Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren
Transcript of Das Sichtbarmachen des Unerscheinbaren
DasSichtbarmachendesUnerscheinbaren
Inaugural-Dissertation
zur
ErlangungderDoktorwürde
derPhilosophischenFakultät
derAlbert-Ludwigs-Universität
Freiburgi.Br.
vorgelegtvon
HuanLiu
ausChina
WS2018/2019
Erstgutachter:Hans-HelmuthGanderZweitgutachter:OliverMüllerVorsitzenderdesPromotionsausschussesderGemeinsamenKommissionderPhilologischenundderPhilosophischenFakultät:Prof.Dr.DietmarNeutatzDatumderFachprüfungimPromotionsfach:31.10.2019
1
Inhaltsverzeichnis
Einleitung……………………………………………………………………...……...4
1.Zum Problemstand ............................................................................................ 4
2.Ziel und Aufbau der Arbeit ............................................................................. 10
1. Diltheys Thematik der gegenständlichen Gegebenheit ...................................... 15
1.1 Diltheys Begründung der Geisteswissenschaft in der Lebenslehre .............. 16
1.1.1 Das ursprüngliche Leben in der Ganzheit ............................................. 17 1.1.2 Der Zugang zum Leben ......................................................................... 18 1.1.3 Die schöpferische Kraft des Ausdrucks und die Unergründlichkeit des Lebens ............................................................................................................ 19
1.2 Die Theorie des Lebens sowie die Thematik der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey ................................................................................. 21 1.2.1 Die Gegebenheitsmodelle von Dilthey und Husserl ............................. 22 1.2.2 Diltheys Kritik an der Transzendentalphilosophie ................................ 26
1.3 Der volle Begriff des Lebens und die Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey ................................................................................. 28
1.3.1 Weltmäßigkeit und Transzendenz des Lebens ...................................... 29 1.3.2 Die Bedeutung und das Leben als der geschichtliche Horizont ............ 32 1.3.3 Die Divergenz der Auffassungen zur gegenständlichen Gegebenheit zwischen Dilthey und Husserl ........................................................................ 37
Fazit: ..................................................................................................................... 40
2. Phänomenologie als Ursprungswissenschaft ....................................................... 41
2.1 Das faktische Leben als Gegenstand der Phänomenologie ........................... 42
2.1.1 Das Prinzip der Prinzipien ..................................................................... 42
2.1.2 Voraussetzungslosigkeit ........................................................................ 44
2.1.3 Das faktische Leben als Gegenstand der Ursprungswissenschaft ......... 46
2.2 Hermeneutische Intuition als phänomenologischer Zugang zum faktischen Leben .............................................................................................................. 47
2.3 Formale Anzeige und Gegebenheitsthematik ............................................... 48
2.3.1 Heideggers Weltverfassung ................................................................... 49
2.3.2 Die Konzeption der Situation ................................................................ 52
2.3.3 Formale Anzeige ................................................................................... 54
2.4 Destruktion des faktischen Lebens auf den Ursprung als Lebensvollzug .... 59
2
2.4.1 Die Gegebenheitsmodelle bei Natorp und Dilthey ................................ 60
2.4.2 Geschichtlichkeit und das Nichts .......................................................... 63
Fazit: ..................................................................................................................... 66
3. Heideggers ontologisches Projekt und Ursprungsdenken .................................. 68
3.1 Die Marburger Vorlesung „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“ 69
3.2 Heideggers Kritik an Husserls phänomenologischer Methode ..................... 72
3.2.1 Kritik am Ausgangspunkt der Epoché ................................................... 72
3.2.2 Kritik an der Seinsbestimmung des Bewusstseins ................................ 74
3.2.3 Die Frage nach dem Seinssinn des Intentionalen .................................. 75
3.3 Epoché, Seinsverfassung und Platonischer Idealismus ................................ 76
3.3.1 Epoché ermöglicht Weltphänomen und Ontologie ............................... 77
3.3.2 Platonischer Idealismus und Transzendentalphilosophie ...................... 80
3.4 „Transzendentales Subjekt“ und Heideggers Bruch mit Husserl ................. 83
3.4.1 Innere Struktur der Gegebenheitsmodelle ............................................. 84
3.4.2 Leitmotive des Aufbaus des Gegebenheitsmodells ............................... 86
3.5 Heideggers ontologisches Projekt und Marions Rekonstruktion ................... 87
3.5.1 Heideggers Thematik des Lebensvollzugs und das Vorverständnis des ursprünglichen Seinssinns .............................................................................. 89
3.5.2 Marions Interpretation der Gegebenheitthematik bei Heidegger .......... 90
3.5.3 Der Seinssinn des Seienden und die Anerkennung des Rätselhaften der Offenbarung aus Verborgenheit ..................................................................... 93
Fazit: ..................................................................................................................... 95
4. Die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs .......................... 97
4.1 Die Rekonstruktion von Sein und Zeit auf Basis der Interpretation Jean-Luc Marions .......................................................................................................... 98
4.1.1 Das Sehenlassen der Phänomenologie .................................................. 98
4.1.2 Jean-Luc Marions Interpretation der Phänomenalität des Seins ......... 100
4.1.3 Die Perspektive der Rekonstruktion von Sein und Zeit ...................... 102
4.2 Die Gegebenheitsthematik in der Wahrheitslehre Heideggers .................. 103
4.3 Die Behandlung der Thematik der Gegebenheit in der Illustration des In-der-Welt-seins ......................................................................................... 108
4.3.1 Das Thema der Gegebenheit in der Fundamentanalyse des Daseins .. 108
3
4.3.2 Die Wahrheitslehre als die Explikation des primären Verstehens ...... 114
4.4 Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der ursprünglichen Daseinsinterpretation ................................................................................... 116
4.4.1 Die transzendentale Zeitanalytik ......................................................... 117
4.4.2 Das Scheitern an der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs ............................................................................................. 122
Fazit: ................................................................................................................... 125
5. Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit im Kunstwerk .................................... 127
5.1 Das Nichts und die Thematisierung des Lebensvollzugs ........................... 128
5.2 Die Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ............................ 130
5.3 Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit in der Kunsterfahrung .................. 134
5.3.1 Die Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde und der geschehende Sinnkontext .................................................................................................. 135
5.3.2 Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes – die anti–subjektive Kunstverfassung ......................................................................... 137
5.3.3 Die Verkörperung der Erde – Der Zusammenhang von Raum, Sinn und Material ........................................................................................................ 140
5.3.4 Präsenz von Heideggers Kunstverfassung in der gegenwärtigen Kunstphilosophie ......................................................................................... 142
5.4 Ausblick: Kunst, Raum und Ort .................................................................. 147
Fazit: ................................................................................................................... 151
Literatur : ................................................................................................................. 153
4
Einleitung
Zum Problemstand
Die vorliegende Studie behandelt zwei Fragestellungen in Bezug auf die
Gegebenheitsthematik bei Heidegger, die vor allem Ernst Tugendhat, Daniel. O.
Dahlstrom und Jean-Luc Marion herausgearbeitet haben. Die Phänomenologie fasst
Tugendhat als „die Lehre von den ‚Phänomenen’, [...] d.h. des gegenständlich
Gegebenen im Wie seines Gegebenseins“ 1 . Mit dieser Auffassung der
Phänomenologie bringt er Husserls und Heideggers Denken unter der
phänomenologischen Gegebenheitsthematik zusammen, wobei er Heideggers
ontologisches Projekt in Sein und Zeit zur Thematik der Gegebenheit rekonstruiert.
Heideggers Ontologie fragt Tugendhat zufolge nach dem möglichen Sinn von Sein,
und „das kann sie nun eben, weil sie radikalisierte Phänomenologie ist und ihr im Wie
des Gegebenseins ein Bereich vorgegeben ist, in den sie hineinfragen kann.“2 Der
Bereich für die Gegebenheitsthematik ist laut Tugendhat durch Husserls Epoché
eröffnet. Obwohl die Gegebenheitsthematik für die beiden im Zentrum des
phänomenologischen Denkens steht differenzieren sich, so sieht es Tugenhat, ihre
Fragestellungen sowie Behandlungen dieser Thematik. Denn Husserl fragt nach dem
Wie des Gegebenseins des Gegebenen, wobei er „schon in eine Dimension des
Begegnens hinein(fragt), die er jedoch nicht als solche in den Blick fasste, sondern in
den Begriffen ‚Intentionalität’ und ‚Gegebensein’ selbstverständlich voraussetzte.“3
Nach Tugendhats Ansicht wird Husserls Fragestellung bei Heidegger zur solchen
radikalisiert: wie so etwas wie „Gegebensein“ überhaupt möglich sei. Mit dem
Begriff der Radikalisierung meint er, dass Heidegger die Unterschiede der
Gegebenheitsweise „zur Basis der ontologischen Fragestellung machte“ und die
1 Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 2. Auflage, 1970, S. 27-28. 2 Ebd., S. 266. Tugendhat schreibt: „Welchen Sinn von Sein das Gegebene überhaupt und jeweils hat, ist jetzt vielmehr erst zu fragen und kann nur im Rückgang auf das Wie des Gegebenseins selbst entschieden werden“. 3 Ebd., S. 270.
