Das Zimbelkraut — Heimvorteil durch Eigenantrieb

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268 | Pharm. Unserer Zeit | 32. Jahrgang 2003 | Nr. 3 FORUM | PFLANZENPORTRAIT | Das Zimbelkraut – Heimvorteil durch Eigenantrieb blasslila bis weiß gefärbten Blüten sind durch eine Einstülpung der Unterlippe verschlossen, so dass nur „passende“ Bestäuber wie Bienen und Hummeln in den Eingang der „Maskenblüte“ ein- dringen können. Deren Anlockung dienen zwei halbplastische Staubbeu- telattrappen auf der Oberseite der Unterlippe, während dunkelviolette Strichmale den Blütenbesuchern den Weg zum Nektar weisen. Nach erfolgter Bestäubung erfah- ren die zum Licht hin geöffneten Blü- ten eine Richtungsänderung durch ei- ne Umstimmung in dem der Lichtper- zeption dienenden basalen Teil des Blütenstiels. Daraufhin wenden sich die Blüten bzw. jungen Früchte vom Licht ab, reagieren somit negativ pho- totrop. Dieser Wechsel von der positi- ven zur negativen phototropischen Re- aktion ermöglicht den reifenden Früchten die Hinwendung zu dunklen Felsspalten. Zusätzlich sorgt ein ver- stärktes Wachstum der Blüten- bzw. Fruchtstiele,bei dem sich deren Länge mehr als verdoppelt, zu einer Ablage der Kapseln und Samen an einem sicheren Wuchsort. Der durch die Selbstablage geschaffene „Heimvor- teil“ besteht nun vor allem darin, dass die Kapseln und Samen einen offen- sichtlich geeigneten Keimort errei- chen, da dessen Güte bereits von der Mutterpflanze erfolgreich erprobt wurde. Allerdings können so nur ge- ringe Ausbreitungsdistanzen erreicht werden. Um aber in einer zunehmend fragmentierteren Landschaft den not- wendigen Genfluss zwischen verinsel- ten Populationen aufrecht zu erhalten, hat das Zimbelkraut Strategien ent- wickelt, die der Pflanze auch die Mög- lichkeit eines Ferntransports von Sa- men und Kapseln ermöglichen. So er- reichen z.B. die meisten Kapseln zunächst keinen sicheren Keimort, sondern entlassen ihre Samen sukzes- sive auf der Oberfläche von Blättern oder auf Felsvorsprüngen. Der Kapsel- öffnungsmechanismus ist dabei rever- sibel, da die Kapselwände hygrosko- pische Bewegungen vollziehen, sich bei Feuchtigkeit also schließen.Ferner können die Kapseln sich an einer Soll- bruchstelle an der Kapselbasis von ihren Stielen trennen und als selbst- ständige Ausbreitungseinheiten fun- gieren. Diese und weitere Mechanis- men eröffnen den Pflanzen funktio- nelle Wechselwirkungen,die die Wahr- scheinlichkeit eines erfolgreichen Mit- tel- und Weitstreckentransports von Kapseln und Samen erhöhen. Die hieraus resultierenden großen Ver- luste werden durch die kleine Anzahl der im Nahbereich der Mutterpflan- ze abgelegten Ausbreitungseinheiten kompensiert, die am sicheren Keim- platz das Überleben der Art gewähr- leisten. In den Kräuterbüchern wird „Her- ba cymbalaria“ erstmals gegen Ende des 16. Jahrhunderts erwähnt. Neben einer Vielzahl von Anwendungsgebie- ten waren die Hauptindikationen Entzündungen aller Art, Ekzeme,Wun- den, Diurese und Fluor vaginalis. Zur „Würckung“ der Pflanze schreibt Fried- rich Zwinger 1744 in seinem Neu voll- kommenen Kräuterbuch: „In dem Zym- balkraut steckt ein heimlich flüchti- ges, alkalisches, miltes Saltz, und hat da- durch die Eigenschaft gelinde zu wär- men, zu eröfnen, zu verteilen, das scharfe, melancholische, versalzene Geblüte zu reinigen.Etliche geben die- ses Kraut den Weibern wider den weis- sen Fluss...“. Für die Indikation dürfte vor allem das Vorhandensein von Iri- doiden (Antirrhinosid) verantwortlich sein, denen eine antibakterielle Wir- kung zugesprochen wird. Der harn- treibende Effekt wird dem hohen Ge- halt an Polyalkoholen zugeschrieben (Mannitol und Glycerin), der zusam- men mit Glucose auch die Wund- heilung fördert. Als weiterer Inhalts- stoff konnte das Flavonoid Apigenin in der Pflanze nachgewiesen werden. Sehr ungewöhnlich ist das Vorkommen von freiem Glycerin in der Natur, das aus Cymbalaria muralis erstmals iso- liert werden konnte. Thomas Junghans, Bammental Das Zimbelkraut (Gattung Cymbala- ria) gehört mit etwa 10 Arten zu einer recht kleinen Sippe der vor allem in den gemäßigten und subtropischen Breiten beheimateten Fa- milie der Braunwurz- gewächse (Scrophularia- ceae). Das natürliche Ver- breitungsgebiet der Gat- tung reicht von Menorca im Westen bis zum Iran im Osten, mit Schwerpunkt im zentralen Mittelmeer- gebiet. Als typische Chas- mophyten, d.h. Bewohner von Felsspalten und -rit- zen, findet man die Zim- belkraut-Arten vor allem an Felsen, aber auch im Blockschutt und in flach- gründigen alpinen Matten, zumeist auf Kalk (Abb. 1 und 2). Als Sekundär- lebensraum konnte sich die Typus-Art Cymbalaria muralis die ökologisch ähnlichen Mauern in der Kultur- und Siedlungs- landschaft erobern, wo die Pflanzen z.T. dichte, teppichartige Bestände bilden können. Die einjährigen bis kurzlebig-ausdauernden und meist niederliegen- den Pflanzen haben zahl- reiche rundliche bis nie- renförmige, zumeist deut- lich gelappte Blätter.Diese stehen an der Basis ge- genständig, spitzenwärts aber häufig wechselstän- dig. Der Name der Gat- tung ist griechisch-lateini- schen Ursprungs und be- zieht sich auf die in der Mitte der Blattspreite schüsselförmig vertieften Blätter (cymbalum = Becken).Die fünfzähligen, ABB. 1 Das Mauer-Zimbel- kraut (Cymbalaria muralis) wurde erstmals im 16. Jahr- hundert aus Italien nach Euro- pa eingeführt. Aufgrund seiner Nutzung als Heil- und Zierpflanze ist es heute welt- weit verbreitet. ABB. 2 Das Bleiche Zimbel- kraut (Cymbalaria pallida) ist eine sehr großblütige, attrak- tive Pflanze der mittelitalieni- schen Gebirge. Wie hier auf etwa 2000 Metern in den Abruzzen, besiedelt es sowohl Felsspalten als auch alpinen Blockschutt.

