechende Synthese. Es fehlt ferner jede Erklarung dariiber, wie sich die physikalisch-mathematische und die ontologisch-kategoriale Ana- lyse zueinander verhalten. Aristoteles wird sie spater mit seiner

4" Diog. Laert. V 22 (Nr. 20).

27

Page 28: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

Unterscheidung materialer und formaler Prinzipien geben; aber es fehlt jede Andeutung dariiber, daB Platon diese oder ahnliche Unter- scheidungen zugrunde gelegt hatte. Es fehlt schlieBlich auch die Ant- wort auf die Frage, warum die Darlegungen des platonischen Vortrags nun gerade den Titel 'Ober das Gute' erhielten. Wenn auch die Zu- ordnung des Guten zum Prinzipi des Einen in der ontologisch-katego- rialen Analyse des zweiten Teils allenfalls verstandlich ist, so bleibt die Frage vollig offen, warum Einheit und Unbestimmte Zweiheit auch in der Arithmetik oder in der Geometrie das Gute und das Schlechte vertreten sollen. Im Ganzen bleibt auch fur uns, die wir, anders als die meisten zeitgenossischen Zuh6rer, mit den platonischen Dialogen ein wenig vertraut sind, verwirrend, warum diese Abhand- lung fiber die Prinzipien des Seienden, so wie wir sie aus den Frag- menten rekonstruieren, den Titel 'Ober das Gute' erhalten hat.

Aber nicht genug damit: Die Prinzipienlehre des Vortrags macht die Frage unumganglich, wie sich die zwei beriihmtesten Lehrstulcke Platons, die Ideenlehre und die diairetische Methode, zu ihr verhalten. Bis auf die aristotelische Schrift fiber die Ideen konnen wir jene Kritik zuriickfiihren, die entschiedene Anhanger der diairetischen Methode gegen die Prinzipienlehre des Vortrags fiber das Gute vor- brachten, um ihre Unhaltbarkeit zu erweisen.50 Und daB die Ideen- lehre im Gedankengang des Vortrags keinen rechten Ort hatte, durfte der Grund gewesen sein, warum Aristoteles, auch hier eifriger Anhanger der neuen Prinzipienlehre, die Ideen einfach mit den Zahlen glaubte gleichstellen zu sollen, womit dann eine sakulare Verwirrung ihren Anfang nahm. Man wird aus allem schlieBen mulssen, daB der platonische Vortrag nicht nur unvollstandig blieb, sondern auch nicht durch spatere erklarende Hinweise Platons erganzt worden ist.

Noch weniger kann man den Vortrag fiber das Gute als eine voll- standige Darlegung der platonischen Philosophie oder doch wenig- stens ihrer wichtigsten Teile, etwa der Prinzipienlehre, auffassen. Im Hinblick auf diesen Vortrag hat Aristoteles entschieden in Abrede gestellt, daB Platon zu mehr als zwei Prinzipien gelangt sei.5' Nun steht aber auBer Zweifel, daB Platon in seinen Dialogen auch die beiden anderen Prinzipien des Aristoteles, Bewegungs- und Ziel- ursache, in jeder Weise kennt und verwendet. Schon Alexander von Aphrodisias hat in seinem Kommentar zur Stelle alles N6tige dazu

60 S. o. Anm. 22 und 23. 61 Arist. Metaph. A 6, 988 a 7-11.

28

Page 29: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

gesagt.52 Mehr noch: Im 'Philebos' wird neben den beiden Prinzipien 7ipoa und &*rcpOV, die den beiden Prinzipien des Vortrags uber das Gute entsprechen, die Bewegungs- und Zielursache genau in dem von Aristoteles geforderten Sinne ausdriicklich eingefiihrt. In diesem Dialog haben wir also eine Ausbildung der Prinzipienlehre vor uns, die weiter gediehen ist als die im Vortrag uber das Gute. Aber auch die Kon- struktion der Welt des Werdens, die in dem Vortrag kaum angedeutet war, ist in einem platonischen Dialog, dem 'Timaios', wirklich durch- gefiuhrt worden. Auch in diesem Punkte bleiben die Darlegungen des Vortrags hinter dem in Platons iiberlieferten Schriften Mitgeteilten entschieden zuriick.

Der Vortrag iiber das Gute und die Dialoge stehen also auf dem- selben Reflexionsniveau, und es kann keine Rede davon sein, daB die edierten Schriften weniger in das Zentrum der platonischen Philo- sophie fiihren als der Vortrag. DaB Platon das Manuskript des Vor- trags nicht zur Vervielfaltigung freigab, Idft eher darauf schlieBen, daB er seine Pnnzipienlehre fur noch nicht hinreichend ausgereift hielt und zu einer abschlieBenden Darstellung spater, nachdem seine Schiiler bereits mit der Ver6ffentlichung ihrer ausgearbeiteten Nach- schriften des Vortrags begonnen hatten, nicht mehr gelangt ist. So ist der Vortrag uber das Gute ein Systemfragment geblieben.