5
„Seinsfrage in diesem Sinn der gleichzeitigen Frage nach der Bedingung der
Möglichkeit von ‚Begegnung’, nicht nur gegenüber Husserl, sondern gegenüber der
ganzen philosophischen Tradition neu sei.“4
Die radikale Fragestellung wie das „Gegebensein“ überhaupt möglich ist behandelt
Heidegger, so Tugendhat, mit der Thematisierung der Erschlossenheit des Daseins,
die Heidegger als das ursprünglichste Wahrheitsphänomen bezeichnet. Obwohl
Tugendhat den radikalen Sinn der Fragestellung herausstellt, die Heidegger mit der
Gegebenheitsthematik behandelt, erklärt er nicht wie Heidegger die Radikalisierung
der phänomenologischen Fragestellung in der Thematisierung der Erschlossenheit
weiterführt, sondern er führt seine Interpretation der Erschlossenheits-Thematisierung
nur soweit, bis der Sinn der Erschlossenheit als bloße Möglichkeitsbedingung des
gegenständlichen Gegebenseins deutlich erkennbar ist. Und dann wendet er sich rasch
der Kritik an der mit der Gegebenheitsthematik verbundenen Wahrheitslehre
Heideggers zu. Für Tugendhat ist Heideggers Gleichsetzung von „Wahrheit“ und
„Erschlossenheit“ nicht haltbar und führt „sogar dazu, das Wahrheitsproblem zu
verdecken“ 5 . Erschlossenheit wird bei Heidegger als transzendentale
Möglichkeitsbedingung der Entdecktheit angenommen. Die Verwechslung mit den
Möglichkeitsbedingungen der Wahrheit und der Wahrheit an sich mache, so
Tugendhat, den Begriff der „Wahrheit“ nicht mehr sinnvoll. Darüber hinaus lässt sich
die Erschlossenheit aufgrund von Heideggers Bestimmung derselben als
“dynamischen Spielraum“ zwischen Durchsichtigkeit (in der eigentlichen Existenz)
und Undurchsichtigkeit (in der uneigentlichen Existenz), nicht an der Wahrheit
orientieren. Tugendhats Kritik wird weithin akzeptiert und als Vorbild des Vorwurfs
der fehlenden Normativität in Heideggers Wahrheitslehre angenommen.
In seiner kritischen Interpretation von Heideggers Gleichsetzung der Wahrheit mit
4 Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, S. 271. „Begegnung“ wird als ein Ersatzbegriff für primäres Gegebensein bei Heidegger verwendet. 5 Ebd., S. 272.
6
Erschlossenheit missversteht Tugendhat Dahlstrom zufolge Heideggers Motivation
zur Ausführung der Wahrheitslehre. Heideggers Analytik der Entdecktheit und deren
Möglichkeitsbedingen, nämlich die Erschlossenheit, diene nach Dahlstrom überhaupt
der Thematisierung der Erschlossenheit. Die Erschlossenheit sei „der Horizont, der
von der Entdeckung und somit von der Anschauungs- sowie der Aussagewahrheit
vorausgesetzt wird“, 6 und Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit ziele
darauf ab, die Erschlossenheit als diesen nicht objektivierbaren Horizont in der
Auslegung des Wahrheitsphänomens in Sicht kommen zu lassen, mit anderen Worten
zum Ausdruck zu bringen.7 Das heißt, Heideggers Hauptanliegen der Wahrheitslehre
liegt nicht darin, durch die Freilegung des Wahrheitsphänomens eine neue
Wahrheitsdefinition aufzustellen, in der das traditionelle Wahrheitskriterium und
somit die kritische Funktion des traditionellen Wahrheitsbegriffes über Bord
geworfen wird, sondern darin, mittels der Auslegung des Wahrheitsphänomens die
Erschlossenheit als den nicht objektivierbaren Horizont des Gegebenseins des
Seienden zum Ausdruck zu bringen. Dies fasste Tugendhat nicht ins Auge.
Im Vergleich zu Tugendhat steht Jean-Luc Marion in seiner Rekonstruktion von Sein
und Zeit Heideggers Motivation der Thematisierung der Erschlossenheit näher, indem
er die Gegebenheitsthematik von Sein und Zeit als Thematisierung der Erscheinung
des Phänomens, d. h. des Seienden, interpretiert und deren Ziel erkennt, das
Phänomen des Seins sichtbar werden zu lassen.8 Mit dem Phänomen des Seins ist die
Erschlossenheit, nämlich der Horizont des Gegebenseins gemeint. Den Horizont
nimmt Marion zwar auch als die Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des
Phänomens an, aber er erahnt Heideggers Motivation für die Thematisierung der
Erschlossenheit und fokussiert den Blick auf die Darstellung des nicht
6 Daniel O. Dahlstrom, Das logische Vorurteil, Untersuchungen zur Wahrheitstheorie des frühen Heidegger, Wien, 1994, S. 310. Das Horizontsein der Erschlossenheit sieht Tugendhat auch, aber er hält es nur für die transzendentalen Möglichkeitsbedingungen des Gegebenseins und begreift Heideggers Motivation der Thematisierung des erschlossenen Horizontes nicht. 7 Vgl. Ebd. 8 Vgl. Jean-Luc Marion, Reduction and Givenness: Investigations of Husserl, Heidegger, and phenomenology, Illinois, 1998, S. 2.
7
objektivierbaren Horizontes als ein Spiel von Unverborgenem und Verborgenem, statt
ihn nur als transzendentale Möglichkeitsbedingung der Gegebenheit darzulegen. Mit
dem Verständnis von Heideggers Motivation im Sinn bezeichnet Marion Heideggers
Phänomenologie als die „Phänomenologie des Unerscheinbaren“ im Rahmen der
Gegebenheitsthematik. 9 An dieser Stelle gelangen wir zum Anliegen der
vorliegenden Arbeit, das sich in zwei Fragestellungen erfassen lässt: 1) Wie kommt
Heidegger im Rahmen der Gegebenheitsthematik zur Thematisierung des nicht
objektivierbaren Horizontes, mit anderen Worten, wie kommt Heidegger zur
„Phänomenologie des Unerscheinbaren“?; 2) Wie behandelt Heidegger das
Zum-Ausdruck-Bringen oder Zum-Sehen-Bringen des nicht objektivierbaren
Horizontes? Diese Fragen werden in den Interpretationen Tugendhats und Marions
zwar berührt, aber keiner näheren Betrachtung unterzogen.
Die Untersuchung der ersten Fragestellung führt zurück zu Heideggers Beschäftigung
mit dem faktischen Leben sowie seiner Auseinandersetzung mit Diltheys und
Husserls Denken in seinen Freiburger Anfängen. Heideggers phänomenologische
Forschung in den frühen Freiburger Vorlesungen stellt sich das Ziel, zum Ursprung
des Lebens vorzudringen und ihn sichtbar zu machen10, und zwar mit der destruktiven
Methode, der formalen Anzeige. Mit der Thematik der Destruktion auf den
Lebensursprung arbeitet Heidegger gleichzeitig seine Gegebenheitsthematik aus,
indem er mit Husserls phänomenologischem Ansatz und auf der Grundlage eines von
Dilthey übernommenen Gegebenheitsmodells operiert. Den Ursprung des Lebens
deutet Heidegger auf den Lebensvollzug, der als die sich dynamisch vollziehende
Offenheit der Verständnismöglichkeiten interpretiert wird, und diese Offenheit lässt
sich eben als der nicht objektivierbare erschlossene Horizont des gegenständlichen
Gegebenseins verstehen.
