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DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX HERBST 2007 AUSGABE 06 RAHMENBEDINGUNGEN 10 EURO HERBST 2007 AUSGABE 06 RAHMENBEDINGUNGEN 10 EURO DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTUR- MAGAZIN VON VELUX

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DAYLIGHT &ARCHITECTUREARCHITEKTUR-MAGAZIN VON VELUX

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DAYLIGHT & ARCHITECTUREARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUXHERBST 2007 AUSGABE 06

HerausgeberMichael K. Rasmussen

VELUX-RedaktionsteamChristine BjørnagerNicola EndeLone FeiferLotte KragelundTorben Thyregod

RedaktionsteamGesellschaft für Knowhow-TransferThomas GeuderAnnika DammannJakob Schoof

Übersetzungen und KorrektoratTony Wedgwood

BildredaktionTorben EskerodAdam Mørk

Art Direction und LayoutStockholm Design Lab ®Per Carlsson Kent Nybergwww.stockholmdesignlab.se

UmschlagbilderTorben Eskerod und Adam Mørk

Websitewww.velux.de/Architektur

Aufl age90,000Stück

ISSN 1901-0982

Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe.

Die Beiträge in Daylight&Architecture geben die Meinung der Autoren wieder. Sie entsprechen nicht notwendiger-weise den Ansichten von VELUX.

© 2007 VELUX Group. ® VELUX und das VELUX Logo sind eingetragene Warenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe.

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DISKURS VONKIM DIRCKINCK-HOLMFELD

Kim Dirckinck-Holmfeld ist Architekt und zählt zu den renommiertesten Architekturkritikern in Däne-mark. Er war viele Jahre lang Redakteur der dänischen Fachzeitschriften Arkitekten und Arkitektur DK und ist Autor zahlreicher Bücher.

FORM UND EINDRUCKBeim VELUX Tageslichtsymposium im Frühjahr 2007 in Bilbao hat vor allem die Erfahrung, wie Amerika seine Kinder behandelt, Nachdenklichkeit ausgelöst. In Kalifornien werden Schüler in verfallene, verschlissene und unschöne Räume ohne Tageslicht hineingezwängt. Man braucht kein Professor in Psychologie zu sein, um zu verstehen, dass derart deprimierende und erlebnisarme Umgebungen zu Problemen mit unzufriedenen und unangepassten Kindern führen. Die Atmo-sphäre zeugt von einem Mangel an Fürsorge, der ansteckend wirkt. Es überrascht nicht, dass sich (wie die Architektin und Forscherin Lisa Heschong herausge-funden hat) die Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit der Schüler um bis zu 25 % verbessert, wenn die Räume Tageslicht erhalten – wohlgemerkt durch Fen-ster, durch die die Kinder hinausblicken können. Lisa Heschongs Untersuchungen haben den evidenten Nachweis erbracht, dass Tageslicht und Ausblicke in phy-sischer und mentaler Hinsicht förderlich sind. Aber was ist mit den vielen ande-ren Faktoren, die zu einem umfassenden Raumerlebnis beitragen?

Wie wirkt unsere Umwelt auf uns ein? Die Stadt, das Gebäude, der Raum, die Landschaft – sogar letztere ist ja von Menschen gestaltet. Unsere gesamte Umgebung ist letztlich Menschenwerk. Doch ist sie auch menschenwürdig?

Raum und Form ergeben Eindrücke. Aber wie kommen diese zustande? Darüber wissen wir sehr wenig, und die Naturwissenschaften helfen uns kaum dabei, Genaueres darüber hinauszufi nden. Dazu gibt es zu viele zusammenwir-kende Faktoren. Andere Methoden müssen entwickelt werden, die sicherstellen, dass Architekten und Bauherren für die Menschen bauen, statt auf den nächsten Megatrend des fl iegenden internationalen Architekturzirkus aufzuspringen.

Es fehlt an Forschung, die in der Lage ist, die gebaute Umwelt qualitativ zu analysieren, und damit Planer ebenso wie Bauherren unterstützen kann. Anläufe hierzu werden verschiedentlich gemacht, doch eine wirkliche Erforschung der mentalen und emotionalen Auswirkungen der Architektur gibt es nicht. Immer-hin wissen wir einiges über menschliches Verhalten in verschiedenen Typen des urbanen Raums und unter verschiedenen klimatischen und kulturellen Gegeben-heiten. Mit diesem Thema haben sich unter anderem der Architekt Jan Gehl und ein Netzwerk von Stadtforschern befasst, und es zählt seit einem Menschenal-ter zu den Grundlagen, mit denen sich soziale Planungsfehler vermeiden lassen. Auch wenn viele andere Zwecke dieses Wissen häufi g verdrängen, wenn gebaut wird, gibt es also bereits gewisse Leitlinien für menschenwürdigen Städtebau, die auf einer behavioristischen Herangehensweise basieren. Aber was genau in den Menschen vorgeht, darüber wissen wir nur wenig.

In vielerlei Hinsicht hat sich die Architektur von ihrem Ausgangspunkt ent-fernt, nämlich einen stimulierenden Rahmen für menschliches Leben zu bilden. Im Takt mit der technologischen Entwicklung (und gefördert von hilfreichen Computern) bekommen wir es mit immer neuen, fantastischen und verführe-rischen Formgestaltungen zu tun, die die Projekte mit glitzerndem Bauherren-zucker überstreuen. Aber wie lebt und wohnt es sich in diesen Phantasmen, die doch eher das ausdrücken, was wir können, und weniger das, was wir wollen?

Die Aufgabe der Architekten besteht doch nach wie vor darin, einen men-schenwürdigen, gesunden, tragfähigen und lebensbestätigenden Rahmen für die Leben zu schaff en, die durch die Kanäle der Architektur hindurchfl ießen.

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2 D&A HERBST 2007 AUSGABE 06

Gesundheit und das Wohlbefi nden des Menschen unabdingbar: Es trägt nicht nur zur Behandlung von Krankheiten wie Tuberkulose und Rachitis bei, sondern beschleunigt auch die Wundheilung und kann sogar schmerzlindernd wirken. Erkrankungen aufgrund alltäglichen Lichtmangels treten weitaus häufi ger auf als Krankheiten wie zum Beispiel Haut-krebs infolge übermäßiger Sonnenbestrahlung.

Einen Überblick über die Geschichte von Son-nenlicht und Gesundheit liefert Richard Hobday in diesem Heft. Er berichtet in seinem Artikel unter an-derem über den altägyptischen Priester und Bau-meister Imhotep, die englische Krankenschwester Florence Nightingale, den dänischen Mediziner und Nobelpreisträger Niels Finsen sowie über Le Corbu-sier. Sie alle erkannten schon früh die gesundheits-fördernde Wirkung des Sonnenlichts und machten sie zum Schwerpunkt ihrer Arbeit.

Heutzutage ist das menschliche Wohlbefi n-den längst nicht mehr nur Thema in Sanatorien, Krankenhäusern und Thermalbädern. ‚Wellness‘ ist zu einem Massenphänomen und Schlagwort für Wohlbefi nden und Entspannung geworden. Zu den Werkzeugen der Wellness-Architektur gehö-ren Licht, Wärme und Wasser. Bestes Beispiel hier-für ist das von Behnisch Architekten entworfene neue Thermalbad im oberbayrischen Bad Aibling:

eine weitläufi ge Oase der Erholung mit spektaku-lärem Ausblick.

In der von den Architekten fasch&fuchs ge-planten Sonderschule in Schwechat bei Wien för-dern Tageslicht und freie Aussicht die Lernfähigkeit der Kinder. Ein ähnliches Konzept verfolgte Craig White beim Entwurf der neuen Grundschule im nordenglischen Kingsmead. Sie bietet den Schul-kindern wegen der optimalen Lichteinstrahlung und Frischluftzufuhr nicht nur ein ideales Lernum-feld, sondern auch die Möglichkeit, nachhaltige Bau-weise und Umweltdenken ‚aus erster Hand‘ kennen zu lernen. Für Craig Whites Büro White Design war dies ein wichtiger Entwurfsaspekt, denn schließ-lich sollte das Gebäude für Menschen und nicht für Maschinen gebaut werden.

Die Bedeutung des Tageslichts für Architek-tur und Lebensqualität ist für unser Unternehmen von zentralem Interesse. „Bringt Licht ins Leben“ – unter diesem Motto nutzen wir natürliche Ressour-cen im Einklang mit den menschlichen Bedürfnissen. Daher legen wir großen Wert auf die Erforschung des Tageslichts und seiner möglichen Auswirkung auf unsere Gesundheit, Lernfähigkeit und Produk-tivität. In diesem Sinne …

Viel Vergnügen beim Lesen!

VELUX EDITORIALTAGESLICHT – RAHMEN UNSERES LEBENS

JETZT

Jean Nouvels geplanter Louvre-Neubau in Abu Dhabi besticht durch seine fi ligrane Kuppelkon-struktion – und durch meisterhafte Renderings. Video-Stills schmücken die farbenfrohe Fassade des Niederländischen Instituts für Bild und Ton in Hilversum, Grußbotschaften an die Hinter-bliebenen die Folienkuppel im Madrider Atocha-Mahnmal. Außerdem: die Retrospektive eines Meisterfotografen in Düsseldorf.

MENSCH UND ARCHITEKTURLICHT UND LEBENVON DER SONNE

Viele Menschen tun alles, um die Sonne zu meiden. Zu tief sitzt die Angst vor Überhitzung und gesund-heitsschädlichen Wirkungen des UV-Lichts. Dabei gehört Sonnenlicht auch in Zeiten der Klimaerwär-mung zum Besten, was die Natur für den mensch-lichen Körper bereithält. Richard Hobday erläutert, warum – und welche Konsequenzen dies für die Architektur haben könnte.

Diskurs von Kim Dirckinck-HolmfeldVELUX EditorialInhaltJetztMensch und ArchitekturLicht und Leben von der Sonne TageslichtFreizeitpark fürs Wohlbefi ndenThermalbad in Bad AiblingLichter der WeltFoto von Julian CalverleyRefl ektionenLicht, Luft und Raum:Das Sanatorium ZonnestraalTageslichtZweite HeimatSonderschule in SchwechatVELUX EinblickeLernziel NachhaltigkeitGrundschule in Kingsmead VELUX im DialogMehr Licht!VELUX Daylight Symposium6.–7. Mai in BilbaoBücherRezensionenVorschau

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HERBST 2007 AUSGABE 06

INHALT

„Licht ist eine Droge. Es stimuliert die Produktion von Serotonin, Dopamin und Gamma-Aminobut-tersäuren im menschlichen Körper, was zu verbes-serter Impulskontrolle, gesteigerter Motivation und besserer Muskelkoordination führt und somit Ruhe und Konzentration fördert.“ Das sagt Lisa He-schong, die mit ihrem Projektteam in den USA die Auswirkungen des Tageslichts auf die menschliche Leistungsfähigkeit untersucht hat. Die Ergebnisse dieser Studie präsentierte sie in ihrem Vortrag beim 2. VELUX Daylight Symposium in Bilbao.

Studien belegen, dass das Tageslicht unsere Motivation und Konzentrationsfähigkeit nachhal-tig beeinfl usst. Natürlicher Lichteinfall und die Aus-sicht ins Freie regen die Lernfähigkeit von Schülern im Klassenzimmer an. Ferner ist Sonnenlicht für die

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TAGESLICHT SONDERSCHULE IN SCHWECHAT

Rund 80 teils mehrfach behinderte Kinder besu-chen die Sonderschule in Schwechat bei Wien. Das Gebäude der Architekten fasch&fuchs vermittelt zwischen der Schutzbedürftigkeit der Schüler und ihrem Bedarf nach Kontakten – mit anderen, aber auch mit der Natur rund um das Gebäude. Bis tief ins Untergeschoss mit der Turnhalle fällt durch die zahlreichen Glasfl ächen natürliches Tages-licht, und von allen Zimmern und Korridoren aus fällt der Blick ungehindert ins Freie.

VELUX EINBLICKE GRUNDSCHULE INKINGSMEAD

Ein Lehrstück in Sachen nachhaltiges Bauen und Lernen haben White Design mit der Grundschule im nordenglischen Kingsmead realisiert. Der Holz-bau mit seiner schwungvollen Dachkonstruktion basiert nicht nur auf aktuellen, Energie und Roh-stoff e sparenden Technologien, sondern macht diese für die Schüler auch erlebbar. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Tageslicht, das für ein ange-nehmes Lernklima sorgt und der Schule erhebliche Energieeinsparungen beschert.

VELUX IM DIALOG MEHR LICHT!

Architekten und Lichtplaner haben ihre Wert-schätzung für Tageslicht wiederentdeckt. Doch die Komplexität der Materie schreckt noch immer viele von ihnen ab, sich wirklich intensiv mit dem Thema zu befassen. Beim 2. VELUX Daylight Sym-posium in Bilbao wurden beispielhafte Projekte vorgestellt und neue Lösungsansätze diskutiert, die die Planung mit Tageslicht erleichtern sollen.

REFLEKTIONEN DAS SANATORIUM ZONNESTRAAL

Auf nachgerade perfekte Weise verkörpert das Sanatorium Zonnestraal in Hilversum die Ideale der Architekturmoderne von Licht, Hygiene und Gesundheit. Das Gebäude von Jan Duiker, Bernard Bijvoet und Gerko Wiebenga war Ausdruck einer medizinischen und architektonischen Haltung, die die Sonne als Lebensspender noch ernst nahm.

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Was Architektur bewegt: Veranstaltungen, Wettbewerbe und ausgewählte Neuentwicklungen aus der Welt des Tageslichts.

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Henri Matisse meets Nam June Paik – so oder ähnlich lauten die Assoziati-onen, die sich beim Anblick des Nie-derländischen Instituts für Bild und Ton einstellen. Und zumindest der Ge-danke an den koreanischen Video-künstler Paik triff t die Sache ziemlich genau: Der niederländische Künst-ler Jaap Drupsteen verwendete 748 Standbilder aus den Filmen, die in den vier Untergeschossen des Neubaus la-gern, für seinen Fassadenentwurf. Im Institut für Bild und Ton werden alle er-haltenen Ton- und Bilddokumente der niederländischen Radio- und Fernseh-geschichte archiviert. Darüber hinaus bietet das Gebäude von Neutelings Rie-dijk Architecten Raum für Büros, ein Museum und eine Mediathek. Verbun-den werden der über- und der unter-irdische Teil des Neubaus durch einen kreuzförmigen Luftraum: In Nord-/Südrichtung gleitet der Blick hinauf bis zum Glasdach über dem Atrium, in West-/Ostrichtung erstreckt sich ein schluchtartiger Lichthof bis hi-nunter ins vierte Untergeschoss. Die Eingangsfront des Gebäudes ist nach Süden ausgerichtet, so dass das durch sie einfallende Nachmittagslicht das Foyer in allen Regenbogenfarben er-strahlen lässt. Die Fassaden sind ein Gemeinschaftsprojekt von Neute-lings Riedijk, Jaap Drupsteen und dem Glashersteller Saint-Gobain, der für die Herstellung der mehr als 2100 Glas-scheiben eigens eine neue Produkti-onslinie in Betrieb nahm. Die Film-Stills wurden in einem Digitaldruckverfah-ren mit keramischen Farben auf die Scheiben gedruckt. In die unbedruckte Seite der Gläser wurde danach ein Re-lief des gleichen Bildmotivs eingeprägt, so dass alle 748 Bilder auf den Schei-ben beidseitig – einmal zwei- und ein-mal dreidimensional – zu sehen sind. Die Reliefs wurden zunächst als Nega-tivform aus MDF gefräst, keramisch beschichtet und dienten anschließend bei 820 Grad als Gussform für die zäh-fl üssige Glasmasse.

FLICKERFILM-FASSADE

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Schenkt man Scheich Khalifa Bin Zayed Al Nathyan, dem Herrscher von Abu Dhabi, Glauben, so wird sich das größte der sieben Vereinigten Arabischen Emirate in den nächsten zehn Jahren zu einer führenden Kul-turmetropole der Welt entwickeln. Anfang 2007 wurden in dem Wü-stenstaat die Pläne für vier kulturelle Renommierprojekte vorgestellt: eine Dépendance des Guggenheim-Muse-ums, das ‚Saadiyat Performing Arts Centre’, ein Meeresmuseum und ein Museum für klassische Kunst. Alle vier Einrichtungen sollen auf dem 27 Quadratkilometer großen Saadiyat Island, deutsch: der ‚Insel der Glückseligkeit’, entstehen. Die Liste der Architekten liest sich wie ein ‚Who is who’ der Weltarchitek-tur: Für das Guggenheim Abu Dhabi zeichnet Frank Gehry verantwort-

LOUVRE MIT SPITZENHÄUBCHEN

lich. Das Zentrum für Darstellende Künste plant Zaha Hadid, wäh-rend das Meeresmuseum die Hand-schrift von Tadao Ando trägt. Für das Museum für Klassische Kunst engagierte das Emirat den Pariser Architekten Jean Nouvel – und einen weiteren renommierten Partner aus Frankreich: Rund 700 Millionen Euro zahlte Abu Dhabi dafür, dass sich der Neubau nach seiner Fertigstellung ‚Louvre Abu Dhabi‘ nennen darf. Fer-ner verpfl ichtete sich Frankreich, die Dépendance im Wüstenstaat zehn Jahre lang mit Kunstwerken aus dem Pariser Louvre zu bestücken.

Mit seinem Entwurf thematisiert Jean Nouvel die Lage des Museums zwischen Wüste und Meer: Knapp jenseits der bisherigen Küstenlinie entsteht ein kleinteiliger Gebäude-komplex aus Museumspavillons, Frei-

terrassen und Wasserbecken. Er wird von einer fl achen Kuppel bekrönt, die Jean Nouvel zufolge ein Bindeglied zwischen den Weltkulturen darstellt. Die Kuppel „besteht aus einem Netz unterschiedlicher Muster, die in ein transluzentes Dach verwoben sind. Sie lassen ein diff uses, magisches Licht in das Museum, das in der be-sten Tradition arabischer Architek-tur steht“ (Ateliers Jean Nouvel). Auf die technische Umsetzung der rund 180 Meter messenden Kuppel darf man unterdessen schon heute ges-pannt sein. Sollte der Neubau an-nähernd die Qualität erreichen wie die Darstellungen aus dem Compu-ter, könnte Abu Dhabi ab etwa 2012 eine ähnliche Architektur-Ikone sein eigen nennen wie I.M.Peis Eingang-spyramide für das Pariser Stamm-haus des Louvre.

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6 D&A HERBST 2007 AUSGABE 06

Am 1. Oktober startet der 3. Inter-nationale VELUX Wettbewerb für Architekturstudenten ‚Light of To-morrow‘. Im Jahr 2004 ins Leben gerufen, fi ndet dieser Wettbewerb nunmehr alle zwei Jahre statt und richtet sich an Architekturstudenten und -dozenten in aller Welt. Mit dem Wettbewerb fordert VELUX Archi-tekturstudenten dazu auf, sich mit dem Thema ‚Sonnen- und Tages-licht’ im weitesten Sinne ausein-anderzusetzen und so ein tieferes Verständnis für diese Licht- und En-ergiequelle zu entwickeln. Die As-pekte, mit denen sich die Teilnehmer befassen, sind vielfältig: Ästhetik, Funktionalität, Nachhaltigkeit und Interaktion zwischen Gebäuden und Umwelt. Die Teilnahme beschränkt sich nicht auf die Verwendung von VELUX-Produkten.

Für den VELUX Studentenwett-bewerb nominieren Dozenten heraus-ragende Projekte ihrer Studenten, die in den Studienjahren 2006/07 und 2007/08 erarbeitet wurden. Alle eingereichten Entwürfe werden von einer internationalen Jury anhand von Kriterien wie konzeptionelle Idee, experimentelles Denken und kritische Betrachtungsweise beur-teilt. Das Preisgeld für die Gewinner

3. STUDENTENWETTBEWERB ‚LIGHT OF TOMORROW’

(Studenten wie Dozenten) beträgt insgesamt 30.000 Euro. Die Jury setzt sich aus anerkannten Fachleu-ten zusammen, hierzu gehören prak-tizierende Architekten und Vertreter der UIA und EAAE. Die letzte Frist für die Projektanmeldung ist der 8. Mai 2008. Alle eingereichten Projekte werden bei dem XXIII. UIA World Congress of Architecture in Turin im Sommer 2008 vorgestellt.

Jurymitglieder im Jahr 2004 waren Glenn Murcutt, Craig Dykers, John Pawson, Ole Bouman, Ahmet Gülgönen, James Horan und Michael Pack, im Jahr 2006 Kengo Kuma, Rói-sin Heneghan, Omar Rabie, Douglas Steidl, Per Olaf Fjeld und Massimo Buccilli. Die Jurymitglieder für 2008 werden derzeit ausgewählt. Die Sit-zung der Jury fi ndet im Juni 2008 statt; anschließend lädt VELUX die Gewinner zu einer Preisverleihung im November 2008 ein. Bei den bis-herigen Preisverleihungen in Paris und Bilbao bot sich den Wettbe-werbssiegern und ihren Dozenten die einmalige Gelegenheit zum Mei-nungs- und Erfahrungsaustausch mit den Jurymitgliedern sowie mit ande-ren namhaften Architekten. Für nä-here Informationen siehe www.velux.com/IVA.

