DENKBILDER Abrakadabra

60
DENKBILDER Das Germanistikmagazin der Universität Zürich Nr. 35 / Herbst 2014

description

Nr. 35 / Herbst 2014

Transcript of DENKBILDER Abrakadabra

denkbilderDas Germanistikmagazin der Universität Zürich Nr. 35 / Herbst 2014

Was soll das Theater?

faceboo

k.com/t

heaterc

ampus

DB35_Final.indb 102 09.10.14 19:36

— 2 —

Schläft ein Lied in allen Dingen,Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,Triffst du nur das Zauberwort.

Joseph v. Eichendorff

Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab,

muss man zu magischen Mitteln greifen,

um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten.

Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das.

Max Weber

ABRAKADABRA

DB35_Final.indb 2 09.10.14 19:35

— 1 —

&%2.%3ONNERGROLLEN) &%2.%3)&%2.%3FERNES) )&%2.%3)FERNES&%2.%3

DEUTSCHSCHWEIZER LITERATUR UND ERSTER WELTKRIEG

&%2.%3ONNERGROLLEN)24. SEPTEMBER – 30. NOVEMBER 2014WWW.STRAUHOF.CH

Lesen heisst durch fremde Hand träumen. Von wem stammt dieser Satz?

Die ersten drei, die uns die Lösung per Mail an [email protected] schreiben, erhalten einen Gratis- eintritt für das Literaturhaus (bitte Name/Adresse nicht vergessen!)

Eine Auswahl aus unserem Literatur-Programm im Herbst/Winter 2014:

Charles Lewinsky und sein für den Deutschen Buchpreis nominierter Roman «Kastelau» Buchvernissage mit Simone Lappert Ein Abend mit Milena Moser Dialog zwischen Olga Grjasnowa und Lukas Bärfuss (ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominiert) Schwerpunkt Gastland Finnland mit Ulla-Lena Lundberg Die spoken word-Künstler Jürg Halter und Heike Fiedler Eine Hommage an den 2013 verstorbenen Schriftsteller Jürg Amann mit Silvio Blatter, Andreas Neeser, Hugo Ramnek und Hardy Ruoss

Besuchen Sie das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg: www.aargauer-literaturhaus.ch

DB35_Final.indb 1 09.10.14 19:35

— 3 —

Essays Poesie in Zeiten des Replay — Philipp Auchter 5 Vom Zauber des Dadaismus — Ana Lupu 12 Die Magie zeigt sich im Verschwinden — Aurel Sieber 16 Unerhört — Fabian Schwitter 21

Poesie Rotat — Daniel Grohé 25 So etwas habe ich noch nie gefühlt, Marco — Dominik Holzer 29 Inspiration — David Ritzkowski 33 Vier Sprüche aus einem merkwürdigen Zauberkoffer — Emanuel Tandler 34 Febris — Michelle Steinbeck 37 Prosaminiaturen — Judith Keller 42 Wenn der Dattelkern fliegt — Meret Gut 44

DS Déesse Spuren einer verzauberten Welt — Maximilian Benz 49 Das Zauberhaus — Daniela Stauffacher 52 Medikamentennamen — filibusta & cybertacky86 56

ABRAKADABRA

DB35_Final.indb 3 09.10.14 19:35

— 4 —

E SA

YS

SDB35_Final.indb 4 09.10.14 19:35

— 5 —

Philipp AuchterDer Zustand der Melancholie muss nicht als Vorbote einer Depression verstanden werden. Zwar kann er leicht in einer solchen enden. Die Melancholie entspricht jedoch viel-mehr einer Warteschlaufe. Im Modus des Replay will sie alles noch ein-mal überfliegen. Schwebend in einer Wolke aus Klang ruft sie einen geis-tigen Zustand hervor, in dem sich der Mensch von seiner Umwelt abhebt und in einem ästhetischen Raum um sich selber kreist. Leicht berührt dabei sein gedanklicher Körper die Gegenstände seiner Vergangenheit und Zukunft. Denn die Zukunft ist darin nur eine Abwandlung der Ver-gangenheit, ausgemalt in den Farben einer Zärtlichkeit, die der Geist in diesen Stunden für sich selber hegt.

In meiner Wiedergabeliste Top 25 Most Played ordnen sich die Lieder nach der Zahl ihres Erklungenseins.

Im Moment zählt der zweitoberste Titel 51, der oberste über 100 Wie-dergaben. Beide Lieder sind denkbar einfach. Sie bestehen aus Wiederho-lungen und Abstufungen der immer gleichen Harmonien: immer wieder da hinauf, immer wieder hierhin zu-rück. In einem der Lieder sagt zu-weilen ein österreichischer Junge einen Satz von Robert Burton auf: «Wir sind allesamt verrückt, nicht sporadisch, sondern immer» (Die Anatomie der Melancholie, 1621). Ich habe das Lied beim Schreiben gehört, auch beim Schreiben von Ab-schiedsbriefen. Ich habe es gehört, als ich meiner Liebsten in den Ar-men lag. Und ich werde es wieder hö-ren, wenn sich über das herbstliche Land allmählich der Winter neigt.

Wenn ich in den Spiegel schaue, beginnt die Frage Form anzuneh-men: Was ist es, das ich stets wie-

derholen will? Was will ich nur be-greifen? Weshalb lasse ich es nicht einfach los? In diesem Moment. Im letzten Moment. Wieder.

Der offene TrackDie Lieder, die ich so gerne im Re-play höre, gehen auf eine Entwick-lung in der elektronischen Mu-sik zurück. Ihnen gemeinsam ist die Affinität zur Wiederholung. In Klangsequenzen und Samples bil-det der Beat eine Struktur heraus, die sich mit den Mitteln der Variati-on und Transformation fortsetzt und in dieser Fortsetzung ihren Sinn für Anfang und Ende aufgibt. Der Mu-sikjournalist Ueli Bernays hat in einem bemerkenswerten NZZ-Ar-tikel, Das Ende der Schlüsse, über den ‹Track› in der Pop-Musik nach-

Poesie in Zeiten des ReplayWie die zeitgenössische Dichtung in der Musik eine Form findet und mit den Mitteln der Wiederholung zum Zauberspruch wird

DB35_Final.indb 5 09.10.14 19:35

— 6 —

DB35_Final.indb 6 09.10.14 19:36

— 7 —

gedacht. Dabei spielt für ihn das Format der Wiedergabe eine zent-rale Rolle. Die Songs wurden näm-lich schon vor der eigentlichen Track-Kultur «in den Setlists von Radio und Party-DJs, in Mix-Tapes und Kassetten» zu PlayLists mon-tiert. «Später wurde die Mix-Kultur durch die Format-Radios und durch die Random-Repertoires digitaler Abspielgeräte gefestigt.»

Mit der zunehmenden Wiederhol-barkeit, so beobachtet Bernays, geht der Musik allmählich ihr narrativer Sinn verloren. Das kompositorische Moment besteht nunmehr darin, die Titel untereinander zu verbinden: «Typisch für all diese musikalischen Ketten ist, dass sie Unendlichkeit simulieren». Durch Überblendungs-techniken verliert der Schluss an Bedeutung und geht in grösseren Bögen auf. Der Song verliert seine narrative Logik und wird zum offe-nen Track. Darin gewinnt der ‹Fade Out› als strukturierendes Element an Bedeutung (vgl. Street Spirit von Radiohead). Er wird im Zuhörenden eine Sehnsucht auslösen: «als würde die ausgeblendete Musik in einer an-deren Welt, an einer anderen Party weiterklingen, um uns irgendwann nochmals zu begegnen, wieder zu erfreuen.»

Dass die Track-Struktur der elekt-ronischen Musik mit ihren Loops und Samples weitreichende Konsequen-zen für unsere Kultur mit sich bringt und bis in die Empfindung unserer Zeit hineinragt, zu dieser Einsicht gelangt Peter Weber schreibend in seinem Buch Die melodielosen Jahre. Weber horcht in lyrischer Prosa dem Soundtrack seiner Jugend nach und spürt in der poetischen Verdichtung seiner Gegenwart einen «Wechsel des rhythmischen Paradigmas» auf. Er umschreibt in Worten eine Ver-

änderung in der Musik, von der auch seine Sprache nicht verschont blieb:

TonuswechselMusik, Vorbotin, ganz gegen-wartshörig, ist das flinkste Re-agens, sie bindet Schwanen-des, verknüpft das Kommende im Moment, formt vor, was wir nachformulieren. Sie bil-det schnell und leicht, was wir schweren Körpers nachleben. Nerven kennen keine Parolen, nur Reize und Impulse. Eilen-de Musik legt die Beete vor, in die die Sprache fällt. In der vorauseilenden Musik wurden die Gleise für Wiederholung gelegt, bevor man davon wuß-te. Der Wechsel des rhythmi-schen Paradigmas bahnte sich in den achtziger Jahren an. Erst als Geräte zur Wiederho-lung verfügbar waren, setzte er sich durch: ein Tonuswech-sel, der auch das musische Ge-wand und das Sinngewebe der Sprache veränderte. (31)

Die Musik erscheint dabei eher als Symptom, als «flinkstes Reagens», einer tiefergreifenden Umwälzung im Denken. Die Monotonie der elektro-nischen Musik gibt den atemlosen Rhythmus einer Zeit wieder, der die Puste für die grossen Melodien aus-gegangen ist. An deren Stelle tritt die Repetition einzelner Versatz-stücke, isolierter Überbleibsel. Das Treibgut aus zerborstener Hochkul-tur dient an den Stränden des glo-balen Datenmeers zum Bau proviso-rischer Hütten und Kultstätten. Die fragliche Musik stammt aus den Jah-ren nach der Wende, «als die Luft laut mitrechnete und die Boxen Pa-radoxes sprachen: Fern! Jetzt! Fern! Jetzt! Fern! Jetzt!» (84). Alles Erzäh-lerische wurde «eingegrenzt durch

die strikten rhythmischen Gitterun-gen» einer elektronisch zerglieder-ten Zeit (87). Mit der zeitlichen Ver-knappung verschiebt sich Webers Sprachgefühl kritisch, doch das elektronische ‹Fracking› setzt auch ungeahnte Energien frei:

Geheiß und VerheißungMit der Ankunft des Mono-tonen und den so entstande-nen Druck- und Betonungs-verschiebungen in der Musik war ihm Deutsch nicht mehr geheuer. Die Sprache war um-stellt, im Innersten berührt, durchwummert, durchblitzt. Bebender Boden, diese tie-fen Töne in der Luft, überall didaktische Spitzen, Ausru-fezeichen, die bald Massen und Millionen zur Bewegung aufforderten. Die Frankfur-ter Wolkenkratzer schienen auf Quarzen zu tanzen, der Fernsehturm in Berlin war ein einziges Ausrufezeichen, die Sprache war befehlerisch verstellt, voller Aufforderun-gen. Vergiß! Vergiß! Vergiß! Vergiß! sagt jede Synkope zur Baßpauke. Die repetitive Mu-sik zwang der Sprache neue Plötzlichkeiten auf, schick-te Reize und Impulse ins In-nerste. (150)

Wenn der wummernde Subwoofer zum Herzschlag wird und jede Synk-ope «Vergiß!» in die Trance der tan-zenden Clubbesucher hineinspricht, dann überwältigt die Musik das Zeit-gefühl der Menschen. Ihr Impuls dringt tiefer als in die Gehörgänge – bricht bis in die Sprache ein.

Die Sprache, aus dem Geiste der Musik geboren, von Rhythmen ge-tragen und in der Lyrik als Gesang vernommen, musste selbstredend

DB35_Final.indb 7 09.10.14 19:36

— 8 —

dem neuen Takt der Musik folgen. Sie hat sich im Sprechgesang neu ge-funden. ‹Rap› ist im Englischen pri-mär ein harter Schlag gegen etwas, ein Trommeln auf den Tisch, also ge-nuin instrumental, zielt auf die akus-tische Seite der Sprache ab. Aufbau-end auf Lauteffekten sucht der Rap seine Botschaft in Gleichklängen, in rhythmisch stringenten, möglichst komplexen Stab- und Endreimen. Diese neue Technik bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Bedeutung der Texte.

Das Ende der GeschichtenAuch im Poetry-Slam, in Nordame-rika aus dem Rap hervorgegangen, will der Dichter seinem Wort durch dessen Laut Gewicht verschaffen. In der wirksamen Präsentation weichen die stillen Erkenntnisse den grossen Behauptungen. Im Wettbewerb muss der Slam-Poet ankommen, muss ge-gen das Desinteresse, das gegen ihn besteht, die Stimme erheben. Er will Präsenz markieren. Jedoch ist die Erzeugung von Präsenz in ei-ner Welt der medialen Ablenkung ein hartes Geschäft. Die Konkur-renz operiert multimedial mit Bild und Ton und Text und vor allem mit Links, die über das eigene kultu-relle Artefakt hinausweisen. In die-sem Umfeld ersetzt die Stimulation langsame Bedeutungsformate, da sie Aufmerksamkeit wirksamer zu bin-den vermag: «Der sogenannte Sinn vollendeter und zeitloser Werke wird immer häufiger durch die Stimula-tion verketteter Suspense-Kaden-zen verdrängt. Ausserhalb solcher Track-Formen werden Zeitgenossen rasch nervös», so Ueli Bernays. Die gesellschaftliche Relevanz, welche die Literatur in einer veränderten

Aufmerksamkeitskultur eingebüsst hat, verschafft sich die Slam-Poetin wieder, indem sie das sprachliche Ereignis in ihr Zentrum stellt. Ihr Wort erklingt auf der Bühne durch ihren Körper und gewinnt dadurch eine physische Überlegenheit. Durch gesteigertes Tempo und eng getak-tete Pointen überflutet der Slam den Zuhörer mit seinen Reizen. Es ist die Übertragung der Clubmusik auf die Literatur:

Wenn deine Bewegung, dein KörperVom kleinen Zeh bis zum Scheitel zur Musik wird,Wenn deine Mimik, deine Gestik, deine Zeit nichts mehr zählt,Sondern nur noch den Beat fühlt,Wenn du mit Box und BodenVerschmilzt wie ein Stück Butter in der Kürbiscremesuppe,Wenn pure Energie durch deine Adern fließtIn jedes Glied bis in die Fingerkuppe,Wenn du die Kontrolle verlierst,Weil die nächste Bewegung von selber passiert,Wenn die Vibration im Boden,Der Bass im BauchDir die Fußsohlen rasiert,Wenn du die Serpentinen zwischen Kick und SnareOhne Bremsen, ohne Zweifel runterjagst,Wenn du nicht mehr denkst,Sondern nur noch bistUnd nicht mehr nach den Stunden fragst,Dann versprech ich dir das irdische NirvanaFür Agnostiker und auch für AtheistenDie Übungsekstase für Sonntagsexorzisten.

So spricht Moritz Kienemann in sei-nem Slam In Oktaven. Er greift die Ambiance des Technoclubs als Re-ferenzpunkt für das Lebensgefühl ei-ner Generation auf. Er versteht ihre ‹Melodielosigkeit› als eine absolu-te Metapher für den Verlust ihres Daseinsgrunds. Der Wunsch nach Selbstauflösung in der Trance, von der er spricht, reagiert auf das Ge-fühl, dass sich Geschichten über-haupt nicht mehr erzählen lassen: «Die Leute sagen immer, wir seien desillusioniert. Dabei ist doch auch das eine Illusion.» Eine Generation, die vergessen hat, «wofür und wo-gegen» sie eigentlich «noch kämp-fen soll», tragen die Füsse nicht auf Demonstrationen, sondern auf Partys. Dort singt sie «in Oktaven, wenn’s doch eigentlich nur um die Terz geht. Also verzeih mir, wenn ich dir sage, dass es uns einfach nur an Herz fehlt.» Dass der Endreim, «Terz geht» – «Herz fehlt», in rheto-rischer Hinsicht nicht gerade raffi-niert ist, spielt für den Poetry-Slam keine Rolle, denn der einzelne Reim (als Setzung einer Beziehung zwei-er Worte) soll sich ohnehin im Flow des Vortrags verlieren. Die ‹Terzlo-sigkeit› einer Generation steht so-mit in einer gewissen Korrespon-denz mit der ‹Verslosigkeit› ihrer Lyrik. Die Terz wäre ja eine erste Setzung zum Grundton: eine pri-märe Figur der melodiösen Entfal-tung. In den Oktaven aber stürzt die stringente Melodie des Versmasses über die offene Kaskade des Slams hinab und verliert in dessen freien Fall ihren Sinn – also im ursprüng-lichen Sinn des Wortes: ihre Rich-tung. Der Flow, das eigentliche Ziel des Poetry-Slams, muss daher nicht als zielgerichteter Strom, sondern als Sturzbach verstanden werden. Im Flow findet der Slam die Alternati-

DB35_Final.indb 8 09.10.14 19:36

— 9 —

DB35_Final.indb 9 09.10.14 19:36

— 10 —

ve zur obsolet gewordenen Dichtung. Das bewusst gemachte Erlebnis des eigenen Bedeutungsverlusts entfal-tet eine kathartische Wirkung. Wir erfahren Sinn in der ausgestellten Sinnlosigkeit.

Im Lied Der Anfang ist nah be-schwören der Berliner Rapper Käptn Peng und seine Band Die Tentakel von Delphi einfach alles herauf: «alle erschienenen und unerschie-nenen Erscheinungen, Menschen, Tiere, Meinungen, Gefühle, Frakta-le, Zikaden, Mutanten, Schamanen, Fackelträger, Geistreisende und mikroenzyklopenjagende Weichor-ganismen». Ihnen allen sagt Peng «Hallo» und will mit ihnen tanzen. Daraus erwächst eine groteske Liste, die auf assoziativer Bedeutungsebe-ne operiert. Der Text erzählt nicht, er zählt. Im ‹stream of conscious-ness› kann der Zuhörer seine eige-nen Vernetzungen herstellen. Daraus ist keine Geschichte zu spinnen. Die Herausforderung besteht darin, aus dem Überfluss an Information, der im Strom der Gleichklänge die Ohr-muschel flutet, einzelne Versatzstü-cke überhaupt wahrzunehmen. Die angespannte Achtsamkeit auf die heraufbeschworenen Dinge, die mit den Bildern eines durch Stopptrick animierten Videoclips ephemere Verbindungen eingehen, ermöglicht dem Rezipienten eine sogartige Kon-zentration auf die eigene kognitive Leistung des Verstehens.

Hallo Schmerzen – hallo Verderben Hallo Zorn, hallo Tränen, hallo Scherben Hallo Vernichtung – hallo Sterben Hallo Vorfahr’n, hallo alle Erben Hallo Zeugung – hallo Verbeugung Hallo Potential, hallo Vergeudung Hallo Täuschung – hallo Beleuchtung

Hallo Verleugnung deiner eigenen Bedeutung Hallo Möglichkeit, hallo Stille Hallo Entwicklung, hallo freier Wille Hallo Hologramme – hallo Ball aus Licht Hallo, alles, was du siehst, besitzt du nicht Jeder, der in Liebe weint, jeder, der im Zorn lächelt Jeder – der ständig seine Form wechselt Hallo Entdeckung, dass Bewusstsein lediglich Raum ist Hallo realisier’n, dass Realität nur ein Traum istDass Realität nur ein Traum ist

Der ZauberspruchWenn der Bezug zur Realität sich ins Traumhafte verkehrt, dann träumt die Dichtung ihren ältesten Traum: kraft ihres Wortes eine eigene Wirk-lichkeit zu erschaffen. Sobald die Worte ihren Dienst an der ausser-sprachlichen Bezugswelt quittieren, beginnen sie, in ihrer eigenen Welt vorhanden zu sein. Sie erzeugen hier einen eigenen Sound und eine Kor-relation der Dinge, die sich nicht in der Referenz auf eine aussersprach-liche Realität erschöpft. Befreit von der Illusion, der aussersprachlichen Realität habhaft werden zu können, feiern die Worte den Verlust ihrer Referenzialität als kreativen Schöp-fungsakt. Sie beschwören eine Wort-welt, deren Artikulation schon zum eigentlichen Gegenstand ihrer Ver-lautbarung wird. In ihrem Erklin-gen erzeugen die Worte ihre Prä-senz performativ. Der Abgesang auf eine äussere, entzogene Wirklich-keit erwirkt den Freiraum, in dem neue Tänze getanzt, Zaubersprüche

gesprochen, Traumbilder geträumt werden.

Und zur gleichen Zeitauf dem goldnen Kamelgemäss den Bewegungen des Tieres sanft hin und her schwankendaber in festem und bequemem Reitersitz zwischen den goldnen Hügelnalso den Höckerndie Zügel edel und mutig und edelmütig angepackt und sodas Reittier handhabendwährend dem edlen Tier bei jedem Schrittalso bei jedem Tritt sacht die Füsse aufgingensich also gehen liessen (16)

So beginnt der Lyriker Michael Fehr einen majestätischen Satz in seinem Buch Kurz vor der Erlösung, der über mehrere Seiten hinweg das Bild ei-nes reitenden Königs in die Wüste malt. In seinem «gräulich kardinals-roten» Mantel reitet der König in ei-ner «tiefnächtiglich mattvioletten und mattgräulichen fahlen Wüste» dahin. Michael Fehr schöpft aus in-neren Bildern, aus Farben und Farb-kombinationen, deren Atmosphäre er bis in die feinsten Paronomasien der Worte nachspürt, um zu ergründen, wie Klänge und «Farben mit oder gegen oder unter einander in Akti-on geraten.» ‹Kurz vor der Erlösung› bezeichnet dabei jene Liminalität, auf deren Schwelle sich Worte in Ge-sang verwandeln. Im Gesang möch-te diese Poesie präsent werden. Ihre Bestimmung findet sie in der Stim-mung, die sie selber hervorruft. Kein Wunder, dass beinahe alle Figuren des Buches am Ende zum Gesang finden, wie der einsame Jäger auf seinem «anthrazitgräulichen und

DB35_Final.indb 10 09.10.14 19:36

— 11 —

militärgrünlichen», schwankenden und verschneiten Hochstand:

dann merkwürdig hörendwie in der fernen Stadt die Glocken der Kathedrale hell anschlugenund klar und überdeutlichmerkwürdig präzise hörend das sonore Brummen in den Tiefen der Glockentöne und das soprane Summen in den Höhen der Glockentönedarauf selber eine seltsame Helligkeit und Heiterkeit undLeichtigkeit und Lichtigkeit spürenddarob sich rührendMut fassend gegen die bösebeengende Unsicherheit und gegen die bösebeklemmende Ängstlichkeit ankommendaus eingeengter Kehlemit eingeklemmter krächzender und unendlich leiser Stimmeaber immerhin mit Stimmeder magerehagerekargekahle fahle Jägermelodierte und modulierteHallelujaAlleluja (37)

Mit den Mitteln der Wiederholung und der Variation erzeugen die Wor-te einen Klangraum, in dessen Nach-hall sie sich ihrer Bedeutung sacht entheben. In der zeit- und besin-nungslosen Repetition erlangen sie endlich den Status von Zaubersprü-chen. Durch ihr Erklingen allein be-schwören sie eine Kraft herauf, die sich über eine logisch durchdrun-gene Welt hinwegzusetzen vermag. Dieser Vorgang ist der eigentlich

Literatur

Ueli Bernays: Das Ende der Schlüs-se. Neue Zürcher Zeitung, Freitag, 28. Februar 2014, Pop und Jazz, S. 47.