9 Marion,1998, S. 2. 10 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 127. Heidegger schreibt: „Das Ziel phänomenologischer Kritik ist das Sehen und Zum-Sehen-Bringen der echten, wahrhaften Ursprünge des geistigen Lebens überhaupt.“
8
Da Heidegger das Ziel der phänomenologischen Forschung als das
Zum-Sehen-Bringen des Lebensursprungs formuliert, konfrontiert er sich mit der
Frage wie er den nicht objektivierbaren Ursprung oder Horizont des Lebens zum
Sehen bringen kann. In Dahlstroms Interpretation setzt Heidegger das
Zum-Sehen-Bringen des Horizontes in zwei Schritten um: Der erste Schritt ist die
Thematisierung des Horizontes und der erste Schritt nimmt sich wiederum den
zweiten Schritt zum Ziel, nämlich den nicht objektivierbaren Horizont zum
unmittelbaren Ausdruck zu bringen. Die Thematisierung des Horizontes erfolgt bei
Heidegger, so Dahlstrom, mit der philosophischen Begriffsbildung, in anderen
Worten, mit formal anzeigenden Begriffen. Die Thematisierung des Horizontes soll
„anhand der philosophischen Begriffe nicht zu einer Objektivierung führen“ und die
Begriffe können „den Sinn (Horizont) nur dadurch miterschließen, dass der Sinn
nach-vollzogen wird.“11 Dieser Charakter des philosophischen Begriffes versteht sich
als der formalanzeigende Charakter. Otto Pöggeler meint, dass die Thematisierung
des nicht Objektivierbaren mit der philosophischen Begriffsbildung bei Heidegger in
der philosophischen Hermeneutik mit dem „formal anzeigenden“ Charakter
ermöglicht werde. „Die formale Anzeige erschließt vorgreifend Seiendes auf seine
Seinsverfassung hin“.12 Die Erschließung der Seinsverfassung des Seienden bezieht
sich auf die Thematisierung des nicht objektivierbaren Horizontes, den Pöggeler als
Seinsverständnis annimmt. Dabei deutet er wie Dahlstrom an, dass die
Thematisierung des nicht Objektivierbaren zwar keine Objektvierung des
Thematisierten sei, aber das nicht Objektivierbare immer nur abhängig in der
Betrachtung des Seienden miterschlossen wird, das heißt es selbst allein nicht zum
unmittelbaren Ausdruck gebracht wird. Von daher lässt sich feststellen, dass die
Thematisierung des Horizontes von Anfang an die Frage bereits in sich birgt: Wie den
Horizont zum Ausdruck bringen, mit Heideggers Worten, zum Sehen zu bringen?
11 Dahlstrom, 1994, S. 309. Mit dem „Sinn“ in der Rede meint Dahlstrom die Sinnerschlossenheit, nämlich den Horizont. 12 Otto Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, 1983, S. 288.
9
Dahlstrom verwendet den Terminus Vermittlung des späten Heidegger für das
Zum-Ausdruck-bringen des Horizontes und stellt fest, dass Heidegger in Sein und Zeit
in der Tat keine Prinzipien für die Vermittlung des Horizontes angibt. Noch
problematischer ist, dass die verlangte Vermittlung „der Richtung der Analyse in Sein
und Zeit entgegen(steht)“,13 da Heidegger den Horizont, d. h. die Erschlossenheit als
Möglichkeitsbedingungen der Entdecktheit bzw. des Gegebenseins in die analytische
Darlegung zieht, statt sie zum unmittelbaren Ausdruck zu bringen. Das heißt dass
Heideggers Behandlung der Thematik der Erschlossenheit seiner Motivation oder
seinem Ziel der Anführung der Thematik widerspricht. Vor diesem Hintergrund sei
Tugendhats Missverständnis der Motivation der Erschlossenheits-Thematisierung
Heideggers in gewissem Sinne verständlich, gibt Dahlstrom zu. Nach Dahlstrom liegt
der Grund des Scheiterns der Vermittlung des Horizontes in Sein und Zeit darin, dass
Heidegger keine Prinzipien für die Vermittlung aufstellt. Ob diese Argumentation den
Kern der Sache trifft oder nicht ist nicht Anliegen der vorliegenden Arbeit. Wichtig
ist festzuhalten, dass Dahlstroms Interpretation die Problematik der Vermittlung oder
des Zum-Sehen-Bringens des nicht objektivierbaren Horizontes bei Heidegger
herausarbeitet und ins Blickfeld rückt. Auch Marion fasst die Problematik des
Zum-Ausdruck-Bringens des Horizontes in Heideggers Denken ins Auge und hält sie
für ungelöst im Rahmen des Denkens des frühen Heidegger, nachdem er die
Hermeneutik als Lösung überprüft hat.14
„Vermittlung“ ist ein später Heidegger-Terminus, der in der Untersuchung der
Seinsgeschichte verwendet wird. Den Sinn der Vermittlung erklärt Borislav Mikulić
als das unmittelbare aber auch symbolische „Zur-Sprache-Kommen“ des Seins.15 Im
Sinne des unmittelbaren Zum-Ausdruck-bringens des nicht Objektivierbaren drückt 13 Dahlstrom, 1994, S. 311. 14 Vgl. Marion, 1998, S. 176-181. 15 Vgl. Borislav Mikulić, Sein, Physis, Aletheia. Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im 'ursprünglichen' Seinsdenken Martin Heideggers, Würzburg, 1987, S. 363. Der vollständige Text: „Wenn bei Heidegger von einer ‚Vermittlung’ des Seins gesprochen werden kann, dann einzig und allein in dessen ‚Zur-Sprache-Kommen’. Doch gerade diese ‚Vermittlung’ ist nicht nur unmittelbar, sondern auch nur symbolisch. Sie ist nämlich ein Geschehen zwischen Sein und Denken.“ Vgl. auch Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger, Freiburg/München, 2. Auflage, 1986, S. 21.
10
der Terminus der Vermittlung durchaus die Kernbedeutung des
„Zum-Sehen-Bringens“ aus. Um sich jedoch vom Seinsgeschichte-Denken des späten
Heidegger abzugrenzen wird dieser Terminus in der nachfolgenden Diskussion für
das „Zum-Sehen-Bringen“ des Horizontes nicht verwendet werden. Stattdessen
sprechen wir von „Zum-Ausdruck-Bringen“ oder „Zur-Explikation-Bringen“. Hierbei
tragen die Begriffe des Ausdrucks und der Explikation einerseits nicht die Bedeutung
der theoretischen Verfestigung, sondern des unmittelbaren
„Zur-Sprach-Kommen-Lassens“; andererseits bergen sie den Verweis auf die
philosophische Auseinandersetzung mit dem nicht objektvierbaren Horizont. 16
Darüber hinaus muss darauf hingewiesen werden, dass die Hermeneutik keine
zentrale Rolle beim „Zum-Sehen-Bringen“ des Horizontes spielt, da sie für Heidegger
als den verstehend-erlebmäßigen Zugang zum Leben oder Dasein fungiert im
Gegensatz zum analytischen und objektivierenden Zugang, und insofern eher mit dem
formalanzeigenden Charakter den Weg für die Thematisierung des Horizontes bereitet,
aber für Heidegger noch nicht genügt um den Horizont zum unmittelbaren Ausdruck
zu bringen.
Ziel und Aufbau der Arbeit
Das Vorhaben der vorliegenden Studie hat entsprechend der oben dargestellten zwei
Fragestellungen zwei Ziele. Das erste Ziel ist aufzuzeigen, wie Heidegger im Rahmen
der phänomenologischen Gegebenheitsthematik zur Thematisierung des nicht
objektivierbaren Horizontes, d. h. des Unerscheinbaren kommt.17 Dieses Vorhaben
16 Der Verweis auf die philosophische Auseinandersetzung mit dem Horizont in den Begriffen Ausdruck oder Explikation wird zwar auch vom Sinn des Terminus der Vermittlung übernommen. Dazu erklärt Orlando Pugliese, dass „die Philosophie sich nicht so sehr mit der Vermittlung als solcher und ihrem gründenden Erschließungscharakter, sondern eher mit dem in ihr Vermittelten auseinandergesetzt hat.“ Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Grundzüge des Geschichtsdenkens bei Martin Heidegger, Freiburg/München, 2. Auflage, 1986, S. 13. 17 Hierbei ist anzumerken, dass es bei diesem Vorhaben nicht um die Frage geht, ob die Thematisierung des nicht Objektivierbaren möglich ist oder unproblematisch ist. Diese Thematisierung des nicht Objektivierbaren wird eigentlich im hermeneutischen Diskurs bereits ausgiebig diskutiert und verteidigt. Die vorliegende Arbeit befasst sich eher damit, wie Heidegger die Dimension des Horizontes herausfindet und in die phänomenologische Gegebenheitsthematik einführt.
11
konkretisiert sich in der vorliegenden Arbeit in zwei Schritten: Zunächst soll gezeigt
werden, wie Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen zur Thematisierung des
Lebensvollzugs kommt, der als nicht objektivierbarer und dynamischer Horizont des
gegenständlichen Gegebenseins fungiert, und dann soll die motivische Kontinuität der
Thematisierung des unerscheinbaren Horizontes im Laufe seines Denkens von den
frühen Freiburger Vorlesungen über Sein und Zeit bis zur Mitte der 1930er-Jahre
geprüft und aufgezeigt werden. Das zweite Ziel ist aufzuzeigen, wie Heidegger nach
dem Scheitern am Zum-Sehen-Bringen des Horizontes in den 1920er-Jahren mit
seinen Kunstüberlegungen in den 1930er-Jahren die Verkörperung des Sinnes als eine
ausgezeichnete Möglichkeit des Zum-Sehen-Bringens des Unerscheinbaren
herausarbeitet.