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In Italiens Automobilstadt Turin kün-det kurz nach der Jahrtausendwende vieles vom Ende einer Ära und dem Beginn einer neuen. Eines der Epizen-tren des Stadtumbaus befi ndet sich im Nordwesten der Stadt. Wo einst die Schwerindustrie ihre Hochöfen und Walzwerke betrieb, soll in den kommenden Jahren Wohnraum für 15,000 Einwohner entstehen. Für den Turiner Kardinal Severino Po-letto war dies Anlass genug, dem neuen Quartier auch eine religiöse Mitte zu geben. Er beauftragte mit Mario Botta einen der profi liertesten Kirchenarchitekten unserer Zeit, für das Quartier einen neuen, 700 Men-schen fassenden Kirchenbau, einen Konferenzsaal und ein Gemeindezen-trum zu entwerfen.

Die Kirche ‚Santo Volto’ steht auf dem Gelände eines ehemali-gen, zum Fiat-Konzern gehörenden Stahlwerks. Dessen 60 Meter hoher Kamin bildet nun als Kirchturm ein weithin sichtbares Merkzeichen für die neue Kirche. Außen windet sich daran eine Helix aus Edelstahl mit ho-rizontal abstehenden ‚Dornen‘ empor, die an die Krone Christi erinnern sol-len. Ein Metallkreuz bildet den obe-ren Abschluss.

Symbolträchtig ist auch der Kir-chenbau selbst, bei dem die heilige Zahl Sieben die Hauptrolle spielt. Die Kirche ist aus sieben wie Tortenstük-ken angeordneten, 35 Meter hohen Baukörpern zusammengefügt, die in einem zentralen Hohlzylinder – gleichsam dem Schlussstein des Kir-chengewölbes – zusammen münden. Die sieben ‚Türme’ sind nach unten zum Kirchenraum hin off en und nach oben zum Himmel verglast; durch ihre um 45 Grad nach innen geneig-ten Oberlichter strömt reichlich Ta-geslicht ins Innere der Kirche. Außen ist ihnen ein Kranz von Seitenkapel-len vorgelagert, die ihrerseits durch niedrigere, wie Lichtschächte anmu-tende Dachöff nungen mit Tageslicht versorgt sind. Die geneigten Dach-fl ächen zwischen den Türmen sind innen mit Ahornholz verkleidet; Sei-tenwände und Boden der Kirche sind dagegen mit rotem Veroneser Mar-mor belegt. Vom Eingang aus sofort in den Blick fällt das Altarbild der Kir-che: ein zum Pixelbild verfremdetes Abbild des Turiner Grabtuchs. Um den gewünschten Eff ekt zu erreichen, verwendeten die Architekten Steine mit zwei unterschiedlichen Oberfl ä-chenformen, die sich im Streifl icht zum Antlitz Jesu ergänzen.

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Am 11. März 2004, genau zweiein-halb Jahre nach dem Attentat auf das World Trade Center in New York, detonierten zehn Bomben im mor-gendlichen Berufsverkehr am Atocha-Bahnhof in Madrid. 191 Menschen wurden getötet und 1800 verletzt; Tausende Madrilenen und Touristen hinterließen in den folgenden Tagen ihre Worte des Mitgefühls am Tatort und im Internet. Eine Auswahl davon schmückt nun die Innenkuppel des Mahnmals für die Bombenopfer, das am dritten Jahrestag des Attentats in Madrid eingeweiht wurde: „Hace falta mucha fantasia para soportar la realidad (Man braucht viel Phan-tasie, um die Realität auszuhalten)”, heißt es da beispielsweise. Phantasie hatten die fünf jungen Architekten vom Architekturbüro Estudio FAM 2003 zweifellos bewiesen. als sie den Wettbewerb um das Mahnmal ge-wannen. Ihre Renderings zeigten eine unregemäßig gekrümmte Glaskup-pel, in derem Inneren die Inschriften auf geheimnisvolle Weise zu schwe-ben schienen.

In der Umsetzung hat die Kuppel zwar ihre extravagante Form, aber keineswegs ihre schwerelose Wir-kung verloren – und dies, obwohl sie stolze 160 Tonnen wiegt. Ihre äußere

Hülle, ein 11 Meter hoher Glaszylinder, wurde aus 15000 schuppenförmigen, je 30x20x7 Zentimeter großen Zie-geln aus massivem, farblosem Glas aufgeschichtet. Die Glasbausteine sind selbst tragend und wurden mit Acrylkleber miteinander verbunden. Innen ist von dem Glaszylinder eine glockenförmige Innenkuppel aus ETFE-Folie abgehängt, auf der die Textbotschaften aus aller Welt aufge-druckt wurden. Ihre straff gespannte Form verdankt die Folienkuppel einer Reihe von Ventilatoren, die zwischen den beiden Kuppelschalen ständig für Unterdruck sorgen und dadurch die Folie nach oben ‚saugen’.

Zu besichtigen ist das Mahnmal von der U-Bahnstation Atocha aus: Von hier gelangt der Besucher in einen schmucklosen, blauen, fast 500 Qua-dratmeter großen Raum, das ‚vacio azul’ (die blaue Leere), wie es die Ar-chitekten nennen. Mit ihrem Bau-werk verbinden Estudio FAM einen gewissen Ewigkeitsanspruch: Auch kommende Generationen sollten die Botschaften der Trauernden noch lesen könnten. Ob die ungewohnte, bislang in diesem Maßstab noch nie erprobte Konstruktion dies wird ein-lösen können, muss sich indessen noch zeigen.

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Noch bis zum 6. Januar 2008 zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf eine Retro-spektive des japanischen Fotografen Hiroshi Sugimoto. Der 1948 geborene Künstler, der seit 1970 in den USA lebt, zählt zu den wichtigsten leben-den Fotokünstlern. In seinen großen, äußerst detaillierten Großformat-Fo-tografi en – meist in Schwarz-Weiß – befasst sich Sugimoto mit Themen wie Zeit und Erinnerung, Wirklichkeit und Repräsentation. Durch äußerst lange Belichtungszeiten, meister-hafte Lichtführung und gezielte Unschärfen gelingt es ihm, die Rea-lität auf eine Weise abzubilden, wie sie vom menschlichen Auge niemals wahrgenommen werden könnte. Be-kannt wurde Sugimoto ab Mitte der 70er-Jahre durch seine Serie ‚The-aters’ mit Langzeitaufnahmen von Kinosälen und Autokinos. Die Belich-tung des Films in der Kamera dau-erte ebenso lange wie der Film auf der Kinoleinwand; eine einzelne Fotogra-fi e zeigt somit die Summe aller Infor-mationen aus dem Film, die sich – wie könnte es anders sein – zu einem blen-dend weißen Quadrat ergänzen.

In der Serie ‚Architectures’ (ab 1997) verfremdet Sugimoto tau-sendfach fotografi erte Ikonen der

Architekturmoderne durch gezielte Unschärfe. Obwohl sämtliche Details aus den Aufnahmen getilgt sind, blei-ben die Gebäude erkennbar. In den Vordergrund treten stattdessen Re-fl exionen des Sonnenlichts, die Textur eines Wolkenhimmels oder drama-tische Licht- und Schattenkontraste auf den Gebäudeoberfl ächen.

In seinen jüngsten Serien bleibt Sugimoto der gegenständlichen Fotografi e verhaftet, seine Sujets werden jedoch noch reduzierter. In ‚Colors of Shadow’, einer Serie von Farbfotografi en eines unmöblierten Tokioter Apartments, geht Sugimoto dem Wechselspiel von Hell und Dun-kel, Fläche und Raum auf den Grund, die das Tageslicht auf den abstrakt weißen Wänden erzeugt. Die Serie ‚Conceptual Forms’ zeigt Gipsmodelle mathematischer Formen aus dem Fundus der Universität von Tokio, die von Sugimoto durch eine eff ektvolle Beleuchtung in den Rang abstrakter Skulpturen erhoben werden.

Die Düsseldorfer Ausstellung ist der Auftakt einer Tournee mit drei weiteren Stationen. Gezeigt werden neun Werkserien sowie, im Zentrum der Ausstellung, Sugimotos Alumini-umskulptur ‚Onduloid’.

HIROSHI SUGIMOTO:RETROSPEKTIVE IN DÜSSELDORF

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MENSCH UND ARCHITEKTUR

Der Mensch als Mittelpunkt der Architektur: Innenansichten einer wechselvollen Beziehung.

LICHT UND LEBEN VON DER SONNE

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Von Richard Hobday

Richtig dosiert, gehört direktes Sonnenlicht zum Besten, was die Natur für unsere Gesundheit bereit-hält. Zum Teil sind seine Auswirkungen seit Jahrtau-senden bekannt. Umso mehr muss es erstaunen, dass Mediziner und Architekten diesen Erkenntnissen lange Zeit mit Ignoranz oder Ablehnung begegneten – und dies zum Teil immer noch tun.

Die Medizin hatte einen unmittelbaren und sehr tiefgreifenden Einfl uss auf die Entwicklung der Architektur. Nirgendwo tritt dies deutlicher zutage als in den Grundprinzipien der Moderne. Die ersten Ideen, die in der Moderne ihren Ausdruck fanden, entstanden zu einer Zeit, in der die Berufe des Bauhandwerks die Vorhut im Kampf gegen die Tuberkulose bildeten. In ganz Europa starben Jahr für Jahr Hunderttausende Menschen an der ‚weißen Pest’, die, obgleich sie sich bereits auf dem Rück-zug befand, immer noch mehr Menschenleben forderte als die Pocken, Typhus, Scharlach und alle anderen Infektionskrank-heiten jener Zeit zusammen. Viele der Wegbereiter der moder-nen Architektur waren am Bau von Tuberkulose-Sanatorien beteiligt. Sie waren mit dem Stand der Medizin vertraut und arbeiteten teilweise mit Ärzten zusammen, die das Sonnenlicht als Mittel zur Heilung ihrer Patienten nutzten.

1903 wurde Dr. Niels Finsen der Nobelpreis für Medizin verliehen. Der dänische Arzt und Wissenschaftler hatte ent-deckt, dass ultraviolettes Licht Lupus Vulgaris heilen konnte, eine bis dahin als unheilbar geltende Form der Tuberkulose. Die Verleihung des Nobelpreises an Finsen folgte der Entdeckung zweier britischer Wissenschaftler im Jahr 1877, dass Sonnen-licht – selbst nachdem es Glas passiert hat – Bakterien töten kann. Ihre Arbeit veranlasste andere Wissenschaftler dazu, die Folgen der Einwirkung von Sonnenlicht auf Bakterien einge-hender zu untersuchen, und es dauerte nicht mehr lange, bis das Sonnenlicht als „das universelle Desinfektionsmittel der Natur“ und als wichtige Waff e im Kampf gegen Infektionskrankheiten gepriesen wurde. Von Sonnenlicht durchfl utete Räume gal-ten als hygienisch, dunkle Räume hingegen nicht. Architekten begannen, Krankenhäuser mit großen, nach Süden gerichte-ten Fenstern zu entwerfen, die direktes Sonnenlicht einfallen ließen und so die Ausbreitung von Infektionskrankheiten ver-hinderten. Sie bauten Terrassen und Balkons, auf denen sich Tuberkulose-Patienten unter ärztlicher Aufsicht von der Sonne bestrahlen ließen, eine Methode, die unter der Bezeichnung Heliotherapie bekannt wurde.

Während des 1. Weltkrieges nutzten Militärärzte auf bei-den Seiten der Front das Sonnenlicht, um die Verletzungen von Kriegsverwundeten zu desinfi zieren und zu heilen. 1921 wiesen medizinische Forscher nach, dass durch Sonnenlicht Rachitis geheilt werden kann, eine zu schweren Behinderungen füh-

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Gegenüber: Iris eines mensch-lichen Auges. Dass helles Licht die menschliche Psyche positiv beeinfl usst, ist seit langem bekannt. Die dafür verantwort-lichen Rezeptoren im Auge wurden jedoch erst 2002 entdeckt.

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Oben: Imhotep gilt als der erste namentlich bekannte Baumeister der Menschheit. Doch Imhotep war auch ein früher Universalge-lehrter: Er wirkte als Astronom, Mediziner und Priester des altägyptischen Sonnenkults und verkörpert so die Verbindung zwischen der Sonne, der Architektur und der Medizin.

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Links: Florence Nightingale (1820–1910) gilt als Pionierin der Krankenpfl ege; ihr Beispiel inspirierte unter anderem Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes. In ihren Büchern ‚Notes on Nursing’ und ‚Notes on Hospi-tals’ wies sie schon Mitte des 19. Jahrhunderts auf die antibakte-riellen und heilenden Wirkungen der Sonnenstrahlen hin.

Unten: Auch unsere Gene bestim-men, wie wir auf Sonnenlicht reagieren; dies variiert von Mensch zu Mensch. Wissen-schaftler nehmen sogar an, dass die Neigung zu Hautkrebs stärker von den Genen als von der Sonneneinstrahlung abhängt.

das Licht der Sonne dazu beitragen kann, Krankheiten zu ver-meiden. Vor fast 5000 Jahren begannen die Arbeiten an der ersten ägyptischen Pyramide, der Stufenpyramide bei Sakkara in der Nähe von Memphis. Der damit betraute Architekt war zugleich Arzt und Hohepriester eines ägyptischen Sonnenkults. Heute erinnert man sich beim Namen Imhotep vor allem an den Erbauer der größten Monumente dieser Welt, aber er per-sonifi ziert gleichzeitig das geschichtliche Bindeglied zwischen Sonne, Architektur und Medizin. Die alten Ägypter beteten die Sonne wegen ihrer heilenden Wirkung an und nutzten das Licht der Sonne als Heilmittel. Einige der bedeutendsten Ärzte in Griechenland, Rom und in der arabischen Welt haben Sonnen-licht zu Th erapiezwecken eingesetzt. Die Römer bauten Sola-

rende Knochenkrankheit, die in England und in anderen Län-dern beinahe 300 Jahre lang die Ausmaße einer Epidemie hatte. Die Entdeckung der desinfi zierenden und heilenden Wirkung des Sonnenlichts durch Finsen und andere hatte ab der Jahr-hundertwende einen großen und nachhaltigen Einfl uss auf die Architektur. In seiner viel beachteten ‚Charta von Athen’ pro-klamierte Le Corbusier: „Die Sonne hereinzubringen, das ist die neue und vordringlichste Pfl icht des Architekten.“

Im Grunde war dies nichts Neues. Schon im Altertum bau-ten Architekten und Baumeister für die Sonne. Sie verwand-ten einen Großteil ihres Schaff ens darauf, die Anbetung der Sonne zu fördern und den Weg der Sonne durch das Firma-ment hervorzuheben. Auch sie waren sich dessen bewusst, dass

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rien, in denen sie Sonnenbäder zu gesundheitlichen Zwecken nahmen, und ihre besten Villen, Bäder und Gesundheitstem-pel waren mit Bedacht nach der Sonne ausgerichtet. Die Bürger des Römischen Reiches erachteten das Licht der Sonne sogar für derart wichtig, dass sie das Recht auf Sonnenlicht in ihrer Gesetzgebung verankerten.

finsternis und neuentdeckung

In den Jahrhunderten, die auf den Niedergang Roms folgten, maßen die Ärzte dem Sonnenlicht, der Hygiene und der Keim-freiheit weit weniger Bedeutung bei. Bis Ende des 17. Jahr-hunderts fi nden sich in der westlichen medizinischen Literatur kaum Hinweise auf die Rolle der Sonne. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach der Wiederentdeckung des gesundheitlichen Nutzens des Sonnenlichts, wurden Gebäude erneut so ausgerichtet, dass das Licht besser einfallen konnte. In England führte die Regierung 1695 eine Fenstersteuer ein, und solange diese Steuer erhoben wurde, wurden Fenster zuge-mauert und die Häuser oftmals so entworfen, dass sie möglichst wenig Fensterfl äche aufwiesen, um diese Abgabe so gering wie möglich zu halten. Leider setzte sich diese Tradition zu kleiner Fenster bis weit über die Abschaff ung der Steuer im Jahr 1851 hinaus fort. Darüber hinaus führten die Luftverschmutzung und die düsteren, engen Gassen der Wohngebiete im Zeitalter der Industriellen Revolution dazu, dass das Sonnenlicht sowohl innerhalb der Gebäude als auch außerhalb knapper wurde.

Wenngleich die Gesetzgeber in jener Zeit vielleicht nichts von der Bedeutung des Sonnenlichts für das Wohlbefi nden der Bürger wussten, setzten sich einige wenige Vordenker dafür ein, dass zumindest Krankenhäuser möglichst viel Licht erhielten, darunter Florence Nightingale, eine Vorreiterin der moder-nen Krankenpfl ege. Sie maß dem Sonnenlicht eine grundle-gende Bedeutung für ein der Genesung förderliches Umfeld für Kranke bei. In ihren ‚Bemerkungen zur Krankenpfl ege’ aus dem Jahr 1859 schrieb sie:

„Direkte Sonneneinstrahlung, nicht nur das Tageslicht, ist notwendig für eine schnelle Genesung, vielleicht mit Ausnahme bestimmter Augenerkrankungen und einer geringen Zahl ande-rer Fälle. Es ließen sich nahezu endlos Fälle anführen, in denen bei Kranken, die in dunklen oder nach Norden ausgerichteten

Pfl egestationen oder in Stationen mit künstlichem Licht unter-gebracht waren, selbst bei ausreichender Wärme und Lüftung keine rasche Genesung herbeigeführt werden konnte [...] Alle in unserem Klima gebauten Krankenhäuser sollten so ausge-richtet sein, dass eine möglichst große Fläche direktes Sonnen-licht aufnehmen kann [...]. Das in Krankenstationen einfallende Licht kann jederzeit mittels Vorhängen und Markisen verrin-gert werden; gegen die Düsterheit einer zu dunklen Station lässt sich jedoch durch nichts Abhilfe schaff en.“

Als Florence Nightingale dies schrieb, waren sich Archi-tekten und Ärzte noch kaum der gesundheitlichen Vorteile des direkten Sonnenlichts bewusst. Vielmehr lautete die vor-herrschende Doktrin, die Patienten von direktem Sonnenlicht fernzuhalten. Florence Nightingale war dagegen der Ansicht, dass der Anblick des Himmels und insbesondere der Sonne für die Kranken von allergrößter Bedeutung war. Darüber hinaus beharrte sie darauf, wie wichtig frische Luft ist – und zwar möglichst viel davon. Die Luft innerhalb einer Krankenstation musste ebenso rein sein wie die Luft im Freien, ohne dass sich die Patienten dabei unterkühlten. Luft war nicht frisch, wenn sie nicht durch die Sonne erwärmt wurde, und sie war auch nicht vor Krankheitserregern sicher, wenn sie von irgendwo anders als durch ein geöff netes Fenster kam. Die Folgen unzureichender Lüftung waren in den 50er-Jahren des 19. Jahrhunderts noch nicht allgemein anerkannt. Es war nicht ungewöhnlich, dass das Pfl egepersonal die Fenster der Krankenstationen aus Furcht vor übermäßiger Abkühlung hermetisch verschlossen hielt.

Mit der Entdeckung, dass das Licht der Sonne Rachitis und Tuberkulose heilen und Bakterien abtöten kann, gab es ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts gute Gründe dafür, es stärker auf und in die Gebäude scheinen zu lassen. Die Architekturformen, die Le Corbusier ab den 20er-Jahren entwickelte, brachten dies zum Ausdruck; sie bezogen ihre Inspiration aus den von Son-nenlicht durchfl uteten Krankenstationen der Sanatorien und den Terrassen der Kliniken, in denen man die Heliotherapie anwandte. Seine ikonenhafte Villa Savoye, die 1929 nahe Paris gebaut wurde, war zum Sonnenbaden konzipiert. Die Wohn-bereiche in der ersten Etage öff nen sich zu einer auf zwei Ebe-nen angelegten Sonnenterrasse, die durch eine Anordnung aus geraden und gekrümmten Wänden vor Wind und Einblicken geschützt wird. Le Corbusier vertrat die Ansicht, dass diejeni-

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gen, die sich dem Licht der Sonne aussetzen, dadurch sowohl physisch als auch psychisch gestärkt werden. Er selbst nahm mit Begeisterung Sonnenbäder und machte sich große Sorgen um die Gefahren, die von der Tuberkulose ausgingen. Dies wird anhand eines Buches klar, das er in den 50er-Jahren zu einem seiner späteren Bauprojekte, der Unité d’Habitation, geschrie-ben hat: „Die Sonne gibt kosmische Energie weiter und wirkt sich auf Physis und Moral gleichermaßen aus; in der Vergan-genheit hat man dies allzu oft ignoriert. Die Folgen davon kann man auf den Friedhöfen und in den Sanatorien sehen.“

Die Unité d’Habitation reiht sich in die Projekte zum Bau von Massenunterkünften ein, die Le Corbusier seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigten. Er konzipierte das Gebäude mit dem Ziel, die nach dem Krieg in Frankreich herr-schende große Wohnungsnot lindern zu helfen. Dieser Mei-lenstein der modernen Architektur wurde unter besonderer Berücksichtigung des Sonnenlichts konzipiert und umfasst viele Merkmale einer Heliotherapie-Klinik. Balkons auf den Ost- und Westseiten dienen als Sonnenschutz oder ‚Brise-Sol-eil’ und spenden den Wohnungen während der Sommermo-nate Schatten. Außerdem verkörpern sie ein Konzept, das Le Corbusier die „Erweiterung jedes Wohnraums ins Freie hinaus“ nannte. In Ergänzung dazu besitzt die Unité d’Habitation ein Terrassendach mit Einrichtungen für die Bewohner, darun-ter ein Solarium.

der erneute ‚niedergang’ der sonne

Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts bestimmte zu einem Groß-teil der natürliche Lichteinfall die Konzeption eines Gebäudes und seine Außengestaltung. Doch mit dem Aufkommen der Leuchtstoffl ampen mit ihrem geringen Stromverbrauch in den 30er-Jahren sowie von Klimaanlagen, refl ektierendem Glas und billiger Energie begann sich die städtische Landschaft zu ver-ändern. Tageslicht war kein maßgebliches Entwurfselement mehr, da sich dank dieser technischen Fortschritte auch tiefe Gebäude problemlos ausleuchten ließen. Und auch die Medizin veränderte sich. Verbesserungen des Lebensstandards führten zu einem Rückgang der Tuberkulose und Rachitis, und dank des Durchbruchs der Antibiotika in den 40er-Jahren ließen sich Infektionskrankheiten bedeutend wirksamer behandeln. Dies

Links und unten: Der Mensch als Ausgangspunkt und Ziel archi-tektonischen Entwerfens: Le Corbusiers ‚Modulor’ versinn-bildlicht diese Haltung bis heute. In Corbusiers Architektur waren auch große Dachterrassen, auf denen die Bewohner in der Sonne baden konnten, noch selbstver-ständlich. Erst später begann die Wissenschaft Skepsis wegen der schädlichen Auswirkungen der UV-Strahlung zu entwickeln.

