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THOMAS SÖDING LEHRSTUHL NEUES TESTAMENT KATHOLISCH-THEOLOGISCHE FAKULTÄT RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM Universitätsstraße 150 GA 06/150 (Sekretariat Elisabeth Koch) 151 (Büro) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 www.rub.de/nt [email protected] Die Freiheit des Glaubens Der Galaterbrief Neutestamentliche Vorlesung im Sommersemester 2011 Vorlesungsplan 13. 4. 1. Der Galaterbrief als Magna Charta christlicher Freiheit 2. Der Galaterbrief im Neuen Testament 20.4. 3. Das Präskript (Gal 1,1-5) 4. Das Prooemium (Gal 1,6-9) 27. 4. 5. Die apostolische Selbstbiographie (Gal 1,10-24) 4. 5. 6. Das Apostelkonzil (Gal 2,1-10) 7. Der antiochenische Konflikt (Gal 2,11-14) 11. 5. 8. Die Rechtfertigungsthese (Gal 2,15-21) 18. 5. 9. Das pneumatologische Argument (Gal 3,1-5) 10. Das exegetische Argument (Gal 3,6-14) 25. 5. 11. Das juristische Argument (Gal 3,15-25) 1. 6. 12. Das tauftheologische Argument (Gal 3,26 – 4,7) 8. 6. 13. Das existentielle Argument (Gal 4,8-20) 14. Das ekklesiologische Argument (Gal 4,21-31) 22. 6. 15. Das ethische Argument (Gal 5,1-12) 29. 6. 16. Die Freiheit in der Liebe (Gal 5,13-26) 6. 7. 17. Das Gesetz Christi (Gal 6,1-10) 13. 7. 18. Der Epilog (Gal 6,11-18)

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THOMAS SÖDING LEHRSTUHL NEUES TESTAMENT KATHOLISCH-THEOLOGISCHE FAKULTÄT RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

Universitätsstraße 150 GA 06/150 (Sekretariat Elisabeth Koch) 151 (Büro) D-44780 Bochum 0049 (0) 234 32-22403 www.rub.de/nt [email protected]

Die Freiheit des Glaubens Der Galaterbrief

Neutestamentliche Vorlesung im Sommersemester 2011

Vorlesungsplan

13. 4. 1. Der Galaterbrief als Magna Charta christlicher Freiheit

2. Der Galaterbrief im Neuen Testament

20.4. 3. Das Präskript (Gal 1,1-5)

4. Das Prooemium (Gal 1,6-9)

27. 4. 5. Die apostolische Selbstbiographie (Gal 1,10-24)

4. 5. 6. Das Apostelkonzil (Gal 2,1-10)

7. Der antiochenische Konflikt (Gal 2,11-14)

11. 5. 8. Die Rechtfertigungsthese (Gal 2,15-21)

18. 5. 9. Das pneumatologische Argument (Gal 3,1-5)

10. Das exegetische Argument (Gal 3,6-14)

25. 5. 11. Das juristische Argument (Gal 3,15-25)

1. 6. 12. Das tauftheologische Argument (Gal 3,26 – 4,7)

8. 6. 13. Das existentielle Argument (Gal 4,8-20)

14. Das ekklesiologische Argument (Gal 4,21-31)

22. 6. 15. Das ethische Argument (Gal 5,1-12)

29. 6. 16. Die Freiheit in der Liebe (Gal 5,13-26)

6. 7. 17. Das Gesetz Christi (Gal 6,1-10)

13. 7. 18. Der Epilog (Gal 6,11-18)

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Das Thema Der Galaterbrief ist die Magna Charta christlicher Freiheit. Er ist das älteste Zeugnis der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre. Polemisch, kämpfe-risch, leidenschaftlich verteidigt der Apostel Paulus sein Konzept der Mission, das in seiner Glaubenserkenntnis Jesu Christi wurzelt und den Heiden den di-rekten Zugang durch die Taufe in die Kirche öffnen soll. Deshalb ist der Gala-terbrief ein Schlüsseldokument der ältesten Kirchen- und Theologiegeschichte. Die exegetische Vorlesung informiert über die turbulente Entstehungsge-schichte des Briefes und legt Schlüsseltexte des Schreibens aus, die grundle-gende Einsicht in die Theologie des Apostolates und der Kirche, des Glaubens und des Gesetzes, der Rechtfertigung und der Liebe eröffnet. Der Galaterbrief steht im Fokus ökumenischer Debatten; er bildet einen Brennpunkt des jüdisch-christlichen Dialoges. Die Vorlesung nimmt Probleme der Wirkungsgeschichte auf, um sie mit einer theologisch interessierten Exe-gese zu verbinden.

Das Ziel

Durch eine fortlaufende Exegese, die theologische Schwerpunkte setzt, werden paradigmatisch die Arbeitsweise und die Leistungsfähigkeit der neutestamentlichen Wissenschaftverdeutlicht. Durch die Exegese eines paulinischen Hauptbriefes werden zentrale Themen neutestamentlicher Theologie erschlossen und zentrale Themen der Theologiegeschichte mit einem erheblichen ökumenischen Konfliktpotential auf ihre biblische Basis zurückgeführt. Durch regelmäßige Hinweise auf die paulinische Schriftre-zeption und einen gezielten Vergleich mit dem thematisch verwandten, aber etwas jüngeren Römerbrief wird hermeneutisches Problembewusst-sein im Umgang mit der Heiligen Schrift geschaffen.

Prüfungsleistungen MTh-Studierende bringen den Stoff der Vorlesung in die Modulabschlussprüfung ein, BA-Studierende erlangen in Modul II durch aktives Hören 1 CP, durch das zusätzliche Abfassen eines Essays 3 CP. Studierende aus allen anderen Studiengänge sprechen mit dem Dozenten die Prüfungsleistungen ab.

Beratung Sprechstunde in der Vorlesungszeit: Mittwoch 11-12 und Donnerstag 13-14 Uhr in GA 6/151

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Thomas Söding

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1. Der Galaterbrief als Magna Charta christlicher Freiheit

a. Der Galaterbrief ist die Programmschrift christlicher Freiheit. Sie führt mit-ten hinein in die modernen Kontroversen über den Begriff und die Erfahrung, die Theorie und Praxis der Freiheit.

• Einerseits gibt es keine neutestamentliche Schrift, die so programma-tisch die Freiheit betont wie der Galaterbrief. Deshalb wird der Brief in der westlichen Moderne, die sich seit der Aufklärung der Freiheit ver-schrieben hat, als Magna Charta gelesen.

• Andererseits steht der Galaterbrief im Fokus kontroverser Debatten über die Freiheit.

o Martin Luther, der als gelernten Exeget den Galaterbrief inten-siv studiert hat, sieht die „Freiheit eines Christenmenschen“ in der Unbedingtheit seines Gewissens, das weder durch politische noch durch kirchliche Autoritäten gegängelt werden dürfe.

o Immanuel Kant, der zahlreiche paulinische Impulse aufgenom-men hat, versteht Freiheit als Autonomie: als Selbstbestimmung eines seiner Verantwortung bewussten Subjekts.

Beide Freiheitskonzepte haben nichts mit Libertinismus zu tun, aber viel mit der Entdeckung des Individualismus, die fraglos zur Wirkungs-geschichte paulinischer Theologie gehört. Allerdings haben beide pau-linisch inspirierten Freiheitskonzepte Engpässe.

o Das lutherische Konzept ist auf seine Kirchlichkeit hin zu befra-gen. Der Galaterbrief ist vom ersten Satz an ein eminent kirchli-cher Brief. Wenn Luther die Kirche als eine wesentlich geistige und sekundär geschichtliche Größe betrachtet: wie verhält sie sich zur sichtbaren, in der Paulus sich doch engagiert? Und wenn niemand das Gewissen des Einzelnen zwingen darf: wel-che Bedeutung hat dann die Autorität des Apostels, der doch erst die Gewissensfreiheit lehrt? Im Kern: Wie verhält sich Kirch-lichkeit zur Freiheit?

o Das kantische Konzept ist auf seine theologische Tragweite hin zu befragen: Der Galaterbrief verfolgt eine Freiheitsidee, für die der lebendige Gott das A und O ist. Wenn Kant Gott als Postulat der praktischen Vernunft ins philosophische Kalkül zieht: wie verhält sich die Autonomie zum göttlichen Gesetz? Und wenn Freiheit der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschul-deten Unmündigkeit ist – was ist mit der fremdverschuldeten? Im Kern: Wie verhält sich menschliche Freiheit zu Gott?

b. Das Pathos der Neuzeit ist die erkämpfte, das Pathos des Paulus die ge-schenkte Freiheit.

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• Die Neuzeit sieht ihre Legitimität in den Kämpfen um die Freiheit, auch von Gott. Paulus sieht im Versuch, sich gegen Gott aufzulehnen, die Ursache der Unfreiheit. Das erfordert eine intensive Debatte nicht nur über den Begriff der Freiheit, sondern sowohl über das Bild Gottes (Von welchem Bild muss man sich befreien? Welches setzt die Freiheit des Menschen ins Bild?) als auch über das des Menschen (Wie frei ist er, wenn er sich selbst be-freit? Wie frei ist er, wenn er Gott dient?).

• Paulus sieht die Freiheit in ihrer positiven (Freiheit zu …) und negativen Dimension (Freiheit von …).

o Die positive Freiheit ist die Freiheit zur Liebe, zum Dienst Gottes und des Nächsten, zur Erfüllung des Gesetzes.

o Die negative Freiheit ist die Freiheit vom Tod und von der Sün-de, nach dem Galaterbrief deshalb auch die Freiheit vom Ge-setz, sofern es den Sünder zum Tod verurteilt.

In der Paulusexegese hat die negative Freiheit die hermeneutische Do-minanz, sowohl wenn Paulus als Kritiker des Gesetzes gefeiert als auch, wenn er als Kritiker des Judentums kritisiert wird. In den Paulusbriefen aber dominiert die positive Freiheit. Um der Frei-heit zur Liebe willen muss es die Freiheit von der Sünde, kann es die Freiheit vom Tod, darf es die Freiheit vom Gesetz geben.

Das paulinische Freiheitskonzept kann in eine umfassende Anthropologie und Theologie eingezeichnet werden, deren Schlüssel die Christologie ist. Literaturhinweis: Thomas Söding, Zur Freiheit befreit. Paulus und die Kritik der Autonomie, in:

Communio 37 (2008) 92-112

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2. Der Galaterbrief im Neuen Testament

a. Der Galaterbrief ist seit ältesten Zeiten ein fester Bestandteil des Neuen Testaments. Er gehört in jeder antiken Handschrift und in jeder Kanonliste des Altertums zum festen Bestandteil der Paulusbriefe, deren Sammlung ihrerseits zu den ältesten und festen, nie umstrittenen Teilen der werdenden christli-chen Bibel gehört.1

b. Der Galaterbrief folgt im heutigen Kanon wie in den meisten antiken Listen auf den Römerbrief und die beiden Korintherbriefe; er geht den Briefen an die Epheser, Philipper und Thessalonicher voran, bevor die Briefe an Timotheus, Titus und Philemon den Abschluss bilden.

Die Logik der Abfolge ist nicht ganz durchsichtig. • Es ist keine chronologische Ordnung, weil der Römerbrief immer schon

als relativ später Brief galt. Die Abfolge erklärt sich aus sachlichen Gründen.

• Es gibt die These, dass die Briefe einfach nach dem Umfang gelistet wurden; aber diese Rechnung geht nicht ganz auf.

• Ein Gliederungsprinzip ist, dass zuerst die Briefe an Gemeinden (Röm – 2Thess), dann die an Personen aufgeführt werden (1/2 Tim; Tit; Phlm).

• Ansatzweise gibt es eine geographische Ordnung, weil der grobe, aber nicht konsequente Weg von West nach Ost (Kleinasien) geht.

c. Der Galaterbrief ist ein für den Apostel Paulus charakteristisches Schreiben. • Paulus redet recht ausführlich biographisch, wie sonst nur im Philip-

perbrief, den er im Gefängnis aus einem Prozess heraus schreibt, bei dem es um Leben und Tod geht, und im Zweiten Korintherbrief, wo er bis an die Grenze des Sarkasmus seine Leiden als Apostel schildert (2Kor 10-13). Der Galaterbrief ist ein wichtiges historisches Dokument zur Rekonstruktion der paulinischen Biographie.

• Der Brief ist ein wichtiges Zeugnis der paulinischen Apostolatstheologie, weil seine biographischen Reminiszenzen seine Berufung betreffen, die zur Verkündigung – auch in Galatien – geführt hat.

• Paulus formuliert erstmals in lehrhafter Form seine Rechtfertigungs-botschaft, die eine grundlegende Bedeutung nicht nur für die Begrün-dung der Völkermission, sondern der Heilsvermittlung durch Jesus Christus hat.

1 Vgl. Hermann von Lips,Der neutestamentliche Kanon (Zürcher Grundrisse zur Bibel), Zürich 2004.

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d. Der Galaterbrief ist durchweg in einem polemischen Ton verfasst. Paulus führt Streit mit Gegnern, kämpft aber auch um seine Gemeinden, und zwar nicht, indem er schmeichelt, sondern indem er kritisiert. Das führt ihn zu scharfen Tönen sowohl gegenüber dem Gesetz und seiner Forderung der Be-schneidung als auch gegenüber denjenigen Juden, die (wie früher er selbst) mit Berufung auf das Gesetz Jesus ablehnen. Im Römerbrief, der thematisch eng verwandt ist, sind die Argumentationen oft differenzierter.

e. Zwei Möglichkeiten werden diskutiert: • Der Galaterbrief ist, als erster der Hauptbriefe, noch vor dem Ersten

Korintherbrief, also 54/55 n. Chr. in Ephesus verfasst worden. • Der Galaterbrief ist nach den Korintherbriefen knapp vor dem Römer-

brief in Makedonien verfasst worden, also Ende 55 n. Chr. Die Differenz spielt für die Galaterbriefexegese eine untergeordnete Rolle. Sie ist aber wichtig für die Rekonstruktion der Genese der paulinischen Theologie. Im ersten Fall wäre die Rechtfertigungslehre auch für die Auslegung der Korin-therbriefe vorauszusetzen, im zweiten liefe der Wege eher über die Christolo-gie des Kreuzes und der Auferstehung zur Rechtfertigungslehre. Damit ist der hermeneutische Stellenwert der Rechtfertigungslehre für das Grundverständ-nis der paulinischen Theologie berührt. Für beide Datierungen gibt es Gründe.

• Für die relative Frühdatierung (vor den Korintherbriefen), die bis in die 80er Jahre des 20. Jh. Mehrheitsmeinung war2

• Für die relative Spätdatierung (nach den Korintherbriefen), die seit den 90er Jahren Mehrheitsmeinung geworden ist

, wird angeführt, dass Paulus keine Anweisungen zur Organisation der in Gal 2,10 erwähnten Kollekte treffe und sich beklage, die Galater seien „so schnell“ vom Evangelium abgefallen (Gal 1,6).

3, spricht, dass in 1Kor 16,1-4 die Vorbildlichkeit der Kollektensammlung in Galatien gerühmt wird, ohne dass von Problemen in Galatien die Rede wäre. Aus Gal 2,10 wird zum Teil herausgelesen, dass die Kollekte zum Zeitpunkt der Ab-fassung des Briefes dort schon abgeschlossen gewesen wäre (Aorist)4

Die etwas größere Wahrscheinlichkeit spricht für die Datierung nach den Ko-rintherbriefen; womöglich ist Paulus beim Schreiben bereits auf der (sog.) 3. Missionsreise nach Makedonien gekommen.

. Schließlich spricht die gedankliche für eine zeitliche Nähe zum Römer-brief. Gal 4,20 deutet an, dass Paulus nicht in unmittelbarer räumlicher Nähe zu Galatien seinen Brief verfasst hat.

e. Der Galaterbrief hat eine klare Gliederung

2 Auch noch vertreten von Hans-Dieter Betz, Gal 50f. 3 Vgl. Udo Schnelle, Einleitung 111ff.; Michael Theobald, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 359. 4Jürgen Becker, Gal 5.

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1,1-5 Präskript

1,6-9 Prooemium

1,10 – 2,10 Der Apostolat des Paulus 1,10-24 Die Berufung zum Apostel 2,1-10 Die Anerkennung als Apostel

2,11 – 5,12 Die Rechtfertigung aus Glauben 2,11-14 Der antiochenische Konflikt 2,15-21 Die Rechtfertigungsthese 3,1-5 Das pneumatologische Argument: Der Anfang der Gemeinden 3,6-14 Das exegetische Argument: Der Segen Abrahams 3,15-26 Das juristische Argument: Die Geltung des Gesetzes 3,27-4,7 Das tauftheologische Argument: Die Gottessohnschaft 4,8-20 Das existentielle Argument: Die Verbindung mit dem Apostel 4,21-31 Das ekklesiologische Argument: Die Dialektik Israels 5,1-12 Das ethische Argument: Die Befreiung durch Christus

5,13 – 6,10 Ethik der Liebe 5,13-26 Die Freiheit in der Liebe 6,1-10 Das Gesetz Christi

6,11-18 Postskript

Der Aufbau des Briefes ist insofern klassisch, als er sowohl in der Einleitung wie auch in der Ausleitung die Standards paulinischer Episteln prägt und einen stärker indikativischen einem stärker imperativischen Teil voranstellt, wobei die Verbindung zwischen beidem über das Thema der Freiheit läuft (Gal 5,1-12 – 5,13-26).

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In der Literatur wird diskutiert, in welchem Maße Kategorien antiker Rhetorik die Gliederung beeinflusst haben.

• Stimulierend war der Kommentar von Hans-Dieter Betz, der das Sche-ma einer Verteidigungsrede vor Gericht meinte erkennen zu können („dikanische“ Gattung)5

• Problematisch ist aber an dieser Klassifizierung, dass sie

. Paulus würde dann als Anwalt in eigener Sa-che auftreten und sein Evangelium wie seine Person vor den Galatern verteidigen.

o die juristischen Rollen nicht erklärt: Die Galater sind eher Angeklagte als Richter; Paulus bestreitet ihnen rundweg eine Urteilskompetenz über die Authentizität seines Apostolates;

o die „Publikumsbeschimpfungen“ des Apostels nicht erklärt: Paulus müsste dem Auditorium schmeicheln, redet ihm aber ins Gewissen.

o die Ethik nicht erklärt: Eine adhortatio gehört nicht zur dikanischen, sondern eher zur symbouleutischen.

Ein Brief kann zwar rhetorische Wendungen aufnehmen, ist aber anders ge-baut als eine Rede.6

5 Aristoteles unterscheidet in seiner Rhetorik das (dikanische) genus iudicale, die Rede vor Gericht, die der Urteilsfindung dient, indem sie zwischen gerecht und ungerecht unterschei-det, das (symbouleutische) genus deliberarativum, die parlamentarische Beratungsrede, die der politischen Entscheidung dient, indem sie zwischen gut und böse unterscheidet und das (epideitkische) genus demonstrativum, die festliche Lobrede, die der Legitimation von Herr-schaft dient, indem sie zwischen schön und hässlich unterscheidet.

Der Galaterbrief folgt im wesentlichen einer situativen Sachlogik. Er nimmt das Problem auf, das er im Prooemium anspricht, und dis-kutiert es im Blick auf die Galater, die er im Präskript anredet, so, dass sie sei-ner Auslegung des Evangeliums zustimmen müssen, wenn sie aufmerksam genug lesen.

6 Zur Epistolographie vgl. Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testa-ments (UTB 2197), Paderborn 2001; weiter Hans-Josef Klauck,Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (UTB 2022), Paderborn 1998.

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3. Das Präskript (Gal 1,1-5)

a. Paulus variiert im Galaterbrief die Konvention einer brieflichen Einleitung, die er selbst mit geschaffen hat.7

Zum antiken Schema eines Präskriptes gehören:

• Absenderangabe, • Adressatenangabe, • Gruß.

Dieses Schema greift Paulus regelmäßig in seinem jüdisch-hellenistischen Typ auf, der zwei Nominalsätze aufeinander folgen lässt und mit einem Friedens-wunsch („Schalom“) endet. Paulus nutzt das Schema, um die Kommunikation mit den Adressaten zu pfle-gen und die Lektüre von Anfang an zu steuern, indem er einzelne Elemente theologisch aufwertet. Welche Akzente er setzt, ist für den Brief typisch. Im Vergleich des Galaterbriefes mit anderen Paulusbriefen fallen folgende Charakteristika auf:

• Paulus unterstreicht durch eine doppelte Antithese die Gottunmittel-barkeit und Christuszugehörigkeit seines Apostolates. Das weist auf die Debatten um die Authentizität seines Apostolates voraus, die ein gro-ßes Thema des Briefes werden (vgl. Gal 1,10 - 2,10).

• Paulus spricht nicht im Singular von der „Ekklesia“ (Kirche) einer Stadt, sondern im Plural von den „Ekklesiai“ (Gemeinden) einer Region. Das lässt Schlussfolgerungen auf die soziale Situation der Adressaten zu: Sie leben nicht in einer Metropole, sondern auf dem Land, vielleicht auch in einem Verbund kleinerer Städte.

• Paulus macht den Friedenswunsch zu einer theologischen Grundsatzer-klärung von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Damit markiert er sofort den Standpunkt theologischer Rechtgläubigkeit, von dem aus er argumentiert und kritisiert. Das Präskript ist eine theologische Klarstel-lung, die urchristliche Bekenntnissprache aufnimmt und weiterführt – im Rahmen des antiken Weltbildes.

Die Adressaten- und Absenderangabe definieren das Kommunikationsniveau: Der Apostel schreibt den Mitgliedern der Kirche. Diese ekklesiologische Platt-form wird in der konfessorischen Sprache des Friedenswunsches und in der – ungewöhnlichen – Doxologie zum Schluss der Präskriptes deutlich, das die Liturgiesprache der Kirche prägt, so wie sie seinerseits aus der Tradition jüdi-scher Liturgie entwickelt worden ist.

7 Vgl. Franz Schnider – Werner Stenger,Studien zum neutestamentlichen Briefformular (NTTS 11), Leiden 1987.

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b. Weshalb Paulus betont, als Apostel nicht von Menschen abhängig zu sein, erklärt sich aus der Kritik, der er in Galatien ausgesetzt war (vgl. Gal 1,6-9), und entspricht seiner ebenso prekären wie profilierten Position als „letzter“ Apos-tel (1Kor 15,1-11).8 Paulus muss immer darum kämpfen, als Apostel außer der Reihe9

c. Die Adressaten werden als Kirchenmitglieder Galatiens angeschrieben.

anerkannt zu werden. Das ist ein großes Thema des Galaterbriefes (Gal 1,10 – 2,10).

• „Ekklesia“ ist im Bibelgriechischen der Septuaginta (neben „Synagoge“) eine Bezeichnung für das Volk Gottes (qehal el / JHWH). Der Akzent liegt weniger auf der Vereinigung (das passt zu „Synagoge“) als auf der Berufung durch Gott („Ekklesia“ von ek-kaleomai – herausrufen). „Ekklesia“ ist im politischen Bereich Griechenlands und Roms die Ver-sammlung der stimmberechtigten Bürger einer Stadt.

• Bei Paulus hat das Wort „Ekklesia“ drei Grundbedeutungen, die zu-sammengehören, aber nach den Kontexten unterschiedlich akzentuiert sind:

o die Versammlung der Gläubigen zum Gottesdienst, z.B. in 1Kor 11,18;

o die Kirche (oder Gemeinde) vor Ort, z.B. in Gal 1,22; o die eine Kirche Gottes (una sancta), z.B.in Gal 1,13.