Michael Fehr: Kurz vor der Erlösung. edition spoken script. Luzern 2013.

Peter Weber: Die melodielosen Jah-re. Frankfurt a. M. 2007.

Youtube

»Käptn Peng & Die Tentakel von De-lphi – Der Anfang ist nah«, (2013)

»Moritz Kienemann ‹In Oktaven› @ Podi-um.Bar, Stadtheater Ulm (05.03.2011)«

berauschende Akt der Musik gewor-denen Dichtung. Magisch werden die Worte nicht in der Absicht, die Dingwelt zu verändern, sondern in der Möglichkeit, als Klangereignis eine Übermacht über die Wirklich-keit zu erlangen. In dieser subjekti-ven Erfahrung erweist sich die Spra-che endlich ein Stück weit losgelöst von ihrer alltäglichen Aufgabe, die Welt durch ihre Logik narrativ zu er-schliessen. Verbleibende Konturen einer vorstrukturierten Welt reizen die Phantasie zu ihrer Umschrei-bung, Umbesetzung, Umsortierung.

Als Klangteppich verweben die Worte das Gefüge der Zeit in neuen Mustern und erheben sich über die langweilige Welt der Menschen. Der-gestalt fliegend überwinden sie leicht Wüsten und Wälder und verknüpfen Nahes mit Entferntem. Sie gemah-nen den Reisenden dabei an jene Erfahrung der Melancholie, in de-

ren kreisenden Bewegung die Sehn-sucht nach einem Stillstand der Zeit geschrieben steht. Leicht möglich, dass der Reisende seine Sehnsucht mit jenen Zaubersprüchen stillt, de-ren Worte der Welt für einen Moment Einhalt gebieten.

DB35_Final.indb 11 09.10.14 19:36

— 12 —

Ana Lupu«Nun ist’s nicht mehr der Gegen-stand, der die äußersten Enden sei-ner Flugbahn in der Iris vertauscht und sich fehlerhaft auf die Oberflä-che projiziert. Der Photograph hat ein neues Verfahren erfunden: er hält dem Raum das Bild, das des-sen Grenzen sprengt, entgegen und die Luft reißt’s mit gesenkter Stirn und geballten Händen in ihr Inners-tes um es zu verwahren.» So Tris-tan Tzara in dem von Walter Ben-jamin als Die Photographie von der Kehrseite aus dem Französischen übersetzten, 1922 erschienen Text. Dieses Zitat liefert einen Ansatz, um sich mit dem Gedicht abraka-dabrakadaver, französisch Carnage abracadabrant zu befassen [s. Sei-ten 14/15]. Die scheinbare Unge-genständlichkeit des vorliegenden Gedichts, wird beim Lesen dessel-ben erzeugt: Die aneinandergereih-

ten, unmittelbar aufgedrängten und rasch niedergeschriebenen Wörter sind wie Risse aus einem anderen Text. Von ihrem Ursprung losgelöst, finden die Wörter, die vom Einfall diktiert zu sein scheinen, zu einem Wortspiel, das ihre Gespaltenheit doppelt sichtbar macht. Indem sie voneinander differieren und sich stets einer Fixierung auf (unmögli-che) Bedeutung entziehen, sind sie umso mehr in der eigenen Schrift-lichkeit gefangen. Es entsteht eine Intimität zwischen Wort und Ding, die das Eine mit dem Anderen iden-tifizieren lässt. Der Reiz des Ästheti-schen wird durch den gewaltsamen, doch schöpferischen scheinbaren Zufall der Simultaneität dieser objets trouvés gesteigert. Wenn also in einer Inversion von Verhältnissen der Pho-tograph «dem Raum das Bild entge-genhält», dann widerspiegelt hier der

Text seine Unlesbarkeit, seine Me-dialität, wie etwa die readymades Marcel Duchamps, die, so Dietrich Mathy, von «keiner Gebrauchsmani-pulation veränderten Gebrauchsge-genständen» gegen Rationalität und Normativität revoltieren.

Kunst und Leben sind für den Dadaisten durch Umstülpen, Zer-setzen, Subversion und Verlachen sich selbst vorgelagert. Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Gesell-schaft und ihrem Kunstbegriff führt zu einer Vorstellung von Kunst, die im pathetischen Manifestton ihre negative Komponente findet. An-ti-Kunst wird zur Anti-Lyrik, einer, so Hauck, «parasitären [...] Kon-struktion eines kontingenten Ma-terials», dessen Textelemente laut Kieruj «auf den Raum der gegenwär-tigen Gleichzeitigkeit reduziert wer-

Vom Zauber des Dadaismus

Ein Gedicht Tristan Tzaras

DB35_Final.indb 12 09.10.14 19:36

— 13 —

den» und wie Zufallsprodukte ohne zeitlichen Bezugsrahmen erscheinen. Wenn das Gedicht eine Partitur ei-ner experimentierenden Lebenshal-tung ist, dann sind Abrakadabra und Dada Wörter, die keinen program-matischen Sinn bergen (was im Fall «Dada» in Hulsenbecks und Tzaras Manifesten von 1916 bzw. 1918 deut-lich wird). Sowohl das vorliegende Gedicht, wie der Dadaismus insge-samt, üben eine Sprachkritik auch und gerade durch Mittel literarischer Polyphonie aus, die laut Mathy der «Dichtung eine Sphäre von Magie, von Zauber und Beschwörung» «ab-gewinnt». Ist abrakadabrakadaver ein Protest, so deutet der Ausdruck «carnage» aus dem französischen Original umso mehr auf eine Des-truktion, deren Ohnmacht im Me-dium der Sprache selbst vollzogen wird. Der Zauber besteht aber nicht allein im Bewusstsein eines mani-pulierten Sprachgebrauchs und dem Versuch, durch Demontage den Le-ser zu provozieren (vgl. Baudelaires Les Fleurs du Mal), sondern auch im Kultus, den die Kunstrichtung des Dadaismus durch öffentliches Vortragen ins Leben ruft: Die Text-produktion als kollektives Ereignis einer immer neu zu bestimmenden Raum-Zeitlichkeit. Henri Béhar schreibt in diesem Sinne im Vorwort der bei Flammarion 2011 erschie-nenen Werkausgabe Tzaras: «Rien n’est figé, tout évolue, se transforme, et la position de l’observateur inter-vient dans la perception du poème.»

Literatur

Tzara, Tristan. Carnage abracadabrant. In: Henri Béhar (Hg.): Poésies com-plètes. Tristan Tzara. Paris: 2011.

Tzara, Tristan. abrakadabrakadaver. Aus dem Französischen von Oskar Pastior. In: Karl Riha und Waltraud Wende-Ho-henberger (Hg.): Dada Zürich. Texte, Manifeste, Dokumente. Stuttgart: 1992.

Benjamin, Walter. Kleinere Ueberset-zungen. Tristan Tzara, D’Annunzio, Aragon, Proust, Léon Bloy, Adrienne Monnier, Saint-John Perse, Balzac, Jou-handeau. Frankfurt am Main: 1999.

Hauck, Johannes. Avantgardistische Lyrik in Frankreich zwischen 1900 und 1920. In: Hans Joachim Piechot-ta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgar-de. Die literarische Moderne in Eu-ropa. Opladen: 1994; S. 188–204.

Kieruj, Mariusz. Zeitbewusstsein, Erin-nern und die Wiederkehr des Kultischen. Kontinuität und Bruch in der deutschen Avantgarde, 1910–1930. Frankfurt am Main; Bern: 1995. (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur; Bd. 39); S.80–95.

Mathy, Dietrich. Europäischer Dadaismus oder: Die nichtige Schönheit. In: Hans Jo-achim Piechotta, Ralph Rainer Wuthenow et al. (Hg.): Formationen der literarischen Avantgarde. Die literarische Moderne in Europa. Opladen: 1994; S. 102–123.

DB35_Final.indb 13 09.10.14 19:36

— 14 —

Carnage abracadabrant

Tristan TzaraSe lever sous la manivelle de l’accordéon, orchestration, fluctuation calculation des résidus lents, malades – quelle gorge rigide, garagedes fouets sages et parallèles et la cavalcade classée sous l’accolade.

Roman policier, nez artificiel pour éclairage rose de jour de fête, pick-pockets, imperméable, ballons aux bords des lacs, biberons, soir deprintemps, les machines marchent pour le grand réveil qui loue lecarambolage dieu.

De Cambodge arrivé avec son bouledogue, parti 5 h 05 tuéminuit précis.

L’antenne tremble sous l’abat-jour, cuisine des sabbats météorolo-giques, bagages, soupe stellaire dans l’ouragan lueur solennelle.

Strident éclairage DO majeur, projections d’hélices et poudreblanche dans la bouteille clé de premier ordre garantie pour toutesles malles je m’amuse dans le triangle de fer.

Étiquette dans la pharmacie et confession de la jeune amoureuse :L’amertume des machines à coudre les nuages et des étoiles éteintesdans un verre d’eau des anges de carrousel bleu robinet pour lesinstincts et la baguette sonne sur les mensonges des colliers grelotset cadenas.

DB35_Final.indb 14 09.10.14 19:36

— 15 —

Carnage abracadabrant

Tristan TzaraSe lever sous la manivelle de l’accordéon, orchestration, fluctuation calculation des résidus lents, malades – quelle gorge rigide, garagedes fouets sages et parallèles et la cavalcade classée sous l’accolade.

Roman policier, nez artificiel pour éclairage rose de jour de fête, pick-pockets, imperméable, ballons aux bords des lacs, biberons, soir deprintemps, les machines marchent pour le grand réveil qui loue lecarambolage dieu.

De Cambodge arrivé avec son bouledogue, parti 5 h 05 tuéminuit précis.

L’antenne tremble sous l’abat-jour, cuisine des sabbats météorolo-giques, bagages, soupe stellaire dans l’ouragan lueur solennelle.

Strident éclairage DO majeur, projections d’hélices et poudreblanche dans la bouteille clé de premier ordre garantie pour toutesles malles je m’amuse dans le triangle de fer.

Étiquette dans la pharmacie et confession de la jeune amoureuse :L’amertume des machines à coudre les nuages et des étoiles éteintesdans un verre d’eau des anges de carrousel bleu robinet pour lesinstincts et la baguette sonne sur les mensonges des colliers grelotset cadenas.

abrakadabrakadaver

Aus dem Französischen von Oskar Pastioraufgestanden unter kurbeln der akkordeone einer orchester-version einer kalkulation eines langsam kränkelnden boden-satzes – welch rückständig starre gurgel und garage klugerparalleler peitschen und dann kavalkade abgeheftet untereiner akkolade

ein kriminalroman, künstliche nase zwecks rosiger verklä-rung der feiertage picknicktaschen regenmäntel luftballonsan uferpromenaden schnuller abende im frühling, die ma-schinen sind im gang fürs große erwachen mein gott in derausgeliehenen karambolage

eingetroffen aus kambodscha mit eigener bulldogge, abge-reist um 5 uhr 5, kaltgemacht genau um mitternacht

die antenne zittert unterm lampenschirm, meteorologischehexenküche, eine bagage, stellare suppe im orkan ein feier-liches glänzen

schrill verklärung c-dur propellerprojektionen weißer puderin der flasche ein garantiert prima schlüssel für alle schwerenreisekoffer ich amüsiere mich im eisernen dreieck

etikette in apotheken und liebesgeständnisse eines jungenmädchens: bitterkeit von wolkennähmaschienen und ineinem glas wasser gelöschten sternen

die engel vom blauen ringelspiel ein hahn und ventil für die triebe

und das trommeln auf den lügen von halsketten handschellen hängeschlössern

DB35_Final.indb 15 09.10.14 19:36

— 16 —

Aurel SieberDas Handwerk eines Taschenspielers besteht darin, seinem Publikum auf elegante Art und Weise einen Bären aufzubinden. Der Zuschauer seiner-seits will vom Zauberer sensationell getäuscht werden. Der Magier muss zaubern, eine Show bieten, die auch nach mehrmaligem Überdenken nicht recht verstanden werden kann. Hermann Burger, dessen Werk dank einer kürzlich erschienenen Gesamt-ausgabe wieder neu entdeckt werden kann, machte sich diesen Umstand nicht nur als Hobby-Zauberer, son-dern auch in seinem dichterischen Werk zunutze. Diabelli, Prestidigi-tateur. Eine Abschiedsvolte für Baron Kesselring ist der Abschiedsbrief ei-nes Zauberers an seinen Mäzen, in dessen Verlauf sich der Verfasser gleich selbst wegzaubern wird. Er spricht darin völlig offen über die Zauberei – so offen jedoch, dass der

Wissbegierige sich fühlen wird wie ein Durstiger, dem man «einen Feu-erwehrschlauch ins Gesicht hält» (Strässle 2009: 403). Folgende Be-richterstattung über eine Volte, einen Kunsthandgriff im Kartenspiel, gibt ein treffendes Beispiel für diesen Burgerschen Sprachschwall:

«Das Spiel wird linkshändig ge-halten, mit der Rechten teilt man es etwa in der Mitte, indem man die obere Hälfte, Paket eins, mit dem Daumen an der rückwärti-gen, mit dem Mittel und Gold-finger an der vorderen Seite er-fasst und hochhebt, um die vom Zuschauer gezogene Karte, und, bitte, den Zuschauer nicht zur Eile antreiben zu wollen, die Eile ist dann Ihre Sache, auf das Pa-ket zwei, legen zu lassen, worauf man die Hälften wieder zusam-menbringt, indessen unauffällig

den kleinen Finger der Linken zwischen die Pakete schiebt, die sogenannte Kleinfingersperre ein-schaltet – so weit, so gut; sobald, Herr Baron, die rechte Hand das ihrige auf das untere Spiel gelegt hat, lässt sie Teil Nummer eins los und ergreift klammheimlich Teil Nummer zwo, der in der glei-chen Weise mit dem Daumen an der rückwärtigen, mit dem Mittel und Goldfinger – immer wieder stossen wir aus die Paarung Mittel und Goldfinger – an der vorderen Schmalseite gehalten wird, worauf unter der Deckung der Rechten die linke Hand, das erste Paket seitlich herauszieht, bis es verti-kal an der rechten Längsseite des zweiten Paketes anliegt, während die Finger der rechten Hand den ihrerseits gehaltenen Teil Num-mer zwei etwas anheben, damit

Die Magie zeigt sich im Verschwinden

Hermann Burgers Diabelli, Prestidigitateur und die Unbestimmtheit präziser Sprache

DB35_Final.indb 16 09.10.14 19:36

— 17 —

DB35_Final.indb 17 09.10.14 19:36

— 18 —

Literatur

Burger, Hermann (1979): Diabel-li. Erzählungen. Frankfurt a.M.

Burger, Hermann (1986): Die all-mähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben. Frankfurter Poe-tik Vorlesung. Frankfurt a.M.

Iser, Wolfgang (1993): Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungs-bedingung literarischer Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik: The-orie und Praxis. München, S. 228–251.

Strässle, Thomas (2009): Nach-wort zu Schilten. In: Burger, Her-mann: Schilten. München.

Sterne, Laurence (1759–1767): The Life and Opinions of Tris-tram Shandy, Gentleman.

er über die Längskante des verti-kal stehenden ersten Paketes hin-weggleiten und selbiges glissan-do unter sich begraben kann, was dergestalt vor sich geht, dass man sich nun unten, weiland oben be-findliche erste Paket automatisch und lautlos ins Innere der linken Hand fällt. Wo, bitte, liegt Ihrer Meinung nach nun das gezogene Blatt?» (Burger, Diabelli: 57f.)

Burger spricht aus eigener Erfah-rung, wenn er bemerkt, dass die Auf-klärung eines Zaubertricks nur ein «enttäuschendes Aha-Erlebnis» aus-zulösen vermag (Burger 1986: 54). Denn um bei den Recherchen für Di-abelli nicht ständig auf Verschwie-genheit und Ablehnung zu stossen, sah er sich genötigt, den magischen Eid abzulegen. Nur so war es ihm möglich, an die Tricks der Zauberer heranzukommen. Die Enttäuschung des aufgedeckten Zaubertricks ist für ihn eine so «schale Aufklärung, wie wenn man das Wort ‹Prestidigi-tateur› im Fremdwörterduden nach-schaute» (Burger 1986: 54). Damit schlägt er die entscheidende Brü-cke zwischen der Zauberei und der Sprache. Hinter dem «Fremdwort-ungetüm» verbirgt sich bereits die Essenz von Burgers Poetik der Ver-schleierung. Wollte er über Zauberei schreiben, so musste er sein Hand-werk aus der Sicht eines Eingeweih-ten zwar glaubwürdig darstellen, aufgrund seines Eids aber immer kaschieren, worum es tatsächlich ging. Burger erkennt in dieser Poe-tik der Verwischung die Umkehrung von Wittgensteins berühmtem letzten Satz aus dem Tractatus: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen». Er spricht genau davon, worüber man nicht sprechen dürfte.

Obwohl der Fachterminus ‹Pres-tidigitateur› den Stand des Taschen-spielers, der auf schnelle Finger an-gewiesen ist, genau umschreibt, übt er aufgrund seiner Fremdartigkeit auf den Grossteil der Leserschaft genau den gegenteiligen Effekt ei-ner aufklärenden Bezeichnung aus. Burger nutzt diesen Umstand ge-zielt aus, indem er den Zauberer stets in seiner Fachsprache erzäh-len lässt und dabei ein dichtes Netz aus Fremdwörtern spinnt. Er stellt so auf sprachlicher Ebene nach, was der Prestidigitateur mit seinen Fingern vormacht: Er weist den Zu-schauer resp. den Leser als Laien aus und verwirrt ihn durch seine (sprachliche) Akrobatik. In seiner poetologischen Schrift Schreiben als Existenzform weitet Burger die Un-bestimmtheit, die dem Fremd wort anhaftet gar zum Prinzip seines Schaffens aus:

«Ich liebe das Fremdwort, den Fachterminus, weil in ihm die Be-ziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten weniger er-starrt ist. Es ist das dynamischere, das gleichsam motorisierte Wort» (Burger 1986: 102)

Sowohl die Zauberei als auch die Literatur erheben die in Verschlin-gungen geratene Kommunikation zwischen Zauberer und Publikum, zwischen Autor und Leserschaft zur Tugend. Weder in der einen noch in der anderen Disziplin ist es für das Glück des Rezipienten wichtig, dass er mit Gewissheit die Anatomie des Dargebotenen verstünde. Vielmehr ist es die ständige Verfolgung eines entschwundenen Sinnes, die zum Glück führt.

Freilich hält die Literatur im Un-terschied zur Zauberei keinerlei Auf-lösung bereit. Sie nimmt die Konsti-tuierung des Sinnes aus den Händen

eines erwählten Kreises und verteilt sie gerecht unter der Leserschaft. Literarische Texte haben als wich-tigstes Ziel ihr Gelesenwerden, nicht die Überbringung einer Wahrheit. Unbestimmtheit, die eine Interpre-tation provoziert, ist die «Basis ei-ner Textstruktur, in der der Leser immer schon mitgedacht ist» (Iser 1993: 248). Mit dem Einsatz einer überpräzisen Sprache bezweckt Bur-ger paradoxerweise keine minutiöse Darstellung eines Sachverhaltes, sondern schafft damit die Voraus-setzungen für die Beteiligung des Lesers am Text. Denn jemand muss in all die Leerstellen springen, die sich aufgrund der unstabilen Bezie-hungen zwischen Zeichen und Be-zeichnetem überall auftun. Mithin unterscheidet sich Literatur gerade durch diese offene Beteiligung von Texten anderer Gattungen: «The tru-est respect which you can pay to the reader‘s understanding, is to halve this matter amicably, and leave him something to imagine» (Laurence Sterne, Tristram Shandy: 1,36).

DB35_Final.indb 18 09.10.14 19:36

— 19 —

DB35_Final.indb 19 09.10.14 19:36

— 20 —

DB35_Final.indb 20 09.10.14 19:36

— 21 —

Fabian SchwitterSehen und gesehen werden. Wäre diese Wendung in dieser Welt nicht so verkommen, würde sie das Wun-dervollste bezeugen, was es gibt. Es ist die Antithese zum biologisti-schen fressen und gefressen werden. Der Wolf und das Lamm, ein stroh-fressender Löwe – gäbe es da nicht noch die Schlange – bei Jesaja 65 am Ende: «Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.» So übersetzt Luther die absolute Hinwendung. Die Hinwen-dung Gottes zu den Menschen. Und wie sich die ersten beiden Menschen am Ende der Schöpfungsgeschichte als «Gegenüber» im Paradies begeg-nen. Bereits am Anfang – und noch vor diesen ersten Menschen – tritt alles in einem Dualismus auseinan-der. Die Schlange als Reminiszenz der Grenze? Die Vorwegnahme einer in sich verschlungenen, sich winden-

den Einheit, wie sie in den ersten Sätzen des Johannesevangeliums be-schrieben ist? Die listige Schlange, die immer schon wusste um jenes Auseinandertreten?

Gesehen haben und es sagen, ein-fach sagen. Sehen und sagen. Die Zeit spielt eine Rolle, aus Morgen und Abend, ihr in sich gekehrter Rhythmus. Das gegenläufige Inein-anderfliessen der chaotischen Grau-stufen, wüst und leer. Ein «Strudel» die Dämmerung – manchmal gewalt-sam und manchmal unmerklich. Und die Sprachtheorie, wie sie Walter Benjamin formuliert: Die «Identi-tät zwischen dem geistigen und dem sprachlichen Wesen» als «unbe-greifliche Paradoxie». – «Dennoch hat diese Paradoxie als Lösung ihre Stelle im Zentrum der Sprachthe-orie, bleibt aber Paradoxie und da unlösbar, wo sie am Anfang steht.» –

Der Name dieser Paradoxie: ɉɟɀɍɑ, mit seinem «Doppelsinn». Das Wort ɉɟɀɍɑ, wie es «im Anfang war», wie in der Sprache. – «Im Wort wurde geschaffen» und in der «Verbindung von Anschauung und Benennung» erfüllt sich die Schöpfung durch den ersten Menschen Adam. «Gott gibt den Tieren der Reihe nach ein Zei-chen, auf das hin sie vor den Men-schen zur Benennung treten.» Der Mensch sieht die Tiere und er sagt sie einfach, indem er ihnen ihren Namen gibt – den Namen, den sie tragen.