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P F L A N Z E N P O R T R A I T |Das Zimbelkraut – Heimvorteil durch Eigenantrieb

blasslila bis weiß gefärbten Blüten sinddurch eine Einstülpung der Unterlippeverschlossen, so dass nur „passende“Bestäuber wie Bienen und Hummelnin den Eingang der „Maskenblüte“ ein-dringen können. Deren Anlockung dienen zwei halbplastische Staubbeu-telattrappen auf der Oberseite der Unterlippe, während dunkelvioletteStrichmale den Blütenbesuchern denWeg zum Nektar weisen.

Nach erfolgter Bestäubung erfah-ren die zum Licht hin geöffneten Blü-ten eine Richtungsänderung durch ei-ne Umstimmung in dem der Lichtper-zeption dienenden basalen Teil desBlütenstiels. Daraufhin wenden sichdie Blüten bzw. jungen Früchte vomLicht ab, reagieren somit negativ pho-totrop. Dieser Wechsel von der positi-ven zur negativen phototropischen Re-aktion ermöglicht den reifendenFrüchten die Hinwendung zu dunklenFelsspalten. Zusätzlich sorgt ein ver-stärktes Wachstum der Blüten- bzw.Fruchtstiele,bei dem sich deren Längemehr als verdoppelt, zu einer Ablageder Kapseln und Samen an einem sicheren Wuchsort. Der durch dieSelbstablage geschaffene „Heimvor-teil“ besteht nun vor allem darin, dassdie Kapseln und Samen einen offen-sichtlich geeigneten Keimort errei-chen, da dessen Güte bereits von derMutterpflanze erfolgreich erprobtwurde. Allerdings können so nur ge-ringe Ausbreitungsdistanzen erreichtwerden. Um aber in einer zunehmendfragmentierteren Landschaft den not-wendigen Genfluss zwischen verinsel-ten Populationen aufrecht zu erhalten,hat das Zimbelkraut Strategien ent-wickelt, die der Pflanze auch die Mög-lichkeit eines Ferntransports von Sa-men und Kapseln ermöglichen. So er-reichen z.B. die meisten Kapselnzunächst keinen sicheren Keimort,sondern entlassen ihre Samen sukzes-sive auf der Oberfläche von Blätternoder auf Felsvorsprüngen.Der Kapsel-