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S. 11: Aus Krankenhäusern war das Sonnenlicht seit Mitte des 20. Jahrhunderts oftmals komplett ‚ausgesperrt’. Erst in den letzten Jahren besinnen sich die Betreiber wieder auf seine positiven Auswirkungen: Studien haben ergeben, dass Sonnenlicht den Heilungsprozess teils deutlich beschleunigt.

fand auch im Entwurf von Krankenhäusern seinen Ausdruck, wo man sonnendurchfl utete, gut belüftete Krankenstationen durch komplexere Strukturen ersetzen konnte, die gegenüber der Außenwelt abgeschirmt waren. Nach und nach verlagerte sich der Schwerpunkt von Krankenstationen, die einer Heilung und der Vermeidung von Infektionen zuträglich waren, hin zu Stationen, die Patienten und Krankenhauspersonal ein komfor-tableres und praktischeres Umfeld bieten konnten. Vor sechzig Jahren war es eine anerkannte Tatsache, dass sich in von Son-nenlicht durchströmten Krankenstationen weniger Bakterien aufhielten, heute nicht mehr. Inzwischen haben sich jedoch Bakterienstämme herausgebildet, die resistent gegenüber Anti-biotika sind. Eines dieser sogenannten ‚Superbakterien’, die sich

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Lichtempfi ndlichkeit und die Veranlagung gewissen Haut-krankheiten gegenüber, die daraus resultieren, ist erblich. Nichtsdestotrotz sind alle Menschen auf die Vitamin-D-Synthese durch die Haut angewiesen, für die Sonnenein-strahlung unerlässlich ist.

helles licht und helle stimmung

In Griechenland und Rom nannten Ärzte das mit Dunkel-heit und Trostlosigkeit einhergehende Gefühl ‚Melancholia’; und die Vorstellung, dass Lethargie, Traurigkeit und Hoff -nungslosigkeit durch zu wenig Licht ausgelöst werden können, ist mit Sicherheit schon sehr alt. Doch erst in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts traten erste wissenschaftliche Belege für einen Zusammenhang zwischen krankhafter Depression und Lichtmangel zutage. Sie machten deutlich, dass die Bewohner von Gebäuden meist nicht ausreichend helles Licht erhalten, als dass ihre Gesundheit und emotionale Stabilität davon pro-fi tieren könnten. Die hierfür erforderlichen Lichtmengen sind nämlich bedeutend größer als diejenigen, die für die Erledigung visueller Arbeiten notwendig sind. Elektrisches Licht wurde in der Annahme entwickelt, dass der einzige wesentliche Zweck des Lichts für den Menschen darin besteht, sehen zu können. Noch bis vor Kurzem wurde der Wirkung von künstlichem Licht auf das körperliche und psychische Wohlbefi nden kaum Beachtung geschenkt.

Ein wesentlicher Durchbruch gelang im Jahr 2002, als Wissenschaftler ein neues Sinnessystem im menschlichen Auge entdeckten. Es hat keine Bedeutung für das Sehen; sein Zweck besteht vielmehr darin, Licht zu empfangen und seine Signale direkt an die biologische Uhr des Körpers zu sen-den. Diese innere Uhr steuert die Abgabe von Hormonen und Neurotransmittern im Gehirn, die einen unmittelbaren Einfl uss auf unsere Gesundheit haben. Die Menge des Lichts, das wir auf uns einwirken lassen, bestimmt, wann und wie viele dieser Hormone und Neurotransmitter abgegeben wer-den. Zwar ist bekannt, dass helles Licht mit gesundheitlichen Vorzügen einhergeht und zur Behandlung saisonal auftre-tender Beschwerden, wie beispielsweise der Winterdepression (SAD) und mitunter auch von nicht jahreszeitlich bedingten Depressionen, eingesetzt wird. Doch bisher weiß niemand so recht, wie oder weshalb dies funktioniert. Die Entdeckung des neuen photosensitiven Systems ermöglicht nun immer-hin einige Rückschlüsse darauf, in welcher Weise Licht unser Befi nden beeinfl usst.

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in der Bevölkerung zunehmend ausbreiten, ist das MRSA-Bak-terium, auch als Staphylococcus aureus bekannt. Es stellt schon seit Langem ein schwerwiegendes Problem in Krankenstati-onen und Pfl egeheimen dar, wo es durch Krankheiten und Verletzungen geschwächte Patienten befällt. Nun hat sich ein neuer Bakterienstamm gebildet, der auch gesunde junge Men-schen infi ziert, die keiner Krankenhausumgebung ausgesetzt waren. Angesichts der immer größeren Gefahr für die öff ent-liche Gesundheit verdienen die keimtötenden Eigenschaften des Sonnenlichts und seine therapeutische Wirkung bedeutend mehr Aufmerksamkeit, als ihnen derzeit zuteil wird.

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Ein heißes Bad entspannt Körper und Geist – umso mehr, wenn es mit einem Sonnenbad verbunden ist. Insbesondere Lichtstärken ab etwa 2500 lux bewirken eine Stimulation des zirkadianen Systems und der menschlichen Psyche.

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Dr. Richard Hobday ist Experte zu Fragen des Sonnenlichts und der Gesund-heit im Bauwesen. Er ist ein Forschungsstipendiat an der School of the Built and Natural Environment, University of the West of England, Bristol, und Autor der Bücher The Light Revolution: Health, Architecture and the Sun (Findhorn Press, 2006) sowie The Healing Sun: Sunlight and Health in the 21st Century (FIndhorn Press, 1999).

Im April 2005 gelangten die Autoren einer im Ameri-can Journal of Psychiatry veröff entlichten Studie zu dem Schluss, dass eine Th erapie mittels hellem Licht eine wirk-same Methode zur Behandlung schwerer Depressionen ist und weniger Nebenwirkungen als herkömmliche Behand-lungsmethoden hat. Diese und andere Feststellungen unter-stützen die schon aus der Frühzeit stammende Ansicht, dass wir in der Lage sein müssen, helles Licht zu sehen oder in hell erleuchteten Räumen zu leben, um gesund zu bleiben. Bedau-erlicherweise sind die Möglichkeiten, Licht in ausreichender Intensität für eine positive Wirkung für unsere Gesundheit zu genießen, in der modernen Welt begrenzt. Dies erklärt ver-mutlich, weshalb Depressionen heutzutage so verbreitet sind. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge sind sie die weltweit viertgrößte Ursache für Erkrankungen bei Erwach-senen, und bis zum Jahr 2020 werden schwere Depressionen wohl nur noch von Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Todes-ursache übertroff en. Interessanterweise belegen jüngere Stu-dien auch, dass Florence Nightingale Recht hatte, was die positive Wirkung des Sonnenlichts auf die Genesung von Krankenhauspatienten anbelangt. Forscher haben herausge-funden, dass Herzinfarktpatienten bessere Genesungschan-cen haben, wenn sie in sonnigen Zimmern untergebracht sind. Auch depressiven Psychiatriepatienten geht es tendenziell bes-ser, wenn sie während ihres stationären Aufenthalts Zugang zu Sonnenlicht haben, ebenso zu früh geborenen Babys, die unter Gelbsucht leiden. Darüber hinaus leiden die Insassen von Krankenstationen nach operativen Eingriff en weniger unter Schmerzen, wenn sie die Sonne sehen können.

vitamin-d-mangel und die folgen

Der scheinbare Lauf der Sonne am Firmament reguliert viele der in unserem Körper ablaufenden hormonellen und bioche-mischen Prozesse. Darüber hinaus ist die Sonne auch unsere natürliche Quelle von Vitamin D. Davon gibt es in unserer normalen Nahrung nur wenig, sodass jedem, der sich vorwie-gend im Inneren von Gebäuden aufhält, Vitamin-D-Mangel-erscheinungen drohen. Schon seit Langem ist bekannt, dass Vitamin D von wesentlicher Bedeutung für starke Knochen und Zähne ist. Jüngere Forschungen zeigen auch, dass diese

Substanz eine maßgebliche Rolle für ein gesundes Immunsy-stem spielt. Immer mehr deutet darauf hin, dass ein Mangel an Vitamin D die Anfälligkeit für weit verbreitete und poten-ziell tödliche Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Schlagan-fall, Depression, Fettleibigkeit, Krebserkrankungen der Brust, des Darms, der Prostata und der Bauchspeicheldrüse, multi-ple Sklerose, Diabetes und Tuberkulose vergrößern kann. Und just zu der Zeit, in der Wissenschaftler zu begreifen begin-nen, wie wichtig eine angemessene Versorgung mit Vitamin D für unsere Gesundheit ist, werden sich andere darüber klar, wie verbreitet der Mangel an Vitamin D tatsächlich ist. Eine Reihe von neuen Untersuchungen in Großbritannien, in den USA und in anderen Ländern hat einen besorgniserregenden Vitamin-D-Mangel ergeben, von dem alle Altersgruppen glei-chermaßen betroff en sind. Das Problem ist so gravierend, dass sogar wieder Fälle von Rachitis registriert wurden.

Natürlich können die Strahlen der Sonne bei dafür anfäl-ligen Personen auch Hautkrebs auslösen, und paradoxerweise sind die Strahlen, die zum Bräunen der Haut und zu Verbren-nungen führen können, dieselben, die die Synthese von Vita-min D in der Haut in Gang setzen. Doch die Konzentration auf die schädlichen Folgen der UV-Strahlen hat in den letz-ten Jahren die Vorzüge des Sonnenlichts und die Gefahren des Sonnenlichtmangels überschattet. Für einen Großteil ihrer Geschichte hat die Menschheit die Sonne als Quelle des Lichts, des Lebens und des Wohlbefi ndens verehrt. Die alten Ägypter priesen die Sonne für ihre heilenden Kräfte und machten sich diese ebenso zunutze wie die Griechen und Römer. Ein Mangel an Sonnenlicht wird schon seit Langem mit schwachen Kno-chen und Muskeln, Stimmungsschwankungen und der Anfäl-ligkeit für Krankheiten in Verbindung gebracht. Die Vorreiter der Moderne haben dies ebenso erkannt wie mehr als tausend Jahre vor ihnen die Architekten des Römischen Reiches. In einem alten italienischen Sprichwort heißt es daher:

„Wohin die Sonne nicht kommt, kommt der Arzt.“

Sommersprossen sind genetisch bedingte Pigmentablagerungen in der Haut, die insbesondere unter dem Einfl uss des Sonnen-lichts entstehen. Besonders hellhäutige, lichtempfi ndliche Menschen bekommen oft Sommersprossen.

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INTERVIEW MIT PROF. ANGELA SCHUH

Frau Professor Schuh, viele posi-tive Einfl üsse des Sonnenlichts wie zum Beispiel seine lindernde Wirkung bei Winterdepression sind inzwischen wohlbekannt. Andere, wie etwa die antimikro-bielle Wirkung der Sonne, schei-nen heute in der medizinischen Praxis kaum noch von Belang zu sein. Hat die Medizin die positiven Auswirkungen des Sonnenlichts verdrängt?Hier muss man zwei Komponenten des Tageslichts unterscheiden, die unterschiedlich auf den Körper ein-wirken: sichtbares Licht und UV-Licht. Sichtbares Licht wirkt über Rezeptoren im Auge auf unseren Me-latoninhaushalt ein und bestimmt so, ob wir uns wach oder müde fühlen. Helles, sichtbares Licht ist auch ein wirksames Mittel gegen Winterde-pression. Das weiß man schon lange und nutzt es auch entsprechend in der Therapie.

Auch UV-Licht wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv in der Medizin genutzt, zum Beispiel zur Be-handlung von Hautkrankheiten. Das gilt für künstliches UV-Licht ebenso wie für das Licht der Sonne. Von ‚Vernachlässigung‘ würde ich also auch hier nicht sprechen. Es stimmt aber, dass Sonnenlicht wegen seiner krebserregenden Wirkung zuletzt stark in Verruf geraten ist. Dabei hat man jedoch oft übersehen, dass diese Wirkung stark von der Dosis abhängt. Sinnvoll dosiert, überwiegen die bio-positiven Eff ekte des Sonnenlichts bei Weitem. Als wichtigsten möchte ich nur die Vitamin-D3-Synthese nen-nen. Vitamin D3 wird ausschließlich durch Sonnenstrahlung auf die Haut gebildet. Es fördert den Knochen-stoff wechsel, beugt Osteoporose vor, kräftigt allgemein den Körper und steigert die Leistungsfähigkeit. Dar-über hinaus schützt Vitamin D3 sogar vor verschiedenen Krebsarten.

Welche positiven Auswirkungen von Sonnenlicht sind auch in In-nenräumen wirksam, sofern ein Gebäude entsprechend zur Sonne ausgerichtet und natürlich belich-tet wird? Die Auswirkungen des sichtbaren Lichts werden auch in Innenräumen wirksam. Sofern ein Gebäude ent-sprechend entworfen wurde, kann das Licht also auch dort seine Wir-kung gegen saisonale Depression und allgemeine Missstimmungen entfalten. Wichtig ist hierfür jedoch, dass die Lichtintensität über 2500 lux beträgt.

Die Wirkung des UV-Lichts auf die menschliche Haut wird dagegen durch fast alle heute gebräuchlichen Fenstergläser abgeschirmt. Um etwa Vitamin D3 zu synthetisieren, muss sich der Mensch also tatsächlich ins Freie begeben.

Der moderne Mensch verbringt oft 70 bis 80 Prozent seiner Zeit in Innenräumen. Wie wichtig ist es da, ihn auch im Inneren von Ge-bäuden die Veränderungen des Lichts im Tagesverlauf miterle-ben zu lassen?Ich denke, es ist vor allem wichtig, dass auch im Innenraum tagsüber gleichmäßig eine ausreichende Hellig-keit herrscht. Gegen Abend dagegen sollte sich der Mensch mit Hilfe geeig-neter Beleuchtung auf die Nacht vor-bereiten. Das bedeutet: gedämpftes Licht, nicht zu große Helligkeit. Sonst produziert der Körper kein Melatonin, und man wird nicht müde.

Prof. Dr. Dipl-Met. Angela Schuh ist Professorin für Medi-zinische Klimatologie am Institut für Gesundheits- und Rehabili-tationswissenschaften der Lud-wig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwer-punkte sind vor allem die Wirkung der Klimatherapie in verschie-denen Klimabereichen, Klima-kur- und Rehabilitationskonzepte sowie die gesundheitsfördernden Wirkungen der Heliotherapie.

Rund 50 Prozent der Bevölkerung reagieren auf die eine oder andere Weise wetterfühlig oder wetter-empfi ndlich. Rasche Wetterum-schwünge und Temperaturstürze gehören zu den verbreitetsten Wetterphänomenen mit negativen Auswirkungen auf das mensch-liche Wohlbefi nden. Inwieweit muss es Aufgabe der Architek-tur sein, den Menschen vor diesen Wetterextremen abzuschirmen – und inwieweit sollte der Mensch auch im Gebäudeinneren natür-lichen Temperaturwechseln und Luftbewegungen kontrolliert aus-gesetzt werden?Der Aufenthalt in künstlich klimati-sierten Innenräumen ist aus medi-zinischer Sicht generell ungünstig. Große Fenster, die sich öff nen las-sen, sind dagegen förderlich. Das Gleiche gilt für off ene Innenhöfe, Wintergärten und Balkone, kurz: für alle Bereiche, die es erlauben, sich zu-mindest ab und zu wechselnden Tem-peraturen und dem Licht der Sonne auszusetzen. Die Thermoregulation des Körpers sollte ständig trainiert werden, und daher ist es ideal, wenn immer wieder frische Luft an die Haut gelangen kann. Ein konstantes, künstliches ‚Einheitsklima‘ lässt die Thermoregulation dagegen schlapp werden.

Einen ähnlichen Eff ekt haben übrigens laminare Luftströmungen, wie sie zum Beispiel durch gekippte Fenster oder Lüftungsschlitze her-vorgerufen werden. Sie bilden einen konstanten ‚Durchzug‘, an den sich die Kälterezeptoren der Haut adap-tieren und keine Gegenreaktion des Körpers mehr hervorrufen. Daher er-kälten wir uns so häufi g bei Zugluft. Besser als gleichmäßig fl ießende sind verwirbelte Luftströmungen, wie sie durch Stoßlüftung erzeugt werden.

Vergleiche von Todeshäufig-keiten in unterschiedlichen Län-dern haben ergeben, dass die der Gesundheit zuträglichste, ‚ideale‘ Umgebungstemperatur bei Nord-europäern niedriger zu sein scheint als bei Südeuropäern. Ist es da nicht widersinnig, dass gerade in heißen Ländern die klimatisierten Innenräume oft noch kühler sind als in gemäßigten oder hohen Brei-ten?Sie haben Recht: Das ist tatsäch-lich widersinnig, weil hier mit viel zu extremen Temperatursprüngen gearbeitet wird. Die Thermoregula-tion des Körpers wird dadurch über-fordert und der Körper übermäßig belastet. Eine nur mäßige Klimatisi-erung mit Innenraumtemperaturen im Bereich zwischen 20 und 25 Grad Celsius wäre viel angemessener.

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TAGESLICHT Ein Geschenk der Natur: Tageslicht und wie es in der Architektur genutzt wird.

FREIZEITPARK FÜRS WOHLBEFINDENThermalbad in Bad Aibling

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Es naht die Winterzeit und mit ihr die Atta-cken von Husten, Schnupfen und Heiserkeit. Heiße Bäder wirken dagegen bekanntlich Wunder – und wem die heimische Bade-wanne zu klein ist, der kann seit dem 13. Sep-tember die neue Badeanstalt in Bad Aibling bei Rosenheim besuchen. Einst entstand hier das erste Moorbad Bayerns: 1838 kamen zwei Landärzte und ein Apotheker auf den Gedanken, das Moor heilmedizinisch zu nut-zen; sie forschten dann sieben Jahre lang und legten damit den Grundstein für die ’Solen- und Schlamm-Bade-Anstalt’. Seitdem suchten Kranke hier in mehr oder weniger appetitlichen Moor- und Schlammbädern Linderung ihrer Leiden. Moor gleich Torf: Architekten wissen es, die Wärme macht‘s. Sie kommt beim Moorbad langsam in den Körper, dem tut dies gut, sein Immunsystem wird gestärkt, der Stoff wechsel wird ange-regt, Hormonhaushalt und Nervensystem freuen sich. Doch der Blick der deutschen Krankenkassen auf ihre Beitragskonten und die demoskopische Entwicklung lässt sie, die Kassen, in der Genehmigung von Kuren mehr und mehr Zurückhaltung üben. Eine solche Strategie hat natürlich seit einiger Zeit Kon-

sequenzen für einen traditionellen Kurort wie Bad Aibling, dessen Einzelhandelssor-timent sich auf Stützstrümpfe, Gesund-heitsschuhe, Hörgeräte, Caféhäuser und Damenmode ab Größe 42 spezialisiert hatte. Es fügte sich glücklich, dass Bohrungen just an der Stelle, wo das bisherige, normale Frei-bad neben einem Freizeit- und Saunazen-trum lag, warmes Wasser sprudeln ließen. Die Idee eines Thermalbades, das jenseits des Kurbetriebes Gäste aus nah und fern nach Bad Aibling locken könnte, duldete in der Umsetzung keinen Aufschub.

Vor vier Jahren gewannen Behnisch Architekten den Wettbewerb für eine neue Badeanstalt mit einem einzigartigen Kon-zept: Neben der bestehenden Saunaanlage ließen sie eine weitläufi ge, an Ausblicken ori-entierte Badelandschaft entstehen und, was sonst kein Wettbewerber vorschlug: Sie ver-legten das neue, separat zugängliche Frei-bad, das den Bad Aiblingern wie eh und je ihr Freizeitvergnügen an heißen Sommer-tagen bescheren wird, auf das Dachniveau des Thermalbades. Das Thermalbad mit Beauty-Center soll in erster Linie Gäste von außerhalb anziehen, genauer gesagt: Drei-

Von Ursula Baus.Fotos von Torben Eskerod & Adam Mørk.

Längst widmen sich nicht mehr nur Sanatorien, Kurkliniken und Heilbäder dem menschlichen Wohlbe-fi nden. ‚Wellness’ ist zu einem Massenphänomen und Teil der Freizeitindustrie geworden. Beispiel Bad Aibling: Wo einst Kranke in Moorbädern Linderung suchten, soll nun ein von Behnisch Architekten gestalteter Badethemenpark mit heiterer Architek-tur, Licht, Wärme und Wasser in vielen Varianten Gesundheit und Entspannung fördern.