Darin besteht die Ebenbildlich-keit des Menschen zu Gott. In der Sprache sind sich Mensch und Gott gleich. In dieser wundersamen Ver-schlingung von sagen und sehen. So erscheint die creatio ex nihilo weit weniger wunderlich. – «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und

UnerhörtDie sagenhafte Magie des Sehens

«Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller

geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem

der Sprachtheorie, und wenn man diese

Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist

das Urproblem der Sprache ihre Magie.»

Walter Benjamin

«The greatest thing a human soul ever does in this world is to see something and to tell what it saw in a plain

way. [...] To see clearly is poetry, prophecy, and

religion – all in one.» John Ruskin

DB35_Final.indb 21 09.10.14 19:36

— 22 —

die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser. Und Gott sprach: Es wer-de Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Fins-ternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.» – Sprechen, erkennen, benennen. Sa-gen, sehen, sagen. In der Sprache, das Sehen eingefasst im Medium, je-ner «Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung».

Die Sprache das Medium und da-rüber hinaus nichts, als wäre alles aus der Luft gegriffen – begriffen durch die Sprache und in ihr leben-dig. Der Hauch der Inspiration. – «Da machte Gott der Herr den Men-schen aus Erde und blies ihm den Odem des Lebens in die Nase.» – Und das Erkennen als intuitive Evi-denz, so wie Adam die Tiere erkennt und benennt vor der Verstossung aus dem Paradies, vor dem Wissen um das Wesen der Dinge. – So, als ob Gott bereits gewusst hätte, was er schaffen würde, noch bevor er schuf. «Und Gott sprach: Es werde Licht.» Fortan ist Licht die Metapher für Erkenntnis und Wahrheit. Der erste Schöpfungsakt in der Sprache. Das

Sehen präfiguriert. – Weit wunder-licher: Als hätte Gott trotzdem erst erkennen können, was er geschaffen hatte, nachdem es gesagt war. «Und Gott sah» die Dinge nicht nur, er fällte auch ein Urteil über ihr We-sen. «Und Gott sah, dass das Licht gut war.» Gott sah, dass das Licht ist, was es ist. Er sah, dass die Din-

ge sind, was sie sind. So sind sie gut. – Wissen, was die Dinge sein sollen und ob sie sind. Die Dinge sagen, um sie hernach zu erkennen: «jede Spra-che teilt sich selbst mit. Oder genau-er: jede Sprache teilt sich in sich selbst». Und das So-Sein der Dinge, die «Identität» utopisch «zwischen

dem geistigen und dem sprachlichen Wesen».

Diese Paradoxie findet sich schon in der Formulierung des sechsten Tages, wo die absoluten Dinge sich gleichsam selbst übertreffen und das Absolute, das «selig in sich selbst ruht» und über jedes Gericht erha-ben ist, überbieten, als müsste Gott gleichsam noch deutlicher sehen: «Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.» Eine Ahnung davon, dass in der Sprache – und vielleicht nicht nur in der «Sprache des Menschen» – die Dinge doch «überbenannt» sein könnten? Die folgenschwere Ent-

fesselung des grausam richtenden Wortes vom «Guten und Bösen», wie Benjamin es beschreibt, ist angelegt. Das Urteil: «Dieses richtende Wort verstösst die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es ex-zitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die

einzige, tiefste Schuld bestraft – und erwartet.» Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöp-fung durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise.

Die «Traurigkeit der Natur» kün-det davon, wenn der Wind durch die Äste der Bäume weht und das Rau-

schen ein Raunen und Seufzen ist – «wo auch nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit.» – «Das Traurige fühlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkenn-baren. Benannt zu sein – selbst wenn der Nennende ein Göttergleicher und Seliger ist – bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trauer.» – Wie der Mensch, als er «nackt» vor Gott stand, «bar», nachdem der Herr ge-rufen hatte: «Adam, wo bist du?» – Die «Sprachlosigkeit» als Unfähig-keit zu «erkennen».

Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe heis-sen und Zeugung bedeuten: «Und Adam erkannte seine Frau, und sie ward schwanger». Erst im Neu-en Testament kehrt das anfängliche Licht zurück, nachdem zwischen Genesis und Neuem Testament lan-ge davon gekündet worden war. – Bei Johannes: «Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im An-fang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dassel-be ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.» Die Hoffnung auf Erlösung und die

«Ein zweites Mal, so die Vermutung, erfüllt sich die Schöpfung

durch den Menschen, diesmal jedoch auf tragische Weise.»

«Später wird erkennen dann ganz profan – im besten Fall – Liebe

heissen und Zeugung bedeuten.»

DB35_Final.indb 22 09.10.14 19:36

— 23 —

neuerliche Hinwendung, als ob se-hen und sagen dereinst überwunden würden. Aber noch einmal – viel-leicht als Omen erneuter Überbe-nennung, des allzu grossen Verspre-chens – der Aufschub: «Es war ein Mensch, von Gott gesandt, der hiess Johannes. Der kam zum Zeugnis, um von dem Licht zu zeugen, damit sie alle durch ihn glaubten. Er war nicht das Licht, er sollte zeugen von dem Licht.» – Das Sehen als Schei-tern. Die Verbindung zwischen Gott und den Menschen in der Sprache: «Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.» – Durch Gott gemacht, was sich durch den Men-schen erfüllt: die Schöpfung. Und die Sprache als Ahnung der Einheit in der Sprache. Endlich – «und er-wartet» – statt gerade, klar und deut-lich, genügsam selbstgenügsames Sehen erst – Blindheit vielleicht, die Blindheit der Liebe – helle Hörigkeit «bar» jeden Ansehens, Antwort noch vor dem Ruf – eben noch einmal jene «Unmittelbarkeit aller geistigen Mit-teilung» in der Sprache.

DB35_Final.indb 23 09.10.14 19:36

— 24 —

PO ES

IEDB35_Final.indb 24 09.10.14 19:36

— 25 —

Auf

den

Gän

gen

war

alle

s ru

hig.

Nur

der

alte

Lan

-do

lt w

ar w

iede

r aus

gebü

xt u

nd h

umpe

lte v

erw

irrt

im

Nac

hthe

md

durc

hs H

albd

unke

l, ni

cht w

isse

nd, d

ass

ihn

die

Schw

este

rn g

leic

h w

iede

r zu

rück

auf

sei

n Zi

mm

er b

ring

en w

ürde

n. A

ls e

r hin

ter e

iner

der

Tü-

ren

laut

es S

töhn

en u

nd S

chre

ie h

örte

, bes

chlo

ss e

r au

s ei

nem

plö

tzlic

hen

Impu

ls h

erau

s, s

ie z

u öf

fnen

. D

ie S

chre

iend

e, e

ine

jung

e Fr

au, d

eren

blo

nde

Lo-

cken

nas

s vor

Sch

weiß

übe

r ihr

e Sc

hulte

rn fi

elen

, lag

, ha

lbna

ckt,

auf e

inem

Bet

t; da

nebe

n st

ande

n, ü

ber

sie

gebe

ugt,

zwei

Ges

talte

n in

bla

u. D

a ih

n ni

eman

d be

mer

kte,

blie

b de

r A

lte im

Tür

rahm

en s

tehe

n un

d be

obac

htet

e vö

llig

entg

eist

ert d

as S

pekt

akel

. Ers

t, al

s da

s K

ind

plär

rend

in d

en A

rmen

der

völ

lig e

ntkr

äf-

tete

n, a

ber g

lück

liche

n M

utte

r lag

, bem

erkt

e ih

n de

r A

rzt u

nd li

eß ih

n zu

rück

auf

sei

n Zi

mm

er b

ring

en.

Ber

eits

zum

dri

tten

Mal

inne

rhal

b ei

ner W

oche

wur

-de

er

vom

Ges

chre

i der

Kin

der

auf d

er S

traß

e ge

-we

ckt.

Gre

ll dr

ängt

e si

ch d

as S

onne

nlic

ht z

wis

chen

de

n La

mel

len

der

Rol

lläd

en h

indu

rch

ins

Zim

mer

un

d m

alte

Str

eife

n au

f die

Wän

de. E

in B

lick

auf d

ie

Anz

eige

sei

nes

Wec

kers

zei

gte

ihm

, das

s es

noc

h V

orm

ittag

war

und

er

erst

vor

fün

f St

unde

n se

ine

Nac

htsc

hich

t im

Hot

el b

eend

et h

atte

. Wo

blie

b da

di

e G

erec

htig

keit?

Er g

ähnt

e, st

and

auf u

nd k

urbe

lte

die

Jalo

usie

ein

Stü

ck w

eit n

ach

oben

, um

hin

aus-

sehe

n zu

kön

nen.

Wie

der w

ar e

s di

e K

lein

e m

it de

n bl

onde

n Lo

cken

aus

dem

Nac

hbar

haus

. Ein

e W

eile

la

ng sa

h er

ihne

n ge

dank

enve

rlore

n zu

. «W

as so

lls?»

, da

chte

er s

chlie

ßlic

h, d

reht

e si

ch u

m u

nd v

ersu

chte

we

iterz

usch

lafe

n.

Rot

atD

anie

l Gro

IE

DB35_Final.indb 25 09.10.14 19:36

— 26 —

«Alt

ist s

ie g

ewor

den»

, war

das

ers

te, d

as ih

r bei

ihre

r B

egeg

nung

dur

ch d

en K

opf s

chos

s: «

Alt

und

grau

Es

war

lang

e he

r, da

ss s

ie ih

re M

utte

r zu

m le

tzte

n M

al g

eseh

en h

atte

. Wah

rsch

einl

ich

hatte

sie

dam

als

bere

its a

lt au

sges

ehen

und

es

war

ihr n

icht

auf

gefa

l-le

n. V

ielle

icht

war

en e

s ab

er a

uch

nur

die

Mon

ate

im H

eim

, die

sie

alt

gem

acht

hat

ten.

Und

in d

er T

at

erzä

hlte

sie

dann

auc

h ha

upts

ächl

ich

von

Din

gen,

die

si

e ni

cht e

rtru

g: d

em s

chle

chte

n E

ssen

, dem

unf

ähi-

gen

Pers

onal

und

vor

alle

m d

en v

iele

n A

lten

um s

ie

heru

m. A

lle s

eien

sie

sen

il od

er s

chw

achs

inni

g, u

nd

mei

sten

s so

gar b

eide

s, u

nd e

s se

i völ

lig u

nert

rägl

ich,

si

ch a

uch

nur

mit

eine

m v

on ih

nen

zu u

nter

halte

n,

bezi

ehun

gswe

ise

die

gesa

mm

elte

n E

rzäh

lung

en ü

ber

ihr u

nwür

dige

s D

asei

n üb

er s

ich

erge

hen

zu la

ssen

. Si

e ko

nnte

die

Lei

den

ihre

r Mut

ter a

ufs

Bes

te n

ach-

empfi

nden

, den

n au

ch ih

r fiel

es

gera

de s

chwe

r, de

-re

n G

equa

ssel

aus

zuha

lten,

und

sie

wün

scht

e si

ch,

doch

nur

ein

en E

spre

sso

best

ellt

zu h

aben

, den

n ih

r Te

e w

ollte

und

wol

lte n

icht

wen

iger

wer

den.

Sie

se

ufzt

e, s

chen

kte

sich

nac

h un

d be

schl

oss,

Gel

d fü

r di

e St

erbe

hilfe

zu

spen

den.

Kei

ne v

on b

eide

n ha

tte e

in W

ort g

esag

t, se

itdem

sie

da

s H

aus

der

Gro

ßmut

ter

betr

eten

hat

ten,

das

nun

se

ltsam

leer

und

ver

lass

en w

irkt

e, o

bwoh

l alle

s no

ch

da w

ar: a

lle M

öbel

, die

Büc

her u

nd P

flanz

en, s

elbs

t da

s be

nutz

te F

rühs

tück

sges

chir

r la

g no

ch u

ngew

a-sc

hen

in d

er S

püle

. Doc

h ba

ld w

ürde

sic

h da

s än

-de

rn, e

in T

eil d

avon

unt

er d

en V

erw

andt

en v

erte

ilt

und

der R

est e

ntso

rgt w

erde

n, b

is n

ur n

och

das

lee-

re H

aus

übri

g bl

eibe

n w

ürde

, ein

e H

ülle

ohn

e In

-ha

lt. N

achd

em s

ie e

ine

Wei

le la

ng s

tum

m n

eben

ei-

nand

er g

esta

nden

war

en, e

ntsc

hied

sich

die

Toc

hter

, ih

re M

utte

r alle

ine

zu la

ssen

und

die

Tre

ppe

auf d

en

Dac

hbod

en h

inau

fzus

teig

en. H

ier s

tape

lten

sich

Kis

-te

n vo

ller

Din

ge, d

ie s

eit J

ahre

n ni

cht b

enut

zt w

or-

den

war

en. S

ie d

urch

stöb

erte

ein

ige

davo

n un

d fa

nd

schl

ießl

ich,

ver

borg

en z

wis

chen

alte

n Pu

llove

rn, e

ine

klei

ne H

olzt

ruhe

. Sie

war

unv

ersc

hlos

sen

und

in ih

-re

m I

nner

en b

efan

d si

ch n

icht

s we

iter

als

ein

Dec

k K

arte

n. E

inig

e sa

hen

wie

gew

öhnl

iche

Spi

elka

rten

au

s, a

nder

e st

ellte

n Fi

gure

n da

r, de

ren

Bed

eutu

ng

sich

ihr

nich

t im

mer

ers

chlo

ss. A

ls s

ie ih

re M

utte

r ru

fen

hört

e, s

teck

te s

ie d

ie K

arte

n in

ihre

Tas

che,

oh

ne z

u w

isse

n, w

as s

ie d

amit

anfa

ngen

wol

lte, u

nd

rann

te d

ie T

repp

e hi

nunt

er.

Rau

reif

lag

auf W

iese

und

Pfla

nzen

im G

arte

n. I

m

Kam

in g

lom

men

noc

h di

e le

tzte

n St

ückc

hen

Glu

t un-

ter k

alte

r Asc

he, a

ber l

angs

am d

rang

der

Fro

st a

uch

ins

Inne

re d

es H

ause

s vo

r. D

ie S

onne

war

noc

h ni

cht

aufg

egan

gen,

doc

h es

däm

mer

te b

erei

ts. U

nter

der

W

olld

ecke

in s

eine

n A

rmen

sch

aute

nur

ein

Büs

chel

bl

onde

r H

aare

her

vor:

sie

sch

lief n

och.

Lan

ge w

a-re

n si

e be

iein

ande

r auf

der

Cou

ch g

eleg

en, e

ng u

m-

schl

unge

n un

d in

war

me

Dec

ken

eing

ewic

kelt,

und

ha

tten

den

Flam

men

zug

eseh

en, b

is d

er S

chla

f sie

üb

erm

annt

hat

te. E

r m

ocht

e di

e le

isen

Ger

äusc

he,

die

sie

von

sich

gab

: die

Seu

fzer

, das

schw

ere

Atm

en.

DB35_Final.indb 26 09.10.14 19:36

— 27 —

«Das

Klo

pfen

an

der

Tür

unte

rbra

ch d

ie r

egen

Dis

-ku

ssio

nen

nur

eine

n ku

rzen

Mom

ent l

ang,

dan

n fie

l al

len

wie

der

ein,

das

s es

nic

ht d

ie N

achb

arn

wa-

ren

oder

gar

die

Pol

izei

, die

sic

h üb

er d

en L

ärm

zu

fort

gesc

hritt

ener

Stu

nde

besc

hwer

en w

ollte

, son

dern

nu

r ein

er v

on ih

nen,

der

sic

h vo

r ger

aum

er Z

eit a

uf-

opfe

rung

svol

l auf

den

Weg

zur

näc

hste

n Ta

nkst

elle

ge

mac

ht h

atte

, um

noc

h m

ehr

Wei

n un

d Zi

gare

tten

zu k

aufe

n, u

nd n

un z

urüc

kgek

ehrt

war

. Sie

alle

sa-

ßen

um d

en g

roße

n E

sstis

ch im

Woh

nzim

mer

her

um,

das

Lich

t war

ged

imm

t, di

e Lu

ft ra

uchg

esch

wän

gert

. G

erad

e w

urde

die

näc

hste

Fla

sche

ent

kork

t – d

as

Ges

präc

h dr

ehte

sic

h ge

rade

um

die

Zuk

unfts

plän

e de

r A

nwes

ende

n –

als

die

Gas

tgeb

erin

, ein

e bl

onde

B

iolo

gies

tude

ntin

, vor

schl

ug, d

ie K

arte

n da

nach

zu

befr

agen

, was

die

Zuk

unft

brin

gen

wür

de. S

ie b

esit-

ze e

in D

eck

Taro

tkar

ten,

das

sie

vor

Jah

ren

auf d

em

Dac

hbod

en ih

rer

Gro

ßmut

ter

gefu

nden

, abe

r no

ch

nie

benu

tzt h

abe,

und

sog

leic

h m

elde

te si

ch e

ine

an-

dere

Stu

dent

in, d

ie v

on s

ich

beha

upte

te, d

ie K

arte

n le

sen

und

deut

en z

u kö

nnen

. Die

Glä

ser w

urde

n al

so

zur

Seite

ges

chob

en...

»E

r le

gte

den

Kug

elsc

hrei

ber

weg

und

ver

such

te

sich

zu

erin

nern

, was

dan

n ge

sche

hen

war

, doc

h da

s E

rgeb

nis

des

Kar

tenl

egen

s bl

ieb

im N

ebel

sei

nes

Ged

ächt

niss

es v

erbo

rgen

.

Als

sie

es

sich

ger

ade

im B

ett

bequ

em g

emac

ht –

al

le K

isse

n la

gen

perf

ekt,

das

Bet

tzeu

g w

ar fr

isch

ge

was

chen

– u

nd ih

r Buc

h, d

as si

e be

reits

sei

t Tag

en

fert

igle

sen

wollt

e, d

enn

sie

war

an

eine

r spa

nnen

den

Stel

le st

ehen

gebl

iebe

n un

d ha

tte ih

rer P

rüfu

ngen

we-

gen

nich

t wei

terle

sen

könn

en, a

ufge

schl

agen

hat

te,

fing

es w

iede

r an.

Ers

t hör

te si

e nu

r das

rhyt

hmis

che

Qui

etsc

hen

des

Bet

tges

tells

aus

dem

Nac

hbar

zim

-m

er, d

ann

kam

leis

es S

töhn

en d

azu,

das

lang

sam

im-

mer

laut

er w

urde

. Sei

t ihr

e M

itbew

ohne

rin

bei e

inem

Fe

st in

ihre

r W

ohnu

ng d

iese

n Ty

pen

kenn

enge

lern

t ha

tte, g

ing

das

fast

jede

n A

bend

so.

Wäh

rend

der

Pr

üfun

gsze

it w

ar e

s sc

hon

ärge

rlic

h ge

nug

gewe

sen,

ab

er je

tzt,

da s

ie e

infa

ch n

ur i

hre

Frei

zeit

geni

e-ße

n un

d in

Ruh

e le

sen

wol

lte, s

tört

e es

sie

noc

h vi

el

meh

r. Si

e ha

tte s

ich

gera

de a

ufge

rapp

elt u

nd w

ollte

la

ut g

egen

die

Wan

d kl

opfe

n, a

ls s

ie e

s si

ch d

och

ande

rs ü

berle

gte,

in ih

rer S

chre

ibtis

chsc

hubl

ade

ein

paar

Ohr

stöp

sel s

ucht

e un

d si

ch w

iede

r ins

Bet

t leg

-te

. Sch

ließl

ich

hatte

n es

die

Kar

ten

so v

orhe

rges

agt.

Was

sol

lte m

an d

a m

ache

n.

Alle

s dr

eht s

ich,

alle

s ta

nzt:

Der

Nar

r mit

der H

err-

sche

rin,

der

Teu

fel m

it de

m P

apst

, Son

ne u

nd G

estir

-ne

. Und

mitt

endr

in si

tzt s

ie, d

ie H

ohep

ries

teri

n, u

nd

dreh

t ihr

Rad

. O F

ortu

na, w

ie d

er M

ond

so v

erän

der-

lich.

Im T

rium

phw

agen

fähr

t er,

von

Wei

n um

rank

t, m

it lä

rmen

dem

Gef

olge

übe

r den

Him

mel

– e

in H

eer

von

Gau

kler

n. A

ller

Mac

ht b

erau

bt, t

aum

eln

Her

r-sc

her u

nd H

errs

cher

in si

ngen

d un

ter i

hrem

Gef

olge

. To

d un

d G

ehän

gter

lieg

en s

ich

wie

Lie

bend

e in

den

A

rmen

und

der

alte

Ere

mit

blic

kt m

it gr

auen

Aug

en

aus

sein

em T

urm

und

lach

t lau

t mec

kern

d üb

er d

as,

was

er

sieh

t. Fo

rt is

t alle

Ent

halts

amke

it; fo

rt a

lle

Ord

nung

und

alle

Ger

echt

igke

it.

DB35_Final.indb 27 09.10.14 19:36

— 28 —

«Reg

net e

s no

ch im

mer

?»«J

a, M

utte

r, es

gie

ßt r

icht

ig. I

ch h

abe

die

Kle

ine

gera

de z

ur S

chul

e ge

fahr

en, d

amit

sie

nich

t so

nass

w

ird.

Wie

geh

t es

dir?

»«G

ut, a

ber

mir

fehl

en d

as H

aus

und

der

Gar

ten.

M

ein

Zim

mer

hie

r is

t so

klei

n. N

icht

, das

s ic

h de

n Pl

atz

unbe

ding

t brä

ucht

e; ic

h ha

be ja

nic

ht v

iel,

aber

ic

h fü

hle

mic

h so

ein

geen

gt. A

ls h

ätte

ich

nich

t ge-

nug

Luft,

um

zu

atm

en.»

«Ich

wer

de n

achh

er m

al m

it d

er H

eim

leit

ung

rede

n.»

«Nei

n, tu

das

nic

ht. I

ch m

öcht

e de

n Le

uten

hie

r do

ch k

eine

Um

stän

de m

ache

n.»

«Wie

geh

t es

dein

em G

edäc

htni

s?»

«Ich

mer

ke, w

ie e

s sc

hlec

hter

wir

d. E

s is

t so

frus

-tr

iere

nd. N

icht

nur

, das

s ic

h m

anch

mal

da

steh

e un

d ni

cht w

eiß,

was

ich

mac

hen,

wo

ich

hin

wol

lte. G

es-

tern

hab

e ic

h m

ir a

lte B

ilder

von

uns

ang

eseh

en u

nd

gem

erkt

, das

s ic

h m

ich

an m

anch

e D

inge

nic

ht m

ehr

erin

nern

kan

n.»

«Has

t du

mit

Dr.

Wei

nman

n da

rübe

r ges

proc

hen?

N

imm

st d

u de

ine

Med

ikam

ente

?»«J

a, ja

«Asc

he z

u A

sche

, Sta

ub z

u St

aub»

, spr

ach

der P

far-

rer

und

war

f ein

e Sc

hauf

el v

oll E

rde

auf d

en S

arg.