DaB wir im 'Philebos' und im 'Timaios' Lehren antreffen, die zwar engstens mit den Darlegungen des Vortrags uber das Gute zusammen- hangen, aber doch weit fiber das hinausreichen, was Platon, wie wir jetzt mit Bestimmtheit sagen k6nnen, in diesem Vortrag ausgefiihrt hat, das ist an sich kein Grund, diese beiden Dialoge spater zu da- tieren. Gleichwohl durfte die Tatsache von besonderem Gewicht sein, daB Platon in diesem Vortrag fiber die Prinzipien des Seienden das Gute mit dem Prinzip des Einen identifiziert hat, wahrend er im 'Philebos' und im 'Timaios' die Formursache ausdrulcklich von der Wirkursache trennt und nunmehr das Gute mit der Wirkursache identifiziert. Welche tiefgreifende Veranderung der platonischen Prinzipienlehre damit verbunden ist, LiBt sich leicht einsehen: Wenn Platon in seinem Vortrag fiber das Gute keine besondere Wirkursache

I' Alex. in met. 59, 28-60 (= p. 119 Ross): Z7rfsa= 8'dE & Lv 7rC )iYowV'os rl),i-vo( xoxl onaqrw6v octrLowv... & i xal sro o5 gvtxev xml -riXo... ouU'ripou

ro6uov '7v octl'cov &,uvit6vcuacv 6 'Apta?o'?*X h rn g86nn T' fIx&er&voq; e 68L iV 'rotl ol; 7rcpl drC(ov lXcyEv, ou8ev6q 'ro6wv &toj.v-0ro, 6; &v 0rot5 flep 'p&yO0ooi

8iLXEV 8TL &9V k yCV&aCL XXCd 9OOp4 Ou -rEOc'acL v6ic ota, &X' oC8k &kgapy&cao6 ,t; ntpt OcU',rv.

29

Page 30: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

annimmt, so ist er entweder der Meinung, die Konstitution des Seien- den durch die Prinzipien erfolge unmittelbar durch die unwider- stehliche Kraft des Einen, oder er hatte die Frage iiberhaupt noch nicht durchdacht. Wie dem auch sei, - mit der Trennung von Form- und Wirkursache war der Gedanke zuruickgewiesen, die Prinzipien Einheit und Unbestimmte Zweiheit enthielten nicht nur die not- wendige, sondern auch schon die hinreichende Bedingung fuir die Konstitution der Welt des Werdens. Von dem Versuch einer De- duktion der Welt allein aus den beiden Prinzipien konnte fortan noch weniger als vorher die Rede sein.53

Ebenso bemerkenswert ist der im 'Philebos' vorgetragene Gedanke, daB das Seiende weder das Unbegrenzte noch die Grenze als solche, sondern vielmehr beider Vereinigung als Werden zum Sein ist, wahrend im Vortrag der Eindruck erweckt wird, das Seiende bleibe schlieBlich auf die beiden Prinzipien reduziert. Diese Beobachtungen erklaren sich wohl am einfachsten durch die Annahme, daB Platon diese Lehren erst im AnschluB an den Vortrag fiber das Gute konzipiert und ent- wickelt hat.

Andererseits finden sich aber in den Dialogen 'Sophistes' und 'Politikos' nur Lehren, die den Vortrag fiber das Gute vorzubereiten scheinen. Die grofe Entdeckung des 'Sophistes', daB das Nichtsein - als Anderssein - ist, wird im Mythos des 'Politikos' mit dem Motiv der Tragheit und der Widerspenstigkeit des Alls aufgenommen. Aber erst im 'Philebos' und im 'Timaios' (also nach dem Vortrag fiber das Gute, wenn die hier vorgeschlagene Chronologie richtig ist) wird daraus die Lehre vom &7retpov und vom aufnehmenden Prinzip. Nun ist aber die Wahrscheinlichkeit sehr gro3, daf zwischen den Dialogen 'Sophistes' und 'Politikos' auf der einen und 'Philebos' und 'Timaios' auf der anderen Seite Platons dritte sizilische Reise in den Jahren 361-360 liegt. Das wuirde bedeuten, daB der Vortrag fiber das Gute nach 360 und gewiB nicht spater als 355 gehalten wurde.

Unser Bild von der platonischen Philosophie, so darf man ab- schlieBend feststellen, wird durch die Kenntnis der Umrisse dieses Vortrags vervollstandigt und vertieft, aber nicht revolutioniert. Um- gekehrt wird sich auch manche Luicke unserer VYberlieferung des Vortrags von den platonischen Dialogen her schlieBen lassen. Wichtig ist es gewiB, daB die Interpretation der aristotelischen Metaphysik durch diese Rekonstruktion gef6rdert wird. Wichtiger aber duirfte

6s Vgl. W. Brocker, Plotins Platonismus (erscheint demnalchst).

30

Page 31: Der Vortrag über das Gute K.H. Ilting

sein, daB dieses Stuck wiedergewonnener platonischer Philosophie unsere Aufmerksamkeit nicht von den Dialogen Platons ab-, sondern sie vielmehr ihnen zuwendet. Wir miissen den Schilern Platons dank- bar sein, daB sie, offenbar gegen den Wunsch ihres Lehrers, ihre Kenntnis des Vortrags uiber das Gute der Nachwelt uiberlieferten. Aber wenn Platon glaubte, daB sie zur Abfassung einer solchen Dar- legung weit weniger vorbereitet waren als er selbst, so hatte er damit vermutlich nur zu sehr recht.

Philosophisches Institut der Universitdt des Saarlandes

31