S. 18-19: Die Therme Bad Aibling liegt in einer Bachaue nahe des Ortszentrums, mit freiem Blick Richtung Süden auf die Silhouette der bayrischen Alpen. Behnisch Architekten nutzten die Lage, indem sie das Gebäude durch große Glasfl ächen nach draußen öff neten. Innen- und Außenbereich bilden eine einheitliche Badelandschaft.

Gegenüber: Extravagante Materialien und Ausstattungs-details sucht man im Thermal-bad vergebens. Doch ihre geschickte Kombination und die Lichtregie im Gebäudeinneren lässt Räume von atmosphä-rischer Dichte entstehen.

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hunderttausend pro Jahr müssen es wohl werden, damit sich die Investition lohnt. Das sind 822 Gäste pro Tag.

An dieser Stelle muss es gesagt sein: Das menschliche Wohlbefi nden gründet auf zutiefst subjektiven Faktoren. Wellholz und Wellpappe sind manchem Menschen näher als die Welle der Wellness, für die er sich nicht ohne Not von fremden Händen kneten, rubbeln, schrubben, peelen oder wer weiß wie behandeln lassen möchte. Ayurveda halte ich zum Beispiel für Schlangengift, Dampfbäder versetzen mich in klaustro-phobische Zustände, Duftbäder fürchte ich wie der Teufel das Weihwasser. Das ist eine schwere Bürde auf dem Weg zur Wellnes-sempfänglichkeit, die für die Einschätzung der Bäderarchitektur letztlich irrelevant ist, aber benannt sein will.

Die Therapiesprache kennt ja feine Unterschiede: Wer kränkelt, dem kom-men Behandlungen zugute, bei Beauty und Wellness spricht man hingegen von Anwen-dungen – das Bedürfnis will nicht als Makel benannt sein. Als Peter Zumthor die Therme in Vals gebaut hatte, musste die Architek-turkritik notgedrungen nach Graubünden

reisen – seiner kryptischen, kultartig die Bergkulisse verinnerlichenden Architektur kann man sich allerdings schwer entziehen, zumal man in Vals nicht in die Wassertümpel steigen und jeden Quadratmeter als Bade-erlebnis ertragen muss. In Bad Aibling muss man es auch nicht. Hier gingen Behnisch Architekten aber einen ganz und gar ande-ren Weg, der für ein sehr breites Publikum attraktiv sein muss – auch Familien mit Klein-kindern, Frisösen oder Bäcker, die sich wie ein Brotteig kneten lassen wollen, sollen auf ihre Kosten kommen. Beauty für Männer? Ja, auch das bietet Bad Aibling eingedenk einer Gesellschaft, die das optische Erschei-nungsbild ihrer Mitglieder als Erfolgsfaktor wertet.

Ein komplexes Raumprogramm aus Sauna, Thermalbad, Beauty-Bereich und separatem Freibad mit einer irgendwie anstrengenden Architektur aus den achtzi-ger Jahren in Einklang zu bringen, verlangte den Architekten eine kräftige Idee ab. Die bereits angesprochene Badelandschaft gliederten sie, indem in wasserfreie Zonen mehrere überkuppelte Wasserbecken oder Erlebniszonen mit unterschiedlichen Erleb-

S. 22-23: Gesamtansicht von Süden. Zwei der sieben Kuppeln unterbrechen die Dachkante, die den Gebäuderiegel nach Süden abgrenzt. Schon von außen lassen die unterschiedlichen Fenstergrößen die Lichtstim-mungen in ihrem Inneren erahnen.

Oben: Erlebnis-Baden auch im Außenbereich: Massageduschen, Sprudelliegen und ein Strömungs-kanal beleben die Badegäste. Das Thermalwasser des Bades wird aus über 2000 Metern Tiefe an die Erdoberfl äche befördert.

Gegenüber: Farbige Fliesen deuten es an: Die ‚Heiß-Kalt-Kuppel‘ lädt zum intensiven Temperaturerlebnis im Wasser ein. Im Gegensatz zu den übrigen Kuppeln besteht sie nicht aus Beton, sondern ist mit einer teils durchsichtigen, teils matt-transluzenten Plexiglas-Haube überwölbt.

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nisthemen hineingesetzt wurden. Unter einer Kuppel kann man sich mit Wechsel-bädern kalt-warm abhärten, unter einer anderen an Sphärenklängen unter Was-ser berauschen lassen. Man kann ‚Wasser erleben’, in sprudelndem Wasser wie wei-land Marilyn Monroe in einem ‚Champagner-pool’ baden – Champagner kostet allerdings extra –, sich mit Musik und Videoprojekti-onen aber auch ‚mental erholen’. Dann gibt es natürlich ein Kneippbecken und eine Moorin-sel, aber auch einen dezent mit Fabelwesen dekorierten, fachkundig überwachten Klein-kinderbereich. Die neue, familienfreundliche Politik will bedient sein, gestresste Mütter und Väter wissen es zu schätzen; in Vals dür-fen Kinder unter fünf nicht ins Bad. In der großzügigen Anlage von Bad Aibling fi nden sich Nischen für jeden Zeitvertreibs- oder Erholungsgeschmack.

Wert wurde auch auf die Neukonzep-tion des Saunabereichs gelegt, in den die vorhandene Anlage zu integrieren war. Wer nun meint, eine Sauna sei eine Sauna, irrt: Gartensauna, Trockensauna, Feuchtsauna, Aufgusssauna, Blockhaussauna, Moorsauna – man kann hier nur lernen.

Es sind also drei Themen, in denen die Architekten bei einer heiklen Gratwande-rung sicheren Schritt bewahrten: die Neu-konzeption einer Thermalbadeanstalt, die Sanierung einer Achtziger-Jahre-Architek-tur und die Konzeption eines klassischen Freibades. Das Thermalbad ist unverkenn-bar in Zonen aufgeteilt, in denen sich die jährlich dreihunderttausend Badefreunde jeglicher Spezies gut aufgehoben fühlen können. Sie bleiben in ihren Lieblingspools weitgehend ungestört – welche akustische Atmosphäre sich bei Hochbetrieb einstel-len wird, ließ sich bei unserer Besichti-gung noch nicht prognostizieren. Was den Architekten in der unkapriziösen Aneig-nung der Architektur der achtziger Jahre – im Saunabereich – gelungen ist, sucht sei-nesgleichen: Helles Holz neben dem dunk-len des off enen, alten Dachstuhls, weinrot gestrichene Reminiszenzen zwischen klas-sisch moderner und postmoderner Ikonogra-phie. All dies verdient als Beitrag zum Thema Bauen im Bestand hohe Anerkennung. Hier wurde nicht auf Teufel-komm-raus ein Kon-trast zwischen Alt und Neu gesucht oder das Alte hinter einer neuen Hülle versteckt,

Oben: Das Außenbecken aus der Taucherperspektive. Starke Düsen sorgen hier für eine ständige Wasserströmung.

Gegenüber: Liegen, sich treiben lassen, mit dem Kopf unter Wasser Musik hören – in der Thermalkuppel geht es vergleichsweise ruhig zu. Durch drei Bogenfenster können die Badenden von hier aus im Liegen ins Freie sehen.

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sondern eine selbstverständliche Kontinui-tät erreicht.

Damit die heterogene, vielen Badefreun-den entgegenkommenden Erlebnisinteri-eurs noch eine Thermalbadeinheit bilden, legten die Architekten in allen Bereichen – also vom Eingang bis zum Beckenrand – den Boden mit dem gleichen Material aus: hellem Feinsteinzeug, das in unterschied-lichen Formaten keine Eintönigkeit entste-hen lässt, die Orientierung stützt und die geforderte Rutschsicherheit gewährleistet. In allen auf- oder untergehenden Bereichen – Sockeln, Becken und so weiter – lässt dane-ben das baumarktübliche Fliesensortiment grüßen, das in öff entlichen Swimming-pools genauso aussieht wie im heimischen Badezimmer. Diese Fliesensortimente sind es allerdings, die bisweilen mehr an Hygi-ene als an Behaglichkeit – um ein deutsches Wort für ‚Wellness’ vorzuschlagen – den-ken lassen. Abgesehen von diesem einheit-lichen Boden sorgen Pfl anzen im Bad für eine durchgängige Atmosphäre: Man soll sich fühlen wie in einem Wintergarten, in dem die Erlebniskuppeln zwar ihren Platz haben, aber doch nicht dominieren sollen.

Die Vegetation stützt außerdem die Verzah-nung von innen und außen, die das Konzept der lichtdurchfl uteten Badelandschaft maß-geblich prägt. Tageslicht fällt seitlich in den großen Gesamtraum, aber geschickt sind auch die Kuppeln als Körper dank natürlicher Helligkeit modelliert: Wo sie die Dachfl ächen durchstoßen, ist jeweils ein breiter Streifen beziehungsweise Ring des Daches um die jeweilige Kuppel herum verglast, so dass Tageslicht üppig bis zum Boden fallen kann. Die Kuppeln selbst sind je nach Thema mit kleinen oder großen, vielen oder wenigen Lichtaugen bestückt – Tageslicht begleitet den Besucher im ganzen Bad und trägt zur angenehmen Atmosphäre erheblich bei.

Und schließlich dürfen sich die Bad Aiblinger freuen: Ein simples 25-Meter-Becken auf Thermalbaddachniveau, von dem aus der Blick auf den Wendelstein immerhin noch erhascht werden kann, ein Nichtschwimmerbecken, ein Kleinkinder-becken und eine Rutsche, die hanglagen-bedingt im Gelände verschwinden konnte, fügen sich zu einem Freibad vom Feinsten. Hier wird alles vermieden, was als Erlebnis im Thermalbad szenisch ausgearbeitet ist.

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Links: Die Entspannungskuppel liegt ganz im Westen des Thermalbades und ist im Inneren dunkler als die anderen Kuppeln. Sanfte Musik und Videoprojek-tionen an die Decke verwandeln sie in eine Art ‘multimediale Höhle’.

Links: Die Sinnekuppel ist die größte der sieben Kuppeln und enthält in ihrem Inneren ein Dampfbad. Farbveränderliche LEDs in der Decke tauchen den Raum in ein ständig wechselndes Licht, das durch seine Refl ektion in der feuchtigkeitsgesättigten Luft beinahe ‚greifbaren’ Charakter erhält.

Gegenüber: Blick aus der Sinnekuppel nach Westen. Mehrere kreisrunde Dachfenster illuminieren den in tiefes Blau getauchten Raum.

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Gerade darin liegt eine Qualität, die im Ther-malbad mit seinen Erlebnisinseln aufgege-ben werden musste.

Hier in Bad Aibling musste nicht weniger gelingen als der Spagat zwischen Blockhaus-Sauna und türkischem Bad, provinziellem Freibad und mehr oder weniger mondänem Thermalbad. Zumindest ein sehr weiter Grätschschritt ist Behnisch Architekten mit einer skurrilen Mischung aus legerer Winter-gartenarchitektur, heiteren Referenzen an die Popkultur und gewissenhafter Funktio-nalität gelungen. Es ist eine multikulturelle Badelandschaft inszeniert und ein Themen-park der Wasservergnügungen bestückt, in dem ein Quietschentchen nicht das Missfal-len pikierter Nobelgäste erregen wird. In Bad Aibling wird eine andere Klientel als in Vals erwartet – und ihr werden die Architekten mehr als gerecht. Das Konzept des Thermal-bades zielt darauf ab, Beauty und Wellness nicht nur für ein gut betuchtes, an Luxus gewöhntes Publikum fast sakral aufzube-reiten, sondern breiten Kreisen zu erschlie-ßen. Der Druck der Ökonomie zeichnete in Bad Aibling gewisse Spuren vor, die sich vor allem in einer allzu dicht gedrängten Erleb-

nisvielfalt off enbaren könnten – nach dem Motto: für jeden etwas, damit jeder kommt. In der Architektur wird diese Komplexität zwar bedient, aber mit Augenzwinkern zugunsten eines durchgängigen Konzeptes im Zaum gehalten.

Bad Aibling ist ein Bad für die ganze Familie. Die Therme verfügt nicht nur über einen eigenen Kinderbereich, sondern enthält allerorten Elemente, die den Spieltrieb anregen – wie diese schwimmenden Leuchten in der Sinnekuppel.

Dr. Ursula Baus ist freie Architekturhistorikerin und -kritikerin. Schwerpunkt ihrer Zeitschriften- und Buchpublikationen ist die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Architektur und Architektur-theorie sowie Ingenieurbaugeschichte. Sie ist Mit-begründerin von frei04 publizistik und nimmt seit 2004 Lehraufträge an der Universität Stuttgart für Architekturkritik und -theorie wahr.

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Grundriss mit Beleuchtungs-konzept. Unterwasserfl uter und Bodenfl uter heben die Schwimmbecken und Kuppeln nachts aus der Dunkelheit im Außenbereich heraus.

FaktenGebäudetyp ThermalbadBauherr Stadtwerke Bad Aibling, DArchitekten Behnisch Architekten, Stuttgart, DStandort Lindenstrasse 32, Bad Aibling, D

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19°40’56.70”N80°05’06.91”Wwww.juliancalverley.com

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LICHT, LUFT UND RAUMSanatorium Zonnestraal in Hilversum

REFLEKTIONEN Neue Perspektiven: Ideen abseits der Alltagsarchitektur.

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S.36–37: Zonnestraal in der Dämmerung. Das Sanatorium liegt in einer weitläufi gen Parkanlage ohne direkte Nachbarn. Die allseitig transpar-enten Baukörper greifen daher weit in die Landschaft aus.

Oben: Der niederländische Künstler Joost Veerkamp zeichnete 1998 diese Ansicht des Hauptgebäudes von Zonnestraal. Die Südfassade ist nahezu vollkommen verglast; auf den Flachdächern des Gebäudes

wurden große Sonnenterrassen angelegt und die Bewohner so dazu angeregt, große Teile des Tages im Freien zu verbringen.

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Von Hans Ibelings

Sonnenlicht und frische Luft, hygienische Wohnver-hältnisse und bessere Arbeitsbedingungen für die Massen – so lauteten die wesentlichen Ziele der Architekturmoderne. Sie hatte ihre Wurzeln im Kampf gegen verheerende Seuchen und fand ihren reinsten Ausdruck daher in den großen Sanatorien der 20er-Jahre. Hans Ibelings porträtiert ein Meister-werk der modernen Bewegung, das Sanatorium ‚Zonnestraal’ in Hilversum.

Das Sanatorium Zonnestraal (1926–1928) in Hilver-sum gilt in den Niederlanden und darüber hinaus als eines der herausragenden Beispiele für den Funktionalismus in der Architektur. Das Gebäude ist in den Niederlanden nur mit der fast zur gleichen Zeit errichteten Tabakfabrik Van Nelle in Rot-terdam zu vergleichen, einem Entwurf des Büros Brinkmann & Van der Vlugt. Beide Gebäude verkörpern in überzeugender, geradezu mitreißender Art das Wesen der funktionalistischen Architektur: Licht, Luft und Raum. Im Falle des Sanatoriums Zonnestraal, eines Entwurfs von Jan Duiker, Bernard Bijvoet und Jan Gerko Wiebenga, spricht schon der Name für sich. Für die Rekonvaleszenz von Tuberkulosepatienten im Sanato-rium waren Sonnenlicht und frische Luft notwendige Voraus-setzungen, von daher war die funktionalistische Bauweise eine völlig logische Entscheidung.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Funktionalismus gerade in Krankenhäusern und verwandten Gebäudetypen Einzug fand. Das Sanatorium Zonnestraal, das Sanatorium von Alvar Aalto in Paimio, die Entwürfe französischer Kranken-häuser von Paul Nelson, aber auch die modernistischen Ferien-kolonien, die überall im faschistischen Italien gebaut wurden, damit sich die blassen Großstadtmenschen im Sommer erho-len konnten, sowie verschiedene Freiluftschulen: alle diese Bei-spiele demonstrieren, wie sich moderne Architekturprinzipien und aktuelle medizinische Th erapieformen nahtlos aneinander anschließen. Hygiene ist dabei der verbindende Oberbegriff . Ihre Bedeutung ist in der medizinischen Welt evident, aber auch in der modernen Architektur haben Konzepte, die mit Hygi-ene im Zusammenhang stehen, ihren festen Platz. Mit ihren strahlenden, weißen, glänzenden, glattgefl iesten, verchromten, gläsernen und mit Feinputz versehenen Oberfl ächen präsen-tiert sich die moderne Architektur so sauber und gepfl egt wie frisch gewaschene und gestärkte Bettwäsche. Darüber hinaus wurde die moderne Architektur implizit und häufi g auch expli-zit als Heilmittel gesehen. Sie bedeutete eine architektonische und städtebauliche ‚Genesung’ sowohl für den Menschen als auch für die bauliche Umgebung als solche. Fast die gesamte Architektur und der Städtebau der Moderne bilden aus die-ser Perspektive eine Art medizinische Th erapie zur Heilung einer im Sterben liegenden Stadt von krankmachenden Wohn-bedingungen und gesundheitsgefährdenden, bisweilen sogar

lebensbedrohlichen Arbeitsbedingungen. Hinter sehr vielen Grundsätzen des Funktionalismus, angefangen bei der räum-lichen Trennung von Wohnen und Arbeiten bis hin zur Beto-nung des Zeilenbaus zum Zwecke optimaler Besonnung, stehen Überlegungen, die mit der Hygiene verbunden sind. Sie ent-stammen der Überzeugung, dass die Stadt und der Städter gesund gemacht werden müssen. In wenigen Gebäuden ver-einen sich Architektur und Gesundheit überzeugender als im Sanatorium Zonnestraal, das in architektonischer Hinsicht genauso strahlt wie der Name des Komplexes.

Das Sanatorium ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von drei Personen, die der gleichen Generation angehörten: den Architekten Jan Duiker (1890-1935) und Bernard Bijvoet (1889-1979) sowie dem Bauingenieur und Betonfachmann Jan Gerko Wiebenga (1886-1974), der übrigens auch am Bau der Tabak-fabrik Van Nelle beteiligt war.

Auftraggeber für das Sanatorium Zonnestraal war der Berufsverband der niederländischen Diamantbearbeiter, der ‚Algemene Nederlandse Diamantbewerkersbond‘ (ANDB), der bereits zu einem früheren Zeitpunkt sein Interesse für Archi-tektur gezeigt hatte. Das Sanatorium Zonnestraal wurde von den Mitgliedern des Verbands fi nanziert, die seit 1905 zum sogenannten ‚Koperen Stelenfonds‘ (Kupferstiele-Fonds) bei-trugen. Der Fonds bestand aus den Erlösen aus dem Recycling der Kupferstiele, die die Diamantschleifer verwendeten, um ihre Steine während des Schleifens aufzusetzen. Mit diesen zäh-biegsamen Kupferstielen konnten sie die Diamanten im rich-tigen Winkel zur Schleifscheibe halten, sodass sie die Facetten schleifen konnten. Die Kupferstiele brachen nach gewisser Zeit wegen Materialermüdung und wurden für den Kupferstiele-Fonds gesammelt. Der Fonds war ein solch großer Erfolg, dass der Verband der Diamantbearbeiter mehr Geld für die TBC-Bekämpfung zur Verfügung hatte als der niederländische Staat. Die Hilfe brauchte deshalb schon bald nicht mehr auf die eige-nen Mitglieder beschränkt zu bleiben.

Der Erfolg dieses Fonds machte es notwendig und fi nanziell möglich, die Pfl egekapazität für TBC-Patienten zu vergrößern. Dies führte zu dem Plan, selbst eine Nachsorgeeinrichtung zu errichten. Nach einigem Hin und Her und einem misslun-genen Start an einem anderen Ort wurde im Jahre 1919 ein Stück Wald in Hilversum gekauft. Duiker und Bijvoet erhielten

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den Auftrag, den Komplex zu entwerfen. Im Jahre 1926 war der defi nitive Entwurf fertig. Geplant waren ein Hauptge-bäude und vier Pavillons, von denen letztendlich zwei Pavil-lons gebaut wurden.

Zu der Zeit, als Duiker und Bijvoet den Auftrag erhielten, folgte ihre Arbeit noch der (Backstein-)Tradition von H.P. Ber-lage, dem geistigen Urheber der modernen Architektur in den Niederlanden. Zu Beginn der zwanziger Jahre entwickelten sich Duiker und Bijvoet jedoch zu führenden Vertretern des Funktionalismus. Zur gleichen Zeit, im Jahre 1922, realisierte Wiebenga mit seiner Fachoberschule für Technik in Gronin-gen jenes Gebäude, das häufi g als das erste Beispiel für Funk-tionalismus in den Niederlanden bezeichnet wird.

Während ihrer Arbeit für den Entwurf des Sanatoriums trennten sich die Wege von Duiker und Bijvoet. Ohne seinen Partner realisierte Duiker unter anderem in Amsterdam die ‚Freiluftschule für das Gesunde Kind‘ in der Amsterdamer Cli-ostraat, ein Gebäude, das hinsichtlich Architektur und Idee eng mit Zonnestraal verwandt ist. Bijvoet zog 1925 nach Paris, wo er unter anderem mit Pierre Charreau an dem berühmten Maison de Verre zusammenarbeitete.