E

iner

nac

h de

m a

nder

en tr

at n

un a

n de

n R

and

des

Gra

bes,

um

Abs

chie

d zu

neh

men

. Alle

war

en si

e ge

-ko

mm

en: e

ntfe

rnte

Onk

el u

nd T

ante

n, d

ie s

ie k

aum

ka

nnte

, Leu

te, d

ie s

ie n

ie g

eseh

en h

atte

und

die

sie

ni

e w

iede

r se

hen

wür

de. S

ie s

chüt

telte

ein

em n

ach

dem

and

eren

die

Han

d un

d em

pfing

Bei

leid

sbek

un-

dung

en. I

hre

Toch

ter s

tand

vor

ihr,

drüc

kte

sich

fest

an

sie

und

ver

stan

d ni

cht,

was

sie

hie

r so

llte,

was

di

e vi

elen

Men

sche

n so

llten

, das

vie

le G

ered

e un

d w

arum

sie

unb

edin

gt ih

r K

leid

trag

en m

usst

e. W

ie

oft s

ie si

ch d

iese

n M

omen

t vor

gest

ellt

hatte

, der

alle

s an

dere

als

une

rwar

tet g

ekom

men

war

– a

ber

dann

do

ch z

u pl

ötzl

ich.

Bio

logi

n. I

ch a

rbei

te in

ein

em L

abor

der

Uni

vers

i-tä

t. N

ein,

nat

ürlic

h ni

cht.

Wer

will

als

Kin

d sc

hon

Biol

oge

oder

übe

rhau

pt A

kade

mik

er w

erde

n? B

is ic

h fü

nfze

hn w

ar, w

ollte

ich

unbe

ding

t Tie

rärz

tin w

er-

den.

Irge

ndwa

nn h

abe

ich

gem

erkt

, das

s es

das

Kle

i-ne

und

Win

zige

ist,

das

mic

h vi

el s

tärk

er fa

szin

iert

. Ic

h wo

llte

wis

sen,

wie

Leb

en fu

nktio

nier

t und

wor

aus

es b

este

ht u

nd s

o bi

n ic

h sc

hlie

ßlic

h in

der

Bio

che-

mie

gel

ande

t. W

as ic

h ge

nau

mac

he?

Ich

unte

rsuc

he

haup

tsäc

hlic

h de

n A

ufba

u un

d di

e St

rukt

ur v

on P

ro-

tein

en. D

as k

lingt

vie

lleic

ht la

ngwe

ilig,

abe

r das

ist

es n

icht

. Pro

tein

e si

nd ri

esig

e, k

ompl

ex g

efal

tete

Mo-

lekü

le, d

ie a

lle m

öglic

hen

Funk

tione

n in

ein

em O

r-ga

nism

us e

rfül

len.

Und

zu

vers

tehe

n, w

ie so

lche

Pro

-te

ine

aufg

ebau

t sin

d, k

ann

unge

mei

n w

icht

ig s

ein.

A

m fa

szin

iere

ndst

en fi

nde

ich,

das

s si

e al

le –

und

nu

r sc

hon

im m

ensc

hlic

hen

Kör

per

gibt

es

zigt

au-

send

ver

schi

eden

e –

aus

den

glei

chen

dre

iund

zwan

-zi

g G

rund

baus

tein

en a

ufge

baut

sin

d. J

e na

chde

m,

wie

die

se B

aust

eine

ang

eord

net s

ind,

ent

steh

en v

öllig

an

dere

Mol

ekül

e m

it vö

llig

ande

ren

Eig

ensc

hafte

n.

Ja, i

ch a

rbei

te v

iel i

m L

abor

, was

man

chm

al a

uch

etw

as e

intö

nig

ist,

aber

ich

bin

auch

froh

, nic

ht n

ur

am S

chre

ibtis

ch s

itzen

zu

müs

sen.

Was

mac

hen

Sie

denn

ber

uflic

h? O

h, w

arte

n Si

e, d

er K

elln

er k

omm

t. H

aben

Sie

sic

h sc

hon

ents

chie

den?

DB35_Final.indb 28 09.10.14 19:36

— 29 —

Dom

inik

Hol

zer

Mei

ne li

ebe

Jele

na

Bev

or i

ch D

ir s

chre

ibe,

mus

s ic

h ja

oft

Fah

rrad

-fa

hren

, ic

h fa

hre

dann

dur

ch A

ltste

tten

mit

mei

-ne

n sc

hwar

zen,

sch

imm

ernd

en B

iker

hose

n, d

ie ic

h ja

zie

mlic

h se

xy fi

nde,

wei

l das

Gem

ächt

dar

in r

ie-

sig

auss

ieht

, was

ich

ja n

iem

als

zuge

ben

wür

de, w

ie

gesa

gt fa

hre

ich

durc

h di

eses

Alts

tette

n m

it se

inen

sslic

hen,

see

lenl

osen

Blö

cken

und

sei

nen

süss

en,

blei

chen

Zie

gels

tein

- und

Rie

gelb

auhä

usch

en, i

n de

-re

n G

ärte

n da

s G

ehän

ge d

er s

üsse

n, b

leic

hen

Hor

-te

nsie

n m

it ih

ren

mäc

htig

en, g

edün

gten

Dol

den

in

die

Ere

igni

slos

igke

it hi

nein

gede

iht

und

gege

n di

e H

äuse

r vol

ler s

üsse

r, bl

eich

er M

ensc

hen

anbl

üht u

nd

die

Men

sche

n hi

er m

ache

n ab

ends

laus

chig

e Sp

a-zi

ergä

nge

mit

ihre

n Fa

mili

en u

nd tr

agen

ihre

Kin

-de

r au

f de

n Sc

hulte

rn d

urch

der

en s

üsse

, ble

iche

K

indh

eit,

und

als

ich

heut

e be

im W

aldr

and

anka

m,

wur

de m

ir k

lar,

dass

es,

wen

n ic

h D

ir s

chre

ibe,

nur

da

rum

geh

t, w

as e

s he

isst

, jet

zt z

u le

ben,

wie

alle

in

man

dam

it is

t, w

ie s

ehr m

an d

as te

ilen

mus

s un

d es

nich

t aus

spre

chen

kan

n, d

as d

acht

e ic

h un

d st

ach

in

den

Wal

d, h

inte

r mir

war

en d

ie H

ügel

leer

, die

Wie

-se

n wa

ren

leer

, ich

wus

ste,

das

s di

e Fl

üsse

dur

ch d

as

Land

glä

nzen

und

seh

r le

er s

ind,

ich

sah

bis

hint

er

den

See,

wo

die

Ber

ge h

och

sind

und

ihre

Tie

fe le

er

und

ich

sah

die

Men

sche

n du

rch

den

Wal

d un

d un

ten

durc

h di

e St

adt g

ehen

und

sich

aus

leer

en, m

an k

ann

uns j

a zu

sehe

n be

im U

nsau

slee

ren,

bei

m W

ande

rn a

n de

r sch

önen

Blü

emlis

alp

zum

Bei

spie

l lee

ren

wir

uns

in

die

woh

ltuen

de, e

rhol

sam

e, fa

ntas

tisch

e A

ussi

cht,

in d

iese

wun

derb

are

Wei

te, I

ves,

beim

juge

ndlic

hen

Glü

hen

und

Küs

sen

leer

t man

sic

h in

s an

dere

Ge-

schl

echt

hin

ein,

mit

den

Sätz

en ic

h lie

be d

ich,

Ann

a un

d de

m F

lüst

ern

von

Sätz

en w

ie: s

o et

was

hab

e ic

h no

ch n

ie g

efüh

lt, M

arco

, bei

m K

inde

rzeu

gen,

ist j

a kl

ar, b

eim

Arb

eite

n le

eren

wir

uns

ins

Nic

hts,

bei

m

Altw

erde

n le

eren

wir

uns

in d

ie S

pitä

ler,

Spita

lbet

ten

und

Pfleg

ehei

mkl

os, m

an sc

hleu

dert

unu

nter

broc

hen

sein

e tie

fe S

eele

aus

den

Zel

len

hina

us, i

ch h

abe

So e

twas

hab

e ic

h no

ch

nie

gefü

hlt,

Mar

coE

in b

riefl

iche

s Su

chen

DB35_Final.indb 29 09.10.14 19:36

— 30 —

kein

e A

hnun

g, w

ie d

as in

and

eren

Län

dern

so

ist,

aber

hie

r ist

das

so,

hie

r kan

n m

an z

useh

en, w

ie w

ir

aufw

achs

en, u

m u

ns a

uszu

leer

en, i

ch k

am a

lso

eine

n H

ügel

hin

auf u

nd p

lötz

lich

traf

mic

h da

s ro

te L

icht

, ic

h w

usst

e ni

cht,

dass

mic

h Li

cht

noch

so

tref

fen

kann

, vor

alle

m e

in A

bend

rotli

cht,

ein

path

etis

cher

D

ämm

erun

gssc

hein

, ein

blu

trot

er, s

amtw

eich

er, t

au-

send

mal

ges

ehen

er H

ochs

omm

erab

endd

ämm

erun

gs-

sche

in, d

er d

urch

die

Buc

hen

wie

dur

ch s

chw

arze

G

itter

stäb

e au

f mei

nen

schw

itzen

den,

keu

chen

den,

st

inke

nden

Kör

per

fiel u

nd d

ass

mir

das

noc

h ei

n W

eine

n in

die

Aug

en s

toss

en k

ann,

das

ich

fast

ni

cht u

nter

drüc

ken

kann

, das

wus

ste

ich

nich

t, ha

st

du je

mal

s so

lch

rote

s, k

rass

es, r

otes

, kra

sses

, kra

s-se

s Li

cht

gese

hen,

ja, m

an h

at e

s ge

sehe

n, a

ber

trot

zdem

wir

d ke

in K

ind

beha

upte

n kö

nnen

, das

s da

nic

ht e

twas

Göt

tlich

es im

Lic

ht si

tzt,

da v

ergi

sst

selb

st d

er b

este

Anw

alt s

eine

ärg

sten

, ste

uerh

in-

terz

iehe

risc

hste

n G

edan

ken

und

soga

r den

ehr

gei-

zigs

ten

Möc

hteg

ernd

icht

erlin

g lä

sst k

urzz

eitig

die

na

rzis

stis

che

Selb

stve

rwir

klic

hung

sneu

rose

los,

ich

hiel

t an

und

mus

ste

dann

sch

nell

weite

r, so

nst h

ät-

te ic

h w

irkl

ich

noch

geh

eult

und

da w

ar e

in B

ünz-

lihüt

tche

n am

Wal

dran

d, v

on w

o au

s si

cher

ger

ade

jem

and

piss

en g

ekom

men

wär

e, w

enn

ich

mic

h de

m

Hoc

hsom

mer

aben

ddäm

mer

ungs

sche

infle

nnen

hin

ge-

gebe

n hä

tte, a

lso

nahm

ich

die

Abk

ürzu

ng, u

m d

em

pote

ntie

llen

Piss

er z

uvor

zuko

mm

en u

nd fu

hr d

urch

Sc

hlam

m u

nd s

pritz

te m

ir d

en g

anze

n W

aldw

eg a

n m

eine

n A

rsch

in d

en B

iker

hose

n, ic

h fu

hr d

urch

ein

M

aisf

eld

und

dach

te, d

ass

es d

as U

nnat

ürlic

hste

der

W

elt i

st, d

ass

man

sic

h vo

n de

r La

ndsc

haft,

in d

er

man

lebt

, abs

chne

idet

, das

s m

an t

renn

t, zw

isch

en

sich

und

der

Lan

dsch

aft,

in d

er m

an a

tmet

, abe

r der

Sc

hwei

zer h

at d

ie B

erge

von

sic

h ab

geha

ckt,

hat d

as

Gro

sse,

Sch

roffe

und

Gew

altig

e au

s se

inem

Wes

en

verb

annt

und

dar

aus

resu

ltier

t die

ate

mbe

raub

ende

un

d al

lgeg

enw

ärtig

e Le

ere

in d

iese

m L

and,

dah

er

kom

mt

es, d

ass

kein

Sch

wei

zer

etw

as G

ross

es s

a-ge

n, s

inge

n, ta

nzen

ode

r tu

n ka

nn, w

eil a

lles

schö

n is

t und

gut

, und

nie

man

d w

ill e

twas

und

nie

man

d br

auch

t etw

as, n

atür

lich,

der

gan

ze, l

angw

eilig

e Lu

-xu

sges

ells

chaf

tskr

itiks

erm

on, a

ber e

s lä

sst s

ich

nich

t le

ugne

n, d

ass

alle

s, w

as in

der

Sch

weiz

wäc

hst,

bür-

gerl

ich

ist,

harm

onis

ch, k

lein

und

bis

in d

ie a

llerh

in-

ters

ten

und

alle

rver

drän

gtes

ten

Abg

ründ

e hi

nein

lei-

dens

chaf

tslo

s. A

lles

ist v

on ir

gend

eine

m B

unde

sam

t in

s Sc

höne

sub

vent

ioni

ert.

So fu

hr ic

h du

rch

unse

re

Leid

ensc

hafts

losi

gkei

tsla

ndsc

haft.

Ich

weis

s ni

cht,

Jele

na, i

ch g

laub

e, w

ir h

aben

nie

da

rübe

r ges

proc

hen,

abe

r ich

gla

ube,

das

s D

u, g

enau

w

ie ic

h, w

usst

est,

als

Kin

d, d

ass

Du

zaub

ern

kann

st,

nich

t, ha

ttest

du

nich

t auc

h Fe

en im

Aho

rn u

nd in

D

eine

r Stim

me

eine

Mac

ht, d

ie B

lätte

r in

Käf

er v

er-

wan

deln

und

War

zen

vers

chw

inde

n la

ssen

kon

nte,

ni

cht,

ich

weis

s ni

cht,

ich

fuhr

dur

ch d

en W

ald

und

mer

kte

wie

der

einm

al, w

ie m

ir m

ein

Vers

tand

mei

n Je

tzt r

aubt

, alle

s, d

as B

anal

e un

d da

s E

rhab

ene

ver-

«…ab

er d

er S

chw

eize

r ha

t die

Ber

ge v

on si

ch

abge

hack

t, h

at d

as G

ross

e, S

chro

ffe

und

Gew

alti

ge

aus

sein

em W

esen

ver

bann

t und

dar

aus

resu

ltier

t di

e at

embe

raub

ende

und

allg

egen

wär

tige

Lee

re

in d

iese

m L

and,

dah

er k

omm

t es,

das

s ke

in

Schw

eize

r et

was

Gro

sses

sage

n, si

ngen

, tan

zen

oder

tun

kann

, wei

l alle

s sc

hön

ist u

nd g

ut…

»

DB35_Final.indb 30 09.10.14 19:36

— 31 —

sink

t im

end

lose

n Ze

rden

ken

des

Dur

chsc

hnitt

sge-

hirn

s, d

ie A

myw

ineh

ouse

text

e le

gten

sich

den

Vög

eln

um d

ie S

chnä

bel u

nd d

ie F

ouca

ultg

edan

ken

stan

den

vor

den

Bäu

men

und

ich

sah

und

hört

e un

d fü

hlte

ni

chts

, das

Abe

ndro

tlic

ht v

orhi

n w

ar n

ur e

in U

n-fa

ll g

ewes

en u

nd ic

h w

ollte

Dir

doc

h et

was

Mag

i-sc

hes

erzä

hlen

heu

te u

nd m

erke

, das

s es

sel

bstv

er-

stän

dlic

h ni

chts

Mag

isch

es m

ehr

gibt

, es

sei d

enn,

da

ss m

an in

jede

m S

chei

ssm

omen

t, be

im P

räm

ien-

verb

illig

ungs

antr

agsc

hrei

ben,

bei

m I

nder

schl

ange

-st

ehen

und

bei

m s

tänd

igen

Müd

esei

n im

mer

Jet

zt!

sagt

, das

s m

an s

ich

nie

erla

ubt,

zu d

enke

n, d

ass

das

Lebe

n da

nn a

nfän

gt, w

enn

man

dan

n en

dlic

h ei

n-m

al d

iese

s od

er je

nes

erre

icht

hab

en w

ird

– da

s al

te

Ach

tsam

keits

gebr

abbe

l. A

ber v

ielle

icht

hat

wir

klic

h nu

r da

nn e

in R

ihan

nalie

d w

iede

r ei

n H

ölde

rlin

ge-

wic

ht, w

enn

man

das

ver

folg

t und

es

wie

der w

ie b

eim

er

sten

Mal

Ver

liebt

sein

wir

d un

d m

an k

önnt

e di

e R

ihan

na d

ann

höre

n, d

ie K

opfh

örer

auf

setz

en, h

i-na

usge

hen,

der

Däm

mer

ung

entla

ngge

hen

und

den

ganz

en, ü

bers

chw

eren

, von

nie

man

dem

gef

ühlte

n,

um je

des

Ato

m s

chw

irre

nden

Wel

tsch

mer

z sp

üren

, si

ch w

ie in

ein

em V

ideo

clip

fühl

en u

nd w

isse

n, d

ass

alle

s vo

n Le

ben

durc

hdru

ngen

ist.

Abe

r ic

h w

eiss

ni

cht.

Ich

gebe

mic

h lie

ber

der

Mag

ielo

sigk

eit h

in

als

der

Vors

tellu

ng, d

ass

Rih

anna

von

mei

nem

un-

auss

prec

hlic

hen

Lebe

n we

iss.

Was

tust

Du

gera

de?

Ich

verm

isse

Dic

h. M

ir is

t, al

s hä

tte ic

h m

ich

wie

der

einm

al a

usge

leer

t. D

a ko

mm

t mir

ger

ade

in d

en S

inn,

ic

h w

ar g

este

rn m

it zw

ei F

reun

den

noch

feie

rn, w

ir

sind

fünf

Min

uten

vor

zw

ölf n

och

in e

ine

Tank

stel

le,

die

um z

wöl

f sch

liess

t, ha

ben

um z

wei v

or z

wöl

f vor

de

r Kas

se g

esta

nden

und

ich

hab

mit

mei

nem

Ruc

k-sa

ck d

urch

ein

e el

egan

te D

rehu

ng e

in p

aar

Dos

en

aus

eine

m R

egal

ges

chla

gen,

die

Kas

sier

erin

war

er

stau

nlic

h gu

t gel

aunt

und

hal

f mir

aug

enbl

ickl

ich,

di

e D

osen

zur

ückz

uste

llen,

ich

sagt

e, e

ntsc

huld

igen

Si

e bi

tte, e

s tu

t mir

leid

, das

s ic

h Ih

nen

den

Lade

n au

sräu

me

und

scha

ute

ihr

billi

ges

Mak

e-up

an,

sie

sa

gte,

das

mac

ht d

och

nich

ts, i

ch h

ab ja

den

gan

zen

Tag

drau

f gew

arte

t, da

ss w

as p

assi

ert,

schö

n, s

ind

Sie

noch

gek

omm

en u

nd b

ring

en e

in w

enig

Act

ion

in

dies

e le

ere

Bud

e, d

as h

at s

ie s

o ge

sagt

, ein

bis

sche

n fr

eudi

g ge

läch

elt,

ohne

ein

en H

auch

von

Iro

nie

und

ich

dach

te: D

iese

Fra

u is

t fün

fund

vier

zig,

hat

sich

ei-

nen

knal

lbla

uen

Stri

ch u

nter

die

Aug

en u

nd ro

tgrü

-ne

n Sc

him

mer

auf

die

Lid

er g

esch

min

kt, a

rbei

tet b

is

zwöl

f Uhr

nac

hts

in d

iese

r Tan

kste

lle u

nd k

ann

noch

fr

eund

lich

zu e

inem

Stu

dent

en a

uf S

aufto

ur s

ein,

ich

glau

be, i

ch m

ache

etw

as fa

lsch

. Ich

hab

e m

ich

dann

se

hr h

erzl

ich

vera

bsch

iede

t, m

eine

Fre

unde

hab

en

sich

dar

über

lust

ig g

emac

ht. W

ie d

as s

o is

t.

Mei

ne L

iebe

. Ich

um

arm

e D

ich,

bis

bal

d.

«Die

se F

rau

ist f

ünfu

ndvi

erzi

g, h

at si

ch

eine

n kn

allb

laue

n St

rich

unt

er d

ie A

ugen

un

d ro

t-gr

ünen

Sch

imm

er a

uf d

ie L

ider

ge

schm

inkt

, arb

eite

t bis

zw

ölf U

hr n

acht

s in

di

eser

Tan

kste

lle u

nd k

ann

noch

freu

ndlic

h zu

ein

em S

tude

nten

auf

Sau

ftou

r se

in,

ich

glau

be, i

ch m

ache

etw

as fa

lsch

DB35_Final.indb 31 09.10.14 19:36

— 32 —

DB35_Final.indb 32 09.10.14 19:36

— 33 —

Dav

id R

itzk

owsk

iD

ie In

spir

atio

n is

t ein

e ve

rloge

ne S

chla

mpe

. Mon

ate-

lang

hat

sie

mir

vor

gega

ukel

t, da

ss s

ie h

ier a

uf m

ich

war

ten

wür

de. K

omm

nac

h Fr

ankr

eich

, flüs

tert

e si

e m

ir in

s O

hr, k

omm

in u

nser

Lie

besn

est.

Dor

t wer

-de

n w

ir b

eide

alle

in s

ein

und

ich

wer

de D

ich

küs-

sen,

nic

ht n

ur s

o im

Vor

beig

ehen

auf

den

Nac

ken,

so

nder

n ri

chtig

. Ich

wer

de m

eine

n R

ock

hoch

zieh

en

und

die

Bei

ne b

reit

mac

hen

und

Dic

h na

sche

n la

s-se

n so

vie

l und

so

lang

e D

u w

illst

. Ich

wer

de e

s D

ir

rich

tig b

esor

gen.

Kom

m n

ach

Fran

krei

ch, D

u w

irst

es

nic

ht b

ereu

en.