Die drei Aspekte gehören wechselseitig zusammen, weil sich vor Ort immer die eine Kirche versammelt und die eine Kirche keine abstrakte Größe ist, sondern sich vor Ort realisiert.10

• In der paulinischen Ekklesiologie wird der biblisch-theologische Grund-sinn des Wortes aufgenommen, weil die Christen dem Apostel zufolge durch die Taufe zu Mitgliedern des Gottesvolkes geworden sind (mit der offenen Frage nach dem theologischen Status der Juden, die nicht an Jesus Christus glauben). Gleichzeitig wird der politische Anspruch geltend gemacht und das volle Bürgerrecht für alle Getauften betont (vgl. Gal 3,26ff.): „Kirche der Freiheit“ ist ein paulinisches Motto, das aber nicht der konfessionellen Abgrenzung, sondern einer qualifizierten Einheit der Kirche dient.

d. Strittig ist, welches „Galatien“ Paulus meint.

8 Vgl. Robert Vorholt, Der Dienst der Versöhnung. Studien zur Apostolatstheologie bei Paulus (WMANT 118), Neukirchen-Vluyn 2008. 9Erik Peterson nennt ihn einen Ausnahme-Apostel: Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien, hg. v. Hans-Ulrich Weidemann (Ausgewählte Schriften 7), Würzburg 2006, 3-22. 10 In der Exegese ist strittig, ob bereits Paulus oder erst die Paulusschule mit dem Epheserbrief die Kirche als eine universale Gesamtgröße gesehen hat; eine skeptische Auffassung vertritt Josef Hainz, Neues Testament und Kirche. Gesammelte Aufsätze, Regensburg 2006. Skepsis der Skepsis gegenüber begründet gerade die Aussagen des Paulus über seine unrühmliche Vergangenheit als Christenverfolger (1Kor 15,9).

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• Die eine Hypothese deutet „Galatien“ als Bezeichnung der römischen Provinz. Dann ist das Gebiet von Ikonion, Lystra und Derbe umfasst, das Paulus mit Barnabas auf der ersten Missionsreise evangelisiert hat (Apg 13-14; vgl. Gal 1,21).11 Diese „südgalatische“ Hypothese verträgt sich gut mit einer relativen Frühdatierung des Galaterbriefes vor der Korin-therkorrespondenz, ist aber nicht zwingend mit ihr gekoppelt12

Für diese These werden gewichtige Gründe angeführt: .

o Im Süden der Provinz Galatien gab es eine starke Judenschaft. Dadurch kann sich die starke judenchristliche Kritik an Paulus erklären.

o Paulus hat auch in 2Kor 1,1 eine Provinz („Achaia“) in der Ad-resse seines Briefes.

o Lukas erzählt ausführlich von einer Mission im südgalatischen Gebiet (Apg 13-14).

• Die andere Hypothese deutet „Galatien“ als Bezeichnung einer klein-asiatischen Landschaft: ein Gebiet relativ weit im Norden um die heuti-ge türkische Hauptstadt Ankara. Diese These verträgt sich besonders gut mit der relativen Spätdatierung des Galaterbriefes.13

o Paulus nennt im Brief sonst Landschaften, nicht Provinzen (1,17: „Arabien“; 1,21: „Syrien“ und „Kilikien“; 1,22: „Judäa“).

Für diese The-se werden gleichfalls gewichtige Gründe angeführt.

o Paulus redet in Gal 3,1 die Adressaten als „Galater“ an. Das ist das griechische Wort für „Kelten“; das anatolische Hochland ist damals ein Haupt-Siedlungsgebiet der Kelten.

o In Gal 1,21 hätte Paulus bei seinem Rechenschaftsbericht leicht die Galater selbst als Missionierte erwähnen können, wenn er von seiner Mission in Syrien und Kilikien schreibt.

o In Gal 4,12-20 rekapituliert er seinen ersten Missionsbesuch, lässt aber Barnabas unerwähnt (den er aber in 2,11-14 erwähnt hat), obwohl der auf der „ersten“ Missionsreise (Apg 13-14) sein Mentor gewesen ist.

Der Widerspruch lässt sich nicht ganz auflösen.

e. Den Friedenswunsch baut Paulus mithilfe einer christologischen Kurzformel des Glaubens aus, der anderen Aussagen über die Dahingabe Jesu zu Gott (Röm 4,25; 8,32 u.ö.) und der Selbsthingabe Jesu (Gal 2,19f.; vgl. Eph 5,2.25),

11 Vgl. Cilliers Breytenbach, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996. 12 Vgl. Dieter Sänger, Die Adresse des Galaterbriefes. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem, in: Bernd Kollmann - Michael Bachmann (Hg.), Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situierung der Theologie des Paulusschreibens (BThSt 106), Neukirchen-Vluyn 2010, 1-56. 13 Vertreten u.a. von Udo Schnelle, Einleitung 113-116; Michael Theobald, in: Ebner/Schreiber, Einleitung 350-355.

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entspricht (Gal 1,4). Die Formel ist eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten, die Heilsbedeutung des Todes Jesu zu beschreiben.

• Das Hauptverb ist „Geben“. Der Tod Jesu ist eine Gabe, eine Geschenk. Diese Gabe, dieses Geschenk empfangen die Menschen, die es anneh-men. Das sind die Gläubigen.

• Die Gabe besteht nach Gal 1,4 in einer Herauslösung der Gläubigen aus den tödlichen Verstrickungen, in denen der gegenwärtige „Aön“ sie ge-fangen hält.

o Im Hintergrund der Aussage steht die Zwei-Äonen-Lehre der jü-dischen Apokalyptik.

o Der gegenwärtige „Aön“ ist die gegenwärtige Weltzeit, betrach-tet als eine Lebenssphäre, die im Zeichen des Todes steht, weil sie vom Bösen beherrscht wird.

o Der kommende „Äon“ ist die jenseitige Weltzeit, die ganz von Gottes Leben bestimmt und deshalb ewig ist (vgl. Gal 1,15).

Die Befreiung besteht darin, dass mitten im falschen ein richtiges Leben möglich gemacht wird: durch Jesus Christus und deshalb im Glauben.

Die Heilsvermittlung geschieht durch die Gabe, die Jesus „für“ die Sünden ge-geben hat. „Für“ (lat.: pro) heißt im Griechischen (upe,r – hyper):

• wegen: Die Sünder haben einen Erlöser nötig, den es in Jesus Christus gibt;

• anstelle von: Die Sünde hat eine tödliche Macht; diesen Tod nimmt Jesus stellvertre-tend auf sich, damit die Sünder ihn nicht selbst sterben müssen;

• zugunsten von: Die Sünden werden vergeben – und zwar dadurch, dass Jesus sie mit al-len Folgen auf sich nimmt (vgl. Gal 3,13f.).

Das „Für“ ist die zentrale Präposition der Christologie und Soteriologie im Neuen Testament, weil sie die Liebe zum Ausdruck bringt (Gal 2,19f.), die Jesu Leben und seinen Tod wie seine Auferstehung kennzeichnet. Weil die Sünde tötet, kann sie nur durch den Tod besiegt werden; sie wird im Tode Jesu be-siegt, weil er in seinem Tod nicht seiner eigenen Sünde Tribut leistet, sondern seine Hingabe radikalisiert, die sein ganzes Leben auszeichnet. Die Rettung aus der tödlichen Macht der Sünde ist nur auf dem Weg der vollen Hingabe Jesu möglich, weil nur so die Opfer der Sünder zu ihrem Recht kommen, heißt: ei-nen Ort in Gott selbst erlangen.

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4. Das Prooemium (Gal 1,6-9)

a. Üblicherweise dient ein Prooemium der freundlichen Eröffnung des briefli-chen Gespräches, und zwar in Form eines an Gott gerichteten Dankes (vgl. 1Kor 1,4-9). Nichts davon im Galaterbrief: Paulus fällt als Kritiker der Galater mit der Tür ins Haus. Er wird sofort polemisch. Er nimmt seine Gegner ins Vi-sier. Er sieht für sie keinen Platz im Haus des Glaubens; deshalb formuliert er ein doppeltes: „Anathema“. So wie Ketzer aus der jüdischen Synagoge ausge-schlossen werden, so duldet Paulus keine Kirchengemeinschaft mit seinen Kontrahenten in Galatien. Er sieht die galatischen Gemeinden im Begriff, sich von dem einzig wahren Evangelium abzukehren, das er ihnen gebracht hat, und warnt vor den Konse-quenzen. Das eine Evangelium, dessen Wahrheit er reklamieren wird (Gal 2,5.14), ist für ihn nicht mit den besonderen Merkmalen der paulinischen The-ologie identisch, sondern das, was ihn und seine Verkündigung mit der Bot-schaft aller anderen Apostel verbindet (Gal 2,1-10; vgl. 1Kor 15,1-11). Deshalb bekämpft er nicht irgendeine Variante, sondern einen Grundwiderspruch. Paulus kämpft um seine Gemeinden gegen seine Gegner. Er weiß, dass er sich engagieren muss, ist aber überzeugt, den Kampf zu gewinnen, weil er die bes-seren Argumente auf seiner Seite hat. Ob dieses Kalkül aufgegangen ist, kann nur vermutet werden.

b. Wenn man den Galaterbrief als eine Streitschrift lesen kann, ist es mit aller gebotenen Vorsicht möglich, einige Eckpunkte der Theologie zu markieren, die von den Paulusgegnern markiert worden sind14

• Es handelt sich um christliche Missionare, die ein „Evangelium“ ver-kündet haben (Gal 1,6f.); sonst machte das „Anathema“ (Gal 1,8f.) kei-nen Sinn.

.

• Diese christlichen Missionare haben von den – heidenchristlichen (Gal 4,8f.) – Galatern die Beschneidung verlangt (Gal 6,12f.; vgl. 5,1-12; auch 2,3.7; 3,28; 6,15). Damit erweisen sie sich als Judenchristen, die keinen direkten Weg von Heiden in die Kirche akzeptieren, sondern verlangen, dass erst Jude werden müsse, wer Christ werden wolle. Wahrscheinlich haben sie auf das Beispiel Abrahams verwiesen, der sich und sein gan-zes Haus hat beschneiden lassen (Gen 17).

14 Meine eigenen Überlegungen sind zusammengefasst in: Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie (WUNT 93), Tübingen 1997, 132-152 (mit der Diskussion der älteren Literatur); danach Lorenz Oberlinner, „Kein anderes Evangelium!“ Die Auseinandersetzung des Paulus mit seinen „Gegnern“ im Galaterbrief, in: C. Mayer - K. Müller - G. Schmalenberg (Hg.), Nach den Anfängen fragen, Gießen 1994, 461-499; John C. Hurd, Reflections concerning Paul’s „Opponents“ in Galatia, in:Stanley E. Porter (Hg.), Paul and his Opponents (Pauline Studies 2), Leiden 2005, 129-148.

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c. Neben diesen eindeutig judaistischen Positionen, zu denen es theologiege-schichtliche Parallelen gibt (vgl. Gal 2,1-5 – Apg 15,1.5; weiter Phil 3,1-9), tre-ten in der Darstellung der Gegner im Galaterbrief einige synkretistische Ele-mente, bei denen strittig ist, ob es sich um Diffamierungen durch Paulus, um schiefe Konkretionen durch die Galater oder um Positionen der Gegner han-delt.

• Paulus kritisiert mangelnde Konsequenz bei seinen Gegnern: Sie wür-den zwar die Beschneidung propagieren – aber er sei es, der auf die Konsequenzen aufmerksam machen müsse, dass dann das ganze Ge-setz in all seinen auch als unangenehm empfundenen Details buchstäb-lich eingehalten werden müsse (Gal 5,3; 6,13).

• Paulus kritisiert, dass die Galater mit der Beschneidung einen Dienst an den „Weltelementen“ beginnen wollten, der sich in religiöser Skrupulo-sität zeige (Gal 4,9f.).

d. Paulus zieht den Konflikt von Anfang an ins Grundsätzliche. Er wird als Apos-tel attackiert – und zwar sowohl persönlich wie auch programmatisch. Weil er die Herausforderung annimmt und theologisch auf die Wurzel zurückführt, wird der Galaterbrief zu einem profilierten Zeugnis paulinischer Theologie.

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5. Die apostolische Selbstbiographie (Gal 1,10-24)

a. Paulus ist einer der ersten Menschen, die mit Bedacht „Ich“ gesagt haben. Die Geschichte der Entdeckung menschlicher Subjektivität ist mit der paulini-schen Anthropologie eng verknüpft. Die Erfahrung und Reflexion seines „Ich“ folgt aus der Erfahrung und Reflexion des „Du“ in der Person Jesu Christi und der Erfahrung und Reflexion eines „Wir“ in Gestalt der Kirche (Gal 2,16-21).15

b. Weil Paulus als Apostel angefochten und umstritten war, muss er seine Bio-graphie mit der dramatischen Kehre seines Lebens zum Gegenstand theologi-scher Reflexion machen, die sowohl sein altes und neues Gottesverhältnis als auch seine Rolle in der Kirche erhellt.

Dies geschieht meist aus gegebenem Anlass, weil seine Autorität als Apostel, seine Botschaft oder der Stil seiner Verkündigung kritisiert worden waren oder zur Klärung Anlass boten (1Thess 2; 1Kor 9; 15,1-11; 2Kor 3.5; Phil 3; Röm 1,8-17; 15,14-29). Gal 1,10-24 ist das Paradebeispiel einer theologischen Apologie. Sie geschieht in Form einer personalen Theologie, die Glaubenserfahrung, Auf-gabe und Selbstbild aufeinander bezieht.

c. Die apostolatstheologische Selbstbiographie in Gal 1,10-24 reagiert auf die Situation, die Kritik an Paulus durch seine Gegner. Taugt der Brief als Spiegel, haben die Kontrahenten Biographisches und Theologisches verbunden. Ihre Mission in Galatien lässt sich nur als eine vielleicht nicht von Anfang an so an-gelegte, aber schnell so entwickelte antipaulinische Mission erklären. Gal 1,10-24 nimmt die Problemanzeige des Präskriptes auf (Gal 1,1) und bringt die Lösung im Sinne des Apostels. Gal 1,10-24 ist der erste Passus von drei Schritten der Selbstverteidigung, Selbsterklärung und Selbststilisierung, die ihrerseits die Herkunft, den Inhalt und das Ziel der apostolischen Sendung verbinden.

Gal 1,10-24 Die Berufung des Apostels Paulus

Gal 2,1-10 Die Anerkennung des Apostels Paulus

Gal 2,11-14(21) Die Bewährung des Apostels

Die Bewährung des Apostels im antiochenischen Konflikt mit Petrus geht un-merklich in eine theologische Explikation des Evangeliums unter dem Vorzei-chen der Rechtfertigungslehre über.

15 Vgl. Th. Söding, „Ich lebe, aber nicht ich“ (Gal 2,20). Die theologische Physiognomie des Paulus, in: Communio 38 (2009) 119-134

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5.1 Die Selbstverteidigung des Apostels a. Paulus macht von seinem ältesten erhaltenen Brief an (1Thess 2,1-12) im-mer für sich geltend, dass er zwar große Anstrengungen unternimmt, Men-schen für das Evangelium zu gewinnen; im religionsgeschichtlichen Vergleich ergibt sich auch, dass er keine Berührungsängste hat, in der Sprache der Ad-ressaten das Evangelium zu verkünden. Aber er unterscheidet diese gewin-nende Missionierung scharf von einer Überredungskunst, die schmeichelt, und von einer Banalisierung, der Zustimmung alles ist (Gal 1,10). Würde er sich Menschen anpassen, wäre er deshalb seinem Christusdienst untreu geworden, weil Christus gerade am Kreuz, das den Menschen Anstoß bietet (1Kor 1,18ff.), seinen Heilsdienst an den Menschen erfüllt hat, von dem her der Apostolat entsteht. Paulus könnte aber Anlass gehabt haben, sich des Vorwurfs zu er-wehren, er biedere sich als Apostel bei den Leuten an, weil er keine Beschnei-dung fordert und die Speisegebote nicht kasuistisch auslegt.

b. In Gal 1,11 stellt Paulus eine Verbindung her, die vielleicht auf Kritik an sei-ner Person und Botschaft reagiert und jedenfalls den Gedankengang des Brie-fes vorstrukturiert:

• Das Evangelium ist „nach Menschenart“. • Das Evangelium stammt nicht „von Menschen“. Es stammt vielmehr

aus einer „Offenbarung Jesu Christi“. Zwischen beidem besteht eine sachliche Beziehung. Hätte Paulus das Evange-lium von Menschen empfangen, wäre es von Anfang an nach Menschenart. Da er es aber von Gott selbst durch Jesus Christus empfangen hat (vgl. Gal 2,10.11), muss er das Evangelium auch so verkünden, dass er zwar dem Volk aufs Maul schaut (Luther), aber nicht nach dem Munde redet. Als Scharnier des Briefes verstanden, erklärt der Vers die Logik des Schreibens:

• Die apostolische Selbstbiographie in Gal 1,10-24 zeigt, dass und wie Paulus das Evangelium, das er verkündet hat, aus einer Offenbarung empfangen hat, also nicht einer menschlichen Instanz verdankt, son-dern Gott. In Gal 1,16 taucht das Wortfeld der Offenbarung wieder auf. Hier ist der Ankerpunkt der biographischen Apostolatstheologie.

• Die Entwicklung der Rechtfertigungstheologie (ab Gal 2,16) und der Ethik (ab Gal 5,13) zeigt, dass und wie das paulinische Evangelium nicht „nach Menschenart“ (kata. a;nqrwpon), sondern „nach der Schrift“ (kata. ta.j grafa,j) ist (1Kor 15,3ff.).

5.2 Die Aufarbeitung der Vergangenheit In Gal 1,13f. beschreibt Paulus – von seinem neuen Standpunkt des Christus-glaubens aus – seine Vergangenheit.16

16 Vgl. Martin Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders. - Ulrich Heckel (Hg.), Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177-293; Martin Hengel – Anna Maria Schwe-

Seine Biographie ist an dieser Stelle

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nicht die kritische Abrechnung eines Aussteigers, der den Institutionen Vor-würfe macht, die ihm einst Heimat boten, sondern Selbstkritik.

• Das Problem, das er anspricht, ist seine Christenverfolgung. • Was er aufarbeiten muss, ist nicht die jüdische Gesetzestheologie und -

praxis, sondern sein eigener Umgang damit.

5.2.1 Die Christenverfolgung a. Die Verfolgung, von der Paulus spricht, ist eine religiöse Zwangsmaßnahme, die mit allen Mitteln eine religiöse Praxis unterbinden soll, die als abweichend, gefährlich, inakzeptabel eingeschätzt wird.

• Paulus verwendet in Gal 1,13 dasselbe Wort wie dort, wo er seine ei-genen Verfolgungen als Apostel beschreibt (Gal 5,11; vgl. 6,12f.).

• Von Verfolgungen der Jünger spricht schon die älteste Jesustradition (Mt 5,10ff).

Verfolgung aus religiösen Gründen ist in der Antike zwar nicht so weit verbrei-tet wie in der Moderne, aber allenthalben präsent. Sie entzündet sich meist am oder im Monotheismus:

• am Monotheismus, wenn er als intolerant, inkompatibel, asozial galt, • im Monotheismus, wenn er einen Wahrheitsanspruch artikuliert, der

die Wahrheit einer anderen Religion nicht anerkennen, sondern nur aberkennen kann.

Im Kern steht das Gewaltproblem.

b. Die Verfolgung richtet sich auf die „Kirche Gottes“ (Gal 1,13; vgl. 1Kor 15,7). Dass die ersten Christen sich selbst bereits als „Kirche Gottes“ bezeichnet ha-ben, wird ernsthaft diskutiert.17

c. In welcher Form die Verfolgung stattgefunden hat, lässt sich nicht mehr ge-nau erkennen. Die paulinischen Leidenskataloge (Peristasen) verweisen auf ein großes Arsenal an Maßnahmen: Verhöre und Verbote, Inhaftierung, Züchti-gung, Geißelung, Steinigung (2Kor 11,22-25).

Im Licht der Apostelgeschichte wird man am ehesten an Jerusalem und Damaskus denken (vgl. Gal 1,17).

5.2.2 Der Übereifer a. Zweimal (Gal 1,13.14) begegnet das Leitwort „Judentum“ (VIoudai?smo,j). Es ist damals noch recht neu. Es ist ein kulturgeschichtlicher Begriff mit theologi-scher Bedeutung. Er bezeichnet in einem umfassenden Sinn jüdisches Leben nach dem Gesetz. Er kennzeichnet das Judentum als Religion.

mer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998. 17 Vgl. Helmut Merklein,Die Ekklesia Gottes. Der Kirchenbegriff bei Paulus und in Jerusalem, in: Merklein, H., Studien zu Jesus und Paulus, Tübingen 1987, 296-318.

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• In Phil 3,5 expliziert Paulus, dass er sein Judesein als Pharisäer gelebt hat. Das entspricht den Angaben der Apostelgeschichte.18 Die Pharisäer waren eine ambitionierte und erfolgreiche Reformbewegung im Früh-judentum; ihr Ziel scheint es gewesen zu sein, die priesterlichen Rein-heitsvorschriften und Heiligkeitsideale zu popularisieren, um das ganze Volk zu einem priesterlichen Gottesvolk zu machen.19

• Zu den Reformambitionen der Pharisäer und zur erzählten Biographie in der Apostelgeschichte passt, dass Paulus in Gal 1,13f. von seinen „Fortschritten“ spricht: Gemeint ist, dass er das Judesein – pharisäi-scher Prägung – besonders intensiv, besonders streng, besonders eifrig zu seiner Sache gemacht hat.

(Wegen ihres re-ligiösen Engagements sind sie als Gegner Jesu in den Evangelien inte-ressant.)

b. Paulus analysiert(entgegen dem Eindruck, den zahlreiche Übersetzungen und Deutung erwecken) nicht, es sei seine Gesetzestreue gewesen, die ihn zum Kirchenhasser hat werden lassen, sondern sein Übereifer und seine Maß-losigkeit. Damit spricht er – in den Kategorien allgemeiner, stoisch inspirierter Ethik – von einer persönlichen Schuld, für die er die Verantwortung überneh-men muss. Wäre es anders, hätte er denken müssen, konsequenter Gesetzes-gehorsam führte notwendig zur Christenverfolgung. Das hat er aber als Irrweg erkannt. Den Fehler seines Lebens spricht er offen an – weil er ihm immer wieder vorgehalten worden ist und weil er sich intensiv mit ihm auseinander-gesetzt hat.

18 Aufgearbeitet von Klaus Haacker, Paulus, der Apostel. Wie er wurde, was er war, Stuttgart 2008. 19 Vgl. Günter Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991.

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5.3 Die Berufung und Bekehrung a. Paulus reflektiert in verschiedenen Briefen und verschiedenen Aspekten seine Damaskusstunde, die seinem Leben eine neue Wende gegeben hat. Reli-gionsgeschichtlich stehen zwei Modelle bereit, den Wandel zu erklären:

• Bekehrung • und Berufung.

Beide Modelle sind missverständlich und interpretationsbedürftig, aber cha-rakteristisch und notwendig.20

b. In Gal 1 dominiert der Aspekt der Berufung.

• Paulus verwendet Gal 1,15f. die alttestamentlich gefärbte Sprache von Prophetenberufungen.

o Diese Berufung ist schon „im Mutterleib“ erfolgt, wie bei Jeremia (1,5) und Jesaja (49,1).

o Sie ist eine Offenbarung (vgl. Gal 1,12) „in“ Paulus. Wesentliche Aspekte der paulinischen Apostolatstheologie sind im Al-ten Testament vorgegeben, besonders die pränatale Erwählung durch Gott und die Universalität des Horizontes.