Das Sanatorium Zonnestraal ist ein Musterbeispiel für das funktionalistische Ideal, das eine strikte Trennung verlangt zwischen der Tragwerkskonstruktion – in diesem Fall ist dies armierter Beton – und den Außenfassaden, die hier zu einem großen Teil aus Glas in einem sehr schlanken Stahlprofi l beste-hen. Die fast vollständige Transparenz des Bauwerks entsprach einerseits dem von medizinischer Seite gehegten Wunsch nach hellen und gut zu belüftenden Räumen, andererseits konnten Duiker und Bijvoet auf diese Art den funktionalistischen Cha-rakter ihres Gebäudes demonstrieren.

Zonnestraal besteht aus einem Hauptgebäude mit sym-metrisch zu beiden Seiten angeordneten Pavillons. Im ersten Geschoss des Hauptgebäudes waren ein Speisesaal und ein Erholungsraum untergebracht, im Erdgeschoss befanden sich alle zentralen Einrichtungen, von den Behandlungsräumen bis zur Küche, von den Büroräumen bis zum Kesselhaus. Der pro-minente Ort, den das Kesselhaus im Hauptgebäude einnahm, unterstreicht den funktionalen, maschinenartigen Aspekt die-ser Architektur. Die beiden v-förmigen Pavillons sind so ausge-richtet, dass sie optimal zur Sonne stehen. Beide Pavillons boten

Platz für jeweils fünfzig Patienten. Jeder Patient hatte ein eige-nes Zimmer, das auf eine Sonnenterrasse führte. Dort konn-ten die Patienten, notfalls mit Bett und allem, in der gesunden Luft wieder zu Kräften kommen.

Außer dem Hauptgebäude mit den beiden Pavillons gehört eine Reihe weiterer Gebäude zum Ensemble des Sanatoriums, darunter das Dienstbotenhaus De Koepel, das inzwischen von Delfter Bauingenieurstudenten rekonstruiert wurde, sowie ver-schiedene Werkstätten. Unter dem Motto ‚Genesung durch Arbeit’ wurden Patienten, die dazu bereits wieder in der Lage waren, zum Arbeiten angeregt. Auf diese Weise waren sie beschäftigt und konnten zudem das Geld für ihre Pfl ege – zumindest teilweise – selbst verdienen. In Zonnestraal wurden

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Unten: Halbrunde Treppenauf-gänge wie dieser gliedern die Gebäude auch äußerlich, indem sie als – oftmals großzügig verglaste – Erker vor die Fassaden treten. Die Bewohner erhalten so bei ihrem Weg durch das Gebäude Blicke ins Freie und direktes Sonnenlicht.

Links:Der große Saal im Obergeschoss des Hauptgebäu-des diente als Speisesaal. Duiker und Bijvoet versahen ihn mit einer ausladenden Dachlaterne, um Tageslicht bis in die Raummitte zu bringen.

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Hans Ibelings (Rotterdam 1963) ist Redakteur und Herausgeber der Zeit-schrift ‚A10 new European architecture’, die er 2004 mit dem Grafi k-Desi-gner Arjan Groot gründete. Er studierte Architekturgeschichte an der Universität Amsterdam, arbeitete als Kurator im Nederlands Architectuur-instituut in Rotterdam und als Gastprofessor an der EPFL in Lausanne. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter ‚Supermodernism: Architecture in the Age of Globalisation’ von 1998.

unter anderem Fahrräder, Gartenhäuser, Segelboote, Möbel und Werkzeuge für die Diamantindustrie hergestellt. Man ach-tete darauf, dass die Herkunft der Produkte nach Möglichkeit nicht an die große Glocke gehängt wurde, da viele Menschen

– wenn auch unbegründet – Angst gehabt hätten, dass sie sich über diese Produkte mit Tuberkulose infi zieren könnten. Ins-gesamt gab es im Sanatorium Zonnestraal Arbeit in neunzehn verschiedenen Berufen, vom Buchbinder bis zum Gärtner.

Der erfolgreiche Kampf gegen die Tuberkulose führte dazu, dass das Sanatorium Zonnestraal in den fünfziger Jahren als Nachsorgeeinrichtung für Tuberkulosepatienten überfl üssig wurde. Dreißig Jahre nach der Fertigstellung von Zonnestraal war die Tuberkulose in den Niederlanden besiegt. Das ehema-lige Sanatorium wurde deshalb im Jahre 1957 in ein allgemein-medizinisches Krankenhaus umgewandelt. Dies erforderte eine Reihe baulicher Änderungen, für die anfangs Bijvoet und Holt verantwortlich zeichneten, später allerdings andere Architekten. Schritt für Schritt veränderte sich die Ansicht des Hauptge-bäudes und des Henri-van-der-Meulen-Pavillons in einschnei-dender Weise. Unter anderem wurden die Sonnenterrassen zugemauert und in die Krankensäle integriert. Der andere Teil des Komplexes, der Dresselhuys-Pavillon, wurde über-haupt nicht mehr genutzt und verfi el im Laufe der Jahre zu einer modernen Ruine.

In den sechziger Jahren begannen Architekten und Archi-tekturliebhaber, das Sanatorium Zonnestraal vor weiteren Ein-griff en und Verfall zu bewahren. Der Architekt Jaap Bakema (der zusammen mit Jo van den Broek das Büro Brinkman & Van der Vlugt weiterführte) plädierte beispielsweise dafür, dieses herausragende Beispiel moderner Architektur mit dersel-ben Ehrerbietung und Sorgfalt zu behandeln wie Rembrandts Nachtwache. Dem unter Fachleuten unbestrittenen hohen architektonischen Stellenwert zum Trotz sollte es dennoch bis weit in die achtziger Jahre dauern, bis der ramponierte Kom-plex Denkmalstatus erhielt. Dies führte merkwürdigerweise bei dem immer noch existierenden harten Kern der Funktio-nalisten und Duiker-Verehrer zu dem doppeldeutigen Kom-mentar, dass es dem funktionalistischen Geist Duikers nicht entsprochen hätte, ein Gebäude, das als maßgeschneiderter Gebrauchsgegenstand gedacht war und seinen ursprünglichen Zweck inzwischen verloren hatte, als unantastbares Denkmal

zu behandeln. Nach ihrer Auff assung wäre die Bezwingung der Tuberkulose für Duiker selbst Anlass gewesen, das Gebäude als überfl üssig zu erklären.

Der Denkmalstatus führte zwar nicht zu einem raschen Wiederaufbau der alten Herrlichkeit, hat sich aber letztendlich als Rettung von Zonnestraal erwiesen. Der Komplex wurde vor weiteren Umbauten bewahrt. Der Nutzer war angehalten, mit diesem Erbe vorsichtiger umzugehen. Wirklich in Sichtweite kam der Wiederaufbau in dem Moment, als das Krankenhaus den Komplex Zonnestraal nach einer regionalen Fusion nicht mehr brauchte und ein neuer Nutzer einzog. Dabei handelte es sich um eine Einrichtung für präventive und kurative Th erapien, also eine Funktion, die von der ursprünglichen Funktion des Sanatoriums Zonnestraal nicht einmal so weit entfernt war.

In dem mühseligen Prozess über viele Jahre war das bestän-dige Engagement der Denkmalschutzbehörde sowie von Hubert-Jan Henket und Wessel de Jonge von großer Bedeutung. Diese beiden Architekten, die für die Rekonstruktion und die not-wendigen Modernisierungen verantwortlich waren, stützen sich bei ihrer Arbeit nicht zuletzt auf den von ihnen gegrün-dete Docomomo, einen inzwischen weltweit aktivenVerein, der sich für die Dokumentation und den Erhalt der Architektur der Moderne einsetzt. Henket und De Jonge verfügen über die architektonischen Mittel und bautechnischen Kenntnisse, um die Leichtigkeit und Transparenz der ursprünglichen funkti-onalistischen Architektur mit den heutigen Anforderungen (unter anderem an die Energieeffi zienz) in Einklang bringen zu können. Der nahezu transparente Aufzug, der in das Hauptge-bäude des früheren Sanatoriums Zonnestraal eingebaut worden ist, kann als Symbol für diese Subtilität stehen. Wer Fotos des Gebäudes aus dem Jahre 1928 neben Fotos von der heutigen Situation legt, wird sich deshalb auch zumindest anstrengen müssen, um Unterschiede entdecken zu können.

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Rechts: Die Gesamtanlage aus der Vogelperspektive (Zeich-nung von Jan Duiker). Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes sind die Betten-Pavillons zu sehen. In ihnen fanden jeweils 50 Patienten – jeder mit einer eigenen Terrasse oder einem Balkon – Platz.

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ZWEITE HEIMATSonderschule in Schwechat

TAGESLICHT Ein Geschenk der Natur: Tageslicht und wie es in der Architektur genutzt wird.

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Von Jakob Schoof.Fotos von Adam Mørk.

Die Schwechater Sonderschule von fasch&fuchs bietet ihren 81 Schülern und Schülerinnen eine Probebühne fürs Leben, auf der sie alle wichtigen menschlichen Verhaltensweisen einüben können. So dynamisch der äußere Eindruck des Gebäudes ist, so viel Bewegungsspielraum lassen auch seine Innen-räume den Schülern – nicht nur in der Turnhalle, der off enen Mitte des Neubaus.

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S.40–41: Den intensivsten Kontakt mit der Sonne erhalten die Sonderschüler auf der Südseite des Gebäudes, wo sich die gläserne Dachfl äche bis zum Erdboden hinabneigt und eine Reihe lichterfüllter Wintergär-ten einschließt. Ein beweglicher Sonnenschutz aus Alu-Lamellen sorgt für Schatten.

Diese Seite: Das off ene Innenraumkonzept des Gebäudes hat auch didaktischen Charakter: Die Schüler sollen an das Leben in der Gemeinschaft gewöhnt werden. Zwei Treppen im Westen und Osten verbinden die drei Ebenen des Gebäudes.

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Der Raum als Lehrer – wer würde da nicht zustimmen? Doch diesem Lehrer wird im Schulalltag einiges abverlangt: Er muss Freiraum sein, Entfaltungsraum, aber auch Schutzraum. Und obendrein (wie jeder gute Pädagoge) individuell auf die Erfordernisse der Kinder und Jugendlichen eingehen. „81 Schüler mit 81 Lernzielen“, wie die Schullei-terin Ingeborg Schramm sagt, besuchen die zehn Klassen der Sonderschule in Schwechat. Viele von ihnen sind mehrfach behindert und bedürfen neben dem ‚normalen’ Schulalltag einer besonders intensiven Betreuung und Pfl ege.

Umso erstaunlicher ist es, dass die Son-derschule lange Zeit in einem Schulhaus tra-ditioneller Prägung am Hauptplatz der Stadt untergebracht war. Trotz der zentralen Lage tendierten die Kontakte zwischen Schülern und Öff entlichkeit gegen Null. Ingeborg Schramm bezeichnet die Räume rückbli-ckend als ‚unzumutbar‘: Weder gab es in der Schule Klassenzimmer in ausreichender Zahl noch ein Lehrerzimmer oder Werkräume – von Einrichtungen für die intensive Betreu-ung ganz zu schweigen.

Ein Fenster in die Zukunft öff nete sich für die Sonderschule im Jahr 2000, als sich über 100 Architekten an einem EU-weit off enen Wettbewerb für ein neues Schulge-bäude beteiligten. „Eff ektiver Schallschutz, Niedrigenergie-Bauweise und günstige Baukosten waren einige der harten Fakten, die der Bauherr gefordert hatte“, erinnert sich Hemma Fasch vom Architekturbüro fasch&fuchs heute. „Die Nutzer, insbeson-dere die Direktorin, versuchten dagegen, die ‚weichen Faktoren’ schon früh im Wettbe-werb zu kommunizieren: das Verhalten der Schüler, ihre Position in der Gesellschaft und die Herausforderung, ihre Entwicklung zu fördern und sie dabei zu unterstützen, ein so ‚normales’ Leben wie möglich zu führen.“

‚Normal leben’ heißt nicht nur für behin-derte Kinder: Selbstbewusstsein erlangen, sich als Teil einer Gemeinschaft begreifen und sich dennoch zurückziehen können, wenn sie es wünschen. „Die Kinder brau-chen Schutz vor der Außenwelt und vor ‚Feinden’ wie unerwünschten Menschen, schlechtem Wetter, Lärm und Reizüberfl u-tung, ohne dass sie sich deshalb eingeschlos-sen fühlen sollten“, sagt Hemma Fasch. Das

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Verhältnis zwischen Innen und Außen sowie zwischen Off enheit und Schutz war daher ein zentrales Thema bei ihren Gesprächen mit den Lehrern und Schülern. Im Norden grenzt die Sonderschule an die Grünanlage des Brendanigartens, im Süden rauscht dagegen tagein, tagaus der Verkehr auf der Bundesstraße 10 vorbei. Außerdem sorgt der nahe gelegene Flughafen Wien-Schwe-chat für Lärmbelästigung. Während sich die Schule daher nach Norden (inklusive der halb in das Gelände eingegrabenen Turn-halle) über drei Geschosse mit großen Glas-fl ächen nach draußen öff net, duckt sie sich im Süden unter dem Verkehrslärm weg. Hier reicht die gläserne Dachhaut bis zum Erdbo-den hinunter und umhüllt dabei auch einen Wintergarten, der den Schülern in den Son-derunterrichtsräumen als erweiterte Spiel- und Erlebnisfl äche dient. Drei dieser Räume für körper- und mehrfach behinderte Schü-ler, eine Lehrküche und der Physiotherapie-Bereich mit Schwimmbecken sind ebenerdig an der Südseite des Gebäudes unterge-bracht. Ein verschiebbarer Sonnenschutz aus Aluminium-Lamellen soll die Räume vor extremen Temperaturschwankungen schüt-

„Ein Kind hat drei Lehrer: Der erste Lehrer sind die anderen Kinder. Der zweite Lehrer ist der Lehrer. Der dritte Lehrer ist der Raum“.

Otto Seydel, Pädagoge

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zen. „Die Gebäudehülle bietet den Kindern die Möglichkeit, ihre Umwelt aus dem Schat-ten ihres Unterschlupfs heraus zu beobach-ten, Kontakte zu knüpfen, aber auch frei nach draußen zu treten. Indem sie zunächst durch die Fassade hindurch interagieren, können die Kinder entscheiden, ob sie den Kontakt zur Außenwelt wünschen oder lieber drinnen bleiben“, erläutern fasch&fuchs die Vorzüge der vielschichtigen Dach- und Fassadenkon-struktion.

Das off ene Innenraumkonzept der Schule mit seinen zahlreichen Durchblicken – auch zwischen den Ebenen – hat seine Gründe in der architektonischen Haltung der Archi-tekten, aber auch im Bedürfnis der Schüler nach leichter Orientierung. „Die innere Trans-parenz vermittelt den Kindern einen Eindruck all der Aktivitäten, die sich im Gebäudein-neren abspielen“, sagt Hemma Fasch. Das off ene, bewegte Zentrum des Neubaus ist die zweigeschossige Turnhalle, die vom Unter- bis ins Erdgeschoss reicht. Lediglich Sprossenwände trennen die Halle von den sie umgebenden Fluren und Geräteräumen im Untergeschoss. Auf der darüber liegenden Eingangsebene führt eine Galerie rund um

die Halle herum; Sitzstufen laden zum Ver-weilen und Beobachten ein. „Jedes Kind ist Mitglied der Gemeinschaft und zugleich ein Robinson Crusoe“, sagt Hemma Fasch. „Hier im Zentrum des Gebäudes können die Kin-der die Gemeinschaft erleben, und bis zu die-sem Punkt werden auch Fremde ins Gebäude hineingelassen. Die Kinder können sie beo-bachten und haben doch immer die Gewiss-heit, sich jederzeit wieder zurückziehen zu können. Das Zentrum ist somit zur Welt hin geöff net und zugleich eine Art Schutz-schild für die Privatsphäre der Kinder.“ Von hier aus führen die Wege zu den halbpri-vaten und privaten Bereichen des Gebäu-des, über die Treppen zu den Klassenzimmern und schließlich in die intimen Rückzugsni-schen. Sieben der zehn Klassenzimmer lie-gen an der Nordseite im Obergeschoss, über der Turnhalle. Je zwei von ihnen teilen sich einen so genannten ‚Time-out’-Raum, eine gepolsterte, von oben beleuchtete Zelle, in der Schüler eventuell auftretende Aggres-sionen sofort abreagieren können. Auch der Flur vor den Klassenräumen hat mit tradi-tioneller Schularchitektur im ‚Kasernenstil’ nichts mehr gemeinsam: An beiden Enden

Das Lehrschwimmbecken gehört zu den beliebtesten Einrich-tungen der Schule. Es liegt in der Verlängerung der Wintergärten im Erdgeschoss und wird auch für therapeutische Zwecke genutzt.

S. 43: Im Norden kragen die Klassenräume über die zweigeschossige Sporthalle aus. Das Gelände wurde hier abgegraben, um auch vom Untergeschoss einen direkten Zugang ins Freie zu ermöglichen.

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Oben: Die Sporthalle mit Zuschauergalerie ist das off ene Herzstück des Gebäudes; sie wird neben dem Unterricht für eine Vielzahl von Veranstal-tungen genutzt. Selbst der Korridor an ihrer Rückseite erhält noch direktes Tageslicht.

Links: Blick in den Korridor vor den Klassenräumen im Oberge-schoss. Die vielfach gefaltete Dachform ermöglichte es den Architekten fasch&fuchs, fast alle Bereiche von zwei Seiten mit Tageslicht zu versorgen

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1–2: Die Wintergärten, bei weitem der hellste Teil des Gebäudes, lassen die Schüler den Verlauf der Sonne miterleben. Die Schüler werden so dazu angeregt, eigene Experimente mit Licht und Schatten anzustellen.

3: Querschnitt in Nord-Südrich-tung mit Tageslichtkonzept

4: Grundriss Erdgeschoss

bietet er Ausblicke in die Umgebung und wird immer wieder durch Garderobennischen vor den Klassenzimmern unterbrochen, die der Kommunikation der Schüler untereinander dienen.

Nahezu jeder Raum im Gebäude erhält Tageslicht von mindestens zwei Seiten – inklusive der Dachfl ächen. Die Blendwir-kung des einfallenden Lichts wird auf diese Weise verringert. Viele innere Trennwände sind nicht geschosshoch, sondern schließen mit Oberlichtstreifen an die Geschossde-cken an. Für den Eindruck der Transparenz und das Gefühl der Nutzer, in den Räumen überall Tageslicht sehen zu können, sind sol-che Detaillösungen essenziell. „Mit Licht zu planen bedeutet natürlich viel mehr als nur, Glas zu verwenden, um Licht ins Gebäude zu lassen“, schreiben die Architekten. „Gezielt eingesetzte Tageslichtsysteme erlauben es uns, Atmosphären zu schaff en, die im Tages-verlauf stark variieren. Das Tageslicht im Inneren der Schule verändert sich sowohl tagsüber als auch im Verlauf der Jahres-zeiten ständig.“

Entwickelt haben fasch&fuchs das Tageslichtkonzept auf ganz traditionelle

Weise – aufbauend auf der eigenen Erfah-rung und mit Hilfe zahlreicher Arbeitsmo-delle, aber ohne rechnergestützte Simulation. Fragt man die Nutzer nach ihrem Urteil, so fällt dieses ganz überwiegend positiv aus:

„Obwohl es in einigen Räumen im Sommer recht warm werden kann, ist unsere Schule doch ein Paradies für die Schüler, Lehrer und Besucher“, sagt die Direktorin Inge-borg Schramm. Eine Mutter, deren Sohn vor wenigen Monaten in Schwechat eingeschult wurde, bezeichnet die Schule als „Oase des Lichts und der Hoff nung“. Vor allem aber, das wird in den Äußerungen deutlich, ist die Schule den Kindern zu einer echten zweiten Heimat geworden. Nicht nur, dass die Schü-ler hier von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr nach-mittags betreut werden, während Schulen in Österreich bislang meist nur auf Halbtags-unterricht ausgelegt waren. Sie fühlen sich im Gebäude so wohl, dass einige nach Schul-schluss einfach nicht nach Hause gehen wol-len, berichtet Ingeborg Schramm. Gerade für eine Sonderschule ist dies womöglich ein viel wesentlicheres Qualitätskriterium als Leistungs-Vergleichstests und andere Aus-geburten der Bildungsbürokratie.

FaktenGebäudetyp Sonderschule für ca. 80 Schüler in 10 KlassenBauherr Sonderschulgemeinde Schwechat, AArchitekten fasch&fuchs, Wien, AStandort Schrödlgasse 1, Schwechat, A

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Derzeit unterrichten wir an unserer Schule in 10 Klassen 81 Schüler im Alter von sechs bis achtzehn Jah-ren. Die Kinder gehen an fünf Tagen in der Woche von 8.00 bis 17.00 Uhr in die Schule. Unsere Schüler bedürfen ausnahmslos einer spe-ziellen Form der Betreuung. Einige leiden am Down-Syndrom, an der Pelizaeus-Merzbacher-Krankheit oder an anderen angeborenen ge-netischen Defekten. Für Kinder mit extremen Verhaltensauff älligkeiten aufgrund gravierender Sozialisie-rungsstörungen haben wir eine ‚För-der-Klasse‘ eingerichtet.

Die räumliche Gestaltung un-seres Schulgebäudes muss den un-terschiedlichsten Bedürfnissen gerecht werden. Zum Beispiel liegen die Klassenräume für schwerstbe-hinderte Kinder im Erdgeschoss und sind problemlos mit dem Rollstuhl er-reichbar. Jeder dieser Klassenräume hat außerdem einen direkten Zugang zum Garten durch einen Wintergar-ten.