Jetz

t bin

ich

hier

. Abe

r Mad

emoi

selle

läss

t auf

sich

wa

rten

. Ich

wei

ß, d

ass

sie

sich

hie

r irg

endw

o au

fhäl

t. D

as is

t ja

ihr R

evie

r, ih

r Dor

f. Si

e ha

t’s h

ier s

chon

mit

viel

en a

nder

en g

etri

eben

. Übe

rall

im H

aus

zeug

en

Gem

älde

, Sku

lptu

ren,

Zei

chnu

ngen

und

ger

ahm

te

Ged

icht

e vo

n ga

nzen

Kün

stle

rrud

eln,

die

sie

hie

r

begl

ückt

hat

. Abe

r mic

h lä

sst s

ie z

appe

ln. S

piel

t ein

Sp

ielc

hen

mit

mir

. Tre

ibt

sich

in d

en s

teile

n G

as-

sen

heru

m, l

unge

rt u

nter

Tor

böge

n, v

erst

eckt

sic

h hi

nter

dem

Lor

beer

baum

im In

nenh

of; w

enn

ich

auf

der D

acht

erra

sse

steh

e un

d in

die

Dun

kelh

eit s

tarr

e,

sehe

ich

das

Glim

men

ihre

r Zig

aret

te, w

ie d

er R

auch

zw

isch

en H

ofto

r und

Dac

hgie

bel d

es N

achb

arha

uses

na

ch o

ben

stei

gt u

nd F

rage

zeic

hen

form

t. Ic

h hö

re,

wie

ihre

Abs

ätze

übe

rs K

opfs

tein

pflas

ter

davo

nkla

-ck

ern

und

wie

der

Win

d in

den

lose

n Pa

pier

en r

a-sc

helt,

die

sie

unt

erm

Arm

träg

t. G

este

rn g

laub

te ic

h, ih

ren

Scha

tten

auf d

em P

late

-au

unt

er d

em T

urm

zu

sehe

n. Ic

h zo

g di

e Sp

orts

chuh

e an

und

ran

nte

den

Pfad

zw

isch

en d

en K

lippe

n em

-po

r, um

sie

zu

fang

en. I

ch li

ef d

ie g

anze

Hoc

hebe

ne

entla

ng ü

ber d

ie W

eide

n, d

urch

den

Eic

henw

ald

und

auf d

er a

nder

en S

eite

hin

ab b

is z

um N

achb

ardo

rf,

über

die

alte

Brü

cke

entl

ang

der

Eis

enba

hngl

eise

un

d bi

s zu

r Hau

ptst

raße

und

dan

n w

iede

r em

por,

in

niem

als

ende

n w

olle

nden

Ser

pent

inen

, zur

ück

ins

Dor

f. A

ls ic

h sc

hwitz

end

und

keuc

hend

das

Hau

s er

reic

hte,

hör

te ic

h si

e la

chen

. Du

bist

so

geil

auf

m

ich,

kic

hert

e si

e, D

u ha

st k

eine

Ged

uld.

So

wir

d da

s ni

chts

. Du

mus

st le

rnen

zu

war

ten.

Du

mus

st

noch

so

viel

lern

en.

Als

o w

arte

ich.

Ich

fütte

re d

ie K

atze

n, b

ring

e di

e E

sel a

uf d

ie W

eide

, mac

he F

euer

im K

amin

, zün

de

Ker

zen

an, s

telle

ein

e Fl

asch

e R

otwe

in b

erei

t, sp

ie-

le T

ango

s vo

n Pi

azzo

lla u

nd h

offe

, das

s si

e ir

gend

-w

ann

zur

Tür

here

inko

mm

en w

ird.

Was

sol

lte ic

h au

ch s

onst

tun

? Ic

h bi

n au

f sie

ang

ewie

sen.

Ohn

e si

e we

rde

ich

hier

seh

r ei

nsam

sei

n.

Insp

iratio

n

DB35_Final.indb 33 09.10.14 19:36

— 34 —

Em

anue

l Tan

dler

Gra

vitä

tisch

ste

ht s

ie v

or d

ir –

die

Tür

mit

dem

gol

-de

nen

Schl

üsse

l. Fü

r ei

nmal

sin

d es

nic

ht v

iele

rlei

Ein

- un

d A

usgä

nge,

zah

llose

Hau

pt-

und

Neb

entü

-re

n, n

icht

Tei

le, E

inze

lteile

, Ein

zele

inze

lteile

; blo

ss

die

Tür m

it de

m g

olde

nen

Schl

üsse

l im

Sch

loss

. Ver

-tr

aust

du

ihn,

die

sen

schi

mm

ernd

en D

rehp

unkt

, gan

z de

r Tü

r an

und

läss

t zög

erlic

h vo

n se

iner

Wen

dung

, so

wir

d au

ch d

er N

ächs

te, w

enn

er e

intr

eten

wil

l, de

m e

igen

en Z

öger

n be

gegn

en. L

ass

das

Nac

hden

k-lic

he a

ber

nich

t lo

s, d

enn

der

Kop

f de

s go

lden

en

Schl

üsse

ls, a

n W

ert u

nd F

orm

zw

ar u

nver

glei

chlic

h,

ist n

ur d

er K

opf e

iner

ver

zahn

ten

Sach

e. B

leib

t er

verz

ahnt

, so

wir

d de

in D

urch

blic

k ni

cht a

m S

chlü

s-se

lloch

ver

blas

sen,

vie

lmeh

r al

lein

und

vor

der

Tür

de

iner

Pha

ntas

ie b

elas

sen.

Ver

trau

, das

s de

r Le

tzte

vo

r dir

und

vor

der

Tür

wed

er d

en S

chüs

sel h

erau

sge-

zoge

n, n

och

die

Tür v

ersc

hlos

sen,

abe

r dir

die

offe

ne

Tür

hint

erla

ssen

hat

. K

aum

ist s

ie g

eöffn

et, d

ie K

linke

um

fass

t und

nie

-de

rged

rück

t, da

s O

ben

und

Unt

en d

er K

ante

n im

re

chte

n W

inke

l zu

m R

ahm

en v

ersc

hobe

n, d

ie g

e-le

nkig

e Sc

harn

ierf

unkt

ion

und

Dop

pels

eitig

keit

der

Tür

erfa

sst,

und

endl

ich

auch

ihre

Sch

wel

le ü

ber-

schr

itten

, wir

st d

u fr

agen

: «U

nd w

as n

un, w

o bl

eibt

de

r Za

uber

hin

ter

der

Tür?

» B

licks

t du

nur

wen

ige

Schr

itte

von

der S

chwe

lle e

ntfe

rnt a

m B

oden

ent

lang

, au

f ein

en k

lein

en B

erei

ch u

nter

dem

Tür

schl

oss,

so

finde

st d

u –

mer

kwür

dige

rwei

se –

ein

en s

chw

arze

n K

offe

r. D

arin

mög

en v

ier

Zaub

ersp

rüch

e se

in, d

ie

das

ewig

Rät

selh

afte

im

Nu

eine

s ku

rzen

Aug

en-

blitz

es z

um V

orsc

hein

bri

ngen

. Lie

s ab

er z

uvor

die

ge

ring

fügi

ge, a

n de

n K

offe

rgri

ff g

esch

nürt

e N

otiz

, un

d du

wir

st v

erst

ehen

, das

s de

in F

und,

dei

n N

ach-

denk

en, d

ein

Phan

tasi

eren

, dei

n Ve

rtra

uen

und

dein

gern

ein

läng

st e

rhof

ftes,

abe

r une

rwar

tete

s ge

hei-

mes

Tre

ffen

verg

ange

ner Z

aube

rer i

st. D

enn,

obs

chon

de

r Sch

imm

er d

es g

olde

nen

Schl

üsse

lkop

fs fü

r dic

h ei

n tr

üger

isch

es, n

icht

leic

ht z

u er

kenn

ende

s Ze

iche

n de

r Zau

bere

r Hof

fnun

gen

war

, wir

d in

der

Not

iz n

ur

beilä

ufig

ange

mer

kt, d

ass

man

dic

h er

war

tet h

at, j

e-do

ch d

eutl

ich

bem

erkt

, das

s ge

rade

sie

und

er

am

Ran

de m

it üb

erkr

euzt

en B

eine

n an

der

Wan

d le

hnen

, da

ss ic

h un

d es

in d

er z

weite

n R

eihe

Pla

tz n

ehm

en,

und

dass

ihr

und

wir

der

Zau

bere

i ges

pann

t in

der

vord

erst

en R

eihe

zus

ehen

. Ble

ibt d

er g

olde

ne S

chlü

s-se

l als

o vo

r Ort

, dei

ne H

and

sein

em K

opfe

fern

, abe

r de

m H

okus

poku

s de

r W

örte

r im

sch

war

zen

Kof

fer

nah,

so

bew

egen

sic

h, v

ielle

icht

, die

vie

r Sp

rüch

e ga

nz le

icht

übe

r di

e Sc

hwel

le h

inwe

g un

d fo

rt.

Vie

r Spr

üche

aus

ei

nem

mer

kwür

dige

n Za

uber

koffe

r

DB35_Final.indb 34 09.10.14 19:36

— 35 —

Ers

ter

Zaub

ersp

ruch

Mit

Müh

und

Not

und

ein

bis

sche

n H

offn

ung

ent-

schi

ed ic

h m

ich

nach

län

gere

m Z

wie

gesp

räch

mit

mir

sel

bst,

drau

ssen

nun

end

lich

ein

paar

Sch

ritte

zu

tun.

Hät

te ic

h da

ber

eits

gew

usst

, wie

nut

z- u

nd

erfo

lglo

s si

e au

sfal

len

wür

den,

wär

e ic

h be

stim

mt z

u-ha

use

gebl

iebe

n. D

och

mei

ne a

nges

pann

ten

Ner

ven,

di

e an

schl

eich

ende

Ver

zwei

flung

und

die

spü

rbar

e A

ngst

in e

inze

lnen

Kör

perr

egio

nen

verl

angt

en n

ach

fris

cher

Luf

t. D

em L

üfte

n w

ar ic

h ab

er b

ald

scho

n üb

erdr

üssi

g ge

wor

den,

wes

halb

ich

ausn

ahm

swei

se

und

fast

sch

on ü

berm

ütig

die

Len

keri

n de

s an

fah-

rend

en T

ram

s he

rbei

win

kte.

Ihr

e R

icht

ung

war

mir

ei

nerl

ei, H

aupt

sach

e ih

r Zi

el w

ar e

ine

Stat

ion,

wo

Men

sche

n im

Str

om v

erke

hrte

n. A

n ei

ner

mir

pas

-

send

und

ver

gnüg

lich

sche

inen

den

Stra

sse

stie

g ic

h au

s, u

m d

irek

t wei

ter

ins

Men

sche

ngew

imm

el m

it-ei

nzus

teig

en. A

nfan

gs d

acht

e ic

h, d

ass

eini

ges

im

Gew

ühl s

tock

e, d

och

schn

ell w

ar m

ir k

lar,

dass

alle

s au

sser

mir

gan

z or

dent

lich,

hin

ter-

und

neb

enei

nan-

der

wie

die

Am

eise

n de

m G

esch

äft n

achg

ing.

Die

am

eise

nhaf

te O

rdnu

ng v

erbl

üffte

mic

h um

so m

ehr,

da ic

h üb

erze

ugt w

ar, d

ass

jede

r im

Gei

ste

der

Vor-

ders

te s

ein

wollt

e. S

iche

rlic

h ga

b es

übe

rhas

tete

Mo-

men

te u

nd d

as e

ine

oder

and

ere

leic

hte

Rem

peln

w

ar n

icht

zu

verh

inde

rn, d

och

alle

s in

alle

m w

ar d

as

Gan

ze s

elts

am s

till u

nd re

ibun

gslo

s. S

chwe

bten

hie

r ta

tsäc

hlic

h na

ch e

inem

ung

esch

rieb

enen

Ges

etz

der

Höfl

ichk

eit

Män

ner,

Frau

en u

nd K

inde

r le

ise

und

ohne

jegl

iche

Ber

ühru

ng a

nein

ande

r vor

bei?

Fra

gend

pa

ckte

mic

h pl

ötzl

ich

die

Ang

st, d

ass

mei

ne e

igen

e Pl

anlo

sigk

eit h

ier

am E

nde

ein

ries

iges

Dur

chei

n-an

der

veru

rsac

ht. D

a ic

h m

eine

r Ph

anta

sie

eini

ges

zutr

aute

und

das

ord

entli

che

Trei

ben

bere

its a

ls e

in

wild

es U

nter

- un

d Ü

bere

inan

der

vor

mir

sah

, nah

m

ich

sofo

rt d

as n

ächs

te T

ram

und

ver

schw

and

in d

er

Geg

enri

chtu

ng.

DB35_Final.indb 35 09.10.14 19:36

— 36 —

Zwei

ter

Zaub

ersp

ruch

Seid

ihr

rot

iere

nde

und

ausw

echs

elba

re T

eilc

hen

in d

er M

asch

ine

der

Folg

sam

keit?

Ode

r ke

nnt m

an

euch

als

Exp

erte

n ei

ner

stet

s re

volu

tionä

ren

Wis

-se

nsch

aft,

die

min

utiö

s un

d m

ikro

skop

isch

in

der

Sorg

e um

sic

h se

lbst

imm

er a

uf n

euen

Weg

en z

um

eige

nen

Woh

lbefi

nden

vor

stös

st?

Wär

e es

vie

lleic

ht

auch

mög

lich,

das

s ih

r vie

lmeh

r ein

er g

anz

alte

n G

e-sc

hich

te a

ngeh

ört,

dere

n U

rspr

ung

euch

nic

ht m

ehr

einf

alle

n w

ill?

Seid

ihr v

ielle

icht

die

Nac

hfah

ren

je-

ner u

ngeh

euer

liche

n Si

ppsc

haft,

wel

che

zwar

von

der

A

rche

Noa

hs h

erun

terk

am, a

ber

abgr

ündi

gerw

eise

ni

cht d

iese

lbe

war

, wel

che

die

Arc

he g

ebau

t hat

te?

Was

, wen

n si

ch d

amal

s un

ter

die

Tier

e U

ngeh

euer

m

isch

ten,

was

anl

ässl

ich

des

Dur

chei

nand

ers

beim

V

erla

den

leic

ht p

assi

eren

kon

nte?

Wär

e es

für

die

Ung

eheu

er n

icht

ein

leic

htes

Spi

el g

ewes

en, N

oah

und

dess

en F

amili

e w

ähre

nd d

er S

intfl

ut u

mzu

brin

-ge

n un

d si

ch n

achh

er a

ls N

oah

und

dess

en F

ami-

lie a

uszu

gebe

n? K

önnt

ihr

das

Geg

ente

il be

weis

en?

Ode

r be

ruft

ihr

euch

auf

Zeu

gens

chaf

t der

ger

ette

-te

n Ti

ere?

Hat

es

nich

t au

ch i

hnen

, die

bis

dah

in

die

men

schl

iche

Spr

ache

beh

errs

chte

n, d

ie S

prac

he

vers

chla

gen

ange

sich

ts d

esse

n, w

as s

ie a

uf d

er A

r-ch

e m

iterle

bten

? E

rinn

ern

euch

heu

te d

ie ti

eris

chen

La

ute

nich

t an

Kla

gen?

Vie

lleic

ht a

n di

e A

nkla

ge,

dass

die

, die

als

Men

sche

n au

ftret

en, e

igen

tlich

gar

ke

ine

sind

? B

eunr

uhig

t euc

h di

ese

Ges

chic

hte

nich

t?

Bee

intr

ächt

igt s

ie e

twa

nich

t eur

e Fo

lgsa

mke

it od

er

euer

Woh

lbefi

nden

? A

uf w

as b

eruh

t le

tzte

res

und

welc

her

Arc

he s

eid

ihr

aufg

eses

sen?

Ode

r w

ird

das

Eup

hrat

wass

er e

ines

Tag

es e

twas

Neu

es h

eran

trag

en

und

alle

s ve

rges

sen

mac

hen?

Wir

d es

eue

r G

lück

se

in, d

ass

auch

die

se A

rche

ver

schw

inde

t?

Dri

tter

Zau

bers

pruc

hSi

e is

t ein

dün

ner S

trei

fen

umge

ben

von

laut

er B

äu-

chen

. Ihr

dro

ht e

s du

rcha

us, z

erkn

üllt

zu w

erde

n.

Die

Bäu

che

habe

n m

orge

ns st

udie

rt u

nd w

olle

n na

ch

dem

Kne

ten

des a

ufge

trag

enen

Ler

ntei

gs n

un e

ndlic

h di

e ri

chtig

en T

eigw

aren

ver

zehr

en. A

uch

sie

stud

iert

; di

e vo

llgep

ackt

e Le

rnta

sche

am

Stu

hlbe

in v

errä

t es.

D

och

ihre

sch

mal

e Fi

gur,

die

dünn

en la

ngen

Fin

-ge

r, da

s K

nöch

erne

der

Sch

ulte

rn, i

hre

Ruh

e be

im

Ess

en, d

ie v

orsi

chtig

en B

eweg

unge

n un

d ih

r san

fter

Um

gang

mit

Bes

teck

und

Gla

s w

olle

n ni

cht r

echt

in

die

Mitt

agss

phär

e de

r Stu

dent

en p

asse

n. Ih

m fä

llt si

e au

f; da

s Za

rte

an ih

r un

terb

rich

t sei

nen

gew

ohnt

en

Kan

tinen

takt

, aus

dem

die

Übr

igen

, die

kau

ende

n M

äule

r, ni

cht f

alle

n. D

er T

akt d

er M

ehrz

ahl i

st n

icht

un

gefä

hrlic

h. E

r mac

ht s

ich

brei

t, be

drän

gt d

ie E

in-

zeln

e. D

ie G

efah

r den

kt e

r sic

h ni

cht a

us, e

r hör

t sie

: N

eben

ihm

sin

d zw

ei tu

sche

lnde

Stim

men

und

zum

G

etus

chel

pas

send

die

em

pört

en G

esic

hter

zw

eier

St

uden

tinne

n. A

nfan

gs e

in m

uste

rnde

r B

lick,

dan

n ei

n G

lotz

en, d

ann

ein

Schi

elen

, dan

n ei

n ei

nstim

mi-

ges

Urt

eil,

das

im v

erei

nbar

ten

dünn

en M

itlei

d de

r D

ünne

n gi

lt. U

nd e

r? I

hre

Mag

erke

it is

t Bes

orgn

is

erre

gend

. Er

aber

will

wed

er d

ie E

mpö

rung

teile

n,

noch

den

sch

mal

en K

örpe

r und

die

fein

en G

esic

hts-

züge

mit

Mitl

eid

schm

äler

n. A

m li

ebst

en w

ill e

r sic

h m

it ih

r, de

r A

usna

hme,

geg

en d

ie a

nder

en b

eide

n V

isag

en v

ersc

hwör

en. U

nd si

e? Is

t ber

eits

auf

gest

an-

den,

hat

mit

der e

inen

Han

d di

e Ta

sche

nrie

men

, und

m

it de

r an

dere

n da

s Ta

blet

t mit

leer

em T

elle

r un

d G

las

fest

im G

riff.

Sei

nem

Ver

such

, Sym

path

ie b

ei

ihre

m V

orüb

erge

hen

zu z

eige

n, is

t sie

läng

st z

uvor

-ge

kom

men

, sch

enkt

ihm

ein

nac

hsic

htig

es L

äche

ln

und

vers

chw

inde

t.

Vie

rter

Zau

bers

pruc

hW

ir s

ind

alle

hip

p un

d be

woh

nen

je e

inze

ln e

inen

St

ern,

doc

h hi

er s

itzt d

as P

robl

em b

erei

ts im

Ker

n:

Wäh

rend

die

Ste

rne

fern

leuc

hten

aus

eig

ener

Kra

ft,

rück

en w

ir –

gan

z al

lein

– d

em V

ergl

ühen

imm

er n

ä-he

r. D

ie W

isse

nsch

aft h

at ih

re A

nsic

ht k

undg

etan

. In

Wir

klic

hkei

t ab

er s

ind

die

Ster

ne n

icht

s an

de-

res

als

kosm

isch

e B

esta

ndte

ile, d

ie d

ie E

insa

mke

it se

it je

her

liebt

en, u

nd s

ich

allm

ählic

h vo

nein

ande

r üb

er T

ause

nde

von

Lich

tjahr

e hi

nweg

ent

fern

ten.

Es

wun

dert

nic

ht, d

ass

sie,

die

ver

mei

ntlic

h W

inzi

gen,

di

e St

imm

e de

r Fi

nste

rnis

bes

ser

ertr

agen

als

wir

, di

e ve

rmei

ntlic

hen

Rie

sen.

Uns

sch

mer

zt s

tets

das

E

twas

, das

nac

h ei

nfac

hen

men

schl

iche

n B

ezie

hun-

gen

stre

bt. D

iese

, uns

ere

Verh

ältn

isse

, m

üsse

n si

ch

aber

nic

ht e

rst a

m H

imm

el v

erke

hren

, als

Stü

ck fa

ul

Hol

z im

Mon

d od

er a

ls v

erwe

lkte

Blu

m in

der

glü

hen-

den

Sonn

ver

ende

n. G

uckt

der

Mon

d fr

eund

lich,

und

le

ucht

en d

ie S

tern

e vo

n we

it he

r, so

ver

dich

tet s

ich

unse

r Gef

ühl d

er G

egen

wart

wei

t meh

r, we

nn w

ir u

ns

gem

eins

am u

m e

inen

Zau

berk

offe

r ve

rsam

mel

n. E

s is

t ein

offe

nes

Geh

eim

nis,

das

s de

r fr

emde

Sch

ein

in d

er M

ondn

acht

uns

die

Gel

egen

heit

biet

et, d

as

Gef

ühl d

er m

ensc

hlic

hen

Ewig

keit

unte

r glü

hend

en

Ges

icht

ern

zu e

rleb

en. D

a hä

lt da

s Le

ben

an, u

nd

die

Vors

tellu

ng v

om E

nde

vers

chw

inde

t.

DB35_Final.indb 36 09.10.14 19:36

— 37 —

0 ein

fens

ter

in d

er w

and

flieg

t auf

he

raus

sch

nelle

n zw

ei r

otha

arig

e he

xen

sie

schr

eien

und

sch

reie

n un

d er

schr

ecke

n m

ich

soda

ss ic

h ni

cht m

ehr

weis

s we

r ic

h bi

n w

as ic

h hi

er m

ache

ic

h pa

cke

mei

ne s

ache

n un

d re

nne

durc

h di

e st

adt.

Febr

isM

iche

lle S

tein

beck

1 ich

habe

ein

en s

chna

uz.

ich

mus

s ih

n ve

rste

cken

, nie

man

d da

rf m

ich

so s

e-he

n, d

er sc

hnau

z m

acht

mic

h ho

chgr

adig

una

ttrak

tiv.

ich

setz

e m

ich

hint

er e

inen

bau

m u

nd b

efüh

le d

en

schn

auz,

da

kom

men

übe

r di

e w

iese

mäd

chen

aus

m

eine

r kla

sse

spaz

iert

. ich

sch

lage

mir

die

han

d vo

r de

n m

und,

abe

r si

e ha

ben

ihn

scho

n ge

sehe

n un

d fe

ixen

– e

ndlic

h si

nd s

ie e

inm

al s

chön

er!

wir

wol

len

ans

hopf

fest

, sag

en s

ie s

üss,

mit

den

bube

n ta

nzen

, kom

m a

uch.

vi

elle

icht

, sag

e ic

h tie

f und

wür

dig,

wen

n ic

h hi

er

fert

ig b

in.