In Tugendhats Interpretation ist deutlich geworden, dass Heidegger in der
Gegebenheitsthematik mit der Anführung des erschlossenen Horizontes die
Gegenposition gegenüber Husserls Zurückführung auf das Konstitutionsbewusstsein
vertritt. Jedoch ist Heidegger nicht der Erste, der sich gegen Husserls
Gegebenheitsmodell des Bewusstseins ausspricht, und auch nicht der Erste, der die
Dimension des offenen Horizontes in die phänomenologische Gegebenheitsthematik
einführt. Der Erste ist Dilthey, dessen Beschäftigung mit der Gegebenheitsthematik
und dessen Spannung mit Husserl in Bezug auf diese phänomenologische zentrale
Thematik selten beachtet werden. Daher beginnt die Studie im ersten Kapitel mit der
Rekonstruktion von Diltheys Theorie des Lebens, in der seine Behandlung der
Gegebenheitsthematik im Spannungsfeld gegenüber Husserl, seine Kritik an der
Transzendentalphilosophie sowie seine Einsicht des geschichtlichen Horizontes des
Gegebenseins deutlich hervorgehoben werden sollen. Am Ende des ersten Kapitels
wird auch die Divergenz zwischen Dilthey und Heidegger deutlich werden. Diltheys
Untersuchung des geschichtlichen Horizontes zur Objektivation des Lebens zum
Aufbau der Typologie der Weltanschauungen führt mit der Motivation, den
geschichtlichen Horizont des Lebens zum Ausdruck zu bringen, während das Ziel des
Zum-Ausdruck-Bringens des geschichtlichen Horizontes für Heidegger nicht durch
12
den Aufbau einer Typologie der Weltanschauungen zu erreichen ist, sondern im
Gegenteil durch den Abbau, nämlich die Destruktion des Lebensphänomens.
Von Diltheys Lebensphilosophie übernimmt Heidegger die Konzeption des
geschichtlichen Lebens sowie das Gegebenheitsmodell als Grundlage seines
Ursprungsdenkens in den frühen Freiburger Vorlesungen. Das zweite Kapitel befasst
sich mit Heideggers Auffassung der Phänomenologie des Lebens als der
Ursprungswissenschaft im Unterschied zu Husserls Verständnis der Urwissenschaft
und seiner Thematik der Destruktion auf den Lebensursprung, den er auf den
Lebensvollzug deutet, wobei die Destruktionsthematik sich in einer Rekonstruktion
als Heideggers Gegebenheitsthematik auffassen lässt. Der Lebensvollzug versteht sich
in Heideggers Illustration als die sich dynamisch vollziehende Offenheit der
Verständnismöglichkeiten, die in Annäherung zu Diltheys Einsicht eben den nicht
objektivierbaren und geschichtlichen Horizont des gegenständlichen Gegebenseins
bedeutet. In dieser Rekonstruktion wird Heideggers Gegebenheitsmodell, das er von
Dilthey übernimmt und durch formale Anzeige weiter entwickelt, demjenigen
Husserls gegenüber gestellt. Auch wird Heideggers Zielstellung der Destruktion als
Vordringen zum Lebensvollzug herausgearbeitet, die es ermöglichen soll, den nicht
objektivierbaren Lebensvollzug als Sinnoffenheit zum Sehen zu bringen.
Im dritten Kapitel wendet sich die Untersuchung einer Auseinandersetzung mit
Heideggers Kritik an Husserls Versäumnis der Seinsfrage in seiner
Transzendentalphänomenologie zu, die Heidegger in der frühen Marburger
Prolegomena-Vorlesung ausübt. In dieser Kritik scheint es, dass die Spannung im
Ursprungsdenken bzw. in der Gegebenheitsthematik zwischen Heidegger und Husserl
sich zur Divergenz bezüglich der Pertinenz eines ontologischen Projektes wandelt.
Anhand der Interpretation Marions wird jedoch ausgewiesen, dass die Divergenz
zwischen Husserl und Heidegger bezüglich der Pertinenz eines ontologischen
Projektes auf den Unterschied zwischen ihren Gegebenheitsauffassungen
zurückzuführen ist. Dabei wird auch aufgezeigt, wie Heidegger mit der
13
Herausstellung der Seinsfrage seine Gegebenheitsauffassung behandelt. Der Seinssinn
des Seienden verweist Marion zufolge auf die primäre Gegebenheitsweise des
Seienden, nämlich das Sichzeigen im Spiel der Offenbarung aus der Verborgenheit.
Durch Marions Interpretation liegt die Vermutung nahe, dass die
Gegebenheitsthematik, die er in den frühen Freiburger Vorlesungen mit der Thematik
der Destruktion des Lebens auf seinen Ursprung erarbeitet, in Heideggers
ontologischem Projekt, das er in den Marburger Vorlesungen durchführt, immer noch
im Zentrum steht.
Das vierte Kapitel macht es sich zur Aufgabe, die motivische Kontinuität der
Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in Heideggers ontologischem
Projekt zu prüfen und auszuweisen. Die Prüfung wird vor allem anhand des Textes
Sein und Zeit durchgeführt werden, und zwar mittels einer Rekonstruktion des Textes.
Mithilfe von Marions Interpretation wird Heideggers Gegebenheitsthematik, die in
zwei Schichten erläutert wird, in der Rekonstruktion des ontologischen Projekts von
Sein und Zeit hervorgebracht. Und jeweils in diesen beiden Schichten lässt sich die
Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in Sein und Zeit
ausweisen, die in die Herausstellung des ursprünglichen Gegebenheitsmodells und die
Thematisierung des Lebensvollzugs als der Offenheit der Verstehensmöglichkeiten
zerlegt wird. Zum Schluss wird mit der kritischen Darlegung der Thematisierung der
Erschlossenheit in Sein und Zeit, die Heidegger mit der Zeitanalytik ausführt,
argumentiert, dass diese Thematisierung des Lebensvollzugs nicht ans Ziel, nämlich
nicht zur Explikation der Erschlossenheit, d.h. der Offenheit der
Verstehensmöglichkeit selbst geführt wird und dieses Scheitern in der
analytisch-paradigmatischen Konstruktion des transzendentalen Zeithorizontes liegt.
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht Heideggers Beschäftigung mit der Thematik
des „Zum-Sehen-Bringens“ oder „Zum-Ausdruck-Bringens“ der Offenheit der
Verstehensmöglichkeiten, die sich bei Heidegger in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre
als das Grundgeschehen der ursprünglichen Wahrheit auffasst. Auf dem Weg, die
14
Offenheit der Verstehensmöglichkeit, mit anderen Worten, die nicht objektivierbare
und dynamisch sich vollziehende Sinnoffenheit zum Ausdruck zu bringen, bemüht
sich Heidegger zuerst das transzendentalistische Motiv zu überwinden, indem er den
Forschungsakzent von der transzendentalen Analytik des Zeithorizontes auf die
Darstellung der Verbergung-Entbergung-Dynamik des Wahrheitsgeschehens als der
Sinnoffenheit schiebt. In der Weiterführung der zentralen Thematik befasst Heidegger
sich mit der Kunstuntersuchung, die vor allem in seinem Kunstwerkaufsatz erläutert
wird. In seinen Kunstüberlegungen zeichnet sich die Möglichkeit aus, die
Sinnoffenheit unmittelbar zum Sehen zu bringen, nämlich die Verkörperung des
Sinnes im Kunstwerk. Dabei wird aufgezeigt, dass Heideggers Kunstauffassung der
Verkörperung des Sinnes auch in der gegenwärtigen Kunstphilosophie präsent ist und
weiter fruchtbar interpretiert werden könnte. Zum Schluss werden Heideggers
Ansichten über die Verkörperung des Sinnes, die Kunst-Raum-Thematik sowie das
Topologie-Denken, mit welchen er sich in seinem Spätdenken beschäftigt, einer
kurzen Betrachtung unterzogen, als gesamthafter Ausblick auf die vorliegende Arbeit.