Eine Schülerin in einer solchen Klasse ist Minnea: Sie leidet am Cri-du-chat-Syndrom (Katzenschrei-Syndrom) und ist schwer geistig behindert. Sie liebt das Spiel mit Licht und Schatten und sitzt daher

häufi g vor der großen Glasfront zwi-schen Garten und Klassenraum, um mit dem einströmenden Licht Schat-tenbilder auf die Wand zu malen.

Im Gegensatz zu unserem alten Schulgebäude – ein einfaches Haus mit schlecht beleuchteten Klassen-zimmern und einer höhlenartigen Atmosphäre – zeichnet sich die neue Schule durch Helligkeit und Ruhe aus und lässt die Kinder den jahreszeit-lichen Wandel der Natur hautnah miterleben.

Die Turnhalle ist das Herz unserer Schule, wo sich die Schüler nicht nur während der Pausen treff en, sondern auch zu Veranstaltungen. Die Kinder können sich auf dem Schulgelände frei bewegen, ohne sich selbst oder andere einer Gefahr auszusetzen. Obgleich unsere neue Schule im Ver-gleich zur alten Einrichtung von mehr Schülern besucht wird, ist die Atmo-sphäre deutlich entspannter. Diese positive Entwicklung macht sich so-wohl im Unterricht als auch in den Pausen bemerkbar.

Mit Ausnahme des ‚Snoezelen-Raums’ ist jedes Schulzimmer von Sonnenlicht durchfl utet. Oft halten sich die Kinder vor den großen Glas-fenstern im Obergeschoss auf, um einfach den Ausblick zu genießen

oder um miteinander zu sprechen, zu lernen oder zu spielen. Die Stim-mung ist den ganzen Tag über ruhig und entspannt; sogar in den Unter-richtspausen, in denen es in der alten Schule häufi g laut und hektisch zu-ging, herrscht jetzt Ruhe und Frie-den. Eine große Besonderheit unserer Schule ist das Schwimmbecken. Ei-nige Kinder fragen mich täglich, ob sie auch am Wochenende zur Schule gehen dürfen, weil sie es genießen, in einer solch angenehmen Umgebung zu spielen. Aber nicht nur die Schü-ler verbringen ihre Zeit gerne an un-serer Schule – auch viele Lehrerinnen bleiben in ihren freien Stunden da, um sich zu unterhalten, den Unterricht vorzubereiten oder Feste zu feiern.

Jeden Abend haben wir mit eini-gen Kindern zu ‚kämpfen’, denen es in der Schule so gut gefällt, dass sie gar nicht nach Hause gehen möchten. Hanna zum Beispiel weint jeden Tag bei Schulschluss. Obwohl sie wohl-behütet in einer liebevollen Familie aufwächst, muss ihre Mutter oft fast eine Stunde warten, bis Hanna zum Gehen bereit ist.

Als ich vor vier Jahren die Schul-leitung übernahm, unterrichteten wir 57 Schüler. Mittlerweile bekomme ich zwei bis drei Anrufe pro Woche

INGEBORG SCHRAMMDIREKTORIN

von Eltern, die ihren Sohn oder ihre Tochter bei uns anmelden möchten. Unsere Schule ist allseits als Ort des Friedens und der Harmonie bekannt, und unser Schulkonzept wird häu-fi g mit Begriff en wie ‚Off enheit’ und ‚Freundlichkeit’ assoziiert.

Ein bekanntes Sprichwort in Ös-terreich besagt: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Dies gilt auch für un-sere Schule, denn ein Gebäude mit großen Glasfl ächen bietet nicht nur Vorteile. Die Glasscheiben im Win-tergarten werden vom Regen stau-big und schmutzig. Aber weil eine Reinigung ziemlich teuer ist, bleiben die Scheiben schmutzig. Die Fenster in der Schulküche sind mit einem Re-gensensor ausgestattet und lassen sich deshalb bei Regen nicht öff nen, so dass sich an sehr sonnigen Tagen die warme Luft im Wintergarten staut. Aber das ist auch schon alles –ehrlich!

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VELUX EINBLICKE Architektur für Menschen – Bauen mit VELUX.

LERNZIEL NACHHALTIGKEITGrundschule in Kingsmead

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Als der Rat der englischen Grafschaft Cheshire die Stellen für Lehrer an der neuen, mit 2,4 Millionen Pfund subventionierten nachhaltigen Modellschule in Kingsmead ausschrieb, waren die Verantwortlichen völ-lig verblüff t angesichts der Flut von mehr als vierhundert Bewerbungen, erklärt die heutige Direktorin Catriona Stewart. Doch das war erst der Anfang des großen Interes-ses an der Kingsmead-Grundschule. Seit der Eröff nung im Herbst 2004 führen Mrs. Ste-wart und ihre Kollegen Architekten und Pla-ner, Pädagogen und Lehrer sowie Politiker und Journalisten regelmäßig durch die hel-len, freundlichen Räume des Neubaus. Die Schule im Nordwesten Englands hat zahl-reiche Preise in Großbritannien gewonnen und innovative Maßstäbe für eine nach-haltige Schularchitektur gesetzt. Sunand Prasad, der neue Präsident des Royal Insti-tute of British Architects (RIBA), bezeichnete das Schulgebäude gar als Musterbeispiel für nachhaltiges Bauen in Großbritannien.

Doch hiermit nicht genug des Lobes: Die hohe Aufmerksamkeit führte unweigerlich dazu, dass das Projekt zum Musterbauvorha-ben für das kürzlich von der britischen Regie-

rung ins Leben gerufene, mit 45 Milliarden Pfund subventionierte Programm Building Schools for the Future (BSF) wurde. Das in Kingsmead verwirklichte Architekturkon-zept ist in vieler Hinsicht wegweisend, zumal sich die britische Kultur nunmehr in den letz-ten beiden Jahren intensiv – obgleich etwas spät – mit den Konsequenzen der Umwelt-zerstörung und Erderwärmung auseinan-derzusetzen beginnt.

Kingsmead war das frühe Ergebnis einer Studie der Grafschaft Cheshire, welche den Rat in den Jahren 2002/03 veranlasste, öff entliche Gebäude umweltfreundlicher zu gestalten. Der Grafschaftsrat arbeitete mit führenden Planungs- und Entwicklungs-büros wie Willmott Dixon Construction und White Design zusammen, die gemeinsam nachhaltige Baukonzepte für Design und Konstruktion entwickelten. Unter dem Namen Bildungsreformprogramm knüpft dieser Ansatz an wohlbekannte Ideen für nachhaltiges Bauen an; hierzu gehören unter anderem die Beauftragung örtlicher Bauun-ternehmer, der Einsatz natürlicher Materi-alien und die Minimierung von Abfallstoff en durch Recycling im Einklang mit hochwer-

tigem Design. Das lange, nach Norden aus-gerichtete Gebäude mit sichelförmigem Grundriss beherbergt sieben Klassenzim-mer für 210 Kinder und liegt inmitten eines neuen, mittelständischen Wohngebietes. Der Investor überließ der Grafschaft das Grundstück im Gegenzug zur Bewilligung des gesamten Bebauungskonzepts. Viele Kinder gehen in dem Wohngebiet nun zu Fuß zur Schule.

Das Gebäude steht auf einem off enen Gelände inmitten des neu entstandenen Wohngebietes. Seine konkave Grundriss-form bietet Schutz für den großen Spiel-platz auf der Rückseite der Schule. Das einstöckige Gebäude ist komplett mit rotem Zedernholz verkleidet und wird von einer Konstruktion aus Brettschichtholz-bögen und -balken getragen, die von einem dänischen Forstunternehmen geliefert wur-den. Die anfängliche Maßgabe, das Holz aus lokalem Abbau zu gewinnen, erwies sich als nicht realisierbar. Auch die Einrichtung ist überwiegend aus Holz gefertigt; für die Fuß-böden wurde teilweise Bambus, für die Tep-pichbeläge Recyclingmaterial genutzt.

Von Oliver Lowenstein.Fotos von Torben Eskerod.

Mit ihrer viel beachteten neuen Grundschule im nordenglischen Kingsmead haben Craig White und sein Büro White Design zwei Ziele erreicht: Das Gebäude bietet seinen Schülern nicht nur ein ideales Lernumfeld mit viel Tageslicht und frischer Luft, sondern macht sie auch ‚aus erster Hand’ mit den Vorzüge einer neuen, leicht gebauten und an ökologischen Kriterien orien-tierten Architektur vertraut.

S. 48-49: Die Kingsmead Primary School wurde nahezu komplett aus Holz errichtet. Ihre robuste Architektur lässt genug Spielraum für die künstlerische Kreativität und den Bewegungs-drang der Kinder.

Unten: Querschnitt mit Lüftungskonzept

Rechts: Die konkave Eingangs-seite der Schule ist der Straße zugewandt; hier liegen das Lehrerzimmer und die Verwal-tungsbüros. Unter dem weit auskragenden Dach können die Schüler ihre Fahrräder abstellen.

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Der hohe, zentral gelegene Eingangs-bau ragt nach außen hervor; das Foyer in seinem Inneren öff net sich zu einem entlang des Gebäudebogens verlaufenden Korridor. Seitlich des Foyers verbindet eine Turnhalle die beiden Gebäudefl ügel miteinander. Auf der Eingangsseite des Neubaus wurden Leh-rerzimmer, Verwaltungsräume und andere Büros eingerichtet; rückseitig befi nden sich die Klassenzimmer, von denen die Kinder Zugang zum Spielplatz durch fünf Winter-gärten erhalten. Sie sind potenzielle grüne Klassenräume, die gleichzeitig als Notaus-gänge dienen. Bei der Planung der Klassen-zimmer stand Flexibilität im Vordergrund: Durch Trennwände können die Räume je nach Bedarf vergrößert oder verkleinert werden.

Ein Grundanliegen von White Design war die natürliche Beleuchtung und Belüftung der Räume, die – um mit ihren Worten zu spre-chen – für Menschen und nicht für Maschinen konzipiert sind. Die Klassenzimmer und Ver-waltungsbüros sind vom Tageslicht durch-fl utet, wobei insbesondere die Klassenräume auf der Nordseite von den konstanten, blend-freien Lichtverhältnissen profi tieren. Das gesamte Gebäude wird natürlich belüftet,

um sowohl bei Hitze als auch Kälte ein opti-males Klima zu schaff en. Ein spezielles Steu-erungssystem überwacht das Öff nen und Schließen von Fassaden- und Dachfenstern, während ein Biomasse-Heizkessel die erfor-derliche Restheizwärme liefert.

Für Mrs. Stewart und ihre Kollegen ist die natürliche Beleuchtung neben der aus-gezeichneten Wärmedämmung einer der beiden wesentlichen Vorzüge des Schulge-bäudes. In sämtlichen Klassenräumen sor-gen zwei große Dachfenster für direkten Lichteinfall. Auch die restlichen Bereiche wie Flure, Bibliothek und Eingangshalle pro-fi tieren von natürlicher Sonneneinstrahlung, so dass auch an trüben und bewölkten Tagen keine künstlichen Lichtquellen zusätzlich eingeschaltet werden müssen. „Natürliches Licht ist für das Arbeiten viel förderlicher. Es ermüdet die Schüler nicht wie künst-liches Licht und nimmt der Schule den insti-tutionellen Charakter, ganz zu schweigen davon, dass hierdurch der Kohlenstoff aus-stoß reduziert wird“, sagt Catriona Ste-wart. Zum Vergleich zitiert sie die Leiterin einer anderen neu errichteten Schule, die ihr berichtete, dass dort nicht nur das Schul-

gebäude, sondern auch ein Teil des Schul-hofs tagsüber künstlich beleuchtet werden müssten. Allein die Stromrechnung ent-spräche in diesem Fall dem Monatsgehalt einer Halbtagskraft.

Beim Bau der Kingsmead-Schule wur-den vorwiegend natürliche und wiederver-wertbare Materialien wie Holz genutzt, die der Schule ihren unverkennbaren Charakter verleihen. Die Nachhaltigkeit der Konstruk-tion off enbart sich aber auch in zahlreichen anderen Merkmalen. White Design legt Wert darauf, Schulgebäude zu entwerfen, die die Aspekte des nachhaltigen Bauens auch als Lehr- und Lerninhalte vermitteln. Auf dem geneigten Dach wurden eine 28.000 Pfund teure Photovoltaik-Anlage sowie vier Solartwin-Paneele installiert, die rund 30 Prozent des Warmwasserverbrauchs der Schule decken. Noch interessanter für die Kinder ist jedoch das senkrechte Plexiglas-rohr im Foyer. Dieses Rohr, durch das das Regenwasser zwecks Wiederverwertung zu den Toilettenspülungen befördert wird, demonstriert ihnen auf anschauliche Weise, wie viel Wasser verbraucht wird und wie viel von dieser Menge erneut genutzt wer-

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den kann. Zu ähnlichen Zwecken ist im Korri-dor ein elektronisches Messgerät installiert, das die gesammelte Wassermenge anzeigt, und in der angrenzenden Bibliothek wurde vom Hersteller kostenlos ein Solarthermie-Paneel installiert, an dem dessen Funktion direkt erklärt werden kann.

Darüber hinaus lobt Mrs. Stewart die speziell angelegte Fluranlage, zu der eine Küche und ein Hauswirtschaftsbereich gehören. Die Küche dient zur Vermittlung mathematischen und wissenschaftlichen Grundwissens anhand von Zähl- und Mess-aufgaben. Zudem werden hier die Mahlzeiten für die Schüler mit frischen Zutaten zube-reitet. Während eine derartige Ernährungs-schulung in einigen europäischen Ländern bereits vor längerer Zeit eingeführt wurde, ist sie im britischen Schulalltag derzeit noch unüblich. Einige der hier verwendeten Lebensmittel werden auf dem weitläufi gen Schulgelände selbst angepfl anzt, nach ihrer Reife von den Kindern selbst geerntet und verzehrt – ‚Learning by Doing’ in Reinkultur. An den Apfelbäumen und Früchten des klei-nen ökologischen Gartens dürfen sich die Kinder jederzeit bedienen.

Nach ihrer Fertigstellung wurde die Kingsmead-Schule in ganz Großbritannien als großer Erfolg gefeiert. Der Rat der Graf-schaft Cheshire wird sich an diesem Konzept sowohl bei künftigen Schulbauten als auch beim Bau anderer öff entlicher Gebäude ori-entieren. Da Untersuchungen nach der Inbe-triebnahme des Gebäudes gezeigt haben, dass die Nachhaltigkeitskriterien gelegent-lich nicht ganz den gestellten Erwartungen entsprechen, werden diese nun angepasst. Nach Abschluss des Projekts hat White Design das für Kingsmead entwickelte Modell bei einer Reihe anderer Schulen in verschiedenen Landesteilen weiterentwi-ckelt. Heute, fast drei Jahre nach Eröff nung, haben die Architekten ein Wiederholungs-projekt unter dem Namen ‚Kingsmead 2’ für eine neue Grundschule in South Wales rea-lisiert, die bald eröff net wird. Das BSF-Pro-gramm kommt derweil langsam, aber sicher in Gang – die dritte und vierte der fünfzehn Projektstufen sind mittlerweile so gut wie abgeschlossen. Dabei werden Schulen wie Kingsmead auch weiterhin Maßstäbe für die zukünftige Planung von Schulen in Großbri-tannien setzen.

Oliver Lowenstein ist Herausgeber des grünen Kulturmagazins Fourth Door Review (www.fourth-door.co.uk). Die neue Herbstausgabe widmet sich der nachhaltigen Bauweise von Schulgebäuden, mit einem Beitrag von Linda Farrow (White De-sign) zur Systemtheorie bei der Schulgestaltung.

Links: Kingsmead soll den Schülern die Vorzüge leichten und ökologischen Bauens nahe bringen. Die Konstruktion der Schule wurde daher off en sichtbar gelassen – und taugt sogar als Turngerät.

Rechts: Die geräumigen Klassenzimmer liegen an der Nordseite des Schulgebäudes und erhalten gleichmäßiges Licht durch Dachfenster – ideal zum Beispiel für den Kunstunter-richt.

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FaktenGebäudetyp Grundschule für 210 SchülerStandort Kingsmead, GBBauherr Cheshire County Council, GBArchitekten White Design Associates Ltd, Bristol, GBFertigstellung 2004

1. Die Nordansicht zeigt trotz der seriellen Bauweise eine abwechs-lungsreiche Fassadengliederung. Alle Klassenzimmer werden durch zwei Fensterreihen belichtet: eine in Augenhöhe und eine unmittelbar unter dem Dach. Kleine Wintergärten dienen als Notausgänge und Erweiterung der Klassenräume.

2. Zwei massive Leimholzbinder in jeder Gebäudeachse tragen das nach Norden und Süden ansteigende Dach. Die Fassaden wurden mit Zedernholz verkleidet.

3. Grundriss

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INTERVIEW MIT CRAIG WHITE

Mr. White, Ihr Büro hat in den letzten Jahren mehrere neue Schulgebäude mit höchsten Um-weltstandards entworfen. Wel-chen Herausforderungen steht der Schulbau in Großbritannien derzeit gegenüber?In Großbritannien gibt es zahlreiche strukturelle Probleme bei der Finan-zierung des Schulbauprogramms ‚Building Schools for the Future‘. In der Vorbereitungsphase für einen Neubau muss daher vieles doppelt und dreifach erledigt werden – das ist reine Zeitverschwendung, die zu nichts führt. Eine Alternative zum staatlichen BSF-Programm bieten die regional fi nanzierten ‚One School Pathfi nder‘-Schulen. Jede örtliche Behörde kann die Finanzierung von Gebäuden oder Zusatzeinrichtungen durch diesen separaten ‚Pathfi nder-Fonds‘ beantragen. Das ist landes-weit üblich – so auch in Manchester, wo wir erst kürzlich eine neue Schule eröff net haben, oder in Cheshire bei der Kingsmead-Grundschule.

Eine weitere Herausforderung ist die Entwurfsqualität. Bei der Pla-nung eines Schulgebäudes sollte sich jeder Architekt vor Augen führen, dass das Bauwerk später von ech-ten Menschen genutzt werden wird und ein partizipativer Planungspro-zess daher nur von Vorteil sein kann. Manche Architekten bekennen sich zu Nutzerbeteiligung und verfolgen dann doch ihr eigenes Konzept, so-bald der Auftrag erst einmal erteilt ist. Dabei kann die Beteiligung ande-rer durchaus sinnvoll sein. Wir versu-chen, alle Betroff enen – Schulleiter, Lehrer und Schüler – von Anfang an in die Planung einzubeziehen, um op-timale Ergebnisse zu erzielen. Koo-peration ist uns sehr wichtig, denn häufi g haben junge Leute und Päda-gogen brillante Ideen. Diese können berücksichtigt werden, wenn man den Bauprozess zum Teil der Lehr- und Lerninhalte einer Schule macht.

Was bedeutet der Begriff ‚Nachhal-tigkeit‘ für Sie und White Design? Zunächst einmal Verständnis für den Einfl uss auf die Umwelt, den wir als Industrienation sowie als Einzelper-

sonen haben. Jeder sollte die Um-weltaspekte und wirtschaftlichen sowie sozialen Konsequenzen sei-nes eigenen Handelns bedenken und dessen Auswirkungen abwägen, die heutzutage gerne unterschätzt wer-den. Für jeden Einzelnen bedeutet dies, sich zum Beispiel folgende Fra-gen zu stellen: Kenne ich die Materi-alien und Produkte, die ich benutze? Woher kommen sie?

Außerdem gilt es zu erkennen, dass jedes Bauprojekt auf eine be-stimmte Art und Weise fundamen-tal unsere Umwelt beeinfl usst. Wir akzeptieren das, auch wenn manche Zeitgenossen die Meinung vertre-ten, dass man als Antwort auf diese Frage jedwede Bautätigkeit einstel-len müsse. Denn die Auswirkungen der Bauindustrie sind erheblich: In Großbritannien werden 48 Prozent des Kohlenstoff ausstoßes vom Bau-gewerbe produziert, 20 Prozent der Baumaterialien enden auf Müllkip-pen. Eine strengere Reglementie-rung nach dem Motto ‚Zuckerbrot und Peitsche’ bereitet dem mittler-weile ein Ende. Doch für uns stellt sich generell die Frage, ob es nicht il-legal sein sollte, Schulen und andere Gebäude schlechter Qualität zu er-richten.

Andererseits können viele Ar-chitekturbüros und ausführende Betriebe mit den alle vier Jahre aktualisierten Vorschriften kaum Schritt halten. Forcierte Umwelt-gesetze zwingen uns dazu, unsere Leistungen in einem immer rascheren Rhythmus selbst zu überprüfen. Sich nur das Ziel zu setzen, den Anforde-rungen gerecht zu werden, genügt nicht – dann ist man schnell aus dem Rennen. Wir raten immer dazu: „Neh-men Sie das Jahr 2010 als Ausgangs-basis.“ Wir Architekten müssen uns endlich von unserer kurzsichtigen Denkweise lösen, was allerdings momentan noch durch viele unter-schiedliche Zielvorstellungen be-hindert wird. Einige Büros werden nach wie vor nur die Mindestanfor-derungen erfüllen, langfristig aber wird das nicht mehr ausreichen.

Sind Nachhaltigkeit und Gesund-heit in Gebäuden für Kinder, etwa in Schulen, besonders wichtig?Gesundheit und Wohlbefi nden in Schulen sind eng mit einem nach-haltigen Baukonzept verbunden. Zur Reduzierung des Energieverbrauchs entwerfen wir Gebäude mit maxi-maler natürlicher Beleuchtung und Belüftung, was sich nachweislich po-sitiv auf die Leistungen von Lehrern und Schülern auswirkt. Professor

Brian Edwards von der Architek-turfakultät des Edinburgh College of Art hat eine Untersuchung an 42 ‚grünen‘ Schulen und 42 ‚nicht grü-nen‘ Kontrollschulen durchgeführt. Seine Ergebnisse belegen bei Erste-ren höhere Prüfungsleistungen, ein besseres Gedächtnisvermögen und weniger Krankheitsfälle.

Wie wichtig ist für Sie das Tages-licht? Hat seine Bedeutung für die Architektur in den letzten Jahr-zehnten zugenommen?Ich möchte die Frage gerne um-kehren und fragen: Warum sollte natürliches Licht unwichtig sein? Tageslicht und passive natürliche Belüftung stehen bei unseren Ent-würfen im Mittelpunkt. Sie sorgen für eine gesündere Umgebung und gesündere Kinder und verbessern die schulischen Leistungen. Diese Tatsa-che wird belegt durch zahlreiche Stu-dien, etwa von Lisa Heschong von der Heschong Mahone Group in den USA. Sie hat eine umfangreiche Lang-zeitstudie an rund 3.000 Schulen durchgeführt und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass natürliche Beleuchtung und Belüftung die Lern-fähigkeit sowohl beim Rechnen als auch Schreiben fördern.

Noch vor zehn Jahren war es in den USA üblich, Schüler in rie-sigen, ausschließlich künstlich be-leuchteten Gebäudekomplexen zu unterrichten, denen wesentliche Ein-richtungen wie Bibliotheken oder Le-seräume fehlten.

Die Studien von Lisa Heschong haben dazu beigetragen, diesen Zu-stand zu ändern. In einem Teil der Studie wurden zwei Gruppen von Kindern untersucht, von denen eine in einem natürlich beleuchteten Klas-senzimmer unterrichtet wurde und die andere (die Kontrollgruppe) in einem künstlich beleuchteten Klas-senraum ohne Tageslicht. Dabei hielten sich beide Gruppen über den gleichen Zeitraum in ihrem Klas-senzimmer auf. Die Kontrollgruppe zeigte um ca. 20 Prozent langsamere Lernfortschritte als die Kinder bei natürlichem Licht.

Die Quintessenz all dessen lau-tet: Künstliches Licht ist unserer Gesundheit weniger zuträglich als natürliches. Künstliche Lichtquel-len strahlen eine konstante und un-veränderliche Lichtmenge aus, die unser Handeln beeinträchtigt, die Umgebung steril wirken lässt und die Konzentrationsfähigkeit herab-setzt. In Extremfällen werden die Un-terdrückung natürlichen Lichts und die ausschließliche Nutzung künst-

licher Lichtquellen bekanntermaßen als Foltermittel eingesetzt.

Trotz allem bin ich kein Gegner künstlichen Lichts, denn schließlich sind wir alle darauf angewiesen. Wer aber behauptet, jeder Schreibtisch müsse mit 500 Lux beleuchtet wer-den, liegt falsch. Wo immer möglich, sollte dynamisches Tageslicht be-vorzugt werden, und das wissen wir Menschen auch rein intuitiv.

Ist ökologisches Design für Sie eine moralische Pfl icht und sollte es gesetzlich vorgeschrieben wer-den, oder betrachten Sie es nur als Geschäftsidee, die durch den freien Markt geregelt wird?Für uns hat die Planung eines Ge-bäudes durchaus moralische As-pekte. Aber auch diese Frage möchte ich gerne umkehren und die großen Planungsbüros und Generalunter-nehmer fragen, was daran vorteil-haft sein soll, Gebäude zu bauen, in denen Leben, Arbeiten, Lernen und Unterrichten schwer fallen? Warum sollte man Häuser errichten, die den Menschen abstumpfen, statt ihn sich wohl fühlen zu lassen? Viele Unter-nehmen und Betriebe sind sich der ethischen Problematik durchaus be-wusst – und ich glaube sogar, dass diese der Regierung und erst recht den Architekten um einiges vor-aus sind. Für Letztere ergeben sich hieraus interessante Herausforde-rungen.

Andere europäische Staaten wie Deutschland und Dänemark sind Großbritannien mit ihren ge-setzlichen Vorschriften derzeit einen Schritt voraus. In der alltäg-lichen Praxis agieren sie allerdings eher indiff erent, langsam und will-kürlich agieren. Nachhaltiges Bauen wird dort bereits als selbstverständ-lich vorausgesetzt. Auch wenn wir in Großbritannien noch nicht ganz so weit sind, macht sich in jüngs-ter Zeit doch auch unter unseren Architekten das Bestreben bemerk-bar, unsere europäischen Nachbarn beim ökologischen Bauen einzuho-len und zu überholen. Denn die wirk-liche Herausforderung liegt nicht in der heutigen Situation, sondern in der Frage, was wir bis 2050 werden tun können.

Das Gespräch führte Oliver Lowenstein

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VELUX IM DIALOG VELUX Daylight Symposium am 6.–7. Mai in Bilbao

MEHR LICHT!Tageslicht ist ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags. Dennoch machen uns neue wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder deutlich, wie wenig wir wirklich darüber wissen. Aktuelle Forschungsergeb-nisse und Methoden zur Simulation und Berechnung von Tageslicht wurden beim zweiten VELUX Daylight Symposium im Guggenheim Museum in Bilbao vorgestellt. Die Komplexität des Tageslichts muss – so die Argumentation vieler Referenten – allgemein verständlich und handhabbar gemacht werden, um natürliches Licht sinnvoll in den Planungsprozess einzubinden.

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Was haben Segeln und Architektur mit-einander zu tun? Mehr, als man annehmen möchte – dies zumindest wurde deutlich, als zum Auftakt des zweiten VELUX Daylight Symposium in Bilbao die Sieger der VELUX 5 Oceans Regatta geehrt wurden. Nur vier der sieben Einhandsegler, die das vielleicht härteste Segelrennen der Welt im Oktober 2006 aufgenommen hatten, hatten die drei schier endlosen Etappen der Regatta erfolg-reich bewältigt und bis zu 159 Tage lang Unwetter, Seestürmen und chronischem Schlafmangel getrotzt.

Im Segeln wie in der Architektur geht es um den schonenden Einsatz von Ressour-cen und die Qualität der eingesetzten Mate-rialien, das Zusammenspiel von Mensch und Technik und nicht zuletzt um die Frage, wie der Mensch der Natur entgegentritt: Ver-sucht er, sie um den Preis des eigenen Schei-terns zu bezwingen, lässt er sich ziellos von ihr treiben, oder versucht er, durch voraus-schauendes Handeln Extremsituationen zu meiden und trotzdem zum Ziel zu gelan-gen? Bernard Stamm aus der Schweiz, der souveräne Sieger der VELUX 5 Oceans, gilt nicht zuletzt deswegen als so erfolgreich, weil er seine Yacht ‚Cheminées Poujoulat‘ äußerst materialschonend auch durch die schwersten Stürme bewegt.

Wie beim Segeln geht es auch bei der Tageslichtplanung in der Architektur um neue Nutzungen für eine der ältesten und umweltverträglichsten Energiequellen über-

haupt. Der Einfl uss von Klima und Tageslicht auf den menschlichen Körper und sein Wohl-befi nden sowie das Ziel, den Elementen nicht nur zu widerstehen, sondern sie ebenso nachhaltig wie gewinnbringend zu nut-zen, waren Kernpunkte in den Diskussionen beim diesjährigen VELUX Daylight Sympo-sium. 2005 wurde die Veranstaltungsreihe in Budapest gestartet, und künftig sollen die Symposien im Abstand von zwei Jah-ren regelmäßig Vertreter aus Forschung und Praxis, also Lichtplaner, Architekten, Hoch-schullehrer, Vertreter aus der Politik und von Wohnungsbaugesellschaften, zu einem pro-fessionellen Dialog zusammenbringen.

Licht und Gesundheit: Alte und neue ErkenntnisseBei dem Symposium 2005 in Budapest stand die Frage im Mittelpunkt, wie die Wirkung natürlichen Lichts in Gebäuden einfach, verständlich und umfassend defi -niert und wie das Tageslicht in der Planung optimal genutzt werden kann. Diese Diskus-sion wurde in Bilbao weitergeführt und um einen dritten Aspekt erweitert: Welchen Einfl uss haben Tageslicht und direkte Son-neneinstrahlung auf Gesundheit und Wohl-befi nden des Menschen, welchen auf seine Lernfähigkeit und Arbeitsleistung?

James Benya, Direktor von Benya Lighting Design und Professor für Umwelt-planung an der Universität von Kalifornien (USA), erläutert: „In den letzten zwanzig

Zum zweiten Mal nach 2005 brachte VELUX mehr als 200 Experten aus aller Welt zusammen, um über Tageslicht zu diskutieren. Das Guggenheim Museum von Frank Gehry bot mit seiner lichtdurchfl uteten Architektur den passenden Rahmen für das VELUX Daylight Symposium.

Jahren hat sich die medizinische Forschung zunehmend mit dem Licht und dessen Aus-wirkungen auf die menschliche Gesundheit auseinandergesetzt. Der Einfl uss natürlichen Lichts auf das Schlafverhalten und den zir-kadianen Rhythmus eines Menschen sowie auf die endokrinen Abläufe im menschlichen Körper ist nunmehr allgemein anerkannt. Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass das Tageslicht und seine Auswirkungen, ange-fangen von der Vitamin-D-Synthese bis hin zu zahlreichen lichtgesteuerten Körperfunk-tionen, für unser Leben unerlässlich sind.“

James Benya zufolge existieren derzeit zwei wesentliche Triebfedern für die Tages-lichtnutzung in Gebäuden: einerseits der Faktor Energie und Umwelt, andererseits der Aspekt von Gesundheit und Leistungs-fähigkeit. „Weltweit durchgeführte Stu-dien, aber auch die zunehmend restriktive Norm- und Gesetzgebung belegen die Not-wendigkeit von Tageslicht und Ausblicken ins Freie in der Architektur. Auch wenn die Gründe noch nicht im Detail erforscht sind, haben Untersuchungen ihre positiven Aus-wirkungen wiederholt nachgewiesen.“

Richard Hobday, Experte für Tageslicht und Gesundheit an der Universität Bristol, betont die Wichtigkeit des direkten Sonnen-lichts für unser Leben und somit auch für die Architektur: „Seit Tausenden von Jah-ren wird das Sonnenlicht als Medizin ein-gesetzt. Schon im alten Ägypten wurde die Sonnenlichttherapie praktiziert, und

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die Griechen und Römer richteten in der Antike Solarien auf den Dächern ihrer Häu-ser ein, um gesundheitsfördernde Sonnen-bäder zu nehmen.“ Laut Hobday sind weit verbreitete Gesundheitsprobleme wie Vita-min-D-Mangel und ungesunde Zustände in Krankenhausstationen unmittelbare Fol-gen des Sonnenlichtentzugs. „90 Prozent unseres Vitamin-D-Bedarfs ziehen wir aus dem Sonnenlicht, verbringen aber gleichzei-tig 90 Prozent unserer Zeit in Innenräumen. Der Mangel an Vitamin D ist in unseren Kul-turen mittlerweile zu einem endemischen Problem geworden, und selbst die Men-schen in sehr heißen Ländern setzen sich nicht mehr unbedingt lange der Sonne aus, da sie unseren westlichen Lebensstil über-nommen haben.“

Ebenso wenig sinnvoll ist es, sich unserem von der Sonne bestimmten täg-lichen Biorhythmus entziehen zu wollen, fügt Richard Hobday hinzu. „Die Sonne ist die wesentliche Antriebskraft für den Bio-rhythmus des Menschen und insofern viel wichtiger als unsere Alltagsroutine wie Frühstück, Mittagessen und so weiter. Men-schen, die das Sonnenlicht ständig meiden, zeigen unter Umständen Phänomene wie bei einem permanenten Jetlag.“

Licht und Lernen: Die Sonne – der beste Lehrer?Nur wenige Forscher haben ähnlich umfas-send nach den Auswirkungen des Sonnen-

lichts auf das menschliche Lernverhalten geforscht wie Lisa Heschong. Gemeinsam mit ihrem Büro, der Heschong Mahone Group, hat sie das Lernumfeld von mehre-ren Tausend Schülern im Westen der USA untersucht, um die Auswirkungen räum-licher Gegebenheiten wie der Größe und Ausrichtung des Klassenzimmers, natür-licher Belichtung und von Fensterblicken auf die Leistungen der Schüler zu erfor-schen. In nahezu jeder Einzelstudie erwiesen sich Tageslicht und Fensterblick als wich-tige Einfl ussfaktoren auf das Lernverhalten der Schüler, mit weitaus höherer Signifi kanz als etwa die Schülerzahl pro Klasse oder die Anzahl von Fehlstunden. Die Gründe hierfür unterstrich Lisa Heschong in ihrem Vortrag:

„Licht ist eine Art ‚Droge’, die die Produk-tion von Serotonin, Dopamin und Gamma-Aminobuttersäuren im menschlichen Körper stimuliert, was zu verbesserter Impulskon-trolle, gesteigerter Motivation und besserer Muskelkoordination führt und somit Ruhe und Konzentration fördert.“

Probleme mit unzureichendem Tages-licht, mangelnder Aussicht und ungenü-gender Raumgröße gehören für die Kinder der Behindertenschule im österreichischen Schwechat längst der Vergangenheit an. Die Schulleiterin Ingeborg Schramm stellte die Schule aus der Sicht der Nutzer vor: „Im Gegensatz zu unserem alten Schulgebäude

– einem düsteren Bauwerk mit dunklen, höh-lenartigen Klassenräumen – zeichnet sich

unsere neue Schule durch Helligkeit und Freundlichkeit aus und lässt uns den natür-lichen Wandel der Jahreszeiten hautnah miterleben.“ Der Neubau der Architekten fasch&fuchs aus Wien lässt nicht nur mehr Tageslicht in die Räume fl ießen, sondern bie-tet auch buchstäblich mehr Off enheit, wie Hemma Fasch, Partnerin bei fasch&fuchs, erläutert: „Lichtplanung bedeutet viel mehr als nur Glas in die Gebäudehülle einzusetzen. Wir wollten den Kindern auch ein höheres Selbstvertrauen vermitteln, indem wir sie durch das off ene Baukonzept am Gesell-schaftsleben teilhaben lassen.“

Werkzeuge für die Planung: Pappmodelle oder Computer?Zu den hervorstechendsten Merkmalen der neuen Schule in Schwechat gehört die komplexe, aber spielerische Gesamtstruktur. Insofern mag es überraschen, dass für die Tageslichtplanung des Gebäudes ausschließ-lich traditionelle ‚Werkzeuge’ wie Pappmo-delle, aber keinerlei Computersimulationen verwendet wurden. Eine solche Vorgehens-weise ist in der Architektur noch immer eher die Regel als die Ausnahme: Während der Planungsprozess eines Gebäudes einschließ-lich der Tragwerks- und Klimaplanung heute nahezu komplett rechnergestützt abläuft, verlässt man sich beim Tageslichtdesign nach wie vor oft auf Faustregeln, persön-liche Erfahrung und Arbeitsmodelle. Die Frage stellt sich indessen, wie lange dieser

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Zustand anhalten wird. Jan Ejhed, Professor an der Königlichen Technologischen Hoch-schule in Stockholm, stellt fest: „Die Tages-lichtplanung wird zunehmend komplexer, sodass die Entwicklung neuer Planungsme-thoden und Werkzeuge unabdingbar gewor-den ist. Die Frage ist jedoch: Was bieten uns die neuen Methoden, und was davon brau-chen wir wirklich? Besteht andererseits das Risiko, wesentliche Aspekte unberücksich-tigt zu lassen?“

Magali Bodart, Forscherin und Dozen-tin an der Université Catholique de Louvain, befürwortet nachdrücklich die traditionellen Methoden, insbesondere in der Architektur-lehre: „Die Erfahrung zeigt, dass Architekten die Lichtsituation in einem Raum physisch erfahren müssen, um Lösungen quantita-tiv und qualitativ gegeneinander abwägen zu können. Diese intuitive Einschätzung anhand maßstabsgerechter Modelle und der dreidimensionalen Wahrnehmung der Lichtverteilung ist derzeit noch nicht durch Computersimulationen zu ersetzen. Zudem ist die korrekte Nutzung von Simulations-programmen viel zu komplex, um sie zum Bestandteil der Lehre zu machen.“

Zack Rogers, leitender Berater für Tageslicht der amerikanischen Architectural Energy Corporation (AEC), betont hingegen, dass auf dem Markt zahlreiche Computer-programme erhältlich seien, die für Archi-tekten und Lichtdesigner in nahezu jedem Planungsschritt unterstützen könnten. „Bei

der Gebäudeplanung“, fügt er hinzu, „sollte jeder Architekt das Tageslicht von Anfang an einbeziehen, denn schließlich sind Fak-toren wie Lage und Ausrichtung eines Gebäudes absolut ausschlaggebend.“

Es besteht ein immenser Bedarf an leicht verständlichen und intuitiv zu bedienenden Werkzeugen, die die direkte Sonnenein-strahlung und die Verschattung, die Aus-richtung und die klimatischen Verhältnisse in einem Gebäude berücksichtigen. Compu-ter erweisen sich hierbei als willkommenes Hilfsmittel, da sie eine größere Interaktivi-tät und die schnellere Änderung von Plänen ermöglichen. Henrik Wann Jensen, leitender Wissenschaftler bei Luxion in Kalifornien, stellte dem Publikum seine Zukunftsvisionen für computergestützte Visualisierungen in der Tageslichtplanung vor. Um einen Kun-den von einem bestimmten Design zu über-zeugen, bedarf es – so seine Argumentation

– nicht nur exakter Lichtberechnungen, son-dern auch einer realistischen und objektiven visuellen Darstellung. Die neueste Software von Luxion ermöglicht die fotorealistische Darstellung komplexer Objekte wie Autos in unterschiedlichen Umgebungen in Echtzeit. In der Automobilindustrie sind diese Soft-ware-Lösungen mittlerweile Standard, da sie die Planungskosten erheblich senken kön-nen: Viele Planungsentscheidungen basie-ren nunmehr auf Computerdarstellungen und nicht mehr auf kostspieligen Realmodel-len im Maßstab 1:1. Die Softwaredesigner

von Luxion haben sogar noch ein anderes As im Ärmel: Die ‚molekulare Modelldarstel-lung’ ist eine Methode, mit der die visuelle Erscheinung einer Substanz einschließlich ihrer Farbe, Transparenz und Lichtbrechung allein auf Basis ihrer jeweiligen Molekül-struktur simuliert werden kann.

Der Tageslichtquotient und mögliche Alternativen Bereits auf dem Tageslichtsymposium 2005 in Budapest war die Notwendigkeit deut-lich geworden, neue Methoden zur Simu-lation und Einschätzung des Tageslichts in Gebäuden zu fi nden und diese eventuell durch neue Gesetze verbindlich zu machen. John Mardaljevic, Forscher an der Universi-tät De Montfort in Leicester, erklärt: „Der vor rund fünfzig Jahren eingeführte Tages-lichtquotient ist nach wie vor die am meisten genutzte Methode zur quantitativen Mes-sung des natürlichen Lichteinfalls in Gebäu-den. Trotz ihrer off enkundig beschränkten Möglichkeiten ist diese Methode immer noch führend, allerdings eher wegen ihres Bekanntheitsgrades und ihrer einfachen Anwendung als wegen ihrer Genauigkeit.“

Christian Vogt, Lichtdesigner bei Vogt & Partner in Winterthur, sagt: „Derzeit ist der Tageslichtquotient das einzige und nach wie vor beste Mittel, das uns zur Ver-fügung steht.“ Andere zeigen sich kritischer gegenüber dieser Messmethode, die auf den Beleuchtungsverhältnissen bei gleich-

Links: Mit ihrem engagierten Vortrag über Tageslicht an amerikanischen Schulen blieb Lisa Heschong (Heschong Mahone Group) vielen Zuhörern nachhaltig in Erinnerung.

Rechts: In den Pausen des Symposiums hatten die Teilnehmer Gelegenheit zum Meinungsaustausch in moderierten Diskussionsrunden.

S. 60-61: Mehr als 50 Meter ragt das Atrium des Guggenheim Museum über den Köpfen der Symposiumsteilnehmer empor – eine Hommage an das Tageslicht, die auf ihre Art ebenso einzigartig ist wie die äußere Form des Museums.

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mäßigen Wetterbedingungen basiert und daher weder direkte Sonneneinstrahlung, die Ausrichtung eines Gebäudes noch das Klima berücksichtigt. Lisa Heschong sagt:

„Der Tageslichtquotient ist ein nützliches, aber sehr oberfl ächliches Mittel. Wir müs-sen neue Messmethoden fi nden, die auch die Veränderlichkeit des Tageslichts und die kli-matischen Verhältnisse einbeziehen.“ Solche Methoden müssten nicht zwangsläufi g kom-pliziert sein: „Beim Tageslichtdesign sehen sich die Architekten grundsätzlich mit zu vielen Informationen konfrontiert. Wir müs-sen uns der Herausforderung stellen, diese komplexen Bedingungen zukünftig in eine simple Richtlinie umzuwandeln.“

Ein neues Konzept zur Tageslichtmes-sung wurde von John Mardaljevic beim VELUX Daylight Symposium vorgestellt. Diese Methode basiert auf der – wie Mar-daljevic sie nennt – ‚nutzbaren Beleuch-tungsstärke des Tageslichts’ (useful daylight illuminance – UDI). Mardaljevic defi niert die UDI als die Zeitspanne innerhalb eines Jah-res, während der die Beleuchtungsstärke an einem bestimmten Ort zwischen 100 und 2000 Lux und somit in dem für die Raumbe-leuchtung ‚nützlichen’ Bereich liegt.

Der Dialog geht weiterGleichgültig, welche Berechnungsmetho-den sich letztendlich durchsetzen werden: Die Notwendigkeit innovativer Denkansätze wurde von vielen Teilnehmern des Sympo-

siums erkannt. „Das Gebot der Stunde für Architekten und Ingenieure weltweit lau-tet, bei der Gebäudeplanung die Auswir-kungen des Tageslichts auf Gesundheit und Leistung der Menschen zu berücksichtigen“, so James Benya. „Gutes Planungshandwerk allein genügt nicht mehr. Erstrebenswert wären vielmehr Vorschriften zur Reglemen-tierung des Tageslichteinfl usses in Innen-räumen, die lichtdurchfl utete Gebäude zur Regel und nicht zur Ausnahme machen. Vor allem in Schulen, wo unsere Kinder – die Generationen der Zukunft – den Großteil ihres Tages verbringen, sollte dies selbst-verständlich sein.“

Tageslicht erweist sich als unbezahl-bares, zugleich aber kostenloses Mittel, um den Energieverbrauch in Gebäuden zu redu-zieren, so Magali Bodart: „Angesichts des globalen Klimawandels trägt Tageslicht in Gebäuden zur Verringerung des Energie-verbrauchs bei und ist somit Wegbereiter für eine nachhaltige Bauweise. Dennoch bleibt das Tageslicht für die Mehrheit der Architekten ein rein theoretisches Kon-zept, mit dem man sich kaum beschäftigt, geschweige denn experimentiert. Daher ist es dringend notwendig, die Tageslichtpla-nung zum Bestandteil jedes Architekturstu-diums zu machen.“

Lisa Heschong ermutigt die Architekten, ihre Vorbehalte gegenüber der Komplexi-tät des Tageslichts abzulegen. „Tageslicht ist in hohem Maße veränderlich. Nutzen

Sie also diese Variabilität! Spielen Sie mit dem Tageslicht und nutzen Sie seine Vor-teile, anstatt sie zu unterdrücken – was nicht unbedingt bedeuten muss, Räume mit jeder-zeit ‚perfekten’, gleichmäßigen Lichtverhält-nissen zu entwerfen.“

Die Tageslichtplanung ist einer der letz-ten Bereiche in der Architektur, in dem Faust-regeln langsam, aber sicher durch moderne Berechnungs- und Simulationsmethoden ersetzt werden. Von der hieraus resultie-renden höheren Genauigkeit, Geschwindig-keit und Interaktivität wird das gesamte Bauwesen profi tieren – vorausgesetzt, dass die neuen Werkzeuge für die Mehrheit der Anwender einfach zu nutzen sind.

Dieser einschneidende Wandel in der Tageslichtplanung bringt seinerseits einen erheblichen Bedarf an einem kontinuier-lichen interdisziplinären Dialog mit sich. In diese Lücke stößt das VELUX Daylight Symposium, das sich spätestens mit seiner zweiten Ausgabe als ein wichtiges Forum für moderne Tageslichtlösungen etabliert hat. Ein Teilnehmer aus Polen kommentierte dies in Bilbao so: „Vielen Dank für die Ein-ladung zu dieser Konferenz. Die Aufgabe an uns alle muss nun lauten, uns den Wert des Tageslichts wieder vor Augen zu füh-ren. Dieser Aspekt ist möglicherweise eine Zeit lang in Vergessenheit geraten, aber er kehrt im Moment defi nitiv auf die Tages-ordnung zurück.“

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HINTERGRUNDIn seiner bisherigen Geschichte hat VELUX stets besonderes Augenmerk auf die opti-male Nutzung von Tageslicht in jeder Art von Gebäude gelegt. Dieses Interesse ist auf natürliche Weise verbunden mit den Dach-fenstern, die VELUX seit 60 Jahren herstellt und zu einem ausgereiften System weiter-entwickelt hat. Mit der Entwicklung und Produktion der Dachfenster und Zubehör-produkte, die das Sonnenlicht und den Licht-einfall steuern und kontrollieren, aber auch durch Initiativen in Bezug auf Gesetzgebung und Forschung im Bereich des Tageslichts und des Innenraumklimas hat das Unterneh-men sein Interesse an deren Nutzung deut-lich gemacht.

Interesse am Tageslicht in der zeitge-nössischen Architektur zu wecken – und nicht nur an jenem, das durch VELUX-Pro-dukte ins Gebäude fällt – sieht VELUX als eine wichtige Aufgabe an. Das VELUX Day-light Symposium und der Studentenwett-bewerb ‚International VELUX Award for Students of Architecture‘ mit seinem Thema ‚Light of Tomorrow‘ gehören zu den wich-tigsten internationalen Initiativen auf die-sem Gebiet.

FAKTENDatum: 6.–7. Mai 2007Ort: Guggenheim Museum, Bilbao

TEILNEHMER ca. 300 (Architekten, Lichtexperten, Lehrkräfte und andere Interessenten) aus 24 Ländern

MODERATORENJames R. Benya, Benya Lighting Design, Universität von Kalifornien (USA)Jan Ejhed, Königliche Technische Hochschule (KTH), Stockholm (Schwe-den); Präsident der European Lighting Designers’ Association (ELDA)

REFERENTENDr Richard Hobday, University of the West of England, Bristol, GBLisa Heschong, Heschong Mahone Group, USAHemma Fasch, Architektin, fasch&fuchs Architekten, Wien, AIngeborg Schramm, Direktorin Sonder-schule Schwechat, AChristian Vogt, Vogt and Partner, Licht-gestaltende Ingenieure, Winterthur, CHDr Magali Bodart, Postdoctoral Resear-cher FNRS, Dozentin an der Université Catholique de Louvain, BZack Rogers, Architectural Energy Cor-poration, LightLouver LLC, Boulder, USAJohn Mardaljevic, Institute of Energy and Sustainable Development, De Montfort University, Leicester, UKHenrik Wann Jensen, leitender Wissen-schaftler bei at Luxion und Associate Pro-fessor an der University of California, San Diego, USA

DISKUSSIONSLEITERSteve Selkowitz, leitender Wissenschaft-ler am Lawrence Berkeley National Labo-ratory, USAMarc Fontoynont, Professor, Direk-tor des Laboratoire Sciences de l’Habitat, Département Génie Civil et Batiment, ENTPE, FWerner Osterhaus, Centre for Building Performance, School of Architecture, Victoria University, Wellington, NZPer Olaf Fjeld, Professor an der Architek-tur- und Designhochschule Oslo, Präsident der European Association of Architectural Education.Jens Christoff erson, Forschungsleiter am Dänischen Institut für Gebäudeforschung (Statens Byggeforskningsinstitut – SBI).

Mehr Informationen unter:www.thedaylightsite.com

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THE LIGHT REVOLUTIONHealth, Architecture and the Sun

Autor: Richard HobdayThe Findhorn PressISBN 978–1–984409–087–7

Der Mensch entdeckt die Sonne wie-der. Neue medizinische Erkenntnisse haben in den vergangenen fünf Jah-ren wiederholt deutlich gemacht, welche ungeahnten Auswirkungen das Licht unseres Zentralgestirns auf unsere Gesundheit hat: Sonnen-licht ist gegen Depressionen ebenso wirksam wie die gebräuchlichsten Psychopharmaka, besitzt aber weit weniger Nebenwirkungen. Sonnen-licht beschleunigt die Wundheilung und verringert sogar das Schmerz-empfi nden. Darüber hinaus versorgt Sonnenlicht den menschlichen Kör-per mit Vitamin D und schützt uns so vor Krebs, Herzkrankheiten und Osteoporose.

Doch hat die Wiederentdeckung der Sonne auch praktische Folgen? Richard Hobday, britischer Ingeni-eur mit jahrelanger Erfahrung im so-laren Bauen, ist skeptisch – und ruft daher in ‚The Light Revolution’ dazu

auf, das Bauen mit der Sonne neu zu lernen. ‚The Light Revolution’ handelt vom Bestreben des Menschen, hygi-enischere, besser belüftete und be-lichtete, kurz: gesündere Bauwerke zu errichten. Seine Protagonisten sind andere als die, die gemeinhin in Büchern über Architekturgeschichte auftauchen: Imhotep, der Arzt, Ho-hepriester des ägyptischen Sonnen-kults und Baumeister in einer Person war. Vitruv, in dessen Werk die rich-tige Ausrichtung eines Bauwerks zur Sonne eine mindestens ebenso wich-tige Rolle spielt wie formale Aspekte. George Bernard Shaw, der irische Schriftsteller, der sich zum Arbeiten einen drehbaren Schuppen errich-ten ließ, den er stets dem Stand der Sonne nachführen konnte. Und Flo-rence Nightingale, die Pionierin der modernen Krankenpfl ege, die auf di-rektem Sonnenlicht in ihren Kran-kenzimmern bestand: „Es ist das uneingeschränkte Ergebnis aller mei-ner Erfahrung mit kranken Menschen, dass ihr Bedürfnis nach Sonnenlicht nur noch von ihrem Bedarf nach fri-scher Luft übertroff en wird …“

Das erste Kapitel seines Buchs hat Richard Hobday nicht ohne Grund

„Nichts Neues unter der Sonne“ über-schrieben. Schon die alten Römer wussten um die desinfi zierende und psychologisch stimulierende Wir-kung des Sonnenlichts. Doch das blinde Vertrauen auf Psychophar-maka und Antibiotika ließ die posi-tiven Wirkungen des Sonnenlichts ab Mitte des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Mit fatalen Folgen, wie Hobday schreibt: Welt-weit grassiert der Vitamin-D-Man-gel, dessen Folgen allein in den USA jährlich über 50.000 Menschen zum Opfer fallen. Depressionen wer-den sich bis 2020 wohl zur welt-weit zweithäufi gsten Todesursache entwickelt haben. Zudem erlebt die Menschheit die Rückkehr sogenann-

ter ‚Superbugs’, hoch resistenter Krankheitserreger, denen selbst mit Antibiotika kaum beizukommen ist. Die Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern.

Drei Faktoren behindern Hobday zufolge das Bauen mit der Sonne: Erstens gilt direktes Sonnenlicht weithin noch immer als gesund-heitsschädlich und krebserregend. Zweitens verlangen Normen nach Blendfreiheit für viele Innenräume und begünstigen daher indirektes Tages- oder gar Kunstlicht. Und drittens hat das Bestreben, Ener-gie zu sparen, zu Gebäuden geführt, in denen Fensterfl ächen minimiert und Dämmstoff dicken maximiert wurden.

Hobdays Vorschläge, wie unter diesen Voraussetzungen eine neue ‚solare Architektur’ aussehen könnte, bleiben eher vage. Zwar stellt der Autor in seinem Buch ein knap-pes Dutzend Vorbilder aus dem 20. Jahrhundert – von Alvar Aaltos Sa-natorium in Paimio bis zu Richard Neutras Lovell House in Los Angeles

– vor, doch deren Beschreibung bleibt insgesamt summarisch und ober-fl ächlich. Die Stärken von ‚The Light Revolution’ liegen denn auch eindeu-tig im medizinisch-historischen Be-reich. Mit einer Vielzahl von Studien und Zitaten untermauert Hobday seine These von der ‚heilenden Sonne’. Dass er damit nebenbei eine ganze Reihe etablierter Glaubenssätze – der Schulmedizin wie der Architektur – in Frage stellt, macht sein Buch im Grunde erst interessant. ‚The Light Revolution’ ist ein provokanter Bei-trag zur Diskussion über künftige Präferenzen in der Architektur. Als solcher sollte er ernst genommen werden, gerade weil er einen eher unorthodoxen Standpunkt auf über-aus eloquente und fundierte Weise vertritt.

DOMESTIC LANDSCAPES

Autoren: Bert Teunissen, Saskia AsserApertureISBN 978–1–59711–040–2

Seit rund zehn Jahren fotografi ert der niederländische Fotograf Bert Teunissen Interieurs aus einer im Ver-schwinden begriff enen Welt: Häuser, meist in ländlichen Regionen, die vor den Weltkriegen errichtet wurden, bevor Elektrizität und fl ießendes Wasser Einzug in das menschliche Wohnen hielten. Und ihre Bewoh-ner: fast immer Angehörige der äl-teren Generation, oft gezeichnet von lebenslanger körperlicher Arbeit und oft auch vom ökonomischen Mangel, aber immer auch eine tief verwur-zelte, ruhige Würde ausstrahlend.

Die Beweggründe für die Serie ‚Domestic Landscapes’ (Häusliche Landschaften), die nun erstmals als Buch erschienen ist, liegen teils in Teunissens eigenen Biografi e. Er schreibt: „Domestic Landscapes ist meine Suche nach dem speziellen Licht und den Atmosphären, die mir als kleiner Junge so vertraut waren und die in dieser Welt noch immer exi-stieren. Weil ich mir sicher bin, dass sie zum Verschwinden verdammt sind, […] würde ich sie gerne für meine und Ihre Kinder festhalten [...]“

Teunissen nutzt beim Fotografi e-ren stets nur das natürliche Licht, das durch Fenster in den Raum fällt. Dies rückt seine Arbeit – eher unbewusst, ohne dass es je seine Absicht gewe-sen wäre – in die Nähe der Genre- und Fensterbilder aus dem Goldenen Zeit-alter der niederländischen Malerei, von Malern wie Jan Vermeer und Pie-ter de Hooch. Doch fast mehr noch als von Licht, Raum und Atmosphäre er-zählt ‚Domestic Landscapes’ von Le-

BÜCHERREZENSIONENZum Weiterlesen: Aktuelle Bücher,präsentiert von D&A.

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befriedigt: Colette Gouvion entführt ihre Leser auf eine Reise durch die Bäder und Spas der Welt, von den Thermen der römischen Antike über die japanischen onsen und die rus-sische banja bis zu den Hamams des Maghreb. Die Autorin verwebt histo-rische Fakten, Glaubensinhalte, hy-gienische und sittliche Aspekte zu einer inspirierenden Erzählung über die Kultur des Badens. Sie erläutert, wie medizinische Erkenntnisse und das Sozialgefüge der Gesellschaft, Religion und mitunter auch Aber-glaube die Architektur der Bäder beeinfl usst haben. Dabei werden durchaus auch lang gepfl egte Vor-urteile ausgeräumt; zum Beispiel die Mär von der Körperfeindlichkeit des Islam. Im christlichen Europa dage-gen sorgte ein regelrechtes religiös sanktioniertes ‚Badeverbot’ für teils desaströse hygienische Verhältnisse, die den englischen Sexualforscher Henry Havelock Ellis zu der Bemer-kung veranlassten, ein Christ lasse lieber die vergängliche Hülle seines Körpers in Schmutz baden, als Ge-fahr zu laufen, die strahlende Rein-heit des unsterblichen Geistes zu beschmutzen.

Obwohl man sich hier und da ein wenig mehr Details gewünscht hätte und die Autorin die großen europä-ischen Bäder des 19. und 20. Jahr-hunderts mehr oder weniger im Nebensatz abhandelt, ist ihr mit ‚Spa’ doch ein optisch und inhaltlich beein-druckendes Werk gelungen. Dass sie sich im Schlusskapitel in den Niede-rungen der Heimwerker- und Kos-metikbranche verirrt; Einrichtungs-, Reise- und Einkaufstipps verteilt, mag man unter der Rubrik ‚Kun-denservice’ verbuchen; es passt im Grunde jedoch weder zum Stil noch zum Anspruch des Buchs. Den posi-tiven Gesamteindruck von ‚Spa’ kann jedoch auch dieser konzeptionelle Bruch nicht wirklich schmälern.

Clément lässt Naturräume entste-hen, in denen der Mensch sich mit der Rolle eines Betrachters zufrieden gibt. Philippe Rahm dagegen schaff t architektonische Räume, in denen er die totale Kontrolle – zumindest der klimatischen Gegebenheiten – behält. Doch die Herausgeberin des Buchs, Giovanna Borasi, betont auch die Ge-meinsamkeiten zwischen beiden: den Verzicht auf die künstlerische Form, die Sichtbarmachung des Unsicht-baren in der Natur und die Beschäf-tigung mit den Prozessen des Lebens auf einer wissenschaftlichen Ebene. ‚Environ(ne)ment’ ist ein optisch un-spektakuläres, aber zum Nachdenken anregendes Buch über zwei Künstler, die jeder für sich einen eigenen, zu-kunftsweisenden Begriff von ‚Natur’ und ‚Umwelt’ defi niert haben.

SPA

Autorin: Colette GouvionKnesebeck VerlagISBN 978–3–89660–423–1

Die Kultur des Heilbadens war in der Fitness- und Spaßgesellschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts zu-nächst zu einer Randerscheinung ge-worden. Doch in den vergangenen zehn Jahren eroberte sie die Welt des Tourismus und der Architektur im Sturmschritt. Die Gründe hier-für sind vielfältig: der überhand nehmende Stress bei vielen Städ-tern, ein neu erwachtes Interesse an ‚sanften’ und ‚alternativen’ Heilme-thoden und sicher auch die Vorbild-funktion herausragender Bauten wie Peter Zumthors Therme im schwei-zerischen Vals. Mit der Wiederentde-ckung des entspannenden, heilenden Bades ist auch das Interesse an den damit verbundenen Traditionen wie-der erwacht. Im Buch ‚Spa’ wird es auf streckenweise brillante Weise

So weit, so selbstverständlich. Doch gerade in den letzten Jahr-zehnten haben immer mehr Künst-ler und Architekten Partei für mehr Gleichgewicht im Umweltraum und gegen die jahrhundertelange Politik des Ausbeutens ergriff en. Zwei von ihnen stellt das vorliegende Buch vor, das anlässlich einer Ausstellung im Canadian Centre for Architecture in Montreal entstanden ist.

Der französische Landschaftsar-chitekt und Gartenbau-Ingenieur Gilles Clément wurde seit Anfang der 90er-Jahre durch seine Kon-zepte ,Garten in Bewegung (Jardin en mouvement)’ und ,Dritte Land-schaft (Tiers paysage)’ bekannt. Statt der Landschaft von außen eine ihr fremde Form aufzuprägen, begreift Clément Landschaftsarchi-tektur lediglich als Rahmen, innerhalb dessen sich die natürliche Artenviel-falt bestmöglich entfalten können sollte. Seine bevorzugten Orte sind die Restfl ächen, die zeitweise oder dauerhaft aus der menschlichen Nut-zung ‚herausgefallen’ sind, seien es geschützte Naturreservate oder ver-wilderte Grünfl ächen im Weichbild unserer Städte.

Betont Clément in seinem Essay für dieses Buch, er wolle „stets mit und nie gegen die Natur arbeiten“, so ist der Naturbegriff des Schweizer Architekten Philippe Rahm ambiva-lenter. Rahm analysiert physikalische Phänomene wie Licht, Tempera-tur und die Zusammensetzung der Atemluft und deren Einfl uss auf Men-schen, Tiere und Pfl anzen. In seinen Installationen setzt Rahm den Be-trachter blendendem Licht, Sauer-stoff mangel oder Wassernebel aus; er gliedert ganze Gebäude nicht nach Funktionen, sondern nach den im In-neren herrschenden Klimazonen.

Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede zwischen beiden Künstlern kaum größer sein: Gilles

bensstilen und Bräuchen eines fast schon verschwundenen, präindustri-ellen Europa: „Domestic Landscapes handelt auch von Identität und Ori-ginalität. Jede Region unserer Welt hat ihre eigene, unverwechselbare Kultur, die sich in Bräuchen, Spra-che, Küche und jeder Art von Tradi-tionen ausdrückt. Die Bewohner der Häuser, die ich fotografi ere, wissen noch, wie etwas schmecken sollte, wie es hergestellt wird; sie verste-hen die Wichtigkeit der Zeit und der Reife, sie kennen die Bedeutung und den Wert der Wiederholung – täg-lich, jährlich …“

Teunissens eigener Darstellung ist wenig hinzuzufügen. ‚Domestic Landscapes’ ist eine faszinierende Entdeckungsreise von der ersten bis zur letzten Seite. Ein Buch, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint

– und die Dokumentation eines ‚ande-ren’ Europa jenseits von Großstadt-gesellschaft, Wirtschaftswachstum und großer Zukunftsvisionen.

ENVIRON(NE)MENT

Autoren: Gilles Clément/Philippe RahmHerausgeberin: Giovanna BorasiFranzösisch/EnglischSkira EditoreISBN 88–7624–959–1

Wenn es um die Umwelt ging, haben in der Menschheit schon immer zwei Weltsichten miteinander konkur-riert: Die eine sah in ihr vor allem ein unerschöpfl iches Reservoir an Res-sourcen, die es zum Wohl des Men-schen auszubeuten galt; die andere begriff Natur als hoch komplexes Netzwerk biologischer und physika-lischer Prozesse, in die der Mensch schon aus Eigeninteresse nicht zu tief eingreifen sollte.

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DAYLIGHT & ARCHITECTUREAUSGABE 07WINTER 2007

SCHATTIERUNGEN

Philippe Rahm: Météorologie d’hiver / Interior Weather, 2006. Installation im Centre Canadien d’Architecture, Montréal. Foto: Michel Légendre / CCA Montréal.