2 ich

vers

teck

e m

ich

im r

oten

zim

mer

im s

chra

nk.

dort

mus

s ic

h ge

gen

mei

nen

will

en la

chen

, wei

l auf

de

r m

atra

tze

im z

imm

er s

itzen

dre

i kle

ine

kind

er in

w

inde

ln. s

ie s

itzen

da

im s

chne

ider

sitz

und

rauc

hen

was

serp

feife

und

hab

en e

in ri

esen

gaud

i. ic

h ha

be e

s ih

nen

desh

alb

nich

t ver

bote

n, b

in n

ur in

den

schr

ank

gekr

oche

n un

d ha

b ih

nen

zuge

sehe

n, s

elbe

r ein

we-

nig

gera

ucht

, ohn

e sc

hlau

ch, e

infa

ch n

ur s

o, e

s w

ar

genu

g in

mei

nen

lung

en.

DB35_Final.indb 37 09.10.14 19:36

— 38 —

3 wäh

rend

die

str

asse

rau

scht

und

die

aut

os s

ause

n un

d di

e si

rene

n tö

nen

und

der r

egen

kle

bt, k

omm

en

unau

sste

hlic

he m

ensc

hen

und

feie

rn p

arty

in m

eine

m

schr

ank.

ich

flüch

te a

uf d

ie s

tras

se.

auf d

er s

tras

se s

teht

der

süd

tirol

isch

e di

chte

r mat

-th

ias

auf e

inem

bei

n.

heda

, ruf

e ic

h, a

ltes

haus

, wie

geh

t ’s d

er tr

ompe

te?

der d

icht

er m

atth

ias

hat n

ur e

ine

krüc

ke u

nd s

teht

sc

hräg

. er

sagt

: ich

bin

doc

h nu

r zw

anzi

g ja

hre

alt.

er i

st s

ehr

trau

rig,

sei

t si

e se

in b

ein

ampu

tier

t ha

ben.

ic

h ge

he in

den

sch

rank

zur

ück

und

da is

t ver

wüs

-tu

ng u

nd e

in k

lein

es v

erge

ssen

es k

ind.

5 ich

bin

jetz

t bei

m b

ache

lor d

abei

. der

typ

ist n

ett u

nd

ich

sage

ihm

, er s

oll u

nbed

ingt

ein

mal

den

sat

z «i

ch

habe

etw

as s

ehr s

pezi

elle

s or

gani

sier

t» e

inba

uen.

er

lach

t ein

wen

ig k

ünst

lich;

ich

glau

be, e

r ha

t ang

st

vor

mir.

ich

bin

spez

iell,

wei

l ich

spi

elen

mus

s, m

ir

wär

en b

eide

bei

ne a

mpu

tiert

wor

den.

ich

habe

sie

no

ch, a

ber

es is

t sch

on s

o in

mei

nem

kop

f, da

ss ic

h al

lein

e zu

m e

ssen

geh

e un

d we

ine,

und

mic

h fr

age,

w

ieso

ich

kein

en ro

llstu

hl h

abe.

es

ist v

erw

unde

rlic

h,

wie

inte

grie

rt ic

h de

nnoc

h bi

n. ic

h sc

hätz

e, m

eine

ch

ance

n si

nd n

icht

sch

lech

t.

4 ich

habe

als

o ei

n ki

nd,

in e

iner

dur

chsi

chti

gen

scha

chte

l, es

ist r

uhig

und

stil

l und

her

zig.

ich

ver-

gess

e es

oft

und

habe

ein

sch

lech

tes

gew

isse

n, d

ann

stop

fe ic

h ih

m e

twas

in d

en s

üsse

n kl

eine

n m

und.

m

eine

mut

ter

mei

nt, i

ch s

olle

das

kin

d w

egge

ben,

ic

h w

ürde

ja ü

berh

aupt

nic

ht n

ach

ihm

sch

auen

. aus

tr

otz

fang

e ic

h an

zu

wein

en.

dann

will

ich

mic

h be

trin

ken.

ich

nehm

e da

s ki

nd

mit

in d

ie k

neip

e, e

s is

t sch

nell

gew

achs

en. w

ir s

it-ze

n an

ein

em la

ngen

tisc

h, d

as k

ind

schn

itzt m

it de

m

mes

ser k

erbe

n in

s ho

lz. i

ch sp

endi

ere

alle

n ei

ne ru

n-de

wei

ssw

ein;

ich

mus

s ve

rnün

ftig

sein

weg

en d

em

kind

. ich

mag

übe

rhau

pt k

eine

n we

issw

ein.

da

s ki

nd h

at m

ich

von

anfa

ng a

n eh

er g

ener

vt, s

age

ich

zu e

inem

bär

tigen

man

n, w

illst

du

es n

icht

ha-

ben?

der

bär

tige

nim

mt e

inen

gro

ssen

schl

uck

weis

s-we

in, d

ann

nim

mt e

r mei

nen

kopf

und

hau

t ihn

geg

en

die

wan

d.

DB35_Final.indb 38 09.10.14 19:36

— 39 —

7 mei

n va

ter h

at e

ine

neue

freu

ndin

, ein

e ju

nge

schi

cke

brün

ette

. ich

hoc

ke ih

r mit

dem

ars

ch a

uf d

ie s

chön

e fr

isur

und

sch

reie

. ir

gend

wan

n fa

ngen

mei

ne s

chw

este

r un

d ic

h an

, je

de w

oche

mit

ihr u

nd ih

rer m

utte

r bas

ketb

all ü

ber

ein

volle

ybal

lnet

z zu

spi

elen

. wir

ver

liere

n im

mer

un

d re

gen

uns

grau

sam

auf

und

kre

isch

en ü

bert

rie-

ben,

wen

n w

ir e

inen

pun

kt m

ache

n.

8 wir

wer

den

von

eine

m m

ann

belä

stig

t. m

eine

sch

west

er s

chne

idet

ihn

in s

tück

e. e

s bl

utet

ni

cht,

wie

pou

letfl

eisc

h.

der

kopf

vom

man

n sa

gt, j

etzt

pas

sier

t etw

as.

mei

ne s

chw

este

r sa

gt, j

etzt

set

zt e

r si

ch w

iede

r zu

sam

men

. un

d er

set

zt s

ich

wie

der

zusa

mm

en.

6 natü

rlic

h ha

be ic

h ve

rlore

n. ic

h st

ehe

vor d

em h

otel

, se

he l

inks

und

rec

hts

und

wei

ss n

icht

wo

ich

bin.

ic

h st

ehe

blöd

da,

bis

mir

von

obe

n ei

n sc

hein

werf

er

dire

kt in

die

aug

en s

trah

lt. e

in g

esic

ht ta

ucht

auf

im

him

mel

, es

ist e

in ju

nger

bur

scht

, kop

fübe

r. ka

nnst

du

mir

hel

fen,

frag

t er.

ich

sage

nei

n, u

nd

er la

ndet

mit

sein

em r

otwe

iss

gest

reift

en fa

llsch

irm

ne

ben

mir.

er s

prin

gt a

uf u

nd st

ellt

sich

vor

, er h

eiss

t sa

mue

l. er

sieh

t aus

wie

vom

land

, unb

edar

ft; e

r lac

ht

und

ich

trau

e ih

m n

icht

, abe

r ich

bin

froh

, nic

ht m

ehr

alle

in z

u se

in.

sam

uel

geht

neb

en m

ir u

nd s

chle

ift

sein

en f

all-

schi

rm w

ie e

inen

um

hang

aus

gla

cépa

pier

hin

ter s

ich

her.

zusa

mm

en fi

nden

wir

mei

nen

heim

weg

und

ich

schü

ttle

ihn

ab.

10 ich

ging

in d

er e

ises

kälte

spa

zier

en, u

m le

ere

häu-

ser

zu s

ehen

und

gro

sse

plak

ate

und

die

gesi

chte

r de

r m

ensc

hen.

die

hab

en m

ir a

lle z

ugel

äche

lt, d

a-be

i hab

e ic

h ge

stau

nt u

nd g

esta

rrt u

nd n

icht

in d

ie

gege

nd g

egri

nst.

ich

wol

lte a

lles

sehe

n un

d ic

h ha

be

viel

ges

ehen

, es

war

ans

tren

gend

und

sch

wer.

9 im z

imm

er s

ind

stoc

kbet

ten,

dar

in fü

nf k

rank

e un

d zw

ei to

te.

es is

t abe

nd, e

s w

ird

nach

t, ic

h bi

n de

r ar

zt, d

er

aufp

asst

. ic

h m

uss

den

raum

sch

ön k

ühl b

ewah

ren,

weg

en

den

tote

n.

(die

and

ern

sind

eh

auf d

emse

lben

weg

.) di

e to

ten

rühr

en si

ch n

icht

; ein

er im

anz

ug m

it kr

a-w

atte

, sch

ön p

omad

iert

e ha

are,

der

and

ere

dick

und

we

issl

ich

mit

halb

lang

em fe

ttige

n ha

ar. d

ie k

rank

en

röch

eln

und

wälz

en, e

inig

e si

nd v

ielle

icht

auc

h sc

hon

tot.

ich

scha

ue li

eber

nic

ht g

enau

. ic

h sc

haue

aus

dem

fens

ter,

zieh

e di

e sc

hwer

en v

or-

häng

e zu

r sei

te, d

raus

sen

die

gasl

ampe

, sch

nee,

der

im

lich

tkre

is tä

nzel

t. ir

gend

wan

n sc

hlaf

e ic

h ei

n. e

s is

t vie

l zu

war

m fü

r di

e to

ten,

den

ke ic

h no

ch, b

ald

wir

d es

gra

usam

stin

ken.

am

mor

gen

sind

zwe

i bet

ten

leer

, es

win

det d

urch

di

e of

fene

tür.

die

tote

n zu

cken

mit

den

auge

nlid

ern,

gr

unze

n, r

eibe

n si

ch d

as g

esic

ht. d

er d

icke

bew

egt

die

zehe

n.

DB35_Final.indb 39 09.10.14 19:36

— 40 —

Frid

olin

Frid

olin

sieh

t oft

Din

ge, d

ie ih

n in

Ers

taun

en v

erse

t-ze

n. Z

um B

eisp

iel s

itzt e

r dr

auss

en v

or e

inem

Caf

é au

f ein

em b

eque

men

Stu

hl, d

er a

uf e

inem

bel

ebte

n Pl

atz

steh

t. W

ähre

nd e

r ver

schi

eden

e M

ensc

hen

be-

obac

htet

, ble

ibt s

ein

Blic

k an

ein

em M

ann

häng

en,

der k

räfti

g in

die

Mas

se a

n Fa

hrrä

dern

gre

ift, d

ie im

So

nnen

licht

des

bel

ebte

n So

mm

ers

dich

t bei

eina

nder

st

ehen

. Der

Man

n gr

eift

beid

arm

ig h

inei

n, p

ackt

dre

i od

er v

ier

Fahr

räde

r, tr

ägt

sie

ein

paar

Met

er ü

ber

den

Plat

z un

d sc

hwin

gt s

ie in

den

gro

ssen

Lie

ferw

a-ge

n, d

esse

n To

r br

eit o

ffen

steh

t. D

er L

iefe

rwag

en

und

der

Man

n fa

llen

niem

ande

m a

uf. E

r ve

rric

h-te

t sei

ne T

ätig

keit

anim

iert

, ver

schw

inde

t kur

z im

D

unke

ln d

es W

agen

s, k

omm

t wie

der z

um V

orsc

hein

, pa

ckt

die

näch

sten

Fah

rräd

er u

nd s

chw

ingt

sie

in

den

Lief

erw

agen

. Er

pfei

ft ni

cht,

aber

er

weis

s, w

as

er z

u tu

n ha

t, un

d di

es v

erle

iht i

hm S

chw

ung.

Der

M

ann

erin

nert

Fri

dolin

an

eine

n Va

ter,

der

die

von

der

Sonn

e tr

äge

gew

orde

nen

Kin

der

ener

gisc

h un

d oh

ne B

erüh

rung

säng

ste

vom

Str

and

eins

amm

elt u

nd

ins

war

me

Aut

o ve

rfra

chte

t, eg

al o

b es

sei

ne K

inde

r

sind

ode

r nic

ht. D

er e

msi

ge M

ann

geht

zw

isch

en d

en

Fahr

räde

rn u

nd d

em W

agen

hin

und

her

. Die

s tu

t er

wed

er h

astig

noc

h be

sond

ers

gem

ütlic

h, a

uf je

den

Fall

so,

das

s m

an ih

n fa

st n

icht

beo

bach

ten

kann

. A

uch

Frid

olin

mus

s, w

enn

er k

urz

nies

t, w

as e

r an

je

nem

Tag

oft

mus

s, d

en M

ann

imm

er w

iede

r vo

n N

euem

such

en. D

ann

scha

ut e

r ihm

ers

taun

t zu.

Der

M

ann

bem

erkt

Fri

dolin

s er

stau

nten

Blic

k un

d bl

ickt

ih

n nu

n se

iner

seits

ers

taun

t und

etw

as ir

ritie

rt a

n.

Ohn

e nä

her

zu k

omm

en s

agt e

r la

ut z

u Fr

idol

in, s

o da

ss e

s al

le h

ören

kön

nen:

„N

a un

d? N

a un

d? W

illst

du

jetz

t etw

a di

e Po

lizei

ruf

en?“

Die

Leu

te s

chau

en F

rido

lin k

urz

etw

as a

ngew

ider

t an

und

wen

den

sich

dan

n w

iede

r ih

ren

Ges

präc

hen

zu. D

er M

ann

pack

t no

ch e

inig

e de

r Fa

hrrä

der

mit

sein

en ri

esig

en A

rmen

, wir

ft si

e in

den

Lie

ferw

agen

, ve

rsch

liess

t die

Lad

etür

, ste

igt i

n de

n W

agen

und

hrt l

angs

am d

avon

.

Bez

iehu

ngE

in M

ann

wün

scht

sic

h vo

n de

r Fr

au,

mit

der

er

zusa

mm

en is

t, da

ss s

ie ih

n um

haut

. Da

es n

icht

so

ist,

kann

er

sie

nur

schä

tzen

. Das

s er

sie

nur

sch

ät-

zen

kann

, abe

r vo

n ih

r ni

cht u

mge

haue

n is

t, er

füllt

ih

n m

it ei

ner k

ompl

izie

rten

Sch

uld,

die

er a

n la

ngen

So

nnta

gnac

hmitt

agen

in W

orte

zu

fass

en s

ucht

. Sie

ab

er w

ill

liebe

r vo

n ih

m g

esch

ätzt

wer

den

als

ihn

umha

uen.

Sie

ver

steh

en s

ich

nich

t gan

z.

Pros

amin

iatu

ren

Judi

th K

elle

r

DB35_Final.indb 40 09.10.14 19:36

— 41 —

Nam

eA

nsta

tt zu

sag

en, s

ie h

eiss

e Ju

dith

, sag

te s

ie im

mer

, si

e ve

rhei

sse

Judi

th.

Die

s is

t ihr

nic

ht u

nter

lauf

en. E

s sc

hien

ihr d

ann,

si

e kö

nne

noch

imm

er e

rsch

eine

n.

Ehr

geiz

Sie

wol

lte d

ie D

inge

gut

mac

hen,

abe

r si

e fa

nd, e

s ge

linge

ihr n

icht

. Ich

akz

eptie

re, d

ass

ich

nich

t alle

s gu

t mac

hen

kann

, sag

te s

ie, a

ber

sie

akze

ptie

rte

es

nich

t. Si

e sc

hrie

b ei

nen

Abs

chie

dsbr

ief.

Ihre

r M

ei-

nung

nac

h w

ar a

uch

der

Abs

chie

dsbr

ief n

icht

gut

. N

ur ih

rem

Ehr

geiz

ver

dank

te s

ie ih

r Leb

en, d

er A

b-sc

hied

sbri

ef w

ar n

ie g

ut g

enug

.

Vors

telle

nD

as K

omite

e ve

rlang

t von

dem

Man

n, d

er A

syl s

ucht

, da

ss e

r sic

h gl

aubh

aft m

acht

, ind

em e

r chr

onol

ogis

ch

und

deta

ilget

reu

erzä

hlt,

wie

und

war

um e

r gef

olte

rt

wur

de. D

em M

ann,

der

Asy

l suc

ht, i

st e

twas

pas

sier

t, wa

s er

sich

bis

heu

te n

icht

gan

z vo

rste

llen

kann

. Die

s gl

aube

n ih

m d

ie B

efra

ger n

icht

. Sie

gla

uben

nur

, was

si

e si

ch v

orst

elle

n kö

nnen

.

DB35_Final.indb 41 09.10.14 19:36

— 42 —

Mer

et G

utA

uf d

em B

aum

war

tet d

er T

od, i

m G

ras

war

tet d

as

Beb

en, a

uf d

er W

olke

sitz

t de

r D

rach

e un

d un

ter

Was

ser

keuc

ht d

ie H

exe.

Von

wei

tem

eile

n di

e G

lock

en s

chri

ll ü

ber

das

Land

. Wie

Küb

el w

erfe

n si

e de

n To

n üb

er d

ie F

elde

r in

die

Erd

e. D

ie k

lein

e K

irch

e, a

uf d

em F

else

n üb

er

dem

Dor

f geb

aut,

blic

kt in

alle

Ric

htun

gen.

Rot

blau

e Fä

hnch

en v

om T

urm

ges

pann

t in

den

Wile

r, an

sei

-ne

m F

uss

über

die

Tre

ppen

, kar

stig

zer

rt d

ie S

chnu

r. Ze

rdrü

cken

de H

äuse

r um

ring

en d

en D

orfp

latz

, beu

-ge

n si

ch, U

nged

uld,

der

Dre

ck u

nter

den

Bal

kone

n in

die

Hin

terh

öfe

gefu

gt, w

o di

e H

ühne

r sc

harr

en,

Bei

ne in

den

Wol

lfäde

n ve

rwic

kelt,

Tav

erne

n. J

ahr-

mar

kt, w

enn

die

Zige

uner

ihre

Kun

stst

ücke

zei

gen

und

das w

enig

e G

eld

aus d

en D

örfe

rn h

olen

. Irr

wegi

g gl

änzt

die

Son

ne a

us d

em D

unst

. Son

derfl

ug.

Unt

erwe

gs, a

n de

r Le

ine

den

Bär

en. D

ie G

lock

en

habe

n ge

rufe

n, a

us d

em p

elzi

gen

Wal

d, w

o di

e we

ch-

seln

den

Hüt

ten

liege

n. M

ein

Haa

r is

t lan

g m

it Lä

u-se

n, d

ie in

der

Hitz

e de

s Ta

ges

herv

orko

mm

en u

nd

totg

estr

iche

n w

erde

n. I

m S

ack

über

den

dün

nen

Schu

ltern

hat

es

Pupp

en, d

eren

Glie

der

klap

pern

, um

Ges

chic

hten

rück

wärt

s zu

erz

ähle

n, in

den

Höf

en

auf d

em W

eitw

eg, m

it K

öpfe

n, d

ie n

ach

hint

en sc

hau-

en. U

nd e

in k

lein

er S

pieg

el im

Sac

k, s

chw

arz,

ver

-ko

hlt,

abge

nutz

t, fin

gern

agel

reifi

g. E

s st

eht:

Ich

will

ten

und

zum

Leb

en e

rwec

ken.

Der

Spi

egel

wei

ss,

wenn

man

in ih

n hi

nein

sieh

t und

er z

ieht

dan

n hu

ng-

rig

die

ganz

e Fa

rbe

aus

dem

Ges

icht

. Auf

alle

n V

ie-

ren

trot

tet d

er B

är, e

ine

Stof

fsch

nur u

mbi

ndet

sei

nen

Hal

s un

d m

ein

Han

dgel

enk.

Ver

bund

en, g

ebun

den,

ab

häng

ig d

urch

drun

gen,

bar

füss

ig e

ntla

ngge

schl

in-

gert

, abg

ewet

zt. D

er B

är tr

ägt e

ine

Wol

ldec

ke a

uf d

en

Rüc

ken

gebu

nden

, gek

raus

t, se

itlic

h ni

eder

häng

end,

ei

n dü

nnes

Weg

lein

dur

ch d

ie h

ohe

Wie

se z

um D

orf

lauf

end.

Wir

frag

en n

ach

dem

Weg

und

alle

zei

gen

sie

in R

icht

unge

n, d

ie si

e ke

nnen

. Wir

kla

gen

nich

ts

an, w

eil w

ir v

on w

eit h

er k

omm

en. W

esen

, den

en n

ie-

man

d A

chtu

ng s

chen

kt in

ein

er Z

eit,

wo

jede

r nu

r fü

r si

ch s

orgt

, wo

die

Selts

amig

en im

Sch

atte

n de

s W

alde

s br

eitn

arbi

g, d

ünnh

äutig

von

Wile

r zu

Wile

r zi

ehen

. Kru

mm

er R

ücke

n, fr

eche

Aug

en, d

ie D

örfle

r, w

o m

an d

ie A

ugen

sen

kt. M

agis

che

Krä

fte im

Wal

d er

prob

t un

d di

e A

nruf

ung

des

Gro

ssen

Bär

en a

uf

den

Feld

ern

vor d

er N

acht

, brü

llend

, Sch

lupf

win

kel

such

end,

wo

die

Mäu

se d

ie K

leid

er z

erre

isse

n fü

r ih

re N

este

r, do

ch b

eim

Jahr

mar

kt g

ilt e

s da

nn z

u la

-

Wen

n de

r Dat

telk

ern

flieg

t

DB35_Final.indb 42 09.10.14 19:36

— 43 —

chen

, dam

it di

e M

ünze

n fli

egen

, ver

dreh

t die

See

le,

verg

esse

n da

s Lo

s.Sc

hwar

zes

Seel

enkr

aut,

Eul

e m

it sp

itzen

Flü

geln

, ko

che

mei

ne H

aark

näue

l un

d zi

ehe

dann

die

Le-

bens

fäde

n au

s m

eine

r H

aut,

an m

eine

r B

rust

wac

h-se

n Fe

dern

. Die

letz

ten

Näc

hte

war

en n

assk

alt g

e-w

esen

, das

lan

ge S

tarr

en i

n da

s zu

ngen

de F

euer

, ge

bran

nte

Aug

en, W

iede

rgut

mac

hung

. Mus

sten

mit

Gew

alt v

ersc

hwin

den,

als

wir

die

Hüh

ner

stah

len.

D

ie K

noch

en m

eine

s K

iefe

rs b

eiss

en d

ann

ins

Leer

e,

geda

chte

Fes

seln

um

die

Fus

sgel

enke

, nic

ht fa

llen

im n

asse

n G

ras,

renn

en, d

och

wir

sch

lage

n da

s R

ad,

flieh

en, s

inge

n w

ie d

ie S

chla

ngen

, ver

schw

inde

nd,

gegl

ückt

. Das

ein

e A

uge

des

Bär

en is

t bla

u, d

as a

n-de

re b

raun

. Ver

stec

ke. E

ulen

gefie

der,

Dru

iden

tüch

er,

Unk

enm

ilch.