15
1. Diltheys Thematik der gegenständlichen Gegebenheit
Die Frage, welche Rolle Dilthey im Denken Heideggers spielt, wurde in der
Vergangenheit bereits ausgiebig diskutiert. Bekannt ist, dass Heidegger die
Konzeptionen des Lebens und der Geschichte bzw. Geschichtlichkeit von Diltheys
übernimmt und in einen phänomenologischen Horizont überführt; und dass es der
Einfluss Diltheys war, der ihn dazu veranlasste, über Husserls phänomenologisches
Denken hinauszugehen. Der unmittelbare philosophische Diskurs zwischen Dilthey
und Husserl erregt dabei beträchtliches Interesse. Nachdem Georg Misch in seinem
Werk Lebensphilosophie und Phänomenologie eine gründliche Analyse von Diltheys
und Husserls Denken und deren Unterschiede vorgelegt hat, rückt der bedeutsame
Dialog zwischen diesen beiden Denkern sowie ihre philosophischen Affinitäten und
Spannungen vermehrt ins Blickfeld, und es eröffnen sich dabei vielfältige
Diskussionsbereiche für die Untersuchung ihrer unterschiedlichen Zugänge zu Leben
und Bewusstsein. In allen diesen Untersuchungen fällt die phänomenologische
Thematik mit Blick auf Dilthey jedoch kaum ins Auge. Die Rolle der
phänomenologischen Analytik bei Dilthey wird meist „nur (als) eine Methode für die
epistemologische Gründung der Geisteswissenschaft (interpretiert), die sich von der
Naturwissenschaft differenziert“ 18 , wobei sein Engagement im Rahmen einer
zentralen phänomenologischen Thematik, der gegenständlichen Gegebenheit, selten
beachtet wird. Dies führt dazu, dass die Rolle, die Dilthey sowohl für Heidegger als
auch für Husserl spielt, bestenfalls als die eines philosophischen Gesprächspartners
außerhalb des Kernbereichs der Phänomenologie anerkannt wird, und so seine
Bedeutung für die Entwicklung der Phänomenologie im Allgemeinen und besonders
für die Entwicklung des phänomenologischen Denkens Heideggers viel zu wenig
berücksichtigt wird. Die Aufgabe dieses Kapitels wird es daher sein, mittels einer
Rekonstruktion der Lebenstheorie von Dilthey seine Beschäftigung mit der zentralen
phänomenologischen Thematik der gegenständlichen Gegebenheit herauszuheben,
18 Rudolf Adam Makkreel, Dilthey – Philosopher of the Human Studies. New Jersey, 1975, S. 275.
16
und so die Perspektive zu eröffnen, wie Dilthey und Husserl entlang der
Gegebenheitsthematik einen maßgeblichen Dialog führen können, sowie inwiefern
Heidegger in seinem Aufgreifen der Gegebenheitsthematik im Zentrum der
phänomenologischen Forschung Unterstützung von Dilthey erfahren kann. 1.1 Diltheys Begründung der Geisteswissenschaft in der Lebenslehre Dilthey gelangt zum Begriff des Lebens, als er versucht, die Autonomie der
Geisteswissenschaft gegenüber der Naturwissenschaft zu behaupten. Den Bereich der
Geisteswissenschaft grenzt Dilthey dabei gegen den der Naturwissenschaft ab anhand
einer Differenzierung ihres Forschungsgegenstandes und ihrer Forschungsmethode. In
der Einleitung in die Geisteswissenschaften behauptet er das Leben als den
Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften, im Kontrast zum Gegenstand der
Natur bei den Naturwissenschaften.
Diese (Geisteswissenschaft) hat eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen; wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmählich zu erkennen.19
Der Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaft sind keine Naturdinge, sondern
das Leben des Menschen. In den Lebenserfahrungen herrschen nicht die Gesetze der
Kausalität und der Logik, sondern es gibt nur Lebenszusammenhänge, die direkt
erlebt und erfasst werden. Der Naturprozess wird dagegen in logischen Kategorien
und allgemeinen Zusammenhängen erkannt, aber „das Gefühl des Lebens in dem
wahrhaftigen, natürlichen starken Menschen und der ihm gegebene Gehalt der Welt
ließen sich nicht in dem logischen Zusammenhang einer allgemeingültigen
Wissenschaft erschöpfen.“20 Die Geisteswissenschaft gewinnt so bei Dilthey ihre
Autonomie zuerst dadurch, dass sie sich für die Analyse des menschlichen Lebens
einsetzt, das kein Naturding oder Naturprozess sei, wie sie die Naturwissenschaft in
den Blick nimmt.
19 Dilthey, I, S. 109. 20 Dilthey, I, S. 395.
17
1.1.1 Das ursprüngliche Leben in der Ganzheit Die Geisteswissenschaften untersuchen laut Dilthey zwar historische und
gesellschaftliche Wirklichkeiten, aber ihr Gegenstand sei im Grunde also das
menschliche Leben. Die Autonomie der Geisteswissenschaften sei dadurch
gerechtfertigt, dass das Leben in Totalität, das heißt als ein Ganzes gegeben ist. Das
Lebensganze besteht nicht aus einzelnen Bestandteilen, die in der wissenschaftlichen
Analytik zergliedert und isoliert werden könnten, sondern aus einem lebendigen
Lebenszusammenhang, der keiner analytisch-naturwissenschaftlichen Betrachtung
zugänglich sei. In Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens
erweitert Dilthey den Sinn des Lebens als Gegenstand der Forschung, und er
behauptet nun sogar, dass das Wissen von beiden Wissenschaften, der
Geisteswissenschaft als auch der Naturwissenschaft, aus dem Leben entspringe.
Das Leben selber, die Lebendigkeit, hinter die ich nicht zurückgehen kann, enthält Zusammenhänge, an welchen dann alles Erfahren und Denken expliziert. Und hier liegt nun der für die ganze Möglichkeit des Erkennens entscheidende Punkt. Nur weil im Leben und Erfahren der ganze Zusammenhang enthalten ist, der in den Formen, Prinzipien und Kategorien des Denkens auftritt, nur weil er im Leben und Erfahren analytisch aufgezeigt werden kann, gibt es ein Erkennen der Wirklichkeit.21
Das Leben sei laut Dilthey nicht nur der Ursprung des geisteswissenschaftlichen
Wissens, sondern auch der Ursprung des Wissens überhaupt. Das
analytisch-theoretische Erkennen kann nicht hinter das Leben zurückgehen, denn es
selbst ist im Leben gegründet. Dilthey spricht von „innerer Logik“, die unmittelbar in
den inneren Erfahrungen gegenwärtig sei. Die im Erkennen fungierenden Logik und
Kategorien hält Dilthey, sich gegen Kants Transzendentalphilosophie wendend, nicht
für etwas Apriorisches im Verstande des Subjekts, sondern für eine Abstraktion der
„inneren Logik“ des Lebens, die in „elementarer logischer Operation“ des Lebens
fundiert ist.
21 Dilthey, V, S. 83.
18
Nur durch eine Abstraktion heben wir eine Funktion, eine Verbindungsweise aus einem konkreten Zusammenhang heraus. [...] Ich möchte sagen, dass die elementaren logischen Operationen, wie sie an den Eindrücken und Erlebnissen aufblitzen, gerade von der inneren Erfahrung aus am besten erfasst werden können.22
Die „innere Logik“ und die „elementare logische Operation“ gehören zum inneren
Leben. Es sei die lebendige, einheitliche Tätigkeit in uns, welche selber
Zusammenhang ist.23 Das Leben, das aus dem Lebenszusammenhang besteht, sei der
unhintergehbare Ursprung des Erkennens und Wissens. „Es ist also aller
Zusammenhang, den unser Wahrnehmen sieht und unser Denken setzt, der eigenen
inneren Lebendigkeit entnommen, [...] Das Bewusstsein kann nicht hinter sich selber
kommen.“24 Das Erkennen entstamme den Lebenszusammenhängen und kann daher
nicht hinter das Leben zurückgehen. Hier lässt sich bereits erkennen, dass Diltheys
Auseinandersetzung mit dem Thema des Lebens einen erkenntnistheoretischen
Ausgang hat, in der dieses die Rolle der Begründung der Geisteswissenschaften und
sogar des Wissens im Allgemeinen übernimmt.25 1.1.2 Der Zugang zum Leben Wenn das Leben als unhintergehbarer Ursprung des Erfahrens und Erkennens zu
verstehen ist, dann ergibt sich daraus die Frage, wie das Leben selbst zugänglich
machen lässt. Dilthey verweigert dem theoretischen Wissens den Zugang zum Leben,
da dieses „nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verstandes“26 wird. „Was wir
so erleben, können wir auch vor dem Verstand niemals klar machen.“27
Die Suche nach dem Zugang zum Leben in seiner Lebendigkeit ist eine allgemeine
Frage der Lebensphilosophie. Für Bergson und Klages wird das Leben in Intuition
22 Dilthey, V, S 171. 23 Vgl. Ebd., S. 193. 24 Ebd., S. 193. 25 Vgl. Dilthey, VII, S. 117. 26 Dilthey, I, S. 141. 27 Dilthey, V, S. 170.
19
und Anschauung zugänglich. Aber Dilthey sieht zwischen subjektiver Intuition und
dem lebendigen bewegten Leben eine bleibende Kluft. Im Gegensatz zu Bergson und
Klages greifen Dilthey das Erleben oder das Erlebnis als Zugang zum lebendigem
Leben auf. Erleben bedeutet bei Dilthey die unmittelbare Weise, wie dem Menschen
sein eigenes Leben gewahr wird. In diesem Sinne spricht er auch oft vom
„Innewerden“, vom „Selbsthaben“ oder „Selbsterleben“. „Im Erleben ist Innesein und
der Inhalt, dessen ich inne bin, eins“.28 Das Erleben als Innewerden des Lebens
versteht sich nicht als eine Subjekt-Objekt-Relation zwischen dem Menschen und
seinem Leben, sondern im Innewerden des Lebens sind Erleben und Leben an sich in
einer ursprünglichen Einheit verbunden.
Wenn das Innewerden eine Einheit mit dem Leben bilde, wie lässt es sich dann
explizieren? An dieser Stelle kommt der grundlegende Zusammenhang zwischen
Erleben, Ausdruck und Verstehen zum Tragen. Unter Ausdruck versteht Dilthey den
unmittelbaren Zugang zum Erleben. Dieser berge daher in sich keine Reflexion. „Der
Ausdruck quillt aus der Seele unmittelbar, ohne Reflexion.“ 29 Wenn der
nicht-reflexive Ausdruck des Lebens als solcher verstanden wird, dann wird das
Leben selbst der Aneignung und Aufklärung zugänglich. „Es ist der Vorgang des
Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird.“30
Erleben, Ausdruck und Verstehen machen zusammen die Grundstruktur von Diltheys
Hermeneutik aus. 1.1.3 Die schöpferische Kraft des Ausdrucks und die Unergründlichkeit des
Lebens Im Ausdruck drücke das Leben nicht nur sich, sondern mehr aus, so Dilthey. „Der
Ausdruck kann nämlich vom seelischen Zusammenhang mehr enthalten, als jede
Introspektion gewahren kann. Er hebt [...] aus Tiefen, die das Bewusstsein nicht
28 Dilthey, VII, S. 27. 29 Ebd., S. 328. 30 Ebd., S. 87.
20
erhellt.“31 Warum drückt das Leben im Ausdruck mehr aus als es, das in der
Introspektion oder im Bewusstwerden eingeholt werden kann? „Was im Erleben ohne
Besinnen auftritt, wird im Ausdruck desselben gleichsam herausgeholt aus den Tiefen
des Seelenlebens [...] So enthält er mehr vom Erlebnis, als Selbstbeobachtung
auffinden kann.“32 Dilthey verweist an dieser Stelle auf die schöpferische Kraft des
Ausdrucks. Der „Ausdruck hebt aus diesen Tiefen heraus. Er ist schaffend. Und so
wird uns im Verstehen das Leben selber zugänglich, zugänglich als ein Nachbilden
des Schaffens.“33 Der Ausdruck ist daher „schaffende Explikation“34 des Lebens,
und er bringt jedes Mal eine neue Gestaltung des Lebens hervor.
Hier stellt sich nun die Frage, woher die schöpferische Kraft des Ausdrucks von
Leben stammt. Nach Dilthey entspringe sie aus den Tiefen des Lebens, das heißt aus
seiner Unergründlichkeit, die eben den lebensphilosophischen Geist bei Dilthey
ausmacht und an die Grundlagen seines philosophischen Denkens heranreicht. Die
Konzeption der Unergründlichkeit bildet einen Kern seines lebensphilosophischen
Ansatzes, um in der Interpretation des Lebens alle erstarrenden und verfestigenden
Mächte des begrifflichen Denkens und des Intellektualismus zu bekämpfen. Dem
„Verstand sind die Leidenschaften, das Opfer, die Hingabe des Selbst an die
Objektivität undurchdringlich: nie kann Erleben in Begriffe aufgelöst werden“.35 Das
heißt, dass das Erleben als Innewerden des Lebens in dessen unergründlichen und
unerschöpflichen Tiefen verbleibt und dem Verstand unzugänglich ist. Aber führt diese Konzeption der Unergründlichkeit des Lebens nicht zu einem
Irrationalismus? Otto Friedrich Bollnow weist mit Blick auf den positiven Charakter
der Unergründlichkeit darauf hin, dass die Unhintergehbarkeit weder irrationalistische
Haltung noch aufbrechendes Lebensgefühl sei, sondern das eigene Wesen des Lebens
selbst ausmache. „Leben ist nicht darum unergründlich, weil wir nicht zu seinem
31 Dilthey, VII, S. 206. 32 Ebd., S. 328. 33 Ebd., S. 220. 34 Ebd., S. 138. 35 Ebd., S. 331.
21
Grund vorzudringen vermöchten, sondern weil es wesensmäßig keinen ‚Grund’ hat,
sondern ‚offen’ ist in seine Möglichkeiten hinein.“36 Das unergründliche Leben ist
nicht über das begriffliche Denken zugänglich, sondern manifestiert sich nur, wie
oben erörtert, im schaffenden Ausdruck und Verstehen. Mit anderen Worten: es findet
„seine Erfüllung aus der geschichtlich-dynamischen Auffassung des menschlichen
Lebens: dass dieses nämlich schöpferisch Neues aus den unergründlichen Wurzeln
seines Daseins hervorzubringen vermag.“37 1.2 Die Theorie des Lebens sowie die Thematik der gegenständlichen
Gegebenheit bei Dilthey Im Vergleich zu anderen Lebensphilosophen, wie Bergson und Nietzsche, die das
Leben als etwas Ontologisches und Lebendiges im Gegensatz zum Verstand ansetzen,
versucht Dilthey vielmehr, die zentrale erkenntnistheoretische Frage, die seit Kant
alle Erkenntnislehre notwendig ins Auge fasst, nämlich wie Erkennen überhaupt
möglich sei, zu beantworten, um so eine Fundamentalwissenschaft vom Leben zu
begründen.
In Diltheys Lehre ist das Leben verfasst als der unhintergehbare Ursprung allen
Erfahrens und Erkennens, der nur im unmittelbaren Selbsterleben erfahren wird. Einer
theoretisch-objektivierenden Sichtweise auf das Phänomen „Leben“ wirft er die
Unzugänglichkeit der Behandlung des Lebens vor. Dazu gehört auch die in Der
Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften geübte Kritik an der
Brentano-Schule, die das Leben in abstrakte Entitäten zu zerlegen und aus diesen das
Leben wieder zusammenzusetzen versuche. An dieser Stelle findet nun auch Husserls
Position Erwähnung. Hinter der Kritik an der zerlegenden Behandlung des Lebens
verbergen sich Spannungen zwischen Dilthey und Husserl, die noch eine andere
Thematik betreffen, nämlich die der gegenständlichen Gegebenheit. Diltheys Position
36 Otto Friedrich Bollnow, Dilthey, Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart, 2. Auflage, 1955, S. 141. 37 Ebd., S. 141.
22
gegenüber Husserls phänomenologischer Auffassung der Gegebenheit verbirgt sich in
seiner Einsicht in die innere Struktur sowie den faktisch-geschichtlichen Charakters
des Lebens. Es ist diese Einsicht, die von Heidegger aufgegriffen wird, und die in
dessen Ausführungen der frühen Freiburger Vorlesungen über das faktische Leben
eine zentrale Rolle spielt. 1.2.1 Die Gegebenheitsmodelle von Dilthey und Husserl Die Spannung zwischen Dilthey und Husserl beschränkt sich nicht nur auf den
Kontrast zwischen dem unmittelbaren Selbsterleben und der theoretischen Zerlegung
als oppositionelle Zugänge zum Leben, sondern betrifft auch ihre unterschiedlichen
Auffassungen der gegenständlichen Gegebenheit. Der Begriff der
Gegebenheitsthematik ist mit Blick auf Dilthey durchaus etwas befremdlich, da sich
zunächst nicht feststellen lässt, dass das Thema der „Gegebenheit“ des Gegenstandes
bei Dilthey überhaupt auftaucht. Die Unsicherheit darüber, ob die
Gegebenheitsthematik bei Dilthey überhaupt zu finden ist, rührt daher, dass man mit
Gadamer davon ausgeht, dass die gegenständliche Gegebenheit auf „(einer) Trennung
des gegebenen von dem, dem es gegeben ist“ 38 basiere, was einen
theoretisch-objektivierenden Zugang verlangt. Dies ist eher die Husserlsche
Auffassung der Gegebenheit des Gegenständlichen. Dilthey vertritt jedoch eine
andere Auffassung.
Seine Auseinandersetzung mit der Gegebenheitsthematik beginnt Dilthey in
Anlehnung an Husserls Intentionalitätslehre. Es ist bekannt, dass die beiden
Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einen philosophischen
Gedankenaustausch traten, und sich, wie Georg Misch es beschreibt, nicht einfach
38 Der vollständiger Text: “Es ist eine zutiefst temporale, ontologische Problematik. Einerseits soll das Erlebnis die absolute Gegebenheit sein, die man nicht einmal Gegebenheit nennen sollte, weil darin eine Trennung des Gegebenen von dem, dem es gegeben ist, nahegelegt wäre. Der Ausdruck ‚Innesein’ will alle ‚Gegebenheit’ noch überbieten. Auf der anderen Seite konstituiert sich die Erlebniseinheit gerade nicht durch das bloße Dabeisein, das als Innesein einer inneren Erfahrung gelten soll, sondern durch das Besondere dessen, was da zur Erfahrungen kommt und im ganzen des Lebensverlaufs seine Bedeutung hat.“ Gadamer, BI 4, Neuere Philosophie, 1987, S. 413.
23
miteinander maßen wie Hobbes und Descartes, sondern im gemeinsamem
philosophischen Bemühen zusammenfanden.39 Auf eine umfassende Analytik der
Beziehung zwischen den beiden Philosophen kann im Rahmen der vorliegenden
Arbeit nicht eingegangen werden. Womit wir uns an dieser Stelle aber näher befassen
möchten, ist die Frage, wie Dilthey im Ausgang von der Intentionalitätslehre Husserls
sein eigenes Verständnis der gegenständlichen Gegebenheit entwickelt.
In dem Moment, da Dilthey in Der Aufbau der geschichtlichen Welt seine
Untersuchung des Lebens und des Erkennens im erkenntnistheoretischen Rahmen
durchzuführen versucht, wendet er sich der Phänomenologie Husserls zu. In seiner
Darlegung der Struktur von Erkenntnis, strenger genommen, von Erlebnissen, nimmt
er gelegentlich auf Husserls Logische Untersuchungen Bezug. Die
Intentionalitätslehre, die Husserl in den Logischen Untersuchungen entfaltet, erfährt
in Diltheys Darstellung der gegenständlichen Auffassung Resonanz. Wie Husserl so
unterscheidet auch Dilthey das signifikante Auffassen (theoretisches Erkennen) vom
intuitiven Auffassen (Anschauung). Wahrheit stelle sich laut Husserl ein, wenn das
signifikante Auffassen der Aussage von Anschauungserlebnissen erfüllt wird. Auch
diese Wahrheitsbestimmung aus den Logischen Untersuchungen nimmt Dilthey auf.
„Jede Aussage über Erlebtes ist objektiv wahr, wenn sie zur Adäquation mit dem
Erleben gebracht ist.“40 Weitere Anleihen von Husserls Intentionalitätslehre finden
sich in Diltheys Darstellung der anschaulichen Erlebnisse. Wie dieser teilt er die
anschaulichen Erlebnisse in zwei Arten auf: „Wahrnehmung“ und „Wahrnehmung
zweiten Grades“,41 die auch als „elementare logische Operationen“ bezeichnet. Beide
Arten von Anschauung haben jeweils einen einzelnen Gegenstand bzw. hochstufige
Gegenstände wie Sachverhalte und Idealgegenstände als ihre Auffassungsobjekte.42
Mit der Hinwendung zur Intentionalitätslehre in den Logischen Untersuchungen tritt
39 Georg Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, Bonn, 1930, S. 180. 40 Dilthey, VII, S. 26. 41 Vgl. Ebd., S. 42. 42 Die Begriffe der Wahrnehmung und der elementaren logischen Operationen finden ihre Entsprechungen in der Intentionalitätslehre Husserls in Begriffen der „schlichten Anschauung“ und der „kategorialen Anschauung“.
24
Diltheys erkenntnistheoretisches Denken ein in den phänomenologischen
Fragebereich der Evidenz oder der gegenständlichen Selbstgegebenheit. Er sucht
jedoch eine andere Interpretation der Selbstgegebenheit des Gegenständlichen zu
entwickeln, als sie bei Husserl vorliegt, um seine der traditionellen
Transzendentalphilosophie entgegengesetzte Position stark zu machen.
Für Husserls Interpretation der anschaulichen Auffassung des Gegenstandes ist das
Anschauungsmodell ausschlaggebend. Das Anschauungsmodell umfasst die Intention
(Auffassungssinn) und die sinnlichen Inhalte. 43 In diesem dualistischen
Anschauungsmodell werde Husserl zufolge der Gegenstand leibhaftig gegeben, das
heißt er ist selbst gegeben. In der Selbstgegebenheit erblickt Husserl den Charakter
der Evidenz. Der Begriff der Evidenz steht bei Husserl für das Phänomen der
Wahrheit, und somit für die Geltung der Erkenntnis. Zur Aufklärung der
Selbstgegebenheit zieht Husserl in den Logischen Untersuchungen die Bestandteile
des Anschauungsaktes heran, wie die Intention, den Gegenstand und den
Empfindungsinhalt usw.
Anders als Husserl beschäftigt sich Dilthey nicht mit der Zergliederung des intuitiven
Aktes in seine Bestandteile, sondern vielmehr mit den inneren Beziehungen der
anschaulichen Erlebnisse, denn seiner Ansicht nach sind es eben diese inneren
Beziehungen der Erlebnisse, welche die Selbstgegebenheit des Gegenstandes
bestimmen. Diese inneren Beziehungen bezeichnet er auch als strukturelle Beziehung
oder als Lebenszusammenhang. Die strukturellen Beziehungen, so Dilthey, seien
konstituiert durch die gegenständlichen Relationen, die in anschaulichen Inhalten
schon unmittelbar enthalten seien, und seien „Fortgang von Relationen, die im
Gegenstand vorfindlich sind, zu denen, die in größeren gegenständlichen
43 Vgl. Robert Sokolowski, The Formation of Husserl´s Concept of Constitution, The Hague, 1964, S. 54-57. Sinnliche Inhalte sind in Husserls Darstellung in der sinnlichen Anschauung als Empfindungsinhalt und in der kategorialen Anschauung als „psychisches Band“ oder „kategorialer Repräsentant“ bezeichnet.
25
Zusammenhängen sattfinden“.44 Diltheys Interpretation der anschaulichen Erlebnisse
läuft in der gegenständlichen Auffassung nicht auf dualistisches Anschauungsmodell
hinaus, sondern auf die Forderung, „Beziehungen überall herzustellen zwischen allem
Erlebbaren und Wahrnehmbaren.“45 Die strukturelle Beziehung der Erlebnisse, die in
der Bestimmung des Gegenstandes durch erlebte Inhalte liegt, bringt das System der
gegenständlichen Relationen hervor und äußert sich in ihnen. 46 Aus dieser
Interpretation deutet Dilthey an, dass die inneren Beziehungen des Lebens das System
der gegenständlichen Relationen aufbauen, und dass sich in diesem und nur in diesem
das Gegenständliche im Vollzug der inneren Beziehungen offenbart oder gegeben
wird. Die Selbstgegebenheit des Gegenstandes sei nach Dilthey gerade nicht über das
Anschauungsmodell bzw. das Gegebenheitsmodell von Intention und sinnlichem
Inhalt auszuweisen, welche nur zerlegte Bestandteile des subjektiven Bewusstseins
seien. 47 Georg Misch fasst Diltheys Interpretation der Selbstgegebenheit des
Gegenstandes im Kontrast zu Husserls Bestimmung der Evidenz wie folgt auf.
Evidenz ist nicht Isoliertes [...] sondern eine eigentümliche Weise der Erfahrung, eine unter anderen, ausgezeichnet durch die „Selbsthabe“ der Sache, aber diese Auszeichnung kommt ihr nur durch ihre Funktion innerhalb des Zusammenhangs der Erlebnisse.48
Die Selbstgegebenheit, die Evidenz interpretiert Dilthey als „Selbsthabe der Sache“,
die sich von Husserls Auffassung dadurch unterscheide, dass das Gegenständliche als
gegenständliche Relation im System der inneren Beziehungen oder des
Lebenszusammenhangs erlebt und vollgezogen wird,49 während der intentionale
44 Dilthey, VII, S. 41. 45 Ebd., S. 43. 46 Vgl. Ebd., S. 41. 47 Obwohl Diltheys Kritik an Husserl ausdrücklich allein das statische Anschauungsmodell in der Intentionalitätslehre der Logischen Untersuchung betrifft, gilt die Kritik auch für die später erfolgten noesis-noema-Schemata, die sich als eine vertiefte und genetische Version des Intentionalitätsmodells kennzeichnet, da die neuen Schemata immer noch im Bereich der Subjektivität bleibt. Wie Georg Misch sagt: „Die intentionale Analyse, die zusieht, wie irgend eine Art von Gegenständlichkeiten [...] ihren Seinssinn in der Subjektivität und für sie aufbauen, ergänzt sich und vertieft sich zugleich zur genetischen.“ Georg Misch, 1930, S. 203. 48 Georg Misch, 1930, S. 206. 49 Für Dilthey ist das Gegenständliche kein realer Gegenstand, und auch vom intentionalen Gegenstand bei Husserl zu unterscheiden. In Diltheys Interpretation ist das Gegenständliche meistens als „gegenständliche Relationen“ erfasst, die in Erlebensakten enthalten, erlebt und vollzogen sind. (Vgl. Dilthey, VII, 35, 41, 42, 43, 44)
26
Gegenstand im dualistischen Anschauungsmodell Husserls als ideale Einheit
aufgefasst wird. Von dieser Differenz in der Auffassung der Selbstgegebenheit
ausgehend, lässt sich Diltheys Gegebenheitsmodell gegenüber dem von Husserl
herausarbeiten. Das Gegebenheitsmodell bei Dilthey ist mit Blick auf dessen
Interpretation der Selbstgegebenheit des Gegenständlichen als ein inneres System
struktureller Beziehungen auszulegen, in dem das Gegenständliche gegeben, das heißt
erfahren und aufgefasst wird. Dieses System bestehe nicht bloß in der
gegenständlichen Auffassung, sondern in der Verwebung von Auffassung und
Gefühlen oder Willensintentionen.
Alle Erlebnisse, welche durch gegenständliches Auffassen charakterisiert sind, enthalten nun innere Beziehungen aufeinander. Diese strukturellen Beziehungen gehen durch alle Verwebungen hindurch, in denen Gefühle oder Willensintentionen mit dem gegenständlichen Auffassen verbunden sind.50
1.2.2 Diltheys Kritik an der Transzendentalphilosophie
Von diesem Gegebenheitsmodell her behauptet Dilthey seine Gegenposition zu
Husserls Auffassung des Lebens, und er verweist darauf, dass Husserls
Gegebenheitsmodell auf dessen zergliedernder Behandlung des Lebens, womit hier
das Bewusstsein gemeint ist, zurückzuführen sei. Für Dilthey sei das ursprüngliche
Leben, wie zuvor bereits erläutert wurde, nicht über eine zergliedernde und
analytische Behandlung zugänglich, da es sich ursprünglich als das Ganze des
Lebenszusammenhangs gibt. Von daher unterzieht er die Behandlung des
Bewusstseins bei Husserl der Kritik.
Wie weit kann nun diese Zergliederung gehen? Auf die der naturwissenschaftlichen atomistischen Psychologie folgte die Schule Brentanos, welche psychologische Scholastik ist. Denn sie schafft abstrakte Entitäten, wie Verhaltungsweise, Gegenstand, Inhalt, aus denen sie das Leben zusammensetzen will. Das Äußerste hierin Husserl. Im Gegensatz hierzu: Leben Ganzes. Struktur: Zusammenhang dieses Ganzen, bedingt durch die realen Bezüge zur
50 Dilthey, VII, S. 36.
27
Außenwelt.51
Dieser Art und Weise der Behandlung des Bewusstseins oder des Lebens liege in den
Augen Diltheys darüber hinaus das erkenntnistheoretische Paradigma der
Transzendentalphilosophie zugrunde. Das Lebensganze fasst Dilthey als ein Ganzes,
das heißt als ein einheitliches System struktureller Beziehungen der Erlebnisse auf.
Diese seien keine Bewusstseinstatsachen, sondern „vom Bewusstsein unabhängige
Wirklichkeiten“.52 Jedoch werde im Paradigma der Transzendentalphilosophie immer
ein grundlegendes Bewusstsein als der letzte Grund der Erlebnisse, des
gegenständlichen Auffassens vorausgesetzt. Dilthey spricht sich aber gegen diese
Voraussetzung aus:
Das gegenständliche Auffassen bildet ein System von Beziehungen, in dem Wahrnehmungen und Erlebnisse, erinnerte Vorstellungen, Urteile, Begriffe, Schlüsse und deren Zusammenhangsetzungen enthalten sind. Allen diesen Leistungen im System des gegenständlichen Auffassens ist gemeinsam, dass in ihnen nur Beziehungen von Tatsächlichem gegenwärtig sind. So sind im Syllogismus nur die Inhalte und deren Beziehungen gegenwärtig, und kein Bewusstsein von Denkoperationen begleitet ihn.53
Dilthey kritisiert somit den transzendentalen Subjektivismus der kantischen Tradition,
an die Husserl anknüpft: „Das Verfahren, welches dem so Gegebenen als
Bewusstseinsbedingungen einzelne Akte unterlegt, welche den sachlichen Relationen
entsprechend gedacht werden, [...] enthält eine nie verifizierbare Hypothese.“54 Zum
transzendentalphilosophischen Paradigma gehört nicht nur die Annahme eines
zugrundliegenden Bewusstseins, sondern auch der künstliche Aufbau der
wesentlichen Struktur des Erkennens überhaupt. Laut Robert Scharff entfaltet sich
Diltheys Vorwurf einer Fehlinterpretation des Erkennens des Bewusstseins als eine
Kritik an der traditionellen Erkenntnistheorie: egal wie raffiniert in der
Erkenntnistheorie die epistemologische Fragestellung aufgebaut sei, und wie
51 Dilthey, VII, S. 237-238. 52 Ebd., S. 42. 53 Ebd., S. 121. 54 Ebd.
28
durchdacht der Verlauf der Argumentation sei, es sei unmöglich zu wissen, wie das
Erkennen in der Wirklichkeit geschieht. In diesem Sinne unterliege die traditionelle
Erkenntnistheorie einem Selbstbetrug, wenn sie versucht, stets eine
meta-wissenschaftliche, wesentliche Struktur des Erkennens aufzubauen.55
Das Gegebenheitsmodell Diltheys hat zwar scheinbar auch Modellcharakter, jedoch
hat es dieser nicht mit dem reflexiven Aufbau einer Wesensstruktur des Erkennens
oder der Erlebnisse zu tun, sondern ist eher als deskriptive Explikation der
unmittelbaren „Beziehungen des Tatsächlichen“, nämlich des Lebenszusammenhangs
zu verstehen. Die Thematik der gegenständlichen Gegebenheit rückt bei Dilthey zwar
nicht in den Mittelpunkt einer eigenständigen Untersuchung, wird jedoch in seinen
Studien zum Leben mit berücksichtigt. Und gerade in seiner Behandlung dieser
Thematik wird Diltheys Gegenposition zur traditionellen Erkenntnistheorie, und vor
allem zur Transzendentalphilosophie, ersichtlich. Das zeigt sich besonders an seiner
Auseinandersetzung mit Husserl. Im Folgenden werden wir versuchen, einen
genaueren Blick auf seine Illustration des Begriffs des Lebens zu werfen, damit sein
Gegebenheitsmodell sowie auch seine Positionierung gegenüber Husserl zur genauen
Explikation gebracht werden kann.
1.3 Der volle Begriff des Lebens und die Auffassung der gegenständlichen
Gegebenheit bei Dilthey
Das Leben im ursprünglichen Sinn ist, wie erörtert, laut Dilthey dem analytischen
Denken nicht zugänglich, da jede denkende Zugangsweise die innere Lebendigkeit
des Lebens zerstört. Das Leben setzt er vielmehr mit dem nicht theoretischen bzw.
dem vortheoretischen Lebenszusammenhang gleich. Dieser sei von Trieb, Willen und
Gefühl motiviert und beziehe sich auf das menschliche Verhalten zur Welt. Im
Folgenden wird zunächst das Leben hinsichtlich seiner Weltmäßigkeit und der
55 Vgl. Robert Scharff, What Heidegger learnd from Dilthey, in: Britische Journal for the History of Philosophy, 2013, S. 138.
29
Transzendenz betrachtet, welche beide kennzeichnend für Diltheys
Gegebenheitsmodell sind.
1.3.1 Weltmäßigkeit und Transzendenz des Lebens
Das Leben, so Dilthey, ist eine Vollendung der gegenständlichen Relationen, die in
Erlebnissen oder Erlebensakten enthalten sind. „Die Vollendung aller im Erlebten
oder Angeschauten enthaltenen Relationen wäre der Begriff der Welt.“56 Die Welt
hängt mit dem Leben einheitlich zusammen, streng genommen sind Welt und Leben
bei Dilthey eins. „Welt und Leben [...] ist ein ursprünglich einheitlicher Begriff und
bezeichnet die mit Worten nicht näher zu bezeichnende höhere Einheit, für die dann
ohne Änderung des Sinns auch das eine oder das andere Wort gesetzt werden kann“57,
so Bollnow. Die Welt bei Dilthey meine den Bezug des Menschen zur Welt, so
Bollnow weiter, und das Leben im Sinne des Lebenszusammenhangs verstehe sich
eben als das menschliche Verhältnis zur Welt. Daher handle es sich bei der jener
Einheit von Leben und Welt „nicht um ein bloßes Aufeinanderangewiesensein,
sondern um eine wirkliche übergreifende Einheit“. 58 Erst aus dieser Einheit
entwickelt sich laut Dilthey das korrelative Verhältnis von außen und innen. „Uns ist
nie bloße innere Lebendigkeit oder bloße äußere Welt gegeben, beide sind immer
nicht nur zusammen, sondern im lebendigsten Bezuge aufeinander: erst die
Entwicklung der intellektuellen Gebilde löst zunehmend diesen Zusammenhang.“59