öffnungsmechanismus ist dabei rever-sibel, da die Kapselwände hygrosko-pische Bewegungen vollziehen, sichbei Feuchtigkeit also schließen.Fernerkönnen die Kapseln sich an einer Soll-bruchstelle an der Kapselbasis vonihren Stielen trennen und als selbst-ständige Ausbreitungseinheiten fun-gieren. Diese und weitere Mechanis-men eröffnen den Pflanzen funktio-nelle Wechselwirkungen,die die Wahr-scheinlichkeit eines erfolgreichen Mit-tel- und Weitstreckentransports vonKapseln und Samen erhöhen. Die hieraus resultierenden großen Ver-luste werden durch die kleine Anzahlder im Nahbereich der Mutterpflan-ze abgelegten Ausbreitungseinheitenkompensiert, die am sicheren Keim-platz das Überleben der Art gewähr-leisten.

In den Kräuterbüchern wird „Her-ba cymbalaria“ erstmals gegen Endedes 16. Jahrhunderts erwähnt. Nebeneiner Vielzahl von Anwendungsgebie-ten waren die HauptindikationenEntzündungen aller Art, Ekzeme,Wun-den, Diurese und Fluor vaginalis. Zur„Würckung“ der Pflanze schreibt Fried-rich Zwinger 1744 in seinem Neu voll-kommenen Kräuterbuch:„In dem Zym-balkraut steckt ein heimlich flüchti-ges,alkalisches,miltes Saltz,und hat da-durch die Eigenschaft gelinde zu wär-men, zu eröfnen, zu verteilen, dasscharfe, melancholische, versalzeneGeblüte zu reinigen.Etliche geben die-ses Kraut den Weibern wider den weis-sen Fluss...“. Für die Indikation dürftevor allem das Vorhandensein von Iri-doiden (Antirrhinosid) verantwortlichsein, denen eine antibakterielle Wir-kung zugesprochen wird. Der harn-treibende Effekt wird dem hohen Ge-halt an Polyalkoholen zugeschrieben(Mannitol und Glycerin), der zusam-men mit Glucose auch die Wund-heilung fördert. Als weiterer Inhalts-stoff konnte das Flavonoid Apigenin inder Pflanze nachgewiesen werden.Sehr ungewöhnlich ist das Vorkommenvon freiem Glycerin in der Natur, dasaus Cymbalaria muralis erstmals iso-liert werden konnte.

Thomas Junghans, Bammental

Das Zimbelkraut (Gattung Cymbala-ria) gehört mit etwa 10 Arten zu einerrecht kleinen Sippe der vor allem inden gemäßigten und subtropischen

Breiten beheimateten Fa-milie der Braunwurz-gewächse (Scrophularia-ceae). Das natürliche Ver-breitungsgebiet der Gat-tung reicht von Menorcaim Westen bis zum Iran imOsten, mit Schwerpunktim zentralen Mittelmeer-gebiet. Als typische Chas-mophyten, d.h. Bewohnervon Felsspalten und -rit-zen, findet man die Zim-belkraut-Arten vor alleman Felsen, aber auch imBlockschutt und in flach-gründigen alpinen Matten,zumeist auf Kalk (Abb. 1und 2). Als Sekundär-lebensraum konnte sichdie Typus-Art Cymbalariamuralis die ökologischähnlichen Mauern in derKultur- und Siedlungs-landschaft erobern, wodie Pflanzen z.T. dichte,teppichartige Beständebilden können.

Die einjährigen biskurzlebig-ausdauerndenund meist niederliegen-den Pflanzen haben zahl-reiche rundliche bis nie-renförmige, zumeist deut-lich gelappte Blätter.Diesestehen an der Basis ge-genständig, spitzenwärtsaber häufig wechselstän-dig. Der Name der Gat-tung ist griechisch-lateini-schen Ursprungs und be-zieht sich auf die in derMitte der Blattspreiteschüsselförmig vertieftenBlätter (cymbalum =Becken).Die fünfzähligen,

A B B . 1 Das Mauer-Zimbel-kraut (Cymbalaria muralis)wurde erstmals im 16. Jahr-hundert aus Italien nach Euro-pa eingeführt. Aufgrund seiner Nutzung als Heil- undZierpflanze ist es heute welt-weit verbreitet.

A B B . 2 Das Bleiche Zimbel-kraut (Cymbalaria pallida) isteine sehr großblütige, attrak-tive Pflanze der mittelitalieni-schen Gebirge. Wie hier aufetwa 2000 Metern in den Abruzzen, besiedelt es sowohlFelsspalten als auch alpinenBlockschutt.