Und

dan

n N

ächt

e oh

ne F

euer

, dam

it si

e un

s ni

cht fi

nden

. Die

Dör

fler w

olle

n ih

re Z

ukun

ft w

isse

n, d

esha

lb h

olen

sie

uns

imm

er w

iede

r, ve

rges

-se

n di

e G

esto

hlen

en. S

ie w

olle

n üb

er s

ich

hina

usse

-he

n, w

olle

n hu

nder

t Tag

e lä

nger

lebe

n al

s ih

r Nac

h-ba

r. Sc

hick

sale

gla

uben

sie

zu

habe

n. Z

erbi

ssen

e St

rass

en. A

ber e

s gi

bt n

ur d

en W

ind

und

die

Kra

ft,

dage

gen

zu s

tehe

n. W

ir h

ören

ihn

nich

t und

er

hört

un

s ni

cht.

Wie

Lau

b, o

hne

Scha

m, o

hne

Schr

ei.

Da.

Nah

und

näh

er k

omm

en d

ie M

ensc

hen,

die

gi

erig

e M

enge

, zus

amm

enge

rufe

n du

rch

die

Lust

der

w

achs

ende

n Se

ltsam

igen

. Die

Dec

ke a

usge

brei

tet,

Hitz

e de

s Pl

atze

s, d

er S

pieg

el, d

er B

är. S

piel

e di

e C

ithar

e, d

er B

är ta

nzt,

die

Men

ge k

omm

t. Sp

ann

das

Seil.

Mei

nen

Schl

üsse

l an

ein

Seid

enba

nd u

m d

en

Hal

s ge

bund

en, w

o di

e H

ärch

en b

lond

dur

ch d

en

Som

mer

gew

orde

n si

nd. W

er ih

n fin

det.

Wer

ihn

fin-

det.

Spuc

ke in

die

Hän

de, r

ot g

erie

ben,

war

m, w

is-

send

, ver

wün

sche

nd. S

pinn

en, d

ie d

as g

anze

Leb

en

eine

n en

dlos

en F

aden

hin

ter s

ich

herz

iehe

n un

d da

s

Kun

stst

ück

ist,

dass

das

Mus

ter e

inen

Som

mer

lang

lt, d

en F

aden

kle

brig

dur

ch d

ie F

inge

r zie

hend

, von

La

nd z

u La

nd. L

ache

n. T

au. L

auni

ges S

chic

ksal

. Wir

tr

inke

n m

it ve

rbun

dene

n A

ugen

aus

dei

nem

gol

de-

nen

Kel

ch. S

chic

ksal

, so

zeig

dic

h de

r M

enge

jetz

t, w

ir w

olle

n di

ch s

ehen

, das

s di

e Fe

dern

von

mei

ner

Bru

st fa

llen.

Bew

eise

. Ber

uhig

e ni

cht d

as G

ewis

sen

der

Men

ge, d

ie B

lut s

ehen

wil

l. In

mei

ner

Han

dli-

nie

schl

änge

lt si

ch ih

r Le

ben.

Bär

, kom

m, s

äe d

en

Abe

rgla

uben

, zei

ge d

eine

Zäh

ne, u

nd la

ss d

ir e

ine

der

Mur

mel

n ne

hmen

, die

da

sind

auf

dei

nen

wei

-ch

en H

andb

alle

n. L

ass

uns

die

Men

ge v

erza

uber

n m

it ih

rem

eig

enen

Blu

thuh

n. M

enge

, die

Zuk

unft

kann

man

änd

ern,

wen

n m

an s

ich

eine

gib

t. K

omm

t un

d hö

rt, w

er i

hr s

eid,

wer

ihr

sei

n w

erde

t, ob

im

H

imm

el o

der

in d

er H

ölle

auf

gehä

ngt.

Wen

n de

r N

ebel

bla

u zu

Bod

en s

chru

mpf

t; un

d de

r H

oriz

ont i

st d

er W

ald

auf d

en H

ügel

n. S

chw

ar-

ze, g

länz

ende

Pfü

tzen

in d

en F

elde

rn, d

er M

ensc

h w

ar h

ier

und

grub

, gru

b Ja

hrta

usen

de. J

eder

von

eu

ch is

t ein

Sol

dat.

Die

Sch

afe

sind

dic

ht z

um H

au-

se g

edrä

ngt,

ängs

tlich

zw

isch

en e

uren

Bei

nen.

Das

G

ewis

sen

raub

te e

uch

der h

arte

Win

ter.

Im S

omm

er

liebt

ihr z

u vi

ele

Mäg

de, a

lle a

uf e

inm

al. D

och

gebt

al

les

nun.

Der

Zie

gend

reck

wär

mt e

ure

Füss

e, d

ie

Hun

de s

ind

zu fa

ul, u

m z

u be

llen.

Was

hab

t ihr

aus

-ge

grab

en, d

ie S

eele

nur

, um

zu

über

lebe

n, g

räbt

ihr

sie

aus

den

Kör

pern

. Gen

ug, s

o ko

mm

den

n nu

n ei

-ne

r vor

und

zie

h ei

ne v

on d

rei M

urm

eln

von

des

Bä-

ren

Pfot

e. N

arr,

Kön

ig o

der Z

aube

rer.

Dre

i Kri

stal

l-m

urm

eln

sind

es,

Gla

s, d

arin

ein

gesc

hlos

sen

ist d

ie

Fede

r ein

er w

eiss

en T

aube

, der

Pan

zer e

iner

gra

uen

Ass

el o

der d

er Z

ahn

eine

s sc

hwar

zen

Wol

fes.

Bis

t du

eine

wei

sse

Taub

e, fr

ei w

ie d

er H

imm

el, d

umm

wie

da

s K

orn

auf d

em F

eld,

dic

k w

ie d

er A

berg

laub

e, e

in

Nar

r? B

ist d

u ei

ne g

raue

Ass

el, w

eise

wie

die

Ber

-ge

, fre

undl

ich

wie

das

get

rock

nete

Heu

, alt

wie

der

K

irch

turm

, ein

Kön

ig?

Bis

t du

ein

schw

arze

r W

olf,

reis

seri

sch

wie

der

Stu

rm, g

ieri

g w

ie d

ie F

isch

e im

Te

ich,

laun

isch

wie

die

Zeu

sel a

n de

r Sch

auke

l, ei

n Za

uber

er?

Wer

bis

t du,

wer

wag

st d

u zu

sei

n? B

is d

ie

Kno

chen

bre

chen

.D

ie W

orte

däm

mer

n vo

r si

ch h

in, p

lötz

lich

aus-

gesp

uckt

, tau

mel

n, e

rhal

ten

den

Sinn

, bek

omm

en

Kon

ture

n, m

alen

Zei

chen

in d

ie L

uft,

Tint

ensp

uren

un

d ve

rbre

nnen

sch

reie

nd, w

enn

du si

e ve

rgis

st. U

nd

dann

lass

ich

die

Pupp

en n

och

tanz

en. N

ur ih

r Kör

-pe

r be

weg

t si

ch u

nd d

ie K

öpfe

dre

hen

viel

e M

ale

oben

drü

ber,

der

Kön

ig h

at im

mer

das

gle

iche

Ge-

sich

t, nu

r der

Nar

r zw

inke

rt u

nd la

cht.

Scha

u be

i dem

M

ensc

hen

nur

auf d

ie B

eweg

unge

n se

ines

Kör

pers

, au

f den

Tan

z se

iner

Lip

pen.

Sie

sag

en a

lles

über

ihn

aus.

Ob

er W

ärm

e ve

rtei

lt od

er K

älte

spu

ckt.

Mur

-m

eln.

Der

Nar

r, d

er K

önig

und

der

Zau

bere

r. D

er

Nar

r is

t auf

den

Kön

ig a

ngew

iese

n, d

er K

önig

auf

de

n Za

uber

er u

nd d

er Z

aube

rer a

uf d

en N

arre

n. S

ie

wech

seln

die

Kro

ne. U

nd so

ster

ben

sie

nie

aus.

Mei

n B

är w

ird

unru

hig

in d

er M

enge

, die

Tat

zen

schl

agen

au

f dem

Bod

en a

uf, d

ie A

ugen

trän

en in

der

hel

len

Sonn

e. S

chic

ksal

, ich

lass

e di

ch b

ald

frei

.Zu

letz

t hal

t ich

euc

h de

n Sp

iege

l vor

. Er w

ird

weis

s w

erde

n un

d ih

r w

erde

t er

blei

chen

. Ihr

wer

det

die

Wah

rhei

t seh

en, d

rei G

esic

hter

aus

ein

em H

als,

Le-

bens

zeite

n. M

anch

e fa

llen

in d

en S

pieg

el h

inei

n, d

ie

nim

mt s

ich

der

Bär

. Die

Gut

en b

leib

en z

urüc

k im

D

orf u

nd e

rst b

ei A

nbru

ch d

er D

unke

lhei

t wer

den

wir

etw

as v

on e

uch

verb

renn

en. I

hr w

art a

nder

s, b

e-vo

r ihr

das

ers

te M

al in

ein

en S

pieg

el g

esch

aut.

Geb

t di

e fa

lsch

en A

ugen

zur

ück,

ihr

such

t nur

den

Sin

n,

das

Lob,

bev

or ih

r wie

der a

lt we

rdet

. Spi

egel

schr

ift.

DB35_Final.indb 43 09.10.14 19:36

— 44 —

Die

Ass

el re

itet a

uf d

em W

olf u

nd d

ie T

aube

flie

gt z

u ho

ch a

m H

imm

el. D

er W

olf m

erkt

nic

hts

und

renn

t du

rch

den

dunk

len

Wal

d. W

ir k

lage

n ni

chts

an,

wir

ne

hmen

ein

fach

alle

s m

it, m

it de

n A

ugen

, mit

dem

A

tem

, mit

den

gesc

hlos

sene

n H

ände

n. T

aube

, Ass

el

im W

olf.

Verg

esst

die

Pup

pen,

neh

mt d

ie F

äden

in

die

Han

d. Ih

r sei

d ei

ne F

rage

der

Zei

t, K

adab

ra, m

it de

n A

ugen

, mit

dem

Ate

m, m

it de

n ge

schl

osse

nen

Hän

den.

Die

Men

ge s

chw

ankt

zur

ück.

Sch

war

zes

Seel

en-

krau

t, E

ule

mit

spitz

en F

lüge

ln, k

oche

mei

ne H

aar-

knäu

el u

nd z

iehe

dan

n di

e Le

bens

fäde

n au

s m

eine

r H

aut,

an m

eine

r B

rust

wac

hsen

Fed

ern.

In

mei

ner

Han

dlin

ie s

chlä

ngel

t si

ch d

as L

eben

. Wir

tan

zen

noch

mal

s. G

ebt n

un a

lles.

Wir

säe

n de

n A

berg

lau-

ben

und

ihr w

erde

t trä

umen

von

uns

und

Krä

uter

ge-

gen

uns

nehm

en, d

ie w

ir e

uch

verk

aufe

n. M

ein

Stir

n-ba

nd in

die

Haa

re g

efloc

hten

, von

Son

ne, W

ind

und

Was

ser a

usge

blei

chte

s Bl

au, d

as w

aren

die

Som

mer

. M

ein

Kle

id h

at F

rans

en u

nd d

er B

är h

at d

as F

ell.

Wir

ver

beug

en u

ns n

icht

, wei

terz

iehe

nd, l

ache

nd,

trau

rig

erbe

bend

, str

eich

elnd

das

Fel

l. Ic

h la

sse

dich

ba

ld fr

ei.

Unt

erwe

gs, a

n de

r Lei

ne d

en B

ären

. Nac

hts

rolle

n w

ir u

ns z

usam

men

ein

, Tro

cken

blat

t, sc

hum

mri

g,

mei

n R

ücke

n an

sei

nem

Bau

ch, s

eine

Lef

zen

auf

mei

nem

Sch

eite

l, m

eine

Hüf

te in

der

Wär

me

unte

r de

m B

aum

, den

Man

tel a

ls D

ecke

, die

Ste

rne

hint

erm

O

hr, m

eine

Füs

se in

sein

em B

einf

ell.

Vers

chlin

gend

e E

rde.

Dur

chwe

lkt.

Uns

ere

Haa

re m

ache

n un

s zu

den

sc

höne

n Ti

eren

, die

wir

ein

mal

war

en. W

eit v

orne

au

f der

zie

hend

en F

lur i

m s

chw

arze

n Fe

ld n

ahe

dem

D

orf b

renn

t ein

Feu

er u

nd K

inde

r tan

zen

im R

auch

. B

ald

ist d

as J

ahr

um. D

ie u

ngel

öste

n W

ahrh

eite

n,

die

unen

tdec

kten

Ver

brec

hen,

die

unv

erst

ande

nen

Aug

en b

ring

en d

ie L

uft

zum

Wei

nen,

zum

Tön

en.

Es

wir

d di

ese

Luft

sein

, die

dir

ein

st w

egge

nom

men

w

ird,

bev

or d

u st

irbs

t. Ic

h se

tze

mic

h no

chm

als

auf

und

spie

le a

uf d

er C

ithar

e, la

sse

sie

vers

timm

t, we

il si

ch a

uch

mei

ne S

timm

e ve

ränd

ert h

at. I

n de

r Nac

ht

leuc

htet

es

oft u

nter

dem

Him

mel

von

Kri

egen

an-

ders

wo

und

der B

är s

chlä

ft da

nn n

icht

. Wir

klo

pfen

zu

sam

men

am

Leb

enst

or u

nd d

er S

chlü

ssel

dre

ht

sich

, abe

r ni

eman

d m

acht

auf

. V

on w

eite

m t

rabe

n di

e G

lock

en d

umpf

übe

r da

s La

nd. E

rinn

erun

g an

den

Jah

rmar

kt h

eute

, vie

l ge-

won

nen,

bei

nahe

ver

gess

en. T

aum

elnd

. Die

Kam

i-ne

rau

chen

frie

dlic

h in

der

Abe

nddä

mm

erun

g un

d w

ärm

en d

ie N

acht

. Das

Hol

z w

ird

dunk

el v

on d

en

Stäl

len,

von

der

Son

ne s

chat

tenl

ang.

Die

Fau

lhei

t de

s ge

feie

rten

Dor

fes,

wo

heut

e un

entd

eckt

der

Op-

fers

tock

aus

gebr

annt

wur

de. D

ein

Hal

sban

d, B

är.

Das

Led

er w

ird

glat

t von

der

Rei

bung

, es

bieg

t sic

h,

es lä

sst s

ich

umw

icke

ln, i

n un

sere

n Fa

lten

könn

en

wir

Din

ge v

erst

ecke

n, m

it de

m A

lter d

as L

eben

. Der

M

ond

durc

hflut

et d

ie W

älde

r der

Nac

ht, e

r flie

gt le

i-se

übe

rall

hin,

das

s w

ir ih

n al

le s

ehen

. Ich

ruf

e de

n G

ross

en B

ären

an,

Ste

rne,

und

dur

ch z

wei

teil

ich

dann

den

Neb

el, d

ie W

eite

rrei

s, d

as W

elte

neis

. Am

Fe

uer

wil

l ic

h ve

rbre

nnen

, das

Ric

htig

e gi

lt es

zu

finde

n. D

en E

inen

suc

h ic

h in

der

Men

ge. D

ie w

ar-

men

Aug

en w

erde

n m

ich

zieh

en z

u ih

m. A

us m

eine

r M

ante

ltasc

he w

erde

ich

den

Dat

telk

ern

herv

orkr

a-m

en, w

erfe

ihm

in d

en M

und,

dem

Aus

erw

ählte

n,

den

Dat

telk

ern.

Er

wir

d es

ver

steh

en, m

ir ih

n w

ie-

der

zusp

ucke

n un

d w

ie d

ie R

iese

n w

erde

n w

ir u

ns

wäl

zen

über

die

Wel

t in

uns

hine

in, u

nter

den

Wur

-ze

ln d

urch

die

unt

erir

disc

hen

Höh

len,

ver

stec

kend

zw

isch

en d

er K

ohle

des

Feu

ers,

ver

bren

nend

an

der

Sehn

such

t der

Wah

rhei

t, fo

rder

nd d

urch

die

Glu

t der

Was

ser,

gesp

annt

dur

ch d

en W

illen

des

Leb

ens,

die

U

nsch

uld

der V

ögel

. Son

derfl

ug. D

er S

chlü

ssel

lieg

t au

f der

Wie

se.

Auf

dem

Bau

m w

arte

t der

Tod

, im

Gra

s w

arte

t das

B

eben

, auf

der

Wol

ke s

itzt

der

Dra

che

und

unte

r W

asse

r keu

cht d

ie H

exe.

Gib

alle

s. W

enn

das

Moo

s tr

ocke

n ge

wor

den

ist u

nd v

on d

en B

äum

en a

bfäl

lt,

dann

ist e

s Ze

it, A

bsch

ied

zu n

ehm

en.

Gib

alle

s un

d m

ehr.

Ich

lass

e di

ch fr

ei.

DB35_Final.indb 44 09.10.14 19:36

— 45 —

LITERATURHAUS ZÜRICH

LESUNGEN IM HERBST:

Franz Hohler5. November 2014

Poetikvorlesungen mit Georg Klein 6., 13. und 20. November 2014

Stefanie Bart und Saskia Hennig von Lange 25. November 2014

Vollständiges Programm unter www.literaturhaus.ch

Les

ung N

oém

i K

iss, 29.1

.2014, Lit

eratu

rhaus Z

üri

ch

KLIO Buchhandlung und Antiquariatvon der Crone, Heiniger Linow & Co.

KLIO Buchhandlung KLIO AntiquariatZähringerstrasse 45 Zähringerstrasse 41CH-8001 Zürich CH-8001 ZürichTel. 044 251 42 12 Tel. 044 251 86 10

w w w . k l i o - b u c h . c h

Wissenschaftliche Buchhandlung mit umfangreichem Sortiment und fachspezifischen Dienstleistungen

Buchhändlerisch und wissenschaftlich ausgebildetes Personal

Eigene Neuheitenkataloge

Buchpreise wie in Deutschland

Geschichte

Philosophie

Germanistik

Alte Sprachen

Soziologie

Politologie

Ethnologie

Religion

Kommunikation

Belletristik

41 45

DB35_Final.indb 45 09.10.14 19:36

— 48 —

DSDÉ

SEES

DB35_Final.indb 48 09.10.14 19:36

Maximilian Benz

Lector, intende!Dunkel war es, intolerant, kriege-risch, zivilisatorisch rückständig – das Mittelalter. Man mag sich das Leben zu dieser Zeit gar nicht recht vorstellen. Entweder kalte und zugi-ge oder vom Rauch der Feuerstellen verqualmte Behausungen, in denen Menschen mit entweder schlechten oder gar keinen Zähnen mehr im Mund ungewürzte Speisen aßen, zum Beispiel feine Getreidegrütze. Die durchschnittliche Lebenser-wartung war genauso niedrig, wie die Lebensfreude gering war; neben Krankheit, Mangel und Not stand über allem eine (böse!) Kirche, die auf nichts anderes aus war, als die Menschen zu terrorisieren, um sich vor allem selbst zu bereichern. Wen wird es da überraschen, dass auch die geistigen Hervorbringungen des Mittelalters enttäuschen, ja meist gar

nicht der Rede wert sind? Exzepti-onelle Gestalten wie Thomas von Aquin machen den Kohl nicht fett, sondern bestätigen die traurige Re-gel. Vor den titanischen Leistungen antiker und moderner Denker – und das heisst immer auch: gemessen an ihnen – müssen mittelalterliche Entwürfe zwangsläufig und zurecht verlieren.

Mit kühl verachtendem Blick von der Gegenwart auf das Mittelalter zurück- oder mehr noch herabzu-schauen, ist natürlich nur eine Mög-lichkeit. Demgegenüber ist das Mit-telalter nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine erwägenswerte Alternative. Denn betrachtet man das Mittelalter mit den tränenfeuch-ten Augen der Kulturkritik, wird es erneut, nun aber unter anderem Vor-zeichen, zur Gegenwelt. Für den ge-

hetzten Menschen in einer globali-sierten Welt mag es eine Verheissung sein, dass die bekannte Welt einmal hinter dem nächsten Wald geendet hat. Und mehr noch: Zeit war da-mals nicht nur nicht Geld, sondern im Überfluss vorhanden. Wie toll der Sternenhimmel geleuchtet ha-ben muss im Mittelalter – und zwar über allen! Ach und weh, das wird man derzeit wohl nur noch in Mon-tana erfahren können. Der Weg in die Moderne ist, wie man seit Max Weber weiss, der einer allmähli-chen Entzauberung der Welt im Zuge fortschreitender Intellektuali-sierung und Rationalisierung. Sol-len wir das ernsthaft richtig finden? Wohl kaum – und umso mehr drängt sich der Gedanke auf, dass man es im Mittelalter eben auch hätte nett und vielleicht ja sogar besser haben

Spuren einer verzauberten Welt

— 49 —

DB35_Final.indb 49 09.10.14 19:36

können; in zahlreichen Städten wird an Wochenenden in Form von voll-kommen realitätsnahen Mittelalter-märkten der empirische Beweis da-für erbracht.

Dunkel war es, geheimnisvoll, ma-gisch, eine Welt voller Götter und Dämonen, in der Vergangenheit, Ge-genwart und Zukunft in einem nicht-linearen Verhältnis standen, in der ein ausgeprägtes Analogiedenken vorlag und in der die performative Kraft der Sprache, eingebunden in einen grossen kosmischen Zusam-menhang, geglaubte und vielleicht ja auch erfahrene Wirklichkeit war. Man denke nur an die magischen Praktiken, die mit Sprechakten ein-hergehen (was dem Literaturwis-senschaftler freilich doppelte Freu-de macht). Exzeptionelles Zeugnis hierfür sind, Abrakadabra, die so-genannten Merseburger Zaubersprü-che. Der kürzere der beiden Zau-bersprüche sei hier originellerweise vollständig zitiert, da man sich (und dieses ‹man› schliesst auch posther-meneutische Präsenzliebhaber ein, siehe unten) sonst gerne auf den län-geren, besser verständlichen Spruch stützt:

«Eiris sazun Idisi,sazun hera duoder.suma hapt heptidun,suma heri lezidun.suma clubodunumbi cuoniouuidi:insprinc haptbandun, inuar uigandun. H.»

Auf eine mythologische Szene der Vergangenheit, in der die Idisen – wer auch immer das sein mag – mit einem Kriegsgeschehen in Verbin-dung gebracht werden und dabei – wie und wen auch immer – hemmten, zurückhielten oder fesselten, folgt eine Beschwörung, die imperativisch auf die Gegenwart bezogen ist. Die-se Abfolge von narrativer Miniatur

(‹historiola›) und Beschwörung (‹in-cantatio›) lässt sich auch in anderen Zaubersprüchen erkennen; im vorlie-genden Fall diente der Spruch wahr-

scheinlich dazu, Geiseln zu befreien. Das ist natürlich ungemein praktisch und ich bin mir sicher, dass sich das EDA, hätte es diesen Zauberspruch gekannt, einigen Ärger hätte vom Hals halten können. (Nota: Man braucht mehr Altgermanisten, auch im Aussendepartement.)