• Paulus kennt eigene christliche Prophetinnen und Propheten (1Kor 12,28). Aber als Apostel ist er insofern Prophet, als er Gottes Wort, das Evan-gelium, gehört hat und verkünden soll.

• Die „Offenbarung Jesu Christi“ (Gal 1,13) lässt sich im zweifachen Sinn des Genitivs verstehen. Nach Gal 1,16 hat sie ihren Ort „in“ Paulus: in seinem Herzen, seiner Seele, seinem Verstand, seinen Kräften. Die Per-sonalität des biblischen Offenbarungsbegriffs kommt so intensiv zum Ausdruck. Im Kontext des Galaterbriefes hat das Bestehen auf einer „Offenba-rung“ den Sinn, die Unabhängigkeit des Apostels von menschlichen Vermittlungen und Anerkennungen zu begründen. Er ist ein Ausnahme-Apostel, aber durch die ihm zuteil gewordene Christusoffenbarung ein erstklassiger Apostel, der mit Petrus auf Augenhöhe spricht.

c. Von Gal 1,13f. her gelesen, kann Gal 1,15f. aber auch als Bekehrung auf-grund der Berufung interpretiert werden: Er ist bekehrt worden, die Kirche Gottes nicht mehr zu verfolgen, wozu er sich in seinem Übereifer für das Ge-setz habe hinreißen lassen. Die Bekehrung geschieht nicht vom Judentum zum Christentum, sondern von der Gewaltaktion zur Friedensmission.

20 Vgl. meinen Artikel: Paulus von Tarsus – seine Berufung und Bekehrung, in: Norbert Kleyboldt (Hg.), Paulus. Identität und Universalität des Evangeliums, Münster 2009, 12-43.

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5. 4. Der vorkonziliare Apostel a. In Gal 1,17-24 erzählt Paulus in groben Zügen seine Geschichte bis zum Apostelkonzil. Ihm kommt es darauf an, die Unabhängigkeit seines Apostolates zu betonen. Deshalb blendet er seine eigene Initiation in die Kirche aus, wäh-rend er seine Eigenständigkeit betont. Allerdings hält er – wenn auch lockeren – Kontakt mit Jerusalem und besonders Petrus/Kephas. Während Gal 1,17ff. eher Prozesse der Selbstfindung beschreiben könnte, ist in Gal 1,22ff. die aktive Mission im Bild.

b. Die knappen Angaben können mit der Apostelgeschichte verglichen werden. Dann erhellt Gal 1,21

• entweder einen Teil der sog. Ersten Missionsreise (Apg 13-14), und zwar den, der nahe an das Gebiet der Galater heranführt („nordgalati-sche Hypothese) resp. die Vorgeschichte der galatischen Gemeinden streift („südgalatische Hypothese“),

• oder verborgene Jahre des Apostels in Antiochia (Syrien), seiner Hei-matgemeinde, und Tarsus (Kilikien), seiner Heimatstadt (vgl. Apg 9,30; 11,25; vgl. 15,41).

c. Nimmt man Gal 2,1 hinzu, hilft der Vers, die absolute Chronologie der Pau-lusbiographie und der Geschichte des Urchristentums zu erhellen.

• Aufgrund von Apg 18,12-17 („Gallio-Notiz“) kann man den Gründungs-aufenthalt des Paulus in Korinth auf ca. 50 n. Chr. datieren.

• Nimmt man die erzählte Chronologie der Zweiten Missionsreise zum Maßstab, war das Apostelkonzil (Gal 2,1-10; Apg 15,1-35) ca. 48 n. Chr.

• Rechnet man die vierzehn Jahre von Gal 2,1 zurück, landet man (je nach Rechenart) in den Jahren 36-34 n. Chr. für die Begegnung in Jeru-salem mit Petrus (Gal 1,17).

• Subtrahiert man davon die drei Jahre von Gal 1,18, errechnet sich 32-33 n.Chr. als Datum der paulinischen Berufung.

• Diese Datierung passt gut zum aus astronomischen Berechnungen (Sabbat an einem Samstag, so Johannes, oder Freitag, so die Synopti-ker) zu erschließenden Todesdatum Jesu ca. 30 n. Chr.

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6. Das Apostelkonzil (Gal 2,1-10)

a. Der paulinische Bericht vom Apostelkonzil ist ein Übergang vom biographi-schen zum theologischen Teil der Evangeliums-Theologie. Nachdem Gal 1,10-24 die Berufung und bevor Gal 2,11-14 die Bewährung des Apostolates erzählt, dokumentiert Gal 2,1-10 die Anerkennung des Paulus und seines Missionsstiles durch Jerusalem. Das hat Folgen für die ganze Kirche – oder sollte Folgen ha-ben.

b. Der paulinische Bericht ist in der Darstellung parteiisch, in der Theologie entschieden, im Stil nüchtern und in der Gliederung klar.

Gal 2,1-3 Einführung: Die Initiative des Paulus

Gal 2,4f. Konflikt: Die Auseinandersetzung mit den Nomisten

Gal 2,6-10 Konsens: Die Verständigung mit den „Säulen“

Der Auftakt nimmt das Ende bereits vorweg. Paulus erzählt nicht eine span-nende Geschichte, wie es nach zähem Hin und Her zu einem Ergebnis gekom-men ist, sondern lässt von Anfang keinen Zweifel aufkommen, dass er – dank einer speziellen Offenbarung – die Chance genutzt hat, in Jerusalem Klarheit zu schaffen. Das knüpft an den Jahre zurückliegenden Petrusbesuch an (Gal 1,18f.), gewinnt aber eine andere Qualität. Nach Paulus ist eine definitive Ent-scheidung gefallen: eine Weichenstellung für die ganze Kirche.

c. Die ekklesiologische Bedeutung des Apostelkonzils ist in der Forschung prin-zipiell anerkannt, im Detail jedoch umstritten.

• Weil der Begriff „Konzil“ vielen zu hochkirchlich scheint, wird er in der Exegese oft kritisiert und für spätere Versammlungen wie die altkirchli-chen Konzilien ab Nikaia I (325 n. Chr.) reserviert. Die Unterschiede sind nicht zu leugnen. Aber eine terminologische Ent-koppelung kann sich theologisch rächen, weil auch sie unter Ideologie-verdacht geraten kann. Andere Begriffe – Apostelkonvent; Aposteltreffen; Jerusalemer Ge-spräch – sollen die kirchengeschichtliche und kirchenrechtliche Bedeu-tung herunterspielen, arbeiten aber gleichfalls mit anachronistisch an-mutenden Begriffen und stehen in der Gefahr, die historische Wei-chenstellung zu unterschätzen.

• Während Paulus den Eindruck einer großer Eintracht erwecken will, die zwischen ihm und Jerusalem hergestellt worden ist, vermuten manche Exegeten, der Riss sei mühsam gekittet worden; im Grunde hätte es zwei Kirchentypen nach dem „Konzil“ gegeben.

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d. Zu Gal 2,1-10 gibt es eine Parallele in Apg 15,1-35. Trotz einiger Unterschie-de in der Darstellung ist dasselbe Ereignis gemeint.21

• Gemeinsam sind:

o das Konzil: eine Zusammenkunft von Aposteln, o der Ort: Jerusalem, o die Hauptakteure: Paulus und Barnabas auf der einen Seite, ju-

daistischer Gegner auf der anderen Seite – und Petrus sowie Ja-kobus mit anderen Jerusalemern in der Mitte,

o das Thema: die beschneidungsfreie Völkermission mit ihrer Konsequenz für eine liberale Gesetzespraxis,

o der Beschlusstenor: die Anerkennung des Paulus und seiner Mission.

• Allerdings gibt es beachtliche Unterschiede: o Nach Gal 2,1-10 geht Paulus „aufgrund einer Offenbarung“ nach

Jerusalem, nach Apg 15 aufgrund eines Beschlusses der Gemeinde von Antiochia.

o Nach Gal 2,1-10 nimmt Paulus den unbeschnittenen Heiden-christen Titus mit, in Apg 15 ist von ihm keine Rede.

o Nach Gal 2,1-10 spricht Paulus mit der Vollversammlung der Gemeinde und besonders mit den „Säulen“, nach Apg 15 haben Paulus und Barnabas es mit den „Aposteln“ und „Presbytern“ zu tun.

o Nach Apg 15 spielen Reden und Reflexionen des Petrus und Ja-kobus die entscheidende Rolle, nach Gal 2,1-10 war das Statement des Paulus ausschlagge-bend, dem niemand etwas entgegenzusetzen vermochte oder wollte.

o Nach Gal 2,1-10 haben die „Säulen“ Paulus und den anderen aus Antiochia „nichts“ auferlegt, nach Apg 15 werden die Heidenchristen aber verpflichtet, die Minimalvorschriften aus Lev 17-18, eine Vorform der „noachitischen Gebote“, zu halten.

o Nach Gal 2,1-10 ist eine Kollekte der Heidenchristen für die „Armen“ in Jerusalem vereinbart worden, in Apg 15 ist von einer solchen Kollekte keine Rede.

Die Differenzen erklären sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

21 Das bezweifelt Ruth Schäfer,Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II/179), Tübingen 2004.

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6.1 Die Einführung (Gal 2,1ff.) a. Die Einführung nennt in knapper Form Zeit und Ort, die handelnden Perso-nen, indirekt auch das Ergebnis des Konzils.

• Der Ton hat sich gegenüber Gal 1 etwas verlagert. War Paulus in seiner apostolischen Selbstbiographie bislang sehr darauf bedacht, auch im Verhältnis zu Jerusalem seine Unabhängigkeit zu betonen, die in seiner Christus-Berufung begründet ist, und wird er in Gal 2,11-14 seinen Konflikt mit Petrus nicht verschwei-gen, so ist er in Gal 2,1-10 sehr daran interessiert, die Verständigung mit Petrus und den anderen „Säulen“ der Urgemeinde zu betonen, die gleichberechtigte Anerkennung durch sie, die Kommunikation auf Au-genhöhe. Alles ist gegen die Kritik seiner Gegner gerichtet. Paulus betont, dass er nicht auf die Legitimation durch Jerusalem angewiesen sei, aber ihre volle Anerkennung erfahren habe – die ihm also andere nicht verwei-gern dürfen.

• Jerusalem ist auch für Paulus der Ort der Entscheidung, weil die Stadt der Ur-Ort der Kirche ist, der Sitz der Urgemeinde, die neue Heimat de-rer, die vor Paulus Apostel gewesen waren (Gal 1,17).

• Barnabas22

• Die „Offenbarung“, die Paulus nach Gal 2,2 geltend macht, zeigt ers-tens, dass er nicht etwa herbeizitiert wurde, sondern Gottes Inspiration folgt, und zweitens, dass die lebendige Beziehung des apostolischen Propheten Paulus zu Gott und Jesus Christus nach seiner Berufung nicht abgerissen ist,

ist ursprünglich der Mentor des Paulus; Titus ein Muster-schüler, der aus einer heidnischen Familie stammt, also nicht beschnit-ten war. Dass Paulus ihn, den enorm engagierten, verantwortungsbe-wussten und erfolgreichen Mitarbeiter mitnahm, ist mehr als nur ein kluger Schachzug: Wenn Titus nicht gezwungen wurde, sich beschnei-den zu lassen (Gal 2,3), dann kann keinen Heidenchristen dieser Zwang auferlegt werden.

steht aber nicht auf einer Ebene mit der Berufungs-Offenbarung (Gal 1,15f.), sondern zeigt nur, dass die in einen größeren Kontext des Offenbarungshandelns Gottes gehört.23

22 Vgl. Markus Öhler, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelge-schichte (WUNT 156), Tübingen 2003.

23 Anders akzentuiert Ingo Broer, Fundamentalistische Exegese oder kritische Bibelwissen-schaft? Anmerkungen zum Fundamentalismusproblem anhand des paulinischen Offenba-rungsverständnisses, inJürgen Werbick (Hg.), Offenbarungsanspruch und fundamentalistische Versuchung (QD 129), Freiburg - Basel - Wien 1991, 59-88.

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6.2 Der Konflikt (Gal 2,4f.) a. Paulus trägt nicht einen Konflikt mit Petrus, Jakobus und Jerusalem aus, sondern sucht eine Verständigung mit den anderen Aposteln angesichts der Kritik, die an seiner Missionspraxis geübt wurde, die für Antiochia typisch ge-worden ist (Apg 11,20) und auch von Barnabas geübt wurde (Apg 13-14).

b. Die Gegner in Jerusalem werden genauso polemisch etikettiert wie die Pau-lusgegner in Galatien.

• Wirft Paulus denen vor, ein falsches Evangelium zu verkünden (Gal 1,7), so diesen, die Wahrheit des Evangeliums zu verfälschen (Gal 2,5).

• Spricht Paulus dort ein „Anathema“ (Gal 1,8f.), so tituliert er hier die Gegner als „Lügenbrüder“ oder „Falschbrüder“ (Gal 2,4), die sich hineingedrängt haben.

Die Parallelen sind eng genug, dass auf mehr oder weniger identische Positio-nen geschlossen werden kann.

• Hier wie dort steht die Völkermission im Fokus. • Hier wie dort wird die Beschneidung gefordert.

Dass es sich um dieselben Personen handelt, braucht nicht angenommen zu werden.

c. Der kritische Impetus der paulinischen Darstellung wird dann besonders deutlich, wenn sich die galatischen Gegner auf Jerusalem und das dortige Ju-denchristentum berufen haben sollten.

d. Paulus lädt den damaligen Konflikt theologisch enorm auf, indem er – wenn auch ohne nähere Erklärung – zwei theologische Grundbegriffe des Evangeli-ums einführt und aufeinander bezieht: Freiheit und Wahrheit.

• Die „Freiheit“ meint in erster Linie die der Heidenchristen von der Pflicht zur Beschneidung, dann aber auch von dem Gesetzesgehorsam, wie ihn Paulus früher als Pharisäer selbst propagiert hat und wie ihn seine Gegner in Jerusalem wie in Galatien als Christen einfordern. Wel-che Konsequenzen diese Freiheit für die Gottesbeziehung und die Nächstenliebe hat, wird Paulus später zeigen.

• Die „Wahrheit“ meint die Übereinstimmung mit dem Grundsinn des Todes und der Auferstehung Jesu, die Prägung durch das dadurch ent-stehende Gottesbild, die Unabhängigkeit von menschlicher Anerken-nung (Gal 1,10ff.), die Verkündigung zur größeren Ehre Gottes und zum Heil der Menschen.

Wahrheit und Freiheit gehören zusammen, weil Gott in Jesus Christus das Heil aller Menschen will.

6.3 Der Konsens (Gal 2,6-10) a. In einem komplizierten Satzgefüge hält Paulus nicht nur fest, dass, sondern auch, weshalb es zur Verständigung mit den „Säulen“ gekommen ist, der per

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Handschlag besiegelt worden ist. Die offene Argumentation stärkt die Position des Paulus in Galatien und schwächt die seiner Gegner, weil sein Apostolat (jedenfalls dem Anspruch nach) auf Klarheit, Offenheit, Verständlichkeit be-ruht. Die Anerkennung ist nicht erschlichen, sondern begründet.

b. Die Partner des Paulus sind „Jakobus, Kephas und Johannes“ (Gal 2,9). • Alle drei sind Apostel (vgl. Gal 1,17; 1Kor 15,5ff.). • Jakobus hatte Paulus zuvor schon besucht, als er Petrus treffen wollte

(Gal 1,19). • Auffällig ist die Reihenfolge: dass nicht Kephas/Petrus, sondern Jakobus

an erster Stelle steht: o als Leiter der Urgemeinde24

o als Sprecher der Judenchristen und potentieller Paulusgegner (vgl. Gal 2,12)?

, während Petrus in erster Linie weltweit agierender Missionar ist?

Die Antwort muss offenbleiben. Zu Spekulationen über einen „Putsch“ in Jerusalem, der zur Entmachtung des Petrus und zur Etablierung einer Herrschaft der Verwandten Jesu geführt habe, besteht kein Anlass. Die Titulierung als „Säulen“ ist sicher die Übernahme einer Selbstbe-zeichnung. Damit ist die tragende Rolle der Drei unterstrichen, die al-lerdings nirgends sonst als „Dreigestirn“ bezeugt sind. Ob die Säulen-Metapher anzeigen soll, dass sich die Urgemeinde als Tempel Gottes gesehen hat, kann nicht zweifelsfrei entschieden werden.

• Mehrfach werden sie als „Angesehene“ von Paulus charakterisiert (Gal 2,2.6.9). Das griechische Wort (dokei/n) kann zwar auch den bloßen An-schein meinen. Dennoch zeigt Vers 2, dass Paulus sich nicht distanziert (was seine Position in Galatien auch nur schwächen könnte), sondern die Drei selbst als Säulen ansieht. Wenn er eine kritische Beurteilung andeutet, dann in der Parenthese von Gal 2,6: Er, der sich als Kirchenverfolger outen muss, weiß auch um die dunklen Flecken in der Biographie des Petrus (der Jesus verleugnet) und des Herrenbruders Jakobus, der Jesus vor Ostern abgelehnt hat (Mk 3,21f.31-35 parr.). Aber das mindert seinen Respekt nicht – wie auch jeder ihn mit seiner Biographie als Apostel respektieren soll.

c. Die Substanz der Übereinstimmung ist die Anerkennung des Paulus als Apos-tel durch die Jerusalemer.

• Paulus verwendet das Abstraktum „Apostolat“ (Gal 2,8), das er im strengen Sinn für einen vom Auferstandenen selbst gesandten Missio-nar und Kirchengründer reserviert (vgl. Röm 1,5; 1Kor 9,2).

24 Vgl. Martin Hengel, Jakobus der Herrenbruder - der erste Papst?, in: Erich Gräßer - Otto Merk (Hg.), Glaube und Eschatologie. FS Werner Georg Kümmel, Göttingen 1985, 71-104.

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• Der Apostel im strengen Sinn des Wortes ist durch seinen Bezug zum Evangelium geprägt: Er verkündet es; er lebt es.

• Paulus konzentriert die Darstellung auf das Gegenüber und Miteinan-der von sich selbst und Kephas. Beide sind Prototypen unterschiedli-cher Sendungen; beide kooperieren. Paulus misst sich an Petrus – und wird von ihm wie von allen anderen anerkannt.

Die Gemeinsamkeit des Apostolates begründet eine Unterschiedlichkeit der Wege. Kephas wird eine Berufung zum Juden-Apostolat, Paulus (im Einklang mit Gal 1,16) zum Heiden-Apostolat zugeschrieben. Allerdings ist die Pointe dieser Vereinbarung nicht ganz klar, weil die Apostelgeschichte berichtet, dass Paulus auch nach dem Apostelkonzil in den Synagogen das Evangelium ver-kündet und Petrus nicht mit Korinth, Antiochia und Rom verbunden sein wird, sondern nach Apg 10 den ersten Nicht-Juden, den gottesfürchtigen Haupt-mann Cornelius, getauft hat.

• Sicher ist, dass diejenigen, die auf dem paulinischen Weg, ohne Be-schneidung, in die Kirche gelangt sind, weder die Beschneidung der Ju-den schlechtreden, behindern oder verdächtigen noch selbst Judenmis-sion betreiben. Dass Paulus, wie er schreibt, „nichts auferlegt“ wurde (Gal 2,6), meint im Kern, dass er keine Beschneidung zu verlangen hat und auch den Gesetzesgehorsam weiterhin so auslegen kann, wie er es tut (und im Galaterbrief explizieren wird).

• Sicher ist auch, dass Petrus weder auf Heidenmission verzichtet noch von den Heiden die Beschneidung verlangt hat. Die Judenmission ist al-so nicht seine exklusive, aber exklusiv seine, d. h. der Judenchristen Aufgabe (zu denen auch Paulus zählt, auch wenn der ein anderes Cha-risma hat).

d. Der Grund für die Anerkennung ist laut Paulus eine Erkenntnis (Gal 2,9), die auf einer Beobachtung beruht (Gal 2,7). Die Beobachtung setzt Erfahrungen und Erzählungen voraus, die Erkenntnis Kritik und Beurteilung.

e. Die Kollekte, die vereinbart worden war (Gal 2,10)25

, ist ein Zeichen der kirchlichen Gemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen, aber in erster Linie eine caritative Aktion für die Urgemeinde.

25Vgl. Stephan Joubert, Paul as Benefactor. Reciprocity, Stratwegy and Theological reflection in Paul’s Collection (WUNT II/124), Tübingen 2000.

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7. Der antiochenische Konflikt

a. Der Stellenwert des Konflikts ist hoch. Er berührt die Kirche von Antiochia an ihrer empfindlichsten Stelle: an der Tischgemeinschaft von Juden und Heiden im Haus des Glaubens, also auch an der Eucharistie.

• Dass Juden- und Heidenchristen „zusammen essen“ (sunesqi,en), ist nach Gal 2,12 der wichtigste Ausdruck ihrer ekklesialen Koinonia.

• Die paulinische Kritik an Petrus zielt darauf, dass er „sich absondert“ (Gal 2,12: avfw,rizen eauto,n).

Mithin steht in Antiochia die Einheit der Kirche auf dem Spiel – ähnlich wie vorher auf dem Apostelkonzil (und aus anderen Gründen als in Korinth). Es bricht der Gegensatz zwischen Juden und Heiden auf (vgl. Gal 2,14), der durch Christus in der Kirche aber im Prinzip überwunden ist (Gal 3,28).

b. Der Konflikt macht sich offenbar an den Reinheitsgeboten und Speisevor-schriften fest, die im Frühjudentum als identity markers große Bedeutung ge-wonnen haben und neben der Beschneidung zu den wichtigsten Konkretionen der „Gesetzeswerke“ gehören. Alle anderen Judenchristen üben auf die Hei-denchristen moralischen Druck aus, dass sieivoudai<zein(Gal 2,14). Strittig ist, ob damit auch die Beschneidung gemeint ist oder nur die Einhaltung jüdischer Speisevorschriften, worauf der Kontext verweist (vgl. 4Makk 4,36).

c. Paulus stellt den Konflikt trotz seines Gewichts – anders als den auf dem Apostelkonzil und in Galatien – nicht als grundsätzlich soteriologisches, son-dern als moralisches Problem dar. Sein Grundvorwurf, den Paulus gegen Pet-rus, aber auch gegen Barnabas und „die übrigen Judenchristen“ in Antiochia richtet, ist der Vorwurf der Heuchelei (upo,krisij). Paulus erkennt bei Petrus und den anderen nicht bestimmte Gründe (wie bei seinen Gegnern auf dem Apostelkonzil), sondern ein Handeln gegen die eigenen Überzeugungen unter dem Deckmantel der Frömmigkeit (Gal 2,13), und zwar aus Angst „vor denen aus der Beschneidung“ (Gal 2,12) – womit schwerlich die Leute des Jakobus (Gal 2,12) oder pharisäische hardliner unter den Judenchristen, sondern am ehesten Juden gemeint sind, die Judenchristen Druck machen (vgl. Apg 8) – wozu Paulus früher ja selbst beigetragen hat. Paulus stellt den Konflikt so dar, dass er durch seinen Appell an das juden-christlich begründete (nämlich schriftkonforme) und prinzipiell von Petrus ge-teilte Glaubenswissen über die Rechtfertigung, die nicht aus Werken des Ge-setzes geschieht, sondern aus Glauben, nicht nur die Heuchelei entlarvt, son-dern auch das Problem langfristig gelöst habe, so dass den galatischen Nomisten jede Möglichkeit genommen ist, sich auf Jerusalem und die „echten“ Apostel zu berufen, wenn sie in Galatien aus theologischen Gründen die Be-schneidung einführen wollen und damit den Gesetzesgehorsam verbindlich machen.

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d. Auf der historischen Ebene stellen sich zahlreiche Fragen, die schwer zu be-antworten sind.

• Paulus lässt den Konflikt auf das Apostelkonzil folgen. Die einfachste Erklärung ist die, dass er damit eine Ereignisfolge nachzeichnet. Wenn das Apostelkonzil ca. 48 n. Chr. stattfand und Paulus ca. 50 auf der (2.) Missionsreise in Korinth war, bleibt ein relativ schmales Zeitfenster für die Datierung – oder der Konflikt wäre er auf die zweite Missionsreise gefolgt.26

• Weshalb Petrus in Antiochia war, geht aus Gal 2 nicht hervor. Dass er dort war, passt aber ins historische Bild, das Petrus abgibt: Lukas schil-dert ihn als Missionar nicht nur in Jerusalem, sondern auch über die Grenzen Judäas hinaus (Apg 10: Caesarea), wendet sich aber nach dem Apostelkonzil (Apg 15) ganz Paulus und seinen Missionsreisen zu.

• Dass nach dem Apostelkonzil der antiochenische Konflikt aufbrechen konnte, ist plausibel, weil

o er nicht das Grundsatzproblem, das dort im Blick auf die Be-schneidung und ihre Folgen gelöst worden war, wiederholt,

o sondern ein Folgeproblem, das in Jerusalem laut Gal 2,1-10 gar nicht diskutiert worden war, betrifft.

Paulus ist sich sicher, im Sinne der Jerusalemer Vereinbarung zu agie-ren. Jakobus hat sie offenbar anders gedeutet; Petrus hat ursprünglich die paulinische Position geteilt und später verlassen.

• Ob Paulus den Konflikt in seinem Sinn gelöst hat, ist strittig, aber wahr-scheinlich. Im Galaterbrief schreibt er vom Konflikt aus einer Position der Stärke heraus. Die Kirche von Antiochia ist, wie Ignatius zeigt, auf die paulinische Linie eingeschwenkt. Dass es zwischenzeitlich ganz an-ders war, ist reine Spekulation. Die Exegese hat zwar einleitungswis-senschaftlich (zu) oft Antiochia im Visier, wenn es um die Heimat des Markus- und Matthäusevangeliums geht. Aber das würde, auch wenn bei Matthäus einige anders urteilen, nicht der Integration paulinischer Theologie widersprechen.

26 So Matthias Konradt, Zur Datierung des sogenannten antiochenischen Zwischenfalls, in: ZNW 102 (2011) 19-39.

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8. Die Rechtfertigungsthese (Gal 2,15-21)

a. Gal 2,15-21 ist der literarisch älteste Beleg für die ausgearbeitete paulini-sche Rechtfertigungslehre. In der Komposition des Galaterbriefes und der The-ologiegeschichte des Urchristentums spielt der Vers eine Doppelrolle.

• Paulus stellt es so dar, als ob er weiter seine Rede gegen Kephas/Petrus referiere.

o Gal 2,15f. ist in der 1. Person Plural formuliert. o In Gal 2,17 nimmt er die 1. Person Plural weiter auf. o In Gal 2,18 sowie in 2,19ff. verwendet er prononciert die 1. Per-

son Singular. Durch die 1. Person entsteht der Eindruck von persönlicher Beteiligung. Vers 18 liest sich als direkte Referenz zum Verhalten des Kephas in Antiochien, das Paulus nach Gal 2,11-14 als Heuchelei kritisiert hat. Erst in Gal 3,1 gibt es einen deutlichen Wechsel mit der direkten Anre-de der Galater.

• Die Formulierung ist aber so geschliffen, dass sie die unmittelbare Re-desituation transzendiert.

o Die 1. Person Plural kann auch ein ekklesiales „Wir“ meinen, das im antiochenischen Konflikt, wie Paulus ihn darstellt, vorge-zeichnet wäre.

o Die 1. Person Plural in Vers 18 lässt jeden Leser in jeder Situati-on nach dem tua res agitur fragen.

o Die 1. Person Singular in den Versen 19ff. lässt Paulus selbst als Vorbild aller Gläubigen hervortreten.

• Die Rechtfertigungsthese selbst wird im Kern als ein gemeinsames Glaubenswissen von Petrus und Paulus erklärt, das sie gerade als Ju-denchristen teilen, wohl weil es der Schrift entspricht (was Paulus im Brief ab Gal 3,6 eingehend ausführen wird). Das ist, rhetorisch betrach-tet, eine Vereinnahmung des Petrus durch Paulus, aber, historisch be-trachtet, ein Indikator, dass das Grundverständnis der Rechtfertigung aus dem Glauben kein theologisches Eigengut des Paulus, sondern eine gemeinsame Tradition des Urchristentums ist.27

Mithin erklärt sich Gal 2,15-21 am ehesten als nachträgliche Ausarbeitung, Konzentration und Profilierung des Plädoyers, das er in Antiochia gehalten hat.

27 Vgl. Michael Theobald, M., Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28) – Eigen-tum des Paulus oder Gemeingut der Kirche?, in: Thomas Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? Das biblische Fundament der „Gemeinsamen Erklärung“ (QD 180), Frei-burg - Basel - Wien 22001 (1999) 131-192.

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b. Der Gedankengang erklärt sich vor dem Hintergrund des Konfliktes, wenn man das Interesse des Paulus versteht, den praktischen Konflikt in Antiochien auf eine Weise vom Grundsatz her zu lösen, dass auch die Auseinandersetzung in Galatien geführt werden kann.

Gal 2,15f. Die These: Rechtfertigung geschieht nicht aus Werken des Gesetzes, sondern aus dem Glauben an Jesus Christus.

Gal 2,17f. Der Einwand und seine Zurückweisung: Durch die Rechtfertigungsthese wird nicht die Sünde christologisch schöngeredet, sondern theologische In-konsequenz kritisiert28

Gal 2,19f. Der positive Nachweis: .

Das Ich des Glaubenden ist durch die Liebe Jesu Christi geprägt, ein für allemal; Paulus ist ein Beispiel.

Gal 2,21 Das Schlussargument: Paulus bringt durch die Rechtfertigungslehre die Gnade heraus, die Gott durch Jesus erwiesen hat.

Mit dieser Argumentation ist die These in einem ersten Angang begründet, auch wenn noch viele Anschlussfragen offenbleiben, insbesondere die Frage nach der Bedeutung des Gesetzes und der Rolle Israels, aber auch nach der ethischen Dimension der Rechtfertigung.

28 Gal 2,17 ist bis in die Übersetzung hinein strittig. Nach Theodor von Mopsuestia (Swete 32) und Ambrosiaster (CSEL 81/3, 28) ist Gal 2,17 nicht als Aussage-, sondern als Fragesatz und mithin eure,qhmen nicht als Irrealis, sondern als Realis zu verstehen; so Heinrich Schlier, Gal 58s.; Jan Lambrecht, The Line of Thought in Gal 2,14b-21, in: NTS 24 (1978) 484-495. Anders allerdings Chrysostomus (PG 61,643) und Hieronymus (PL 26, 368); ihnen folgt Luther, später Rudolf Bultmann, Zur Auslegung von Gal 2,15-18 (1952), in: id., Exegetica. Aufsätze zur Erfor-schung des Neuen Testaments, hg.v. Erich. Dinkler, Tübingen 1967, 394-399; Franz Mußner, Gal 176s. Grammatisch ist beides möglich. Aber mh. ge,noito steht bei Paulus nach einer rheto-rischen Frage und begegnet einem realen oder fiktiven Einwand gegen seine Theologie und verneint nicht den Bedingungssatz (der als evident gilt), sondern den Hauptsatz (vgl. Röm 3,3f.).

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8.1 Die paulinische Antithese a. Gal 2,16 ist komplex konstruiert.

• Im Kern steht ein ganz einfaches Bekenntnis: „Wir glauben an Jesus Christus“, hier mit ingressivem Aorist formuliert, weil es nach wie vor einen narrativen Zug gibt: „Wir sind zum Glauben an Jesus Christus ge-langt.“

• Um dieses Bekenntnis herum wird eine soteriologische Antithese ge-baut. Das „nicht …, sondern …“ profiliert den Glauben in seiner Heils-bedeutung (weil sein wesentlicher Inhalt als gegeben vorausgesetzt werden kann) gegenüber den „Werken des Gesetzes“.

• Das soteriologische Hauptwort heißt „Rechtfertigung“, weil es ein Be-griff ist, der weniger in der Jesustradition (vgl. nur Lk 18,14), wohl aber augenscheinlich in der urchristlichen Tradition (vgl. 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 5,21) verbreitet war und die neutestamentliche Soteriologie eng mit alttestamentlichen und jüdischen Spitzentexten verbindet.

• Die Komplexität des Gedankengangs ist Ausdruck einer inneren Konse-quenz.

o Die beiden Judenchristen Paulus und Petrus sind zum Glauben an Jesus Christus gelangt, weil sie wissen, dass …

o Wenn sie sich aber auf den Weg des Glaubens um der Rechtfer-tigung willen gemacht haben, sollten sie auch auf diesem Weg bleiben und nicht (wie Kephas in Versuchung zu stehen schien) nachträglich andere Bedingungen geltend machen (eben die „Werke des Gesetzes“).

• Die Antithese wird im ersten Anlauf mit einem angedeuteten und an-gepassten Schriftzitat begründet.

o Der Referenzpunkt in der Heiligen Schrift konkretisiert den in Vers 15 vorbereiteten Appell an judenchristliches Glaubenswis-sen.

o Ps 142,2LXX(„Kein Lebenswesen ist gerecht vor dir“) wird um die für Paulus entscheidenden Worte „aus Werken des Gesetzes“ ergänzt (und wahrscheinlich deshalb nicht als Schriftzitat aus-gewiesen), weil er die allgemeine Formulierung des Psalmwortes in ihrer Allgemeinheit affirmiert und im Blick auf die aktuelle Frage konkretisiert.

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b. „Rechtfertigung“ ist ein paulinischer Grundbegriff der Soteriologie mit tiefen biblischen Wurzeln und weitreichender Wirkung.

• Das Verb wird verwendet, weil die Verwirklichung des Heiles mit der Verwirklichung des RechtesGottes identifiziert wird, wobei nicht nur ir-dische, sondern himmlische Gerechtigkeit hergestellt wird. Im Römer-brief wird Paulus die Rechtfertigungslehre explizit als eine Theologie der Gerechtigkeit entfalten (Röm 1,16f.; 3,21-26).

• Von Rechtfertigung muss deshalb gesprochen werden, weil Unrecht geschehen ist und wieder gut gemacht werden muss. Die Rechtferti-gungslehre gewinnt nur dort Format, wo das Bewusstsein von Unzu-länglichkeit, das Eingeständnis von Schuld, das Leiden an der Sünde (der eigenen und anderer), das Mitleid mit den Opfern von Gewalt stark ist. Für Paulus liegt in jeder noch so kleinen Übertretung der Keim des Todes, weil die Verletzung des Rechtes Gottes und der Nächsten, auf ihren Grund zurückgeführt, das Nein Adams zu Gottes Gebot wie-derholt, wie er in Röm 5 und Röm 7 ausführen wird.

• Die Botschaft von der „Rechtfertigung“ hat die Täter im Blick. Paulus wird im Galaterbrief eher voraussetzen, im Römerbrief aber eingehend nachweisen (Röm 1,18 – 3,20), dass es keinen einzigen Menschen gibt, der sich von persönlicher Schuld freisprechen kann. Also ist die Bot-schaft von der Rechtfertigung der Täter – oder theologisch: der Sünder – die Heilshoffnung aller.

• Rechtfertigung der Sünder heißt mithin, dass ein durch eigene Schuld zerstörtes Verhältnis eines Menschen zu Gott und zu den anderen Menschen, aber auch zum eigenen Ich wieder zurecht gebracht wird. Das setzt einen – schon bei Paulus strittigen – Begriff von Recht und Gerechtigkeit voraus, der sich nicht in der gerechten Bestrafung der Tä-ter nach dem Maß ihrer Schuld erschöpft, sondern die Verurteilung des Bösen, ohne die es keine Gerechtigkeit geben kann, selbst noch einmal zu einem Mittel der Heilung und Erlösung werden lässt.

• Die Rechtfertigung der Sünder geschieht durch den stellvertretenden Sühnetod Christi (Gal 3,13f.), weil der von Sünden freie Gottessohn Je-sus sich am Kreuz zur Sünde, zur Verkörperung des Bösen, machen lässt, indem er sich mit den Sündern aus Liebe identifiziert, ihr Leben und damit auch ihren Tod teilend, damit nicht sie ich ihn sterben müs-sen, sondern trotz ihrer Schuld gerechtfertigt und gerettet werden (2Kor 5,21).

Früher schien es typisch evangelisch zu sein, von Rechtsprechung zu reden, weil das freisprechende Wort Gottes ein kontrafaktisches Urteil spreche; heu-te kann man sich ökumenisch auf Rechtfertigungeinigen, weil Gottes Wort Schöpferkraft besitzt.

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c. Die „Werke des Gesetzes“ sind in einer langen, auf Augustinus zurückgehen-den, von Martin Luther erneuerten und von der katholischen Theologie der Zeit um das Zweite Vatikanische Konzil rezipierten Tradition als religiöse Leis-tungen interpretiert worden, die vor Gott als Verdienste eingeklagt würden. Diese Interpretation wurde als Projektion erkannt:

• Die Entdeckung der Qumran-Texte hat eine neue Sicht und Bewertung des Judentums beflügelt, das als Leistungsreligion karikiert ist.

• Die Religionssoziologie hat die identitätsstiftende Funktion des Geset-zesgehorsams betont: die Zugehörigkeit zum Judentum, die Unter-scheidung von den Heidenvölkern.

Vom paulinischen Kontext her sind die „Werke des Gesetzes“ in erster Linie die Beschneidung (Gal 6,12f.; vgl. 5,1-12; auch 2,3.7; 3,28; 6,15), die Speisegebote und die Reinheitsvorschriften (vgl. Gal 2,11-14) und im Anschluss daran alle weiteren Formen an Gebotserfüllung (vgl. Gal 5,3; 6,13). Diese „Werke“ wer-den getan, um der Zugehörigkeit zum Gottesvolk und der Fähigkeit des Geset-zes willen, die Sünde zu besiegen und Versöhnung zu stiften.29

Weshalb die Werke des Gesetzes nicht rechtfertigen, hat Paulus eigens zu be-gründen; deshalb bildet die Positionsbestimmung des Gesetzes einen Haupt-punkt der paulinischen Theologie im Galaterbrief wie im Römerbrief.

d. Der Glaube an Jesus Christus ist die neutestamentliche Gestalt des Glaubens an den wahren und lebendigen Gott (1Thess 1,9f), der die Toten lebendig macht und das, was nichts ist, ins Sein ruft (Röm 4,17). Er ist Vertrauen und Bekenntnis, Bekehrung und Bewährung, Hoffnung und Liebe. Er umfasst die Nachahmung Christi und die Teilhabe an seinem Leiden wie seinem Leben. Er ist persönliche Überzeugung, die zur Erneuerung des Denkens und Handelns führt (Röm 12,2) und Integration in den Glauben der Kirche, wie er sich in der Liturgie, der Katechese und der Diakonie ausdrückt. Der Glaube an Jesus Christus rechtfertigt, weil der Heilige Geist diejenigen, die Gott durch die Predigt der Evangeliums retten will, zu Hörern des Wortes macht (Röm 10), die Gott als den verstehen und bejahen, achten, lieben und ehren, der seine ganze Liebe in Jesu Tod und Auferweckung zur Rettung der Welt offenbart. Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen Gott und dem Kyrios gerecht, insofern sie den Schöpfer und Erlöser mit ganzem Herzen, ganzer Seele, vollem Verstand und voller Kraft bejahen. Im geistgewirkten Glauben werden die Menschen auch ihren Nächsten gerecht, weil der Glaube durch die Liebe wirksam ist (Gal 5,6), sodass das Gesetz erfüllt wird (Gal 5,13f; Röm 13,8ff).

29Michael Bachmann deutet mit Verweis auf einen wichtigen Qumran-Text auf die Vorschrif-ten (4QMMT und der Galaterbrief. Ma‘asae torah und erga nomou), in: ZNW 89 [1998] 19-33); aber Paulus geht es mit Lev 18,5 um das Tun.

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8.2 Die erste Begründung a. In Gal 2,17f. weist Paulus einen Einwand zurück, der in Röm 6,1.23 deutli-cher zu fassen ist: Seine Rechtfertigungsthese begünstige das Sündigen. Hier begegnet er in der Variante: Da beim Setzen auf die Rechtfertigungsgnade das Bekenntnis der eigenen Sündenverfangenheit und Vergebungsnotwendigkeit umschlossen ist, macht man Christus zu einem Sklaven im Dienst der Sünde. Warum das ausgeschlossen ist, wird später gezeigt. Vers 18 startet einen Gegenangriff gegen Petrus und andere, die so inkonse-quent sind, wie Paulus ihn hinstellt.

b. In Gal 2,19f. gibt Paulus der Rechtfertigungstheologie eine existentiale Deu-tung.

• Vers 19a gibt dem Gesetz, insofern es den Sünder tötet, eine paradoxal positive Interpretation: Wer tot ist, über den hat das Gesetz keine Macht mehr. Aber der Tod, den das Gesetz als Instanz der strafenden Gerechtigkeit Gottes verursacht, zielt nicht auf die Vernichtung des Sünders, sondern sein neues Leben, das eines ist, das Gott geweiht ist. In Röm 6 wird Paulus diesen Gedanken ausführen.

• In Vers 19b.20 wird das Paradox christologisch gewendet und so plau-sibel.

o Der Tod, den Paulus „durch das Gesetz“ stirbt, führt deshalb zum Leben, weil es ein Tod „mit“ dem gekreuzigten Jesus ist – was er nur sein kann, weil der Gekreuzigten „für“ den Sünder sein Leben gelassen hat.

o Das entfaltet Paulus in Vers 20 an seinem „Ich“ so, dass das der Sünde geweihte „Ich“ stirbt, so dass es lebt, weil Jesus sich aus Liebe für „mich hingegeben hat“. Das wird Paulus in Gal 3,13f. ausführen, nachdem es bereits in Gal 1,4 angeklungen war.

o Das Ich des Gerechtfertigten, weil Geliebten, ist das Ich des Glaubenden, weil im Glauben die Liebe Jesu Christi empfangen und weitergegeben wird.

Die Entdeckung der Subjektivität ist eine Frucht der Rechtfertigungsleh-re.

• In Gal 2,21 schließt Paulus das Argument und führt seine Rechtferti-gungsthese auf das Christusgeschehen zurück, das es deutet und aus-wertet. Die Rechtfertigungslehre ist die soteriologisch gewendete Kreuzestheologie.

9. Das pneumatologische Argument (Gal 3,1-5)

a. Mit Gal 3,1-5 beginnt die detaillierte Argumentation des Paulus für die Rechtfertigungslehre, die ihrerseits die beschneidungsfreie und gesetzeskriti-

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sche Völkermission begründet. Im gesamten Passus bis Gal 5,13 folgt der Apostel keinem Handbuch der Rhetorik, sondern markiert in rhetorischer Kön-nerschaft Angelpunkte in der Erfahrung, in der Heiligen Schrift, im Bekenntnis und in der Liturgie der Urkirche, um einerseits die These zurückzuweisen, die Beschneidung sei notwendig, um Vollmitglied im Volk Gottes zu werden, und andererseits die Rechtfertigungsthese zu begründen, der Glaube sei, mit der Taufe verbunden, heilssuffizient (hinreichend, Gottes Heil zu erlangen) und zugleich motivierend für ein Christsein im Geiste Jesu.

b. Gal 3,1-5 setzt nicht mit einem argumentum ad hominemein30

• Die direkte Polemik gegen die Galater (Gal 3,1.3) nimmt den polemi-schen Ton der Gegnerkritik in Gal 1,6-9 und der Petruskritik in Gal 2,11-14 auf, verschiebt aber die Akzente und spezifiziert die Galaterkritik aus dem Prooemium (Gal 1,6).

, das auf der Skala der Rhetorik als relativ schwach einzuschätzen wäre, sondern mit einem pneumatologischen Argument, das in den Augen des Apostels geradezu schla-gend ist.

o Während den Gegner Häresie und Petrus Heuchelei vorgeworfen wird, hält Paulus den Galatern Unbedachtheit vor.

o Während Paulus in Gal 1,6 seinem Erstaunen über die Haltlosig-keit der Galater Ausdruck verleiht, kritisiert Paulus in Gal 3,1-5 deren „Dummheit“ als Grund seiner Verwunderung. Die „Dummheit“ ist eine Art von Unverstand (av-no,htoj): Den Ga-latern fehlt das rechte Verständnis des Glaubens. Deshalb muss Paulus als Lehrer aktiv werden.

• Die direkte Anrede der Galater ist nicht nur rhetorisch, sondern auch ekklesiologisch signifikant: Die Galater sind die Subjekte des Glaubens; sie sind frei; sie sind getauft; sie bilden die Kirche; auf sie kommt es an.

• Das Argument baut enge Bezüge zu anderen Themen des Briefes auf: o zur Apostolatstheologie, die in Gal 1,10 – 2,10 grundgelegt ist

und in Gal 4,8-20 aufgenommen werden wird, o zur rechtfertigungstheologischen Antithese Gal 2,16 o und zur Tauftheologie von Gal 3,26 – 4,7, wo gleichfalls der

Geist theologisch dominiert. c. Das Argument lautet im Kern, paraphrasiert: Wenn die Galater auf sich selbst schauen, entdecken sie, dass sie den Heiligen Geist empfangen haben. Das geschah, ohne dass sie beschnitten worden wären; es geschah allein, weil ihnen das Evangelium als „Wort vom Kreuz(1Kor 1,18) verkündet worden ist und sie diesem Wort Glauben geschenkt haben. Durch die Neigungen, die sie den Paulusgegner entgegenzubringen scheinen, ist die Chance dieses Anfangs 30 So aber H.D. Betz, Gal z. St.

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zwar bedroht, aber nicht verspielt; sie können – und müssen – jederzeit neu beginnen. In der Theologie des Galaterbrief kommt die Pneumatologie neu hinein. Sie wird für den gesamten Brief prägend bleiben, auch weil das Argument von Gal 3,1-5 nur unter der Voraussetzungen sticht, dass die Geistbegabung das Er-kennungsmerkmal des Christseins ist. Diese Voraussetzung wird Paulus im fol-genden klären:

• in Gal 3,6-14 schrifttheologisch von der Abrahamsverheißung her, • in Gal 3,26 - 4,7 sakramententheologisch von der Taufe her.

d. Paulus stilisiert sich in Gal 3,2 wie in 1Kor 1,17 – 2,16 als Kreuzestheologe und wird in Gal 3,13f. den soteriologischen Sinn des Kreuzestodes Jesu pro-nonciert entfalten. Mit der Konzentration auf das Kreuz erinnert Paulus die Galater an die Qualität seiner apostolischen Verkündigung, die nicht den Men-schen nach dem Munde redet (Gal 1,10f.), sondern Gott zu Ehren bringt (Gal 2,21). Ähnlich wie später in Röm 10,4 kennzeichnet Paulus sein Evangelium – das einzig wahre (Gal 1,6-9) – als avkoh/ pi,stewj(akoe pisteos). Die dichte Wendung kann man auf Deutsch nur schwer wiedergeben. Das Wort akoekommt von akouein – hören („Akustik). Es ist ein Wort, das Paulus selbst gehört hat (näm-lich im Kern durch die „Offenbarung Jesu Christi“ [Gal 1,16]), damit er es wei-tergibt, so dass andere es hören können (nämlich die Heiden, zu denen er die Christusbotschaft bringen soll [Gal 1,16]). Der Genitiv pisteos hat einen zweifachen Sinn:

• Das Verkünden jenes Wortes ist auf den Glauben aus. Die Kreuzesbot-schaft kann man nur glauben.

• Die Verkündigung kommt aus dem Glauben (2Kor 4,13: „Wir glauben, deshalb reden wir.“) Paulus fordert die Galater auf, bei dem Glauben zu bleiben, den er selbst teilt – so wie er sie einst eingeladen, seinem ei-genen Glaubenswort Glauben zu schenken.

e. So wie nach 1Kor 1,26ff. die korinthische Gemeinde in ihrer sozialen Zu-sammensetzung zum theologischen Beweis für die Weisheit des Kreuzes wird, so werden nach Gal 3,1-5 die Galater selbst zum Beweis der Rechtfertigungs-botschaft. Dazu müssen sie ihres eigenen Status inne werden. Der Geist ist hier im umfassenden Sinn Grund und Motor des Christseins.

10. Das exegetische Argument (Gal 3,6-14)

a. Dem pneumatologischen folgt ein exegetisches Argument. In der paulini-schen Skala der Hermeneutik hat es den höchsten Rang. Die Schrift ist, wie er

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sie in Christus neu liest, Zeugin des Evangeliums.31

b. Im Streit mit seinen in Galatien agierenden Gegnern gewinnt die Schriftexe-gese theologische Brisanz, weil die aus denselben Leittexten andere Schlüsse gezogen haben.

Bei Paulus haben die Schriftzitate nicht, wie man früher oft las, ornamentale, sondern argumentati-ve Bedeutung. Die Bibel Israels kann Argumente liefern, weil sie auch bei den Paulusgegnern und bei den Galatern, selbstverständlich bei den Jerusalemer „Säulen“ und allen Aposteln unstrittig als Heilige Schrift, als inspiriertes Men-schenwort, als gültige Gottesbotschaft anerkannt ist.

10. 1 Methoden paulinischer Exegese a. Paulus ist als Pharisäer bestens ausgerüstet für exegetische Argumentatio-nen.32

• Der Wortlaut zählt.

Offensichtlich war er ein Meister seines Faches. Er exegesiert aber nicht nach den heutigen, sondern nach den damaligen Methodenstandards. Jeder Ansatz von Literar- und Redaktionskritik fehlt, ebenso jede Differenzierung hinsichtlich der überlieferten Autor- und Adressatenangaben. Hermeneutische Regeln, die Paulus aus seiner pharisäischen Schule übernommen hat, lassen sich z.T. rekonstruieren:

Paulus argumentiert allerdings nicht mit dem hebräischen Original, sondern mit der griechischen Übersetzung, der Septuaginta, die er aber nicht immer in der (später) standardisierten Version, sondern oft näher am Urtext zitiert.33

• Schrift legt Schrift aus.

Unklare oder strittige Stellen werden durch klare(re) Parallelen in an-deren Schriften erläutert. Basistext ist die Tora. Die ersten Interpreten sind die Propheten.

31 Die Einzelstudien sind Legion. Das englische Standardwerk ist Richard B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven - London 1989; das deutschsprachige: Dieter-Alex Koch,Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Ver-ständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986. 32 Vgl.Günter Stemberger,Hermeneutik der Jüdischen Bibel, in Ch. Dohmen –ders., Hermeneu-tik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart u.a. 1996, 23-132: 33-36. 33 Hier knüpft eine intensive neuere Forschung an, die durch das ökumenische Projekt „Septu-aginta Deutsch“ vorangetrieben worden ist; vgl. Martin Karrer (Hg.), Septuaginta Deutsch – Erläuterungen und Kommentare I-II, Stuttgart 2011.

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• Der Kontext entscheidet über die Bedeutung. Die Akoluthie der Bibel ist ein Argument. Bei den Gesetzen gibt es ein kleines Gefälle zwischen denen, die vor, und denen, die nach dem Tanz ums Goldene Kalb (Ex 32) erlassen worden sind, weil die jüngeren im-mer die Schwäche und Hartherzigkeit des Volkes nicht nur einkalkulie-ren, sondern bearbeiten.

• Die Gattung muss beachtet werden. Ein alttestamentliches Gotteswort wird bei Paulus immer als Gottes-wort zitiert, ein Gesetz als Gesetz, eine Prophetie als Prophetie, ein Gebet als Gebet, eine Erzählung als Erzählung. Zwischen direkten Got-tesworten, Gesetzesworten, Prophetenworten, Gebeten und Erzählun-gen gibt es Autoritätsunterschiede. Paulus kennt eine Hierarchie der Wahrheiten in der Heiligen Schrift Israels.

• Die aktuelle Bedeutung der Schrift kann typologisch und allegorisch er-schlossen werden. Für Paulus gibt es wie für die großen jüdischen Exegeten seiner Zeit ei-nen mit dem buchstäblichen verbundenen geistlichen Schriftsinn, der von der historisch-kritischen Exegese als willkürlich diffamiert wurde, aber eigenen Regeln folgt:

o Allegorien (Gal 4,21-31) entdecken den Geist im Buchstaben alt-testamentlicher, indem sie einen überlieferten Text im Lichte geschichtlicher und aktueller Entwicklungen beleuchten, die als gottgewollt angesehen werden, und deshalbüber unter der Oberfläche der Texte weitere Bedeutungsschichten erschließen, die durch Etymologien oder durch Referenzen zu späteren Ent-wicklungen erschlossen werden.

o Typologien (z.B. 1Kor 10,1-15) entdecken Analogien zwischen Szenen und Figuren der Geschichte Israels und der Kirche.

b. Diese Methoden der Exegese wendet Paulus nach Damaskus prinzipiell ge-nau so an, wie er sie vor Damaskus angewandt hat oder hätte. Allerdings hat sich sein Standpunkt verschoben. Literaturwissenschaftlich betrachtet, könnte man von einem neuen point of view sprechen, den das Christusgeschehen de-finiert. Er führt dazu, dass Paulus die Bibel Israels auf den verheißenen Messias hin liest, während er das Evangelium von den Heiligen Schriften her verkündet. Im Kern steht das Glaubensbekenntnis, dass Jesus Christus „gemäß den Schrif-ten“ gestorben und von den Toten auferstanden sei.

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10. 2 Die Argumentationslinie von Gal 3,6-14 a. Paulus entwickelt einen – aus seiner Sicht – konzisen Gedanken, der vom Beispiel Abrahams ausgeht.

Gal 3,6-9 Der Segen Abrahams Gal 3,10ff. Der Fluch des Gesetzes Gal 3,13f. Die Erlösung durch Christus

b. Paraphrasiert lautet das Argument: Gal 3,6-9 Die alttestamentliche Abrahamsgeschichte begründet das Glaubens-

prinzip als Basis der Verwirklichung des universalen Heilswillens Got-tes.

Gal 3,10ff. Das Gesetz kann den verheißenen Segen Abrahams nicht vermitteln, weil es auf das Prinzip des Tuns verweist, aber jeden Übertreter zum Tode verurteilt, während die Prophetie (mit Hab 2,4) das Glaubens-prinzip affirmiert.

Gal 3,13f. Christus hat den Segen Abrahams allen Völkern gespendet, weil er am Kreuz stellvertretend den Fluch des Gesetzes auf sich genommen hat, um allen die Erlösung zu bringen.

c. Die Schriftzitate bilden das Grundgerüst der Argumentation.

(1) Aus der Kombination von Gen 15,6 und Gen 12,3 ergibt sich das Schrift-argument für die Bindung der Segensverheißung an den Glauben. Gen 15,6 Gal 3,6

ist der Basistext des Arguments in Gal 3,6-14 und der wichtigste Schriftbeweis des Apostels für die Rechtfertigung aus dem Glauben (vgl. Röm 4,3.9; ferner Jak 2,23).

Gen 12,3 Gal 3,8 ist der jüdische und christliche Standardbeleg für die Heilsuniversalität der Abrahamsverheißung und für Paulus der Horizont, in dem er Gen 15,6 liest, so dass die Ver-wirklichung des Segens an den Glauben gebunden ist.

Beide zitierten Verse sind direkte Gottesworte an Abraham und deshalb von höchster Verbindlichkeit; Paulus interpretiert Gen 15,6 unter dem Vor-zeichen von Gen 12,3 und Gen 12,3 mit dem Ziel in Gen 15,6. Beide Verse sind auch in der jüdischen Tradition oft eng verbunden, aber unter anderen Vorzeichen des Glaubensverständnisses und der Vorbildlichkeit Abrahams.

(2) Aus der Kombination von Dtn 27,26 und dem Komplementärvers Lev 18,5 zeigt Paulus auf, dass die Tora (nach Gottes Willen) alles auf das Tun setzt und nur denen die Verheißung zusagen kann, die alles erfüllen, wäh-rend auch nur eine einzige Übertretung zum Fluch führt. Das wird mit Hilfe der Prophetie unterstrichen.

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Dtn 27,26 Gal 3,10 ist ein prägnanter Ausdruck der negativen Möglichkeit der für das Deuteronomium typischen Alternative Fluch oder Segen und damit die zentrale Argumentation für die These des Apostels in Gal 3,10ff., dass das Gesetz Fluch bringt, wobei die Voraussetzung, dass niemand das Gesetz erfüllt, hier nicht erklärt wird (vgl. aber Röm 2).

Hab 2,4 Gal 3,11 ist ein auch in Röm 1,17f. (vgl. Hebr 10,38) zitiertes Prophetenwort zur Auslegung der Tora – hier um des Nachweises willen, dass die Ge-rechtigkeit, die dem Segen Gottes entspricht, aus dem Glauben kommt, wie in Gen 15,6 vorgegeben. Das Argument setzt hermeneutisch voraus, dass in der Bibel alles We-sentliche gesagt ist – und dass unwichtig ist, was nicht gesagt ist; da das Gesetz nicht erwähnt ist, bleibt es in der Rechtfertigung außen vor.

Lev 18,5 Gal 3,12 ist der Komplementärvers zu Dtn 27,26 (Gal 3,20); ursprünglich eine Verheißung, referiert Paulus ihn unter der hier noch nicht begründe-ten Voraussetzung, dass niemand das ganze Gesetz hält – und mithin auch niemand des Segens teilhaftig wird, den das Gesetz – nur – den Tätern verheißt.

(3) In Gal 3,13f. hat die Schrift einen anderen hermeneutischen Status als in den vorgehenden Passagen. Im Zentrum steht das Glaubensbekenntnis. Die Schrift beleuchtet die dunkle Gegenseite. Dtn 21,23 Gal 3,13

ist ein auch in Qumran (11QTR 64,6b-13a) zitierter Vers, der die Hei-ligkeit des Landes sichern soll und belegt, dass der Gekreuzigte ein Verfluchter ist - während erst das Evangelium erhellt, dass Jesus gerade durch diesen Tod den Fluch in Segen für die Menschen verwandelt.

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10.3 Der Glaube Abrahams a. In Gal 3,6-14 setzt Paulus (wie ausführlicher später in Röm 4) bei Abraham und seinem Glauben an. Dazu könnte ihn gebracht haben, dass sich die Gegner auf Abraham berufen haben, aber auch, dass Abraham im zeitgenössischen Judentum die zentrale Figur einer jüdischen Identitätsbildung im weltweiten Horizont ist und Jesus – nach der Vorgabe des Täufers Johannes (Mt 3,9 par. Lk 3,8) – sowohl nach Lk 13,18 und 19,19 als auch nach Joh 8,39f. die Abrahamskindschaft an den Glauben gebunden und somit nicht genealogisch, sondern soteriologisch definiert hat; kraft der Verheißung (Gal 4,21-31; vgl. Röm 9).

b. Gen 15,6 ist ein auch im zeitgenössischen Judentum oft zitierter, aber an-ders als von Paulus interpretierter und deshalb wohl auch in den nomistischen Konflikten umstrittener Vers.

• Gen 15,6 steht im Zusammenhang mit einem Bundesschluss (Gen 15,1-23), der die Abrahamsverheißung (Gen 12,1ff.) besiegelt. Auslöser ist Abrams Klage, keine leiblichen Nachkommen zu haben. Seine Kinderlo-sigkeit stellt die Gültigkeit der Verheißung in Frage. Nachdem Gott sei-ne Zusage wiederholt hat (Gen 15,1), klagt Abram Gott seine Lage (Gen 15,2f.), erhält aber eine konkretisierte Verheißung zur Antwort (Gen 15,4.5). Dann folgt der Schlüsselsatz des Erzählers, der nach jüdischer und christlicher Tradition mit Mose identifiziert wird: „Abraham glaub-te Gott …“.

• Was Glaube an dieser Stelle meint, ist schon im biblischen Traditions-raum strittig.

o Im Judentum herrscht eine prospektive Sicht vor: Abrahams Glaube sei derjenige, der sich in der Erprobung, besonders der Bindung Isaaks (Gen 22) erweise und in seinem Gesetzesgehor-sam, angefangen mit der Beschneidung (Gen 17), bewähre. So deutet auch der Jakobusbrief, der am Beispiel Abrahams die Zu-sammengehörigkeit von Glauben und Werken aufweisen will, allerdings die Beschneidung übergeht und die Opferung Isaaks betont (Jak 2,21-24).

o Bei Paulus hingegen herrscht eine retrospektive Sicht vor. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien deutet auf die Bekeh-rung (virt 211-219; praem 27); Paulus auf das Vertrauen auf die Gültigkeit des Verheißungswortes Gottes. In Röm 4 ist die Situa-tion der Kinderlosigkeit eingefangen, die in Gen 15 beschrieben wird, und wird von Paulus genutzt, um den Glauben Abrahams als Glaube an den totenerweckenden Gott zu akzentuieren (Röm 4,17).

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• Im Hebräischen ist nicht ganz zweifelsfrei zu klären, wer Subjekt des folgenden Teilsatzes ist. Aber die Septuaginta und die gesamte jüdische Überlieferung sehen wie das Neue Testament Gott als Subjekt des Sat-zes. Das Hebräische ist dann zu übersetzen: „… und der rechnete es ihm als Gerechtigkeit an“. In den griechischen Versionen, die sich auch im Neuen Testament finden, ist der Satz ins Passiv gesetzt, um Gott als Subjekt hervorzuheben: „… und es wurde ihm zur Gerechtigkeit ange-rechnet“.

• Gerechtigkeit meint in Gen 15,6, wie in der Bibel Israels tief verwurzelt, im umfassenden Sinn das bundeskonforme Verhältnis Abrahams zu Gott, aus dem der Segen für die Völker fließt. Dieser Grundsinn bleibt in den frühjüdischen und neutestamentlichen Zitaten erhalten, auch wenn es Unterschiede im Verständnis des Bundes und der Verwirkli-chung des universalen Heilswillens Gottes gibt, die durch die Christolo-gie bestimmt werden. Die frühjüdischen Quellen stimmen mit den neu-testamentlichen auch darin überein, dass es der Glaube ist, der recht-fertigt, auch wenn das Verständnis des Glaubens auseinandergeht.

• Gott „rechnet“ Abraham seinen Glauben als Gerechtigkeit„an“. Man kann auch übersetzen: Er „erkennt … zu“. Gemeint ist weder in der Hebräischen Bibel und der Septuaginta noch in der frühjüdischen und frühchristlichen Interpretation eine Verrechnung nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Gott ist Subjekt; er fällt sein Urteil; er schafft Recht. Das hebräische Wort (haschab) wird teils aus dem Sak-ralrecht abgeleitet, in dem Gott profane Dinge für heilig erklärt, teils aus dem Heilsorakel, in dem Gott eine Verheißung gibt, auf die man sich verlassen kann. So oder so ist sein schöpferisches Wort gemeint. Die „Anrechnung“ bezieht sich auf den Glauben, den Gott selbst ge-weckt hat, und erkennt ihm den unendlich großen Wert zu, den er in Gottes Augen hat. Das griechische Wort (logizein) kommt aus der Ge-schäftswelt und kann sowohl das Verbuchen als auch das Verrechnen akzentuieren. Die Logik ist dieselbe: Der Glaube wird von Gott aner-kannt und unendlich aufgewertet. Gott stellt fest, was der Glaube ist, den er in seiner Gerechtigkeit selbst hervorgerufen hat, und stellt da-durch her, was allein zur Erfüllung der Verheißung führen kann: seine Gerechtigkeit.

Literatur: A. v.Dobbeler, Glaube als Teilhabe. Historische und semantische Grundlagen der pau-

linischen Theologie und Ekklesiologie des Glaubens (WUNT II/22), Tübingen 1987

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10.4 Der stellvertretende Fluchtod Jesu (Gal 3,13f.) a. In Gal 3,13f. treibt Paulus in äußerster Härte soteriologische Kreuzestheolo-gie. Der paradoxale Satz34

b. Im Kern steht die Identifikation des Kreuzes als Fluchholz mit Verweis auf Dtn 21,23. Paulus sagt nicht, dass die Schrift den gekreuzigten Jesus missver-steht, wenn sie ihn einen von Gott Verfluchten nennt, sondern dass sie ihn genau identifiziert – so wie Paulus nach 2Kor 5,21 von Gott „zur Sünde ge-macht“ wird. Die positive Heilsbedeutung dieser absolut negativen Aussage erhellt im Licht des Evangeliums, das auf Offenbarung zurückgeht (Gal 1,15f.).

vom Gesegneten, der zum Verfluchten wird, damit die Verfluchten zu Gesegneten werden, liegt auf einer Reflexionshöhe mit dem dialektischen Satz vom „fröhlichen Tausch“ (Martin Luther) in 2Kor 5,21, dass der Gerechte zum Sünder wird, damit die Sünder gerechtfertigt werden.

c. Die skandalöse Sprache soll die äußerste Grenze dessen markieren, was an-gesichts des Todes Jesu gesagt werden kann und diese Grenze noch zu durch-brechen versuchen. Gal 3,13f. geht ähnlich weit wie 1Kor 1,18-2435

o nur dass dort das Ärgernis des Kreuzes betont wird, um die revolutionär neue Sicht der Weisheit Gottes zu erhellen, die ihre ganze Kraft in der Schwäche entfaltet,

,

o während hier die Stellvertretung radikalisiert wird, um die universale Heilsbedeutung Jesu Christi begründen zu können.

d. Die Gute Nachricht steht am Beginn. Das soteriologische Hauptwort ist „Er-lösung“, aber nicht mit dem theologischen Fachwort (apolytrosis), sondern dem theologischen Bildwort (ex-agorazo) des „Freikaufs“, das aus dem Skla-venhandel bekannt ist. Es gab in der Antike Mäzene, die auf dem Markt Skla-ven, oft Kriegsgefangene, freigekauft haben, damit sie als freie Menschen le-ben können. In diesem Sinn wird Gott bei Deuterojesaja als Erlöser Israels ge-sehen. In dieser Spur steht die Christologie von Gal 3,13. Vorausgesetzt ist die paulinische, weisheitlich begründete und apokalyptisch angeschärfte Anthropologie, dass Sünder wegen ihrer Schuld unter der To-desmacht der Sünde stehen, die das Gesetz – seiner Heiligkeit wegen – mit dem todbringenden Fluch belegt, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Die Frohe Botschaft ist, dass die todgeweihten Sünder nicht verdammt, son-dern gerettet werden, weil Christus sie befreit hat. e. Das Wie der Befreiung erklärt die paradoxe Segen- und Fluch-Formel in Gal 3,13b.14. Die Kernaussage ist, dass es gerade der Kreuzestod Jesu gewesen ist,

34 Vgl. Gerhard Hotze, Paradoxien bei Paulus. Elementare Denkformen des Apostels (NTA 33), Münster 1997. 35 Vgl.Gerd Theißen,Das Kreuz als Sühne und Ärgernis. Zwei Deutungen des Todes Jesu, in: Dieter Sänger – Ulrich Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen Theologie und Literatur (WUNT 198), Tübingen 2006, 427-455.

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der die Befreiung gewirkt hat. Damit wird das, was Paulus in Gal 2,19f. mit sei-nem „Ich“ verbindet, in grundsätzlicher Weise für alle Menschen ausgeführt.

• Die entscheidende Präposition ist das „Für“ – wie in Gal 1,4 (s.o. S. 16) und Gal 2,19f. (s.o. S. 38).

• Dass Jesus „für uns zum Fluch geworden ist“, erschließt zentrale Aspek-te der Soteriologie:

o Paulus, der Judenchrist, schließt sich mit den heidenchristlichen Galatern und allen Gläubigen zusammen: Niemand ist frei von Schuld; alle werden der Gnade teilhaftig.

o Alle Übertreter des Gesetzes stehen unter dem Fluch des Ge-setzes, weil das Gesetz jeden Übertreter verdammt (Gal 3,10ff. – mit Rekurs auf Dtn 27,26). Im Galaterbrief beleuchtet er diese Seite, weil die Galater „unter das Gesetz“ gehen wollen. Im Rö-merbrief wird er auch die andere Seite erhellen, dass die Heiden Sünder sind (vgl. Gal 2,15), weil sie gegen die Stimme ihres Ge-wissens handeln und wider die Vernunft Geschaffenes als Gött-lich verehren (Röm 1,18 – 3,20).

o Das „Für“ zeigt Jesu Stellvertretung an. Die Theologie der Stell-vertretung ist zwar von Immanuel Kant radikal kritisiert worden (was viele systematische Theologien bis heute beeindruckt), aber auf der Basis einer moralistisch reduzierten Christologie und Anthropologie. Für die Bibel ist Stellvertretung eine trans-moralische Kategorie der Soteriologie36

Würde der Fluch der Sünde ignoriert, würde das Gesetz missachtet, das den Unterschied zwischen Gut und Böse definiert und damit der Gerechtigkeit dient.

, weil die theozentrische Perspektive dominant ist.

Jesus nimmt den Fluch des Gesetzes auf sich, indem er für die Sünder eintritt. Dieser Einsatz ist bedingungslos. Der Fluch des Gesetzes trifft deshalb Jesus, weil er ihn auf sich nimmt – so wie er sein Leben für die Sünder hingegeben hat (Gal 1,4; 2,19f.).

Weil aber Jesus am Kreuz stellvertretend den Fluch auf sich nimmt, werden die Sünder nicht mehr von ihm ge-troffen. Der Kern der Stellvertretung ist Liebe (Gal 2,19f.). Sie wirkt, weil Jesus der Christus ist.

36 Vgl. Bernd Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997, 89-92.

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11. Das juristische Argument (Gal 3,15-25)

a. Nachdem Paulus (aus seiner Sicht) in Gal 3,6-14 mit der Heiligen Schrift den Nachweis geführt hat, dass allein die Rechtfertigung aus Glauben schriftgemäß ist, während das Gesetz, weil niemand es immer ganz beachtet, den Tod bringt, muss er die theologische Stellung des Gesetzes bestimmen. Das ge-schieht in Gal 3,15-25. Das Argument ist juristisch in des Wortes zweifacher Bedeutung:

• Es handelt vom Gesetz (ius) und bestimmt seinen theologischen Ort im Horizont der Heilsgeschichte.

• Es wählt mit dem Testament (griech.: diatheke) einen Rechtsvorgang unter Menschen, der nach dem Schluss vom Kleineren aufs Größere (a minore ad maium) theologisch ausgewertet wird.

Die juristische Argumentation folgt aus der exegetischen, weil vom Gesetz und mit dem Wortlaut der Schrift selbst gearbeitet wird.

b. Bis in die Übersetzungen hinein lässt sich der theologische Streit um die Stellung des Gesetzes in der paulinischen Theologie beobachten. Konfessionel-le Motive spielen ebenso eine Rolle wie philosophische und theologische. Die entscheidende Frage lautet, ob die Antithese zwischen der Glaubensgerechtig-keit und der Werkgerechtigkeit einem Gegensatz zwischen Evangelium und Gesetz entspricht, und zwar unter dem Aspekt seiner göttlichen Bestimmung wie seiner menschlichen Wirkung.

• Die protestantische Exegese neigt dazu, den Gegensatz vom „Gesetz“ und „Evangelium“ zu betonen;

o das wird teils als eine Grundstruktur der Soteriologie angesehen (Heil durch Gericht), was katholisch kompatibel ist, wie die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1999) ge-klärt hat,

o teils auf das Alte Testament (mit der Tora) und das Neue Tes-tament abgebildet, was innerevangelisch strittig und katholisch inkompatibel ist.

• Die katholische Exegese neigte weitgehend zu einer harmonisierenden Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gesetz und Evangelium, weil auch das Evangelium „neues Gesetz“ (lex nova) sei, hat aber in der Zeit nach dem Vatikanum II oft einen Gegensatz aufgebaut, allerdings unter dem Vorzeichen, das Gesetz verbiete, während das Evangelium befreie.

Der jüdisch-christliche Dialog ermöglicht neue Möglichkeiten einer ökumeni-schen Verständigung auf der Basis eines geläuterten Gesetzesbegriffs.37

37 U. Swarat – J. Oeldemann – D. Heller (Hg.), Von Gott angenommen – in Christus verwandelt. Die Rechtfertigungslehre im multilateralen ökumenischen Dialog (Beiheft zur Ökumenischen Rundschau 78), Frankfurt/Main 2006

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c. Paulus baut das juristische Argument in drei Schritten auf.

Gal 3,15-18 Die Verheißung an Abraham als Testament Gottes Gal 3,15 Die Gültigkeit eines Testaments von Menschen Gal 3,16ff. Die Gültigkeit des Testaments Gottes

Gal 3,19-22 Die Funktion des Gesetzes im Horizont der Verheißung Gal 3,19f. Die Gabe des Gesetzes: Ziel, Geltungsdauer, Übermittlung Gal 3,21f. Die Wirkung des Gesetzes: Dialektik der Wirkung

Gal 3,23ff. Das Verhältnis der Gläubigen zum Gesetz Gal 3,23f. Das frühere Verhältnis: Erziehung Gal 3,25 Das neue Verhältnis: Freiheit

An dieser Stelle wird der Gedankengang dadurch fortgesetzt, dass die Freiheit von der Taufe her mit Leben gefüllt wird.

d. Die Pointen der paulinischen Argumentation: • Das Gesetz muss von der Verheißung her interpretiert werden, nicht

umgekehrt. Denn 1. ist die Verheißung älter und nie revidiert; 2. ist die Verheißung ein direktes, das Gesetz aber ein vermitteltes Gotteswort.

• Das Gesetz hat bis zum Kommen Christi eine dialektische Funktion: o Es ist „wegen der Übertretungen hinzugefügt“ (Gal 3,19), wohl

um sie zu identifizieren und zu sanktionieren (vgl. Röm 5,20f.). Dem entspricht, dass das Gesetz (Gal 3,23) wie die Schrift (Gal 3,22) „zusammenschließt“, wie man in einem Gefängnis wegge-schlossen wird. In dem Sinn ist auch die Verwahrung (Gal 3,23) zu verstehen. Das Gesetz ist nach Paulus kein Damm gegen die Sturmflut der Sünde.

o Das Gesetz hat aber auch eine pädagogische Funktion (Gal 3,24). Worin die besteht, ist allerdings strittig. Ein Lernweg, der zu Christus führt, wird durch das Gesetz insofern angebahnt, als es ja – mit paulinischen Augen gelesen – die Heilsnotwendigkeit des Glaubens lehrt (Gal 3,6-14). Aber Paulus schwebt eine durchaus robuste Pädagogik vor, weil Strafe offenbar sein muss.

Die Straffunktion des Gesetzes ist nicht das letzte Ziel, sondern einge-bunden in die Heilsvermittlung. Das Ziel ist die Verwirklichung der Ver-heißung.

Literatur: R. Smend - U. Luz, Gesetz, Stuttgart u.a. 1981 (bahnbrechend in Deutschland)

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12. Das tauftheologische Argument (Gal 3,26 – 4,7)

a. Nachdem Paulus in Gal 3,1-5 und Gal 3,6-14 das Glaubensprinzip aus der Erfahrung wie der Schrift und in Gal 3,15-25 den theologischen Stellenwert des Gesetzes im Verhältnis zur Verheißung als dialektische Unterstützung erwiesen hat, legt er jetzt unter Rekurs auf die Taufe dar,

• aus welchem theologischen Grund stimmt, woran er die Gemeinde in Gal 3,1-5 erinnert hat, dass sie den Geist bereits empfangen haben,

• und wie sich diese Geistbegabung durch die Taufe bei ihnen ausgewirkt hat, so dass sie nachvollziehen können, was er ihnen exegetisch und ju-ristisch nahegebracht hat.

Unmittelbar wird an Gal 3,25 angeknüpft: Was passiert, wenn man nicht mehr der Gesetzes-Pädagogik unterliegt? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn diskutiert wird, weshalb dieser Statuswechsel erfolgt ist und worin er besteht.

b. Das tauftheologische Argument entwickelt Paulus in drei Schritten:

Gal 3,26-29 Die Taufe Gal 4,1-5 Die Befreiung Gal 4,6f. Das neue Leben

Das Argument lässt sich wie folgt paraphrasieren:

Gal 3,26-29 Die Taufe auf Christus bewirkt, wie der Ritus veranschaulicht, die Überwindung der alten Gegensätze aus der Religion, der Gesell-schaft und dem Geschlecht: Durch die Verbindung mit Christus entsteht Einheit.

Gal 4,1-5 Der Statuswechsel von der Unmündigkeit zurGottessohnschaft mit vollem Erbrecht ist die Wirkung der Sendung Jesu, der seinerseits als Sohn einer jüdischen Mutter Mensch geworden ist und unter dem Gesetz gelebt habt, um den Versklavten die Freiheit zu brin-gen (vgl. Gal 3,13f.).

Gal 4,6f. Die Freiheit der Kinder Gottes zeigt sich im Gebet: „Abba“ zu rufen, heißt, wie Jesus zu beten – was voraussetzt, dass Anteil am Got-tesverhältnis Jesu selbst besteht.

Die Exegese setzt drei Schwerpunkte

• Ritus und Theologie der Taufe • Die Sendung Jesu nach Gal 4,4f. • Das Abba-Gebet.

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12.1 Ritus und Theologie der Taufe a. Gal 3,26ff. ist ein tauftheologisch bedeutender Text, der neben anderen Texten paulinischer Tradition zur Taufe – und im Vergleich mit weiteren Tradi-tionen der frühen Kirche – vorsichtige Aussagen über den Vollzug und die Wir-kung erlaubt. Im Galaterbrief gewinnt die Taufe auch deshalb aktuelle Bedeutung, weil sie (religionssoziologisch als Initiation verstanden) mit der Beschneidung zu kon-kurrieren scheint. Paulus will diese Konkurrenz überwinden, weil die Taufe für alle hinreichend ist.

b. Gal 3,26ff. lässt Teile des Ritus erkennen38

• Alle Gläubigen werden mit derselben Taufe getauft; es gibt nur eine Taufe (vgl. Eph 4,4f.) für Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Män-ner und Frauen.

:

• Es wird „auf Christus“ getauft (Gal 3,27; vgl. Röm 6,3). o Nach Mt 28,18ff. fordert der auferstandene Jesus die Jünger

auf, zu taufen „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“.

o Die Apostelgeschichte berichtet summarisch von tausenden von Taufen „auf den Namen Jesu“ (Apg 2,38.41; vgl. 4,4).

Die Formulierung „auf Christus“ braucht nicht die Taufformel zu be-schreiben, auch wenn nur Mt 28,18 (und Did 7,1) einen trinitarischen Taufbefehl kennen. Sie erhellt aber – wie die Variante in der Apostelgeschichte – den Herr-schafts- und Statuswechsel. Mit Gal 4,1-5 ausgedrückt: Die einst den „Weltelementen“ dienten, dienen jetzt Christus. Die Präposition eivjc. acc. gibt die Richtung und Bewegung an, während die heute gebräuch-liche Taufformel (… im Namen …) eher die Vollmacht des Täufers als die Existenz des Täuflings im Blick hat.

• Zur Taufe gehört das Anlegen eines Taufkleides (Gal 3,27). Ob Paulus nur metaphorisch spricht (und der Ritus die Metapher konkretisiert) oder einen Ritus im Auge hat (dessen Symbolik er deutet), ist strittig. So oder so ist das Zeichen sprechend. Religionsgeschichtliche Parallelen führen aber nicht ins Alte Testament und frühe Judentum, sondern in die Mysterienkulte. Den Wasserritus der Taufe lässt Paulus in Gal 3,26ff. unerwähnt. Er ge-hört aber seit Johannes dem Täufer zu den Wesenselementen. Röm 6,3f. würde am besten anschaulich, wenn es einen Ritus mit Untertau-fen in das und Auftauchen aus dem Wasser gäbe.

38 Vgl. Jürgen Roloff, Der Gottesdienst im Urchristentum, in: H.-Chr. Schmidt-Lauber u.a. (Hg.), Handbuch der Liturgik. Liturgiewissenschaft in Theologie und Praxis der Kirche, Göttingen ³2003.

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12.2 Die Sendung Jesu a. Gal 4,4f. ist der Basistext für das paulinische Weihnachten. Sonst setzt der Apostel meist bei Jesu Tod und Auferweckung an (Gal 1,4; 3,13f.). Gal 4,4f. entwickelt hingegen die Christologie vom Motiv der Sendung her und führt dadurch die Jesusgeschichte auf die Gottesgeschichte zurück (vgl. Röm 8,3).

• Im Hintergrund steht das antike Botenrecht, das die Kommunikations-fähigkeit des Sendenden stärken und deshalb die Autorität des Gesand-ten garantieren soll.

• Dass Jesus „gesandt“ ist, gehört zu den essentials der synoptischen und johanneischen Christologie, allerdings unter dem Aspekt der vollmäch-tigen Verkündigung und der Weitergabe der Botschaft.

• Paulus entwickelt den Ansatz einer Präexistenzchristologie (vgl. Phil 2,6-11), indem er Jesus konsequent von Gott her betrachtet.

b. Dass Jesus „von einer Frau geboren“ wurde, ist keine bare Selbstverständ-lichkeit, sondern sichert sein Judesein. Marias Name wird nicht genannt; ihre Jungfräulichkeit wird nicht erwähnt, weil der Fokus auf der Geburt durch eine jüdische Mutter liegt. Das wiederum ist aus dem theologischen Grund der heilsgeschichtlichen Kontinuität wesentlich (vgl. Röm 9,5).

c. Dass Jesus „dem Gesetz unterstellt“ wurde, heißt nicht nur, dass er im Rah-men jüdischer Kultur gelebt hat, sondern dass er die entscheidende theologi-sche Bestimmung Israels durch die Tora akzeptiert, aber auch die Folgen ge-tragen hat, die sich daraus ergeben, dass das Gesetz nach Gottes gerechtem Willen die Sünder verflucht. Das Sendungsmotiv erhellt, dass dies weder Jesu Schicksal noch sein spontaner Entschluss, sondern immer schon Gottes Absicht war, die Jesus sich zu eigen macht.

d. Dass die Sendung Jesu der Befreiung derer dient, die „unter dem Gesetz“ stehen (vgl. Gal 3,15-25), liegt in der Konsequenz der Sendung und variiert – in etwas milderer Fassung – den Stellvertretungsgedanken, der auch in Gal 3,13f. begegnet. Die Stellvertretung ist nicht „exklusiv“, sondern „inklusiv“, weil Jesu Verbundenheit mit Gott so stark ist, dass er diejenigen, die ihm glauben, nicht lediglich vor dem Äußersten bewahrt, sondern in den Tod mitnehmen und mit aus dem Tod der Sünde herausführen kann. Das wird in der Taufe gefeiert.

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12.3 Das Abba-Gebet a. In Gal 4,6 und Röm 8,15 wird der Gebetsruf „Abba“ im Aramäischen der Muttersprache Jesu (vgl. Mk 14,36) zum intensivsten Gebetsausdruck der Gläubigen.

b. „Abbá“ ist eine im Alten Testament nicht unvorbereitete, aber für Jesus ty-pische Anredeform Gottes, die von einigen als exklusiv angesehen wird. Auch wenn das nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann, ist die Charakteristik un-bestritten.

• „Abba“ ist ein Wort aus der Familiensprache. Mit „Abba“ bezeichnet ein Kind (jung oder erwachsen) seinen Vater, wenn das Verhältnis herz-lich ist. In der Anrede schwingen Respekt und Vertrautheit, Nähe und Anerkennung mit. Auf Gott bezogen, muss derselbe Emotionsgehalt, dieselbe Nähe, die-selbe Intensität und Herzlichkeit ausgedrückt werden.

• „Abba“ sagt zu Gott, wer sich als Gottes Sohn und Kind sieht. Das ist in erster Linie Jesus selbst.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit steht die Anrede Gottes als „Abba“ im Hinter-grund des Vaterunsers (Lk 11,1-4 par. Mt 6,9-13). Im Vaterunser lehrt Jesus seine Jünger beten, indem er sie in sein eigenes Gottesverhältnis hineinbringt und sie Worte sprechen lässt, in denen ihr Gottesverhältnis zum Ausdruck kommt.

c. Es ganz nicht bewiesen werden, ist aber nicht unwahrscheinlich, dass die Abba-Rufe, die Paulus in Gal 4,6 und Röm 8,15 anspricht, verkürztes Vaterunsergebet sind. In beiden Fällen betont Paulus das Wirken des Geistes. Denn allein der Heilige Geist kann jene Nähe zu Gott begründen, die in der Taufe bewirkt und im Ab-ba-Ruf zum Ausdruck gebracht wird. Die Gläubigen, die Abba rufen, sind von Jesus Christus befreit. Sie partizipieren an seiner Gottessohnschaft. Sie sind die Vorreiter des neuen Lebens. Sie treten für diejenigen ein, die nicht wie sie be-ten können. Deshalb ist der Ruf „Abba“ nicht mehr nur der Schrei nach Frei-heit, sondern bereits der Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit.

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13. Das existentielle Argument (Gal 4,8-20)

a. Nach den apostolatstheologischen Passagen in Gal 1,10 - 2,10 und der per-sonalen Verdichtung der Rechtfertigungslehre in Gal 2,19f. sagt Paulus in Gal 4,8-20 erstmals wieder mit Nachdruck „Ich“. Dem entspricht, dass nach Gal 3,1-5 wieder direkt die Galater angeredet werden. Dadurch entstehtpersönliche Nähe, die existentielle Dichte wird. Es ist ein Argument, weil es weder ohne den Einsatz des Apostels noch ohne die Antwort der Galater zum Glauben gekommen wäre. Es ist ein neues Argument, weil erstmals hier die Missionsgeschichte des Apos-tels und die Glaubensgeschichte der Galater direkt verknüpft werden. Deshalb kann in Gal 4,21-31 ein ekklesiologisches Argument folgen.

b. Paulus baut das Argument durch die direkte Anrede der Galater in drei Schritten auf:

Gal 4,8-11 Die Sorge des Apostels um die aktuelle Entwicklung Den Pauluskritikern zu folgen, würde die Gotteserkenntnis und Glaubensfreiheit trüben.

Gal 4,12-16 Die Erinnerung an die guten Anfänge Trotz schwierigster Umstände hat sich bei der Gründung der Ge-meinde ein herzliches Verhältnis entwickelt – das jetzt aber aufs stärkste bedroht ist.

Gal 4,17-20 Die Kritik an den Gegnern und ihrer Resonanz bei den Galatern Unter dem Einfluss der Nomisten verraten die Galater nicht nur die Freiheit des Glaubens, sondern auch die Liebe des Apostels.

Paulus baut in schrillen Farben einen doppelten Kontrast auf: • zwischen der Gründung und der Gegenwart der Gemeinden:

was sehr gut begann, droht schlecht zu enden; • zwischen den Möglichkeiten und der Wirklichkeit der Gemeinden:

was sie einst überwunden haben, droht sie jetzt wieder einzuholen. Dieser Kontrast hilft Paulus, die Leidenschaft seines Engagements herauszu-streichen, um die Galater bei der Ehre zu packen. Er führt ihn aber auch dazu, den Gesetzesdienst mit dem Götzendienst auf eine Weise zu verbinden, die kritische Fragen provoziert, ob er nicht die Tora diffamiert. Im Zuge seiner Argumentation spielt Paulus eine Reihe von theologischen Mo-tiven an, die eine große Rolle auch außerhalb des Kontextes spielen:

• die imitatio Pauli, die in der imitatio Christi begründet ist (Gal 3,12), • die geistliche Elternschaft des Apostels (Gal 3,19), • die Formung des Lebens nach dem Modell Christi (Gal 3,19).

Diese Motive geben der theologischen Argumentation Tiefenschärfe.

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c. Gal 4,8-11 ist rhetorische Polemik gegen die neuen religiösen Ambitionen der Galater, aber religionsgeschichtlich signifikant, sowohl zur Selbsteinschät-zung des Apostels als auch zur Entwicklung in galatischen und zu den Erfolgs-aussichten der Paulusgegner.

• Gal 4,8f. verbindet in traditionell jüdischer Weise Götzendienst und Un-freiheit (weil die Religiosität eine falsche Adresse hat und die vielen Götter viele Pflichten bedeuten, die keine eindeutige Sicherheit be-gründen können).

• Gal 4,9a erklärt den Glauben als eine Erkenntnis, die unterfangen ist von der Erkenntnis durch Gott (vgl. 1Kor 13,9-12). Das Erkennen meint in der Sprache der Bibel nicht das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse, sondern einer bewussten Liebe.

• Gal 4,9b.10 konkretisiert die religiöse Praxis, zu der die Galater sich führen lassen wollen, unter zwei Aspekten:

o Verehrung der Elemente: Die „Elemente“ sind kosmische Mächte, vermutlich Feuer, Was-ser, Erde, Luft, die als göttlich galten und in einem prekären Gleichgewicht die temporäre Stabilität der Welt garantieren.

o Kalenderfrömmigkeit: Strittig ist, ob der Sabbat beachtet werden soll (was aber die „Monate“ nicht erklärt) oder ob chronologische Tabuzonen er-richtet werden sollen, die sich nur aus anderen als jüdischen Einflüssen erklären lassen.

Die Verbindung taucht etwas später im Kolosserbrief als Programm ei-ner „Philosophie“ auf, die eine Art christlicher Esoterik vertritt (Kol 2,18-23). Dort wird es christologisch kritisiert (Kol 1,15-20): Weil als „durch“ Christus, „in“ Christus und „auf ihn hin“ erschaffen und erlöst wird, bedarf es keiner religiösen Zusatzversicherungen. Paulus kritisiert den Dienst in Gal 4 unter dem Aspekt der Sklaverei: Was religiöser Fortschritt sein soll, führt zurück in die Vergangenheit.

d. Gal 4,12-16 rekapituliert, nicht ohne starke Selbststilisierung des Apostels, die Geschichte der Gemeindegründung, um sie mit dem Problem der Gegen-wart zu kontrastieren. Der Passus spielt auf krankheitsbedingte Behinderungen der Mission an (vgl. 2Kor 11), die aber das Verhältnis eher vertieft haben.

e. In Gal 4,17-20 kommt Paulus auf seinen Vorwurf zurück, die Gegner seien eigensüchtig, was er in Gal 6 noch unterstreichen wird. Dem hält er die Erinne-rung an seine eigene Selbstlosigkeit entgegen. Seine Hilflosigkeit ist gespielt: „Unter ihnen“ ist er in einer „Sackgasse“ einer „Aporie“ (wie man Gal 4,20 pa-raphrasieren könnte). Also muss er neu ansetzen, um sich und ihnen einen Ausweg zu finden. Das geschieht im folgenden Argument Gal 4,21-31.

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14. Das ekklesiologische Argument (Gal 4,21-31)

a. Gal 4,21-31 ist ein Passus, der große hermeneutische Schwierigkeiten berei-tet.

• Einerseits ist der Abschnitt für Paulus ein zentrales Argument. Es kom-biniert

o die ambitionierte Exegese, die bereits in Gal 3,6-14 den Primat der Verheißung, die strafende Funktion des Gesetzes und die rechtfertigende Kraft des Glaubens herausgearbeitet hat,

o mit der Pneumatologie der Taufe (Gal 3,25-4,7), die zur Mit-gliedschaft in der Kirche führt.

• Andererseits wirft der Abschnitt die Frage auf, wie sich die Allegorie von Sara und Hagar mit einer Theologie Israels vertragen soll, weil das gegenwärtige Jerusalem von Paulus nicht mit Sara und Isaak verbunden wird, wie es jeder Jude von Geburt an für sich in Anspruch nehmen würde, sondern mit Hagar und Ismael, was jedoch die Genealogie der Araber, nicht der Juden ist. Durch eine Reihe von Übersetzungen wird das Problem erheblich verschärft, nicht zuletzt in der Einheitsüberset-zung von 1979.

Durch die Exegese wird dieser Widerspruch nicht aufgelöst, sondern aufge-deckt, nach Kräften aber auch insoweit fruchtbar gemacht, wie er die paulini-sche Rechtfertigungstheologie zu erklären hilft.

b. Das Argument besteht aus zwei Teilen.

Gal 4,21-27 Allegorie: An beiden Frauen und Söhnen Abrahams wird die Dialektik der Er-wählung sichtbar gemacht, die sich im Gegensatz von Fleisch und Geist, Unfreiheit und Freiheit, Erde und Himmel, Hagar und Sara, Ismael (ungenannt) und Isaak widerspiegelt.

Gal 3,28-31 Applikation: Die Galater sind als Söhne Gottes (Gal 3,26 - 4,7) Freie, als solche aber nach einem biblischen Muster (Typologie) verfolgt (Gen 16,12; 21,9) und müssen sich deshalb dadurch wehren, dass sie abstoßen, was ihre Freiheit bedroht.

Beide Argumente zählen nur, wenn (und weil): 1. die Tora als Argumentationsbasis auf allen Seiten anerkannt, 2. die Schrift einen geistlichen Sinn hat, der auf dem buchstäblichen ruht,

aber eine Aktualisierung erlaubt, die methodisch durch den Bezug auf die Gegenwart des Geistes in der Gemeinschaft derer kontrolliert wird, die das Gesetz im Licht Jesu Christi lesen.

Beide Voraussetzungen sind prinzipiell unstrittig, en detail aber kontrovers.

c. Das ekklesiologische Argument wird in Gal 4,21-27 schulmäßig entwickelt.

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Gal 4,21 bittet um Aufmerksamkeit.

Gal 4,22f. referiert die Geschichte Abrahams und seiner Kinder (Gen 17f.21f.) und rafft so ihren Literalsinn.

Gal 4,24a kündigt die Allegorie an.

Gal 4,24b nennt das tertium comparationis: Die beiden Frauen Abrahams stehen für zwei Bundesschlüsse Gottes (oder zwei Seiten dessel-ben Bundes).

Gal 4,24c konkretisiert den Gegensatz an Hagar und Sara.

Gal 4,25a liefert ein etymologisches Argument: Hagar steht für den Sinai.

Gal 4,25b.26 benennt die paradoxe Situation der Gegenwart: dass das „jetzige Jerusalem“, das zur Freiheit bestimmt ist, „versklavt“ ist (weil es programmatisch auf die Gesetzeswerke setzt), während Paulus, die Galater und alle Gläubigen frei sind (weil sie in Christus sind) und deshalb das himmlische Jerusalem als ihre Mut-ter wissen dürfen.

Gal 4,27 begründet den Rollenwechsel mit der Schrift (Jes 51,4): So wie die unfruchtbare Sara sich freuen durfte, so dürfen sich die früher in ihrem Götzendienst fruchtlosen und versklavten Galater (als Hei-denchristen angesprochen) zu der unzähligen Schar der Abrahamskinder rechnen, denen die Verheißung zuteil wird.

Die allegorische Etymologie ist der exegetische Angel- und Schwachpunkt. Sie beruht auf jüdischen und arabischen Traditionen über den Namen und die Lage des Berges Sinai.39

d. Die Applikation in Gal 4,28-31 knüpft an das „Wir“ von Gen 4,26 an (Gen 4,28) und mahnt mit einem „Aber“ (Gal 4,29) die Konsequenzen an (so dass sowohl das ethische Argument von Gal 5,1-12 als auch die in Gal 5,13 begin-nende Paraklese grundgelegt werden). Der entscheidende Punkt ist hier aller-dings, dass sie die Bedrohung durch den versklavenden Gesetzesdienst erken-nen und bekämpfen.

Insofern wirkt sie gewollt. Aber sie hat mit einer Ab-wertung des Alten Testaments nichts zu tun (wie die Einheitsübersetzung insi-nuiert). Sie deckt vielmehr den Widerspruch auf, dass sein kann, was nicht sein darf: das irdische Jerusalem im Gegensatz zum himmlischen. Das ist ein zu ho-her Preis dafür, dass die Heiden die Stadt Jerusalem, die Tochter Zion, die Braut des Messias ihre Mutter nennen dürfen. Deshalb kann es dabei nicht bleiben.

39Vgl. Paul Maiberger, Topographische und historische Untersuchungen zum Sinaiproblem (OBO 54), Freiburg/Schw. 1984, bes. 82ff.

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15. Das ethische Argument (Gal 5,1-12)

15.1 Kontext- und Strukturanalyse a. Gal 5,1-12 hat eine Brückenfunktion.

• Die Perikope schließt die Argumentation für die Rechtfertigungslehre ab. Nicht ohne Anachronismus ließe sich schematisieren:

o Gal 3,1-5 Hl. Geist o Gal 3,6-14 Hl. Schrift o Gal 3,15-25 Recht o Gal 3,26-4,7 Sakrament o Gal 4,8-20 Apostel o Gal 4,21-31 Kirche o Gal 5,1-12 Moral

Die ethische Argumentation ist erforderlich, o weil Paulus der Vorwurf gemacht worden zu sein scheint (vgl.

Gal 2,17f. und Röm 6,1.15), seine Gnadentheologie lasse die Ethik überflüssig werden,

o und weil die Rechtfertigung aus dem Glauben aus sich heraus eine ethische Dimension hat.

In die ethische Argumentation werden einige wichtige Motive aufge-nommen, die Paulus zuvor entfaltet hat:

o die Freiheit des Glaubens (Gal 5,1), die Paulus nach Gal 2,1-10 auf dem Apostelkonzil verteidigt (Gal 2,1-10), in Gal 3,13f. chris-tologisch begründet und in Gal 4,21-31 ekklesiologisch zuge-spitzt hat und von Gal 5,13 an moraltheologisch explizieren wird,

o die Kritik an der Idee der Galater, sie müssten sich – als Männer – beschneiden lassen, um voll zum Gottesvolk zu gehören (Gal 5,2-4.7ff.; vgl. 1,6-9; 4,8ff.),

o der Rekurs auf den Geist (Gal 5,5), den die Galater empfangen haben, weil sie auf das Wort der Verkündigung gehört haben (Gal 3,1-5; 4,21-31),

o die Heilssuffizienz des Glaubens (Gal 5,5f; vgl. 2,16), o die diakonische Ausrichtung des paulinischen Apostolates (Gal

5,11a; vgl. 4,8-20), o der Verweis auf das Kreuz als Basis der Glaubensgerechtigkeit

(Gal 5,11b; vgl. 3,1). Der entscheidend neue Gedanke ist die programmatische Verbindung von Glaube und Liebe (Gal 5,6).

• Die Perikope leitet die Paraklese ein (die einige schon in Gal 5,1 begin-nen lassen), in der Paulus das Ethos der Agape, das er in Gal 5,1-12 so-teriologisch begründet, paradigmatisch konkretisiert und theologisch reflektiert.

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b. Gal 5,1-12 entwickelt das ethische Argument in drei Schritten, wobei die These, die Gal 2,16f. variiert, zuerst negativ, dann positiv begründet, hernach zuerst negativ, dann positiv angewendet wird.

Gal 5,1 These: Befreiung muss bewahrt und bewährt werden.

Gal 5,2-6 Argumentation: Gal 5,2ff. Negation: Wer die Beschneidung wählt, verfehlt Christus. Gal 5,5f. Position: Glaube wirkt durch Liebe.

Gal 5,7-11 Applikation: Gal 5,7ff. Negation: Die Galater müssen sich besinnen. Gal 5,9ff. Position: Die Galater werden sich besinnen.

Paulus entwickelt das Argument mit einer subtilen Kommunikationsstrategie. • Er definiert ein „Wir“ des Heilsindikativs in Gal 5,1a und Gal 5,5f., als

dessen Sprecher in der Anrede der Galater sein „Ich“ agiert (Gal 5,2ff. 7ff.; vgl. Gal 2,19f.).

• Er formuliert ein „Ihr“ des Heilsimperativs (Gal 5,1b), den er in der Kri-tik (Gal 5,2ff. 7ff.) und der Ermunterung (Gal 5,9ff.) der Galater be-gründet (Gal 5,2-6) und appliziert (Gal 5,7-11): Wenn sie aus dem, was zusammen mit Paulus alle bekennen (vgl. Gal 1,1-5) nicht ausscheiden wollen, müssen sie sich bekehren – was sie kraft des Geistes Paulus zu-folge auch tun werden (Gal 5,9ff.).

• Außerhalb bleiben „Sie“ (Gal 5,12: vgl. 5,10f.), die Gegner, denen die Galater Gehör zu schenken in der Versuchung stehen, aber entgegen treten müssen, um bei Christus und in der Kirche zu bleiben (Gal 1,6-9).

c. Mit Gal 5,9ff. ist der Argumentationsbogen insofern geschlossen, als Paulus seine Verwunderung, die er im Prooemium (Gal 1,6-9) zum Ausdruck gebracht hat, in Zuversicht verwandelt, weil er auf die Qualität seiner Argumentation und die Einsichtsfähigkeit der Galater vertraut. Mit Gal 5,6 ist aber ein neues Themenfeld eröffnet, weil Paulus die Gal 2,16 aufgestellte Rechtfertigungsthese so variiert, dass nicht nur die ethische Sub-stanz der Gnadentheologie annonciert, sondern auch die Frage nach ihrer Konkretion laut wird, die Paulus ab Gal 5,13 beantwortet.

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15.2 Gal 5,6 als Schlüsselvers paulinischer Soteriologie und Ethik a. Ein soteriologischer Zentraltext ist Gal 5,6. Er ist in seiner Bedeutung strittig, hat sich aber in der Ökumene des 20. Jh. als Konsenstext bewährt.

• Die katholische Theologie hat sich seit dem Mittelalter besonders stark für die Auslegung des Verses interessiert, weil sie in ihm einen Beleg für die theologische Bedeutung der Ethik im Rahmen der Gnadenlehre sah. Allerdings hat sie ihn in einem anderen hermeneutischen Bezugs-system als dem der genuin paulinischen Theologie interpretiert40

o Der traditionell katholische Kernsatz lautet fides caritate formata(Der Glaube wird durch Liebe geformt.).

.

o Als fides („Glaube“) gilt der scholastischen Theologie von Augus-tinus her die verständige Zustimmung zum geoffenbarten Inhalt des Glaubens (cum assensione cogitare41

Als caritas gilt ihr die Liebe zu Gott, die zur Nächstenliebe führt. ).

o Die Pointe des scholastischen Satzes lautet also, dass das Be-kenntnis zu Gott, das sich in der Zustimmung zur kirchlichen Lehre konkretisiert, nur dann rechtfertigen kann, wenn es sich von der Liebe Gottes selbst formen lässt, die sich in der mensch-lichen caritas bewahrheitet.

Auf der Linie dieser Theologie liegt auch das Konzil von Trient, das sich allerdings die scholastische Begrifflichkeit nicht zu eigen gemacht hat.

• Martin Luther sieht in der Formel fides caritate formata eine „Fiktion“, die sich „höchst dummen Träumereien sophistischer Lehr“ verdanke.42

Von einem heutigen Standpunkt ökumenischer Theologie aus kann der Dissens mit Hilfe der Exegese und der Reformationsgeschichte überwunden werden. Beide Kontrahenten haben jeweils ihre Begrifflichkeit dem anderen unterstellt und dadurch ihre Kritik munitioniert. Die ökumenische Hermeneutik klärt die jeweiligen Intentionen ab; die Exegese sucht den Zugang zum originären Pau-lus und seiner Sprache.

Richtig sei vielmehr gerade das Gegenteil: Der Glaube müsse nicht durch die Liebe, die Liebe müsse durch den Glauben „geformt“ werden (WA 39, 318/16). Seine Kritik unterstellt ein anderes Glaubensver-ständnis und spießt eine sekundäre Konditionierung der Soteriologie durch die „guten Werke“ auf.

40 Vgl. Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg - Basel - Wien 1983, 225-231. 41Augustinus, De praedestinatione sanctorum 2,5 (PL II 5); Thomas, S.Th. II-II 2,1. 42WA 40 I 286/12; vgl. 39 I 265-333; WA 56, 337/17: maledictum vocabulum illud ‚formatum‘.

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b. Im Blick auf Paulus43

• Der Gegensatz zum Glauben ist in Gal 5,6 nicht ein „Werk des Geset-zes“, sondern sowohl die Beschneidung als auch die Unbeschnittenheit. Beides steht insofern auf einer Stufe, als weder das eine noch das an-dere soteriologische Kraft hat. Das Verbivscu,ein (vermögen) meint so-teriologische Effektivität.

verschiebt sich das Bedeutungsspektrum sowohl gegen die Scholastik als auch gegen Luther nicht unerheblich. Es zeigt sich, dass Pau-lus den in Gal 2,16 formulierten Kerngedanken, dass nicht die „Werke des Ge-setzes“ rechtfertigen, sondern der Glaube an Jesus Christus, so weiterführt, dass die Liebe Jesu Christi, die zur Rechtfertigung der Glaubenden führt (Gal 2,19f.), auch die Liebe derer bestimmt, die gerechtfertigt werden.

Was in Gal 5 – wie im gesamten Brief – fehlt, ist die nach Gen 17 not-wendige positive Bestimmung der Beschneidung; sie ist nach Röm 4,11 das Siegel der Glaubensgerechtigkeit.

• Der Glaube, der „etwas vermag“, ist der Glaube, der rechtfertigt. • Dieser Glaube ist „wirksam durch Liebe“ (Gal 5,6).

o Die Liebe (Agape) ist, wie sich aus Gal 5,13f. ergibt, die Liebe zum Nächsten (die das Gesetz erfüllt).

o Der Aktivposten ist der Glaube, die Liebe das Medium. Der Glaube hat eine „Energie“; das ist seine Kraft und

Motorik, das Leben zu gestalten. Diese Kraft entfaltet er durch die Liebe (dia c. gen: in-

strumentalis). Die Liebe ist keine Funktion und keine Folge des Glaubens, son-dern eine eigenständige theologische Größe von anthropologi-schem Zuschnitt, die mit dem Glauben koordiniert wird und da-rin die ethische Dimension der Rechtfertigung koordiniert.

Die korrespondierende Aussage steht in 1Kor 13,7: „Die Liebe glaubt alles“ – weil sie ganz auf Gott und das Evangelium setzt. Nach 1Kor 13,13 ist die „Liebe am größten“ – nicht weil der (rechtfertigende) Glaube unwichtiger wäre, son-dern weil die Liebe in der absteigenden und aufsteigenden Linie die Gottesbe-ziehung repräsentiert, während der Glaube die alles bestimmende und retten-de Bewegung zu Gott ist, die bei der eschatologischen Vollendung ins Schauen übergeht.

43 Vgl. Th. Söding, Glaube, der durch Liebe wirkt. Rechtfertigung und Ethik im Galaterbrief, in: Bernd Kollmann - Michael Bachmann (Hg.), Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situierung der Theologie des Paulusschreibens (bThSt 106), Neukirchen-Vluyn 2010, 165-206.

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16. Die Freiheit in der Liebe (Gal 5,13-26)

a. Mit Gal 5,13 beginnt die Paraklese (so wie auch später der Römerbrief erst die „Dogmatik“, dann, ab Röm 12,1, die „Ethik“ bringt). Der theologische Sta-tus dieser moraltheologischen Passagen ist strittig.

• Die evangelische Exegese des 20. Jh. neigte zu einer theologischen Un-terschätzung der Ethik, teils als Gegenbewegung gegen die liberale Exegese des 19. Jh., teils aus formgeschichtlichen Gründen, weil man in der Ethik so viele religionsgeschichtliche Parallelen beobachtete, teils aus theologischen Gründen, weil das extra nos der Gnade betont wer-den sollte.44

• Die katholische Exegese hat zwar traditionell ein starkes Interesse an moraltheologischen Fragen, optiert aber gerne mit dem Naturrecht und sieht deshalb die Parallelen als Indizien für die Universalität des christlichen Ethos, während gerade das spezifisch Paulinische, die Ein-bindung in die Theologie der Gnade und der Freiheit wenig betont wird.

• Die konstruktivistische Exegese des 21. Jh. schwenkt gerne von der Ethik zum Ethos, weil sie sich (vorgeblich) nur mit einem deskriptivem Interesse der Vielfalt der Lebenskulturen widmet (was in Wahrheit ein spezifisches Interesse westlicher Akademiker ist).45

b. Die paulinische Paraklese des Galaterbriefes ist eine Ethik der Freiheit. Gal 5,13 gibt das Stichwort vor. Es ist genau auf Gal 5,1 abgestimmt. Hier wie dort folgt aus dem Heilsindikativ der Heilsimperativ. Aber während dort von der befreiten Freiheit die Rede war, ist hier von einer Berufung die Rede, also im-mer auch von einer Aufgabe, die gemeistert werden soll. Die Freiheit muss verteidigt; sie muss bewahrt und mit Leben gefüllt werden.

Die Ethik der Freiheit ist eine Ethik der Agape. Wie in Gal 5,6 vorgegeben, wird in Gal 5,13f. das Liebesgebot als Begründung vorgestellt. Dadurch wird aber der Zusammenhang von Freiheit und Gesetz noch einmal von einer anderen Seite aus betrachtet: Während die „Werke des Gesetzes“ in die Unfreiheit füh-ren, weil das Gesetz der Sünde nicht Paroli bieten kann, ist die christliche Frei-heit nicht Gesetzlosigkeit, sondern Erfüllung des Gesetzes, weil das Gesetz Gottes Gebot ist und bleibt, das nicht nur paradoxal auf den Glauben als Grund der Rechtfertigung verweist, sondern auf das Leben der Gläubigen mit dem Willen Gottes in Einklang bringt.

44 Stark pointiert von Martin Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 121984 (1921): Die paulinischen Paränesen besäßen „nicht den Reiz und die Eigenart der übrigen Briefab-schnitte“ (S. 16). aus den parakletischen Passagen lasse sich „schwerlich ... überhaupt eine ‚Theologie’ und ganz gewiß nicht die des Paulus erheben“ (S. 36). 45 Zur Diskussion vgl. Michael Wolter, Paulus, Neukirchen-Vluyn 2011, 310ff. (der freilich den Begriff „Ethik“ zwar kritisieren will, aber verwendet).

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c. Der Gedankengang von Gal 5,13-26 ist durch den Gegensatz von Fleisch und Geist geprägt. Die Begrifflichkeit ist aber nicht auf den ersten Blick klar; sie verlangt eine genaue Analyse. Vorläufige Unschärfen einkalkuliert, lässt sich folgendermaßen gliedern.

Gal 5,13ff. Freiheit durch Liebe – wider das Fleisch

Gal 5,16-26 Leben im Geist – wider das Fleisch Gal 5,16ff. Imperativ im Geist– wider das Begehren Gal 5,19ff. Die Werke des Fleisches (Lasterkatalog) Gal 5,21ff. Die Frucht des Geistes (Tugendkatalog) Gal 5,24ff. Imperativ im Geist – frei vom Begehren.

In diesen Gedankengang ist die Dialektik der paulinischen Theologie des Ge-setzes eingezeichnet:

• Das Gesetz wird in der Liebe erfüllt (Gal 5,14). • „Unter dem Gesetz“ (Gal 5,18) herrscht keine Freiheit. • „Das Gesetz ist nicht gegen“ die Tugenden, die aus dem Geist fließen

(Gal 5,23b). Diese Dialektik wird vom Konflikt zwischen „Fleisch“ und „Geist“ überlagert.

• Nach Gal 5,13b droht das „Fleisch“ die „Freiheit“ zum „Einfallstor“ für das Böse zu machen, dass ab Gal 5,16 (mit Rekurs auf das 9. und 10. Gebot) als „Begehren“ identifiziert wird.

• Nach Gal 5,16-26 besteht ein grundlegender Widerspruch zwischen dem Lebenswandel „im Geist“ und „im Fleisch“.

o In Gal 5,16ff. erläutert Paulus, dass er „unter dem Gesetz“ aus-bricht und nicht aufgelöst werden kann. In Gal 5,24ff. erläutert er, dass er „in Christus“, durch die Parti-zipation am Kreuzestod Jesu, so überwunden wird, dass der Geist siegt, dem man aber auch folgen muss.

o Im Lasterkatalog Gal 5,19ff. werden die verheerenden Folgen des „Fleisches“ illustriert, das dem „Begehren“ Tür und Tor öff-net. Im Tugendkatalog Gal 5,21ff. wird demgegenüber illustriert, welch schöne Früchte der Geist trägt – in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das ja die Liebe will.

Gal 5,13-26 ist mithin nicht nur eine Perikope Ethik, sondern auch Pneumatologie und Anthropologie. Die christliche Moral wird genau so affektiv und argumentativ eingeführt wie die Soteriologie.

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16.1 Das Liebesgebot bei Paulus a. In Gal 5,14 und in Röm 13,8ff. redet Paulus ähnlich von der Erfüllung des Gesetzes, indem er auf das Liebesgebot Lev 19,18 verweist. Beidemale geht es um die Rechtfertigungslehre, deren Kritik der Gesetzeswerke keinen Zweifel duldet, deren Freiheitspotential groß ist, deren Ethik aber nicht nur gesetzes-konform ist, sondern den Sinn des Gesetzes erfasst und erfüllt Jesus hat auf die Frage nach dem größten Gesetz mit dem Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe geantwortet (Mk 12,28-34 parr.). Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter beantwortet die Frage, wer „mein Nächster“ ist (Lk 10,25-37). Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43-48 parl. Lk 6,26-36) zeigt, bis über welche Grenzen hinaus das Gebot der Nächstenliebe reichen soll. In der Paulustradition ist die Thematik der Gottesliebe durch die Betonung des rechtfertigenden Glaubens bereits prononciert, bevor die Ethik zu ihrem Recht kommen soll. Gal 5,6 ist ein reflexives Pendant zum Doppelgebot. In Röm 12,19-31 argumentiert Paulus ganz nahe an der Bergpredigt; der Galaterbrief konzentriert sich demgegenüber auf die innergemeindlichen Bezüge und die Ausgrenzung der Gegner (die nicht in moralischen, sondern in dogmatischen Kategorien diskutiert wird).

b. Paulus zitiert Lev 19,18.46

• Im Heiligkeitsgesetz

47

• Der Nächste ist, wie sich aus dem Kontext ergibt (Lev 19,17f.), der Mit-Israelit, der „Bruder“ und „Stammgenosse“, der „Sohn deines Volkes“.

bildet das Gebot der Nächstenliebe den positiven Abschluss einer Kette von Verboten, die im Zeichen der Heiligkeit Got-tes und der Heiligung Israels geschmiedet wird. Es ist deshalb akzentu-iert, hat aber außerhalb des Neuen Testaments nicht dieselbe Bedeu-tung wie innerhalb.

o Allerdings ist die Bestimmung nicht exklusiv, sondern positiv gemeint, wie die Ausweitung auf die „Fremden“ in Lev 19,34 und Dtn 10,19 beweist (LXX: Proselyten).

o Überdies stehen Konfliktsituationen vor Augen. Die Nächsten-liebe ist also gerade dann gefragt, wenn Hass und Feindschaft entstanden sind. Nächstenliebe ist gerade von dem verlangten, dem Unrecht getan wurde.

• Die Liebe zum Nächsten ist nicht nur die Motivation für Vergebung, Ermahnung und Versöhnung, sondern moralische Zustimmung zur Er-wählung und Berufung des geheiligten Volkes Israel.

46 Vgl. Hans-Peter Mathys, Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Untersuchungen zum alttes-tamentlichen Gebot der Nächstenliebe (OBO 71), Freiburg/Schw. - Göttingen 1986. 47 Neuere Forschung bei Thomas Römer (Hg.), The Books of Leviticus and Number (BEThL 215), Leuven 2008, 145-175.

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c. Im zeitgenössischen Judentum erfährt das Liebesgebot sowohl in Palästina als auch in der Diaspora eine Renaissance, weil es die Humanität der Tora nachdrücklich unter Beweis stellt. Das Liebesgebot taucht auch in verschiedenen Versuchen liberaler Rabbiner auf, eine pädagogische Reduktion des Gesetzes zu wagen. Allerdings steht nicht der Gedanke der „Erfüllung“, sondern des „Einstiegs“ im Raum.48

d. Paulus zitiert das Liebesgebot

49

Dass es „ein“ Wort ist,

als „Wort“ (lo,goj|): Es ist ihm, wie im Alten Testament zu lesen, direktes Wort Gottes.

• entspricht der Einzigkeit Gottes • und ist Korrelat zum Gesetz als Ganzheit, das Paulus nicht als Samm-

lung disparater Einzelgebote betrachtet, sondern als Einheit, insofern es Gottes Willen dokumentiert.

Dass „in“ diesem einen Wort das ganze Gesetz erfüllt ist, markiert Lev 19,18 als den Ort, an dem voll zum Ausdruck kommt, was das ganze Gesetz will: Es ist um der Nächstenliebe willen erlassen. Die „Erfüllung“ markiert eine Qualität, nicht eine Quantität. Paulus sagt weder, dass an jedes Einzelgebot buchstäblich gehalten werden muss, noch dass alle anderen Gebote überflüssig seien, sondern dass der Wille Gottes, um des-sentwillen das Gesetz erlassen ist, seinen vollen Ausdruck im Liebesgebot er-hält. Dass gerade das Liebesgebot als diese Erfüllung geht, erklärt sich nicht schon aus seiner Prominenz im Frühjudentum, sondern vermutlich aus einem (indi-rekten) Einfluss der Jesustradition und sicher aus der Kongruenz mit der Liebe Gottes und Jesu Christi (Gal 2,19f.).

c. Freiheit erfüllt sich in Liebe, weil jeder Mensch liebenswürdig ist, auch wenn er sich dem Bösen verschreibt, und liebesfähig, wenn ihn nicht die Sünde zum Sklaven seines Egoismus macht. Mithin ist frei, wer liebt und sich in den Dienst am Nächsten stellt. Das Gesetz versklavt zwar, wenn es, unter der Macht der Sünde, die Übertre-ter verurteilt; aber weil es im Liebesgebot aufgipfelt, weist es, wie von Gott bestimmt, den Weg ins Reich der Freiheit. Freiheit besteht in der Erfüllung des Gesetzes, nicht weil sie „Einsicht in Notwendigkeit“ (Immanuel Kant) ist, son-dern Anerkennung der Gottebenbildlichkeit und der Berufung zur Heiligkeit, imitatio Christi und Leben im Glauben.

48 Vgl. Klaus Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Teil I: Markus und Parallelen (WMANT 40), Neukirchen-Vluyn 1972. 49 Vgl. Th. Söding, Das Liebesgebot bei Paulus.

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16.2 Das Fleisch im Gegensatz zum Geist a. Der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist (vgl. Gal 3,3; 6,8) ist typisch pauli-nisch, wird aber oft kritisiert, weil aus ihm die typische Leibfeindlichkeit des Apostels spreche. Diese Kritik beruht allerdings auf einer optischen Täuschung. Denn Paulus stellt in Gal 5 nicht zwei Facetten menschlichen Leben gegenüber, sondern eine selbstbezügliche Existenz, die in der Bedürfnisbefriedigung aufgeht („Fleisch“), und eine gottgefällige, die in der Inspiration durch das Evangelium sich der Liebe öffnet („Geist“).

b. Paulus denkt (trotz 1Thess 5,23) nicht in der platonischen Trias von Leib, Geist und Seele, sondern in den Spuren alttestamentlicher Anthropologie50

• „Fleisch“ ist ein anthropologischer Ganzheitsbegriff. Der Mensch ist „Fleisch“, insofern er vergänglich ist: bedürfnisorientiert, abhängig, endlich, sterblich. Diese Fleischlichkeit bringt es mit sich, dass der Men-schen in Versuchung gerät und dem Bösen nachgibt; als Fleisches-mensch ist der Mensch auf Gottes Erbarmen angewiesen. Diese Schwä-che ist nicht böser Schein, sondern Teil des menschlichen Wesens jen-seits von Eden.

: Jeder Mensch ist ein Mensch aus Fleisch und Blut.

• Der Mensch geht aber nicht darin auf, „Fleisch“ zu sein. Er hat den Geist, seine Fleischlichkeit zu erkennen und zu zivilisieren.

Paulus konkretisiert diese Anthropologie im Streit um die Geltung des Geset-zes und die Heilssuffizienz des Glaubens.

c. Nach Gal 5,13 ist das Fleisch eine Art fremde Macht, die die „Freiheit“, die aus dem Evangelium folgt, als „Einfallstor“ benutzt, um den Menschen in Be-sitz zu nehmen. Mit der Freiheit ist die des Glaubens gemeint. Paulus akzep-tiert nicht den Einwand seiner Gegner, er marginalisiere oder sanktioniere die Sünde, wenn er Gottes Gnade stark macht. Vielmehr warnt er selbst vor dem Missverständnis und Missbrauch der erlang-ten Freiheit; es wäre eine absurde Verkehrung, wollte man aus dem Verzicht auf die Beschneidung, der Kritik des Gesetzes und dem Vertrauen in Gottes Gnade ein theologisches laissez-faire ableiten. Aus diesem kritischen Ansatz folgt nicht, dass es in Galatien auch „Libertinisten“ gab, die es zu bekämpfen galt51

50 Vgl. Christian Frevel – Oda Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und des Neuen Testaments (NEB.Themen 11), Würzburg 2003

. Vielmehr hat Paulus eine all-gemeine („usuelle“) Mahnung im Sinn, die vielleicht den Nebensinn hat, nomistischen Einwänden das Wasser abzugraben.

51 So aber teils die ältere Forschung; vgl. W. Lütgert, Gesetz und Geist. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Galaterbriefes (BFChTh 22.6), Gütersloh 1919.

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d. Was das „Fleisch“ gefährlich macht, ist für Paulus das „Begehren“.52

e. Die Folge ist eine Selbstentfremdung (Gal 5,17f.).

. Das „Begehren“ ist die (große) Sünde in den (kleinen) Sünden. Paulus hat das 9. und 10. Gebot (Ex 20,17; Dtn 5,21) als Zusammenfassung und Vertiefung des gesamten Dekalog verstanden (Röm 7,7). Dieser Zusammenhang erklärt sich daraus, dass die Bedürfnisbefriedigung zur Fleischlichkeit des Menschen ge-hört, damit aber auch dem Missbrauch der Freiheit Tür und Tor öffnet.

• Nach Röm 7 ist jeder Sünder ein betrogener Betrüger; er betrügt sich selbst und andere, wenn er sein Recht auf Kosten seines Nächsten durchsetzen will; er wird betrogen, weil er sich betrügen lässt, wenn er sich einredet und einreden lässt, gegen Gott sei das Leben zu gewin-nen. Der Selbstbetrug resultiert daraus, dass das Gesetz als fremde Macht gesehen wird, die an der eigenen Entfaltung hindert.

• Nach Gal 5 besteht der Selbstwiderspruch darin, dass ein Sünder nicht das tut, was er eigentlich will: das Gute; er entscheidet sich für Böse, weil er es mit dem –Guten verwechselt. Dieser Widerspruch ist darin begründet, dass das „Fleisch“ gegen den „Geist“ aufbegehrt, so wie Adam gegen Gottes Gebot (vgl. Röm 5,12-21). Das Gesetz kann aus diesem Zwiespalt nicht befreien. Auch wenn Pau-lus im Galaterbrief anders als in Röm 7 die Psychologie der Sünde nicht analysiert, ist der Zusammenhang nach den bisherigen Ausführungen des Apostels offenkundig.

Der Unterschied besteht darin, dass Röm 7 dem „Ich“ Adams Stimme zu lei-hen scheint, während er in Gal 5 Probleme analysiert, die auftreten, wenn jemand in das frühere zurückfällt.

f. Die Laster sind nicht „Werke des Gesetzes“, sondern „Werke des Fleisches“ (Gal 5,19ff.): Die Kataloge listen Stereotypen auf. Sie sollen kumulativ ein ver-fehltes Leben anzeigen. Paulus kanzelt sie mit einem jesuanischen Motiv ab: dem – verwehrten – Zugang ins Reich Gottes (Gal 5,21).

g. Aus dem selbst- und fremdverschuldeten Unheil des „Fleisches“ kommt nur heraus, wer sich an Jesus Christus hält und mithin als Gläubiger der Gerechtig-keit und Liebe lebt. So wie Paulus nach Gal 2,19 „mit Christus gekreuzigt“ wur-de, so sind es nach Röm 6,1-11 alle Getauften. Gal 5,24 zeigt, dass dazu gehört, das „Fleisch mit seinen Leidenschaften“ zu „kreuzigen“. Damit wird nicht Lust-feindlichkeit gepredigt, sondern ein Lebensentwurf vor Augen geführt, der nicht in der Bedürfnisbefriedigung aufgeht, sondern „Christus Gestalt werden“ lässt (Gal 4,19).

52 Vgl. Th. Söding, Die Rechtfertigung der Sünder und die Sünden der Gerechtfertigten. Anmer-kungen zum Streit um „simul iustus et peccator“ im Lichte paulinischer Theologie, in: Th. Schneider – G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen (Dialog der Kirchen 11), Freiburg –-Göttingen 2001, 30-81

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15.3 Der Geist der Liebe a. In Gal 5,16-26 ist „Geist“ (Pneuma)53 durchgängig nicht der des Menschen (obgleich Paulus Pneuma auch als anthropologischen Grundbegriff kennt54

b. Der Geist ist es, durch den Gott nicht nur dem Keim des Glaubens legt, son-dern sein ständiges Wachsen und Reifen hervorbringt. Der Geist ist es, der Glaube, Hoffnung und Liebe verbindet: die Umkehr des Anfangs (Gal 3,1-5; 4,8-20) mit dem Bekenntnis des Glaubens (1Kor 12,1ff), das Bekenntnis mit dem Gebet (Gal 4,4-8; Röm 8,16ff.), das Beten mit der Diakonie (Röm 12,3-21), die Diakonie mit der gesamten Lebensführung und dem umfassenden Exis-tenzverständnis (Gal 5).

), sondern der Gottes (wie sonst durchweg im Brief: Gal 3,1-5.14; 4,6.29; 5,5).

c. in Gal 5 hebt Paulus zwei zentrale Aspekte der Pneumatologie hervor. • Der Geist ist wie eine Spur, der die Glaubenden folgen (Gal 5,25), in der

sie wandeln (Gal 5,16) und handeln (Gal 5,14) – so wie sie „in Christus“ sind (Gal 5,6; vgl. 2,5.17).

• Der Geist ist wie ein Baum, der „Frucht“ trägt (Gal 5,22), als erstes die Liebe (Gal 5,22), dann viele weitere Tugenden.

Andere Bestimmungen des Geistes, die eschatologische als „Unterpfand“ (2Kor 1,22; 5,5) oder die implizit trinitarische als Person (1Kor 12,4ff.; 2Kor 13,13)55

Allerdings ergeben sich enge Bezüge zu den anderen wesentlichen Geist-Aussagen des Briefes:

, bleiben an dieser Stelle im Hintergrund.

• Nach Gal 3,1-5 verleiht der Geist Kraft zum guten Leben, weil er mit dem Hören des Glaubens einhergeht.

• Nach Gal 3,13f. ist der Geist der Inbegriff und die Ursache der Verhei-ßung, die verwirklicht wird, weil Jesus den Kreuzestod erlitten hat.

• Nach Gal 4,6ff. ist der Geist die Stimme der Gläubigen in ihren Gebe-ten, die sie an den Vater („Abba“) richten.

• Nach Gal 5,5 macht der Geist Hoffnung auf Rettung. In Gal 5,16-26 ist ethisch umgesetzt, was in Gal 3,1 – 5,12 soteriologisch be-gründet worden ist. Die Bezüge sind eng, weil pneumatologisch der volle Be-gründungsaufwand eingeholt wird, den die Rechtfertigungslehre treibt.

53 Vgl. Friedrich-Wilhelm Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992. 54 Vgl. Samuel Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie (1996), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 163-192. 55 Vgl. Th. Söding. Ein Gott – Ein Herr – Ein Geist. Die neutestamentliche Trinitätstheologie und ihre liturgische Bedeutung, in;: Bert Groen – Benedikt Kranemann (Hg.), Liturgie und Trinität (QD 229), Freiburg - Basel - Wien 2008, 12-57

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d. So wie, im Geist zu sein, die in Glaube und Taufe begründete Identität der Gläubigen ausmacht, so soll es auch Antrieb des Lebens sein (Gal 5,25): Das Leben im Geist ist die Vorgabe, die Gott macht und den Glaubenden durch die Taufe zueignet; der Wandel im Geist meint die Wahrnehmung der geschenk-ten Freiheit in der Liebe.56

56 Vgl. Th. Söding, Das Wehen des Geistes. Aspekte neutestamentlicher Pneumatologie, in: Bernhard Nitsche (Hg.), Atem des sprechenden Gottes. Einführung in die Lehre vom Heiligen Geist, Regensburg 2003, 21-71; ders., Der Geist der Liebe. Zur Theologie der Agape bei Paulus und Johannes, in: Edith Düsing – Hans Dieter Klein (Hg.), Geist, Eros und Agape. Untersuchun-gen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst, Würzburg 2009, 147-168.

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17. Das Gesetz Christi (Gal 6,1-10)

a. Wie in anderen Briefen auch wird die Kette der Mahnungen im Galaterbrief etwas lockerer gespannt. Paulus hat weiterhin keine speziellen Weisungen in speziellen Situationen, sondern bleibt allgemein – was nicht ausschließt, dass sich sekundäre Konkretisierungen ergeben. Charakteristisch paulinisch ist eher eine moraltheologische Grundlinie, die auf die konzentrierte Förderung des Guten abhebt und das einerseits in Verbindung mit Jesus Christus bringt, an-dererseits aber angesichts von Schuld und Not profiliert. Der Gedankengang lässt sich wie folgt rekonstruieren.

Gal 6,1f. Der Grundsatz: Das Gesetz Christi erfüllen

Gal 6,3ff. Die erste Anwendung: Konzentration auf die eigenen Stärken

Gal 6,6 Die zweite Anwendung: Gemeinschaft mit den Lehrern

Gal 6,7f. Die dritte Anwendung: Vertrauen auf den Geist, nicht auf sich selbst

Gal 6.9f. Die Variation des Grundsatzes: Zeit, Gutes zu tun.

b. In Gal 6,1f. wird der ethische Grundsatz der Anteilnahme aus seiner christo-logischen Begründung heraus angesichts der Schuld von anderen konkretisiert.

• „Übertretungen“ des Gebotes Gottes gibt es nicht nur außerhalb, son-dern auch innerhalb der Kirche und nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart.57

• Vergebung ist eine moralische Pflicht, die vielfach im Alten Testament eingeschärft und in Lev 19,17f. mit dem Liebesgebot verknüpft wird. Wer sich als „Geistlichen“ (Pneumatiker) betrachten darf (was aufgrund der Taufe alle Christen können), ist dazu befähigt und beauftragt.

57 Das ist für die ökumenisch brisante Debatte um das simul justus et peccator wichtig. Paulus kennt von Anfang an das Problem, das Christen mehr oder weniger schwere Sünden begehen. Er setzt auf die Möglichkeit und Aufgabe der Versöhnung, und führe der Weg auch über einen zeitweisen Ausschluss aus der Gemeinde ((vgl. 1Kor 5-6). Mithin besteht die Kirche aus „ge-rechtfertigten Sündern“. Die Alte Kirche hat sich aber mit der Möglichkeit einer „zweiten Bu-ße“ bei schwersten Vergehen sehr lange sehr schwer getan (auch wegen Hebr 6,1f.), bis sich schließlich dank der augustinischen Erneuerung der paulinischen Gnadentheologie die mildere Variante durchgesetzt hat.

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• Paulus ist aber Seelsorger genug, um zu wissen, wie gefährlich für den, der zu vergeben hat, die Vergebung wird: weil er sich etwas drauf ein-bilden kann.

• Die „Last“, die einer dem anderen abnehmen soll, ist, nach Gal 6,1 zu urteilen, die Schuld, die er auf sich geladen hat. Gemeint ist nicht nur die Bereitschaft zu Vergebung, sondern auch das solidarische Eintreten für die Folgen: die Hilfe bei der Aufarbeitung und Wiedergutmachung,

• Das „Gesetz Christi“ (Gal 6,2) ist weder ein Schlagwort der galatischen Nomisten58 noch einfach eine Regel59; sondern die Tora, die von Chris-tus erfüllt wird60. Sie ist das „Gesetz Christi“, weil Jesus die Liebe, die es fordert, vollendet verwirklicht.61

c. Die erste Anwendung (Gal 6,4f.) verbindet die Warnung vor Selbstbetrug mit der Ermutigung, die eigenen Stärken auszuspielen und nicht auf die Anerken-nung durch andere zu schielen, sondern den eigenen Ansprüchen (die vor Gott und den anderen verantwortet sind) gerecht zu werden.

Weil dies die Hingabe seines Lebens umschließt (Gal 1,5; 3,13f.), ist die Vergebung der Sünden, zu die Gläu-bigen aufgefordert werden, vom Heilstod Jesu gedeckt.

Die zweite Anwendung (Gal 6,6) setzt die Weisungen Jesu aus der Aussen-dungsrede, dass die Missionare von dem leben sollen, was ihnen vorgesetzt wird (Mk 6,6b-13 parr.), in die Praxis der urchristlichen Gemeinden um - ob-wohl er selbst sich die Freiheit genommen hat, auf das Unterhaltsrecht zu verzichten. Die dritte Anwendung nimmt die Entgegensetzung zwischen „Fleisch“ und „Geist“ aus Gal 5,16-26 auf, um sie mit Hilfe des weisheitlichen Zusammen-hanges von Tun und Ergehen einzuschärfen.

d. Die Variation des ethischen Grundsatzes von Gal 6,1f. in Gal 6,9f. ist einer-seits mit dem Motiv des Guten denkbar allgemein, andererseits doppelt profi-liert:

• Durch die Einbringung des Zeitfaktors wird die oft gesehene Naherwar-tung relativiert, indem sie den Kairos betont: Die Zeit ist geschenkt, um die besten Gelegenheiten zu suchen, Gutes zu tun.

• Durch die Differenzierung der Adressaten wird der universale Radius der paulinischen Ethik mit ihrer kirchlichen Konkretion vermittelt.

58 So H.D. Betz, Gal 510f 59 So R. Bultmann, Theologie 260. 60 So H. Schlier, Gal 201f. 61 So H. Schürmann, Das „Gesetz des Christus“ (Gal 6,2). Jesu Verhalten und Wort als letztgülti-ge sittliche Norm nach Paulus (1974), in: ders., Studien zur neutestamentlichen Ethik (SBAB 7), Stuttgart 1990, 53-76.

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Thomas Söding

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18. Der Epilog (Gal 6,11-18)

a. Der Epilog eines Paulusbriefes lenkt in der Regel zum Persönlichen über. Das fällt im Galaterbrief sehr knapp aus(Gal 6,18). Tatsächlich nutzt Paulus die Ge-legenheit zu einer Rekapitulation und Akzentuierung seiner theologischen Pro-grammatik und seiner praktischen Anweisungen. Das hat er durch den Hinweis auf seine eigene Handschrift akzentuiert (Gal 5,11). Die Notiz ist nicht so zu lesen, dass er den gesamten Brief eigenhändig verfasst hätte. Vielmehr wird er sich, wie es üblich war (vgl. Röm 16,22), eines professionellen Schreibers bedient haben, der nach Diktat geschrieben hat. Gal 6,11-18 ist also ein eigenhändiger Nachtrag zum Brief. Das gibt dem Passus ein starkes Gewicht. Der Epilog ist ein Metatext, der eine Art Leseanleitung für den Brief enthält und im Rückblick das, was besonders wichtig ist, zusammen-fasst.

b. Vergleicht man die Themen des Epiloges mit denen des Briefes, zeigen sich charakteristische Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

• Paulus verzichtet in Gal 6,11-18 auf alle Detailargumente. Er verzichtet sogar auf das Stichwort „Rechtfertigung“. aber auf das Stichwort und.

• Er unterstreicht noch einmal, dass die Beschneidung keinen soteriolo-gischen Nutzen bringt, ja dass ihre Forderung kontraproduktiv ist (Gal 6,12f.15). Er spitzt seine Kritik der Gegner zu, denen er frommen Egoismus vor-hält, weil sie zwar große Verheißungen mit der Beschneidung verbin-den, aber die Konsequenzen, konsequenten Gesetzesgehorsam, nicht am eigenen Leibe tragen wollen (Gal 6,13). Er kommt in bewegender Weise auf den Kreuzestod Jesu zurück, den er so intensiv wie in Gal 2,19f. und in großer Nähe zur Tauftheologie von Röm 6 als existentielles Heilsgeschehen verkündet. Er spricht von sei-nen Stigmata (Gal 6,17).62

Er verkündet das Heil als eschatologische Neuschöpfung (Gal 6,15).

Im Postskriptum wird Paulus allgemeiner, grundsätzlicher, auch offener als vorher im Brief, so entschieden seine Position ist und so klar seine Direktive bleibt. Er ordnet das, was ihm als Apostel in der Reflexion der Rechfertigungsthese aufgegangen ist, wieder in das ein, was ihn mit allen an-deren Aposteln verbindet. Das wird allerdings in Gal 6,16 denkbar stark gewichtet. Denn so wie er im Prooemium Gal 1,6-9 ein Anathema ausgesprochen hat, so klar definiert er im Postskript einen „Kanon“, an den man sich zu halten hat.

62 Vgl. Helmut Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums (NTOA 28), Freiburg/Schw. – Göttingen 1994.

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c. Die Unterstellung in Vers 12, die Gegner wollten nur, um der Verfolgung zu entgehen, die Beschneidung propagieren, hat eine soziologische und eine christologische Dimension. • Die soziologische Dimension erklärt sich daraus, dass der Rechtsstatus ei-

ner jüdischen Synagogengemeinde halbwegs geklärt gewesen ist, weil das Judentum als religio licita anerkannt war (was allerdings eine fragilere Kon-struktion war, als es in der älteren Forschung oft erschien). Der Verzicht auf die Beschneidung zeigt aber deutlich, dass die Gemeinden paulinischer Prägung nicht zum Synagogenverband zählen; deshalb wird ihr juristischer Status prekär, während das Konfliktpotential mit der Judenschaft vor Ort steigt. Paulus weiß ein Lied davon zu singen – aus der Zeit vor (Gal 1,13.23) und nach (Gal 5,11; vgl. 2Kor 11,16 - 12,13) Damaskus (vgl. Gal 4,29).

• Die christologische Deutung erklärt sich aus der Tatsache, dass Jesus selbst unschuldig verfolgt worden und gekreuzigt worden ist (Gal 6,14).

Beide Dimensionen verbinden sich in der Annahme des Leidens um des Evan-geliums willen. Die Stigmatisierung des Apostels (Gal 6,17) – ob man sie sozio-logisch oder somatisch deutet – legt davon Zeugnis ab, wie intensiv Paulus sich von seinem Christusglauben und seinem Verkündigungsdienst hat prägen las-sen.

d. Der „Kanon“, den Paulus in Gal 6,16 definiert, bezieht sich unmittelbar auf Gal 5,15 zurück, die soteriologische Relativierung der Beschneidung, der die neuschöpferische Qualität der Heilsvermittlung entgegentritt. Gal 6,15 ist eine Sachparallele von Gal 5,6. Mithin wird der rechtfertigende Glaube in seiner inneren Verbindung mit der Liebe zum Kriterium der Kirchenzugehörigkeit und Kircheneinheit. Das stimmt mit der paulinischen Präsentation der Rechtferti-gungsthese in Gal 2,16 überein. Die Rechtfertigungslehre hingegen hat nach Paulus diese kriterielle Funktion nicht, weil sie der argumentativen Absiche-rung der These dient und nicht nur Begründungen, Pointen, Akzente enthält, die strittig bleiben werden, sondern vor allem als Lehre, als Doktrin nie hinrei-chend kann sein kann, Gemeinschaft und Einheit „in Christus“ zu begründen: jenen „Frieden“, der aus Gottes Erbarmen folgt. Das kann nur der Glaube selbst, der allerdings nicht nur Entschiedenheit im Vertrauen (fides qua), son-dern auch Klarheit im Bekenntnis braucht (fides quae).

e. In Gal 6,16 ist strittig, ob der Friedenswunsch, das „Israel Gottes“ betref-fend, die Juden einschließt oder nicht. Im ersten Fall wäre das „und“ additiv, im zweiten inklusiv (epexegetisch) gemeint. Für beiden Lesarten gibt es Grün-de. Beide haben Probleme. Im ersten Fall würde Paulus eine Hoffnungsper-spektive öffnen, für die es im bisherigen Brief keinen Anhaltspunkt gab. Im zweiten Fall würde er den Israel-Titel für die Kirche vereinnahmen. Sicher ist, dass er erst im Römerbrief eine Israeltheologie entwickelt, die in der Theologie der Gerechtigkeit Gottes Hoffnung auf die Rettung ganz Israels macht.