Ob es wohl dieser praktische Nut-zen war, der im 10. Jahrhundert einen Fuldaer Mönch die beiden Zaubersprüche in einer Sakramen-tarhandschrift nachtragen liess? Es ist natürlich nicht einfach einzu-sehen, welches konkrete Interesse ein Mönch an einem Lösezauber für Kriegsgefangene haben sollte. Auch was den zweiten Zauberspruch be-trifft, der im Fall eines Reitunfalls die Heilung des Pferdes verspricht, fielen einem leicht ein paar andere Probleme ein, die einen Mönch im 10. Jahrhundert umgetrieben haben dürften. Vielleicht war der Mönch aber auch mit seiner Tätigkeit als Schreiber unzufrieden und wollte einfach nur den Abt ärgern, indem er solch heidnischen Unsinn nieder-schrieb. Monatelang bei ungünstigen Lichtverhältnissen in unbequemer Haltung enorm langweilige Texte aufzuschreiben, kann den Un- und Übermut eines Mönches wecken; er war doch auch nur ein Mensch! Der Zauber der Zaubersprüche wäre so allerdings ein wenig entzaubert und deshalb ist es vielleicht doch besser, dass wir nichts über die Motivatio-nen des Mönches wissen.

Denn es gehört zu den Widersprü-chen unserer modernen Existenz, dass wir uns von vormodernen Zau-bersprüchen gerne verzaubern las-

sen; so wird es niemanden überra-schen, dass es kein Geringerer als Hans Ulrich Gumbrecht war, der ihnen in David Wellberys Neuer Geschichte der deutschen Literatur sieben Seiten widmete. Yeah. Und auch sonst lassen sich in der Ge-genwart allerhand magische Prakti-

ken finden. Wer hat sich nicht schon einmal in auswegloser Lage En-gelkarten ziehen lassen, ein defek-tes elektronisches Gerät liebe- und hoffnungsvoll gestreichelt oder sei-ner Kräuterhexe für die Pferdesalbe gedankt, die alle Knieschmerzen lin-derte? Zu weit darf das freilich heut-zutage nicht mehr gehen. Die Natur des Menschen ist eben immer sei-ne Kultur und im Zweifelsfall einer «benrenki» (Knochenverrenkung) suchen wir dann doch lieber den Or-thopäden auf. Den Zauber holen wir uns auf anderem Wege. Und ist es nicht wirklich Zauber genug, wenn

«Das Mittelalter ist nicht nur für Verächter der Dentalhygiene eine

erwägenswerte Alternative.»

«Es gehört zu den Widersprüchen

unserer modernen

Existenz, dass wir uns von

vormodernen Zaubersprüchen gerne verzaubern

lassen.»

— 50 —

DB35_Final.indb 50 09.10.14 19:36

wir mit eingegipstem Bein nicht al-leine aus dem Spital humpeln müs-sen oder, um es vielleicht noch ein bisschen zauberhafter enden zu las-sen und zumindest ein wenig die Nähe von Zauber und Kitsch in un-seren Zeiten anzudeuten, wenn wir mit der Aussicht auf ein bequemes Bett spätnachts zu zweit trotz aller menschengemachter Beleuchtung in den Sternenhimmel blicken und trotz aller Vermessung der Welt und des Weltalls ganz tief spüren, dass die Sterne, so nah und doch so fern, nur für uns leuchten?

PP

P

P PO E TR

Y

O OOO

R

R

— 51 —

Maximilian Benz ist Oberassistent am Lehrstuhl von Christian Kiening. Er arbei-tet zurzeit an seiner Habilitationsschrift mit dem Arbeitstitel Arbeit an der lateini-schen Tradition. Innovationen volkssprach-lichen Erzählens im 13. Jahrhundert. In diesem Semester hält er das Seminar Glosse, Bibeldichtung, Zauberspruch. Die Medialität althochdeutscher Literatur.

DB35_Final.indb 51 09.10.14 19:36

— 52 —

Daniela Stauffacher«Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir hinein.

Nein, natürlich nicht. Seit Max Weber will dieser beliebte Klassiker einfach nicht mehr so richtig hinhau-en. Wir haben einen Schlüssel. Die-ser schnurrt immerhin behaglich im Schloss, und mit einem kurzen, ent-schiedenen Klicken wird uns Einlass gewährt. Es summt ein Staubsauger gleichmässig vor sich hin, es blicken gleichgültig die denkmalgeschützten roten Wände auf uns herab. Da ste-hen wir nun, meine treue Begleiterin mit ihren andächtigen Augen und ich mit meinem silbernen Schlüssel, und sind peinlich berührt. Wir schauen einer Dame zu, wie sie sich zurecht-macht – und das macht man nun mal nicht. Durch das Schlüsselloch zu spähen, während ein reizendes Ge-schöpf in den samtenen Tiefen sei-

nes Boudoirs verweilt, mag noch dem süssen Gelüst nach Entzauberung huldigen; der kalten Neugier statt-zugeben und zu beobachten, wie eine Frau ihren Lippenstift trotz des ru-ckelnden Trams makellos aufzutra-gen vermag, ist bereits gottlos. Nein, wir wollen es nicht wissen, wir lassen ihr Geheimnis Geheimnis sein und wenden uns vom Reinigungspersonal ab, das mit beflissener Hingabe die Spuren des letzten Abends aus dem Antlitz des Theaterfoyers saugt.

Da stehen wir nun, weder bestellt noch abgeholt, und es beschleicht mich der leise Verdacht, dass das Ganze keine allzu gute Idee gewe-sen ist. Wir hatten uns aufgemacht, um jenes Haus zu ergründen, das zeitweise unsere zweite Universität ist, deren Pforten sich öffnen, wenn

sich jene etwas weiter oben an der Rämistrasse schliessen. Unser Ar-tikel sollte ein geschickt inszenier-tes Selfie werden, das Theater im Vordergrund und wir – gewisser-massen als diskretes Inventar – im Hintergrund, auch im Bild, ja, aber so, dass es eigentlich gar niemand merkt. Nun tummeln wir uns am heiterhellen Nachmittag halb läs-sig, halb beschämt im Foyer herum und fühlen uns fürchterlich fehl am Platz; gar nicht mehr inventarisch, sondern eher wie einer, der einem Japaner just in dem Moment vors Ob-jektiv läuft, als er seine Angetrau-te vor dem Grossmünster auf seinen Mikrochip ziehen will. Und während die Sekunden gemächlich vor sich hin plätschern, stellt sich allmählich die Gewissheit ein, dass wir es hier nicht mit einem Gemeinplatz zu tun

Das ZauberhausDie vierte Wand gab’s schon lange vor Avatar. Und wer meint, gezaubert werde nur im Zirkus, war noch nie im Theater. Ein Streifzug durch den grössten Zauberkasten der Stadt.

DB35_Final.indb 52 09.10.14 19:36

— 53 —

haben; dies ist nicht die Wartehal-le eines Bahnhofs, nicht die Garde-robe eines überfüllten Restaurants. Wir stehen im Vorraum eines enor-men Zauberkastens. Gleich hier hin-ter den grossen Flügeltüren wird seit dem Ende des letzten Jahrhunderts unaufhörlich Welt konstruiert und komprimiert, umgeformt und einge-

rahmt, nachgeahmt und abgeschafft, totgesagt und ausgelacht. Hier leben Menschen, die wurden nie geboren, hier stirbt der Gleiche an fünf Tagen in Folge. Hier darf man klatschen, wenn einer weint. Hier flüstern Stim-men ohne Gesicht. Hier steht alles auf dem Spiel, und es geht um nichts.

Gerade als meine Begleiterin an-fängt, an ihrer Jacke zu nesteln, und die Ahnung sich breitmacht, dass es nun besser sei, wieder zu gehen, kommt ein blonder Jemand aus dem Kassenraum geschossen. Er habe uns bereits erwartet, ruft er uns schon von Weitem zu, und ein paar rosa Hemdsärmel fuchteln durch die

Luft. «Tatsächlich?» Aber natürlich, meint er auf Wienerisch, schöne Frauen erwarte er immer. «Na, bra-vo!» Was er denn für uns tun könne, fragt er. Wir erklären. Er legt seine blonde Stirn in Falten und nickt et-was ungläubig. Als das Wort Selfie fällt, blitzt eine Reihe weisser Zäh-ne und er fängt wieder aufgeregt an

zu fuchteln. Er wolle auch aufs Bild, lacht er, komplimentiert die schönen Augen der Begleiterin und mich in sein Kassenbüro. Alexander – der Gute heisst so – weiss viel über alles Mögliche. Das Publikum kennt er, im Gegensatz zu vielen anderen, höchst-persönlich. An ihm komme schliess-lich keiner vorbei. Kunst sei für ihn Kapital, meint er ernst und setzt mit einem Lachen nach: «Und Krise ist immer!» Am meisten bedauert er, dass damals in den Sechzigerjahren der geplante Abbruch und Umbau des Pfauens nicht realisiert wurde. Jörn Utzon, der Architekt des Syd-ney Opera House, hatte den Wett-bewerb für den Neubau des Hauses gewonnen. Doch die dazu benötig-ten 80 Millionen Franken sprengten das Budget und die Stimmbürger der Stadt Zürich entschieden sich 1975 für einen kostengünstigeren Umbau für 19,7 Millionen durch Schwarz +

«Den Weltuntergang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben.»

DB35_Final.indb 53 09.10.14 19:36

— 54 —

Gutmann. Alexander findet «die Lait total deppe rt», die das entschieden haben. Jetzt hocke man auf einem historistischen Bau fest, und das gebe es doch in der Stadt schon zur Genüge. Aber er wolle ja nicht her-umjammern wie die Katze auf dem heissen Blechdach, im Gesamtbild mache sich das schlecht. Auf un-sere Frage, welchen Platz er einem Studenten denn empfehlen könne, nickt er vielversprechend und führt uns aus der Kasse heraus. Im Stech-schritt durchschreitet er das Foyer, Treppe rauf, dann rechts, dann links, nochmals links, und zieht eine kleine Holztür auf. Loge, gut und günstig. Da sehe man was fürs Geld und sitze nicht zuhinterst. «Den Weltunter-gang will man schliesslich auch nicht in der zweiten Reihe miterleben», meint er lässig und zwinkert. Nur auf die Technik müsse man aufpassen und er deu-tet zur Seite. «Da nützen sonst die schönsten Sterbeszenen nichts, wenn sie hinterm Scheinwerfer g’schehn.»

Ohne dass wir es gemerkt haben, hat uns Alexander an den Ort ge-bracht, der gerade eben noch so un-endlich weit entfernt hinter den still-schweigenden Flügeltüren gewesen war. Und jetzt sind wir hier. In der Höhle des Löwen, im Herzen des Zauberhauses. Der rote Samt pul-siert träge vor sich hin, die Bretter bedeuten bedächtig ihre Welt. Hier drin wurde noch gespielt, als 1944 in Deutschland die letzten Theater geschlossen wurden. Hier drin wur-den Der gute Mensch von Sezuan und Galileo Galilei uraufgeführt. Hier drin wurden Dürrenmatt und Frisch institutionalisiert. Hier drin hat die Jelinek... «Ja servus, ihr zwei!», brüllt Alexander plötzlich und winkt von der Loge herab auf die Bühne. Zwei sitzen dort unten,

kläglich gescheitert beim Versuch, als Teil des Inventars durchzuge-hen. Alexander beugt sich zu uns herüber und flüstert: «Die warten auf... Ach, was weiss ich denn, auf wen die warten. Die hocken immer da rum. Kommt, ich stell aich vor!» Auf Irrwegen gelangen wir in kür-zester Zeit von der Loge hinab auf die Bühne, wo die zwei sitzen. Sie hat einen Namen, der klingt wie Ros-marin, und ist Schauspielerin, er ist russischer Regisseur und hat noch keinen Namen. Und Alexander ist verschwunden.

Rosmarin ref lektiert gerne im

Spiegel, der Regisseur gerne im Geiste. Ansonsten sind die beiden eher schweigsam. Dies dafür beson-ders laut und aufdringlich. Meine Begleiterin wirft mir einen bangen Blick zu, der sagt: «Ich möchte jetzt gehen!» Dann, plötzlich und mit ei-nem Augenaufschlag, der ein zent-nerschweres Lid die Schwerkraft überwinden liesse, sagt Rosmarin: «Meine Mutter starb an einer Be-merkung.» Schweigen. Dann er, die Beine werden übers Kreuz geschla-gen, Blick in die Ferne gerichtet, die Stimme kühl und etwas zu hoch:

«So weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich n i c h t haben möch-te, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu ei-nem Augenblicke starken und hohen Gefühls e m p o r t r e i b e n möch-te, – jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, son-dern müden Maulthieren, an denen

das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat.»

«Das ist von Brecht», sagt sie und schlägt bedeutsam die Lider nieder.

«Das ist doch Chabis!», sagt eine Stimme auf Berndeutsch hinter uns. Wir drehen uns um. Vor uns im Zu-schauerraum steht ein Mann, et-was dick, etwas klein, etwas wie ein Hausmeister oder ein Muggel. Er bedeutet uns mitzukommen, und wir leisten nur zu gerne Folge. Er murmelt etwas vor sich hin, immer wieder den gleichen Satz: « Machen Sie kein sentimentales Theater, Stu-

der. Machen Sie kein senti-mentales Theater. Äuä!» Wir versuchen Schritt zu halten, während er in Richtung Flü-geltüren stapft, hinter denen das Foyer vorzimmert. Hinter

uns schallt es von der Bühne «Nach Moskau!» und wir sehen gerade noch Rosmarins rechten Arm am linken Bühnenrand verschwinden. Studer bleibt stehen.

«Der da», Studer nickt in Richtung der leeren Bühne, «wollte die vier-te Wand unbedingt aufrechterhal-ten ! das hat mir natürlich gepasst. Kommt nämlich selten vor, dass das einer hier will. Als ehemaliger Mau-rer spüre ich den Mangel solch feh-lender Wände natürlich sehr. Also hab ich sie gebaut. Alle viere. Eine schicke Sache war das. Alles mit Holz verkleidet. Nussbaum, und so weiter. Und dann kommt der, und sagt, man höre die Schauspieler hin-ter der Wand nicht mehr. Die müs-se weg. Und das merkt der Affe drei Stunden vor der Premiere.»

Was mit der Wand denn gemacht wurde, frage ich.

«Verheizt haben sie sie. Für den Robert Walser von letzter Saison. Einfach so hingestellt und keiner wusste, was es mit dieser elenden

«Da fragt man sich schon, was das ganze Theater denn eigentlich soll.»

DB35_Final.indb 54 09.10.14 19:36

Kultur plus. Erkundungen im urban jungleIm vielfältigen kulturellen Angebot der Stadt Zürich die Perlen ! nden und mit andern das Besondere erleben und bereden. Wie’s geht: www.hochschulforum.ch

Treffpunkt BeizEin feines Essen in gemütlicher Atmosphäre und mit anregenden Gesprä-chen unter Studierenden verschiedener Fakultäten. Jeden Freitag im Semester 2014, 12.15, Studierendenfoyer, Hirschengraben 7, 8001 Zürich (5 Min. von Uni/ETH)

Beratung – Begleitung -SeelsorgePrüfungsangst, Unsicherheit über die eigene Zukunft, Leistungsdruck, Glaubenszweifel oder Studienschwierigkeiten. Sich zusammen mit einer aussenstehenden Person zu orientieren, ist hilfreich. Präsenzzeiten im Turmzimmer KOL-Q-2, UZH Zentrum, jeden Dienstag im HS 2014, 12.30-14.00 Uhr: Eine Person (ökumenisch) ist präsent und hat Zeit für ein Gespräch unter vier Augen

Weitere Infos/Angebote: www.hochschulforum.ch

HERBSTSEMESTER 2014

— 55 —

Wand auf sich hatte. In der Pres-se hat man sich mokiert. Da fragt man sich schon, was das ganze The-ater denn eigentlich soll.» Studer scheucht uns durch die Flügeltü-ren, und mit einem Knall kracht sie zu. Studer ist auf der anderen Seite geblieben, sein Schimpfen wird all-mählich leiser.

Alleine stehen wir im Schauspiel-haus. Keiner da. Gar keiner. Nicht einmal wir. Die ganze Geschichte ein fauler Zauber. Ist nämlich Som-merpause. Auch Zauberer fahren in den Urlaub. Einen Schlüssel hat

man uns nie gegeben. Seit Goethe vertraut man den Lehrlingen nicht mehr. Unsere Reportage spielt dort, wo es weder Publikum noch Thea-ter gibt: Draussen vor der Tür. Oder eher: Drinnen im Kopf. Wir pressen die Nase an die kühlen Scheiben. Einzig das beschlagene Glas ist un-ser Zeuge, als ich flüstere:

«Hat der alte HexenmeisterSich doch einmal wegbegeben!Und nun sollen seine GeisterAuch nach meinem Willen leben.»

Meine Begleiterin schaut andächtig und sagt bestimmt: «Abrakadabra!» Die Tür gleitet auf und wir treten hi-naus auf die Strasse.

Daniela Stauffacher ist Botschaf-terin des Zürcher Schauspielhau-ses und Kontaktperson für Theater Campus.

DB35_Final.indb 55 09.10.14 19:36

— 56 —

Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber Namen von Medikamenten haben auf mich eine sehr irritierende Wirkung, die zwischen Befriedigung und Wi-derwillen mäandriert. Der Witz an Medikamentennamen ist der, dass sie fast immer wie etwas tönen, aber nie ganz. Namen wie ‹Dafalgan› zum Beispiel. ‹Dafalgan› tönt wie ‹Amal-gam›, hat damit aber nichts zu tun. Dafalgan hat den Inhaltsstoff Para-cetamol. Aus der gleichen Familie gibt es noch das Präparat Perfalg-an und Titralgan. Nun könnte man meinen, dass -algan etwas bedeu-tet, was mit dem Wirkstoff Parace-tamol in Verbindung steht. Stimmt aber nicht. ‹Algan› hat etymologisch überhaupt nichts zu tun mit dem ge-meinten Wirkstoff und ist auch kei-ne Ableitung aus einer chemischen Formel oder so ähnlich. Des Weite-ren hat der Präfix Daf- überhaupt keinen eruierbaren Sinn. Man darf also ruhig davon ausgehen, dass der

Name ‹Dafalgan› komplett frei er-funden ist, vermutlich ohne irgendei-ne Überlegung, einfach so ins Blaue hinaus. Das Beunruhigende an die-ser Vorstellung ist nun: warum gera-de ‹Dafalgan›? Diese Frage bleibt im Raum stehen und hat auf mich die beschriebene Wirkung einer nicht recht einlösbaren Befriedigung. Man kann nun spekulieren, besonders wichtig bei so einem Namen sei, dass er nach möglichst nichts klingen soll, was es schon gibt. Das Problem ist aber, dass ‹Dafalgan› sehr wohl nach etwas klingt: nämlich nach ‹Amalgam›, mit dem es aber rein gar nichts zu tun hat, ausser dass die-ses auch in der Chemie beheimatet ist. ‹Amalgam› hat übrigens eine Be-deutung: Es ist eine Entlehnung des griechischen Wortes ɊȽɉȽɈɟɑ, und das heisst ‹weich›. Vielleicht kann ich mit diesem schwachen Trost doch noch ruhig schlafen. Sonst brauch ich am Ende noch ein Dafalgan.

MedikamentennamenEtwa Mitte Dezember des Jahres 2011 schrieb filibusta an cybertacky86 mitten in der Nacht eine Nachricht:

DB35_Final.indb 56 09.10.14 19:36

— 57 —

Ein äusserst fein gezogener Gedan-ke hast du mir da beschert. Ich will nur noch angefügt haben, dass Me-dikamentennamen meiner Meinung nach in der Regel nicht etwas an-deres anklingen lassen, sondern viel eher einen Verweis auf die ei-gene Zugehörigkeit sind: Sie zeigen, dass sie ein Medikament betiteln (es ist die reine Tautologie: Medikamen-tennamen klingen nach Medikamen-tennamen). Dieser Effekt ergibt sich in der Regel genau aus dem von dir beschriebenen Wechselspiel eines Klangs, von dem man nicht so recht weiss, wonach er klingen soll, und der bei zweitem, fundierten Hin-schauen auch gar nie wirklich Sinn ergibt. Es liegt somit eine Verweh-rung von Sinn im doppelten Sinne vor: Der Unwissende lernt nichts und der Gelehrte versteht nichts.

Ich will mir allerdings im Tiefen ziemlich sicher darüber sein, dass gerade scheinbare Wortstämme wie

-algan nicht aus dem Blauen ge-schöpft wurden, sondern eine ver-borgene, nicht zu verstehende Be-ziehung zu dem Wirkstoff besitzen, die ebenso ungeklärt bleiben muss wie das Wirken des Wirkstoffes sel-ber. Medikamentennamen sind mo-derne Zaubersprüche, die man in der Apotheke sagen muss, um Heilung zu erlangen. Man darf sie allerdings keinesfalls verstehen, da sie sonst in den Kreis der Kognition eintre-ten und aus dem Kreis des Glau-bens austreten würden. Dies hätte zur Folge, dass sie mindestens die halbe Heilkraft einbüssten.

Mein inniger Rat deshalb an dich: Beschäftige dich nicht mit solchem Tand, sonst wird die Quittung zwei-erlei sein: Zum einen wirst du dich nicht mehr oder nur gemindert mit-hilfe von Medikamenten heilen kön-nen und zum anderen wird die anste-hende Arbeit nie fertig werden.

Darauf ergab sich am nächsten Morgen folgende Replik:

DB35_Final.indb 57 09.10.14 19:36

— 58 —

Illustrationsverzeichnis

Seiten 6 | 9 Oliver Leonardo Maag

Seiten 15 | 17 | 19 | 20 | 23 | 51Nora Salgo und Mo Müller

Seite 29 Linda Walter

Seite 32 Luc Marrel

Seite 35Lisa Gerig

Seite 38 Isabel Krek

Seite 53 Denkmalpflege Zürich

DB35_Final.indb 58 09.10.14 19:36

Was soll das Theater?

faceboo

k.com/t

heaterc

ampus

Impressum

Redaktion Philipp Auchter, Nadia Brügger,

Daniel Grohé, Maaike Kellenberger,Esther Laurencikova, Ana Lupu,

Aurel Sieber, Luca Thanei,Thomas Wismer

LeitungPhilipp Auchter

Korrektorat Nadia Brügger

Kommunikation Aurel Sieber

Finanzen Luca Thanei

LayoutAlex Spoerndli

UmschlagLaura Frey

DruckSautercopy Zürich

Auflage500. Erscheint zweimal jährlich

im Frühjahr und Herbst

ISSN2235-7807

AdresseDeutsches Seminar

Schönberggasse 9CH-8001 Zürich

[email protected]

Online-Archiv www.denkbilder.uzh.ch

Die Zeitschrift ist Mitglied beim Verband Schweizer Jugendpresse

DB35_Final.indb 103 09.10.14 19:36

DB35_Final.indb 100 09.10.14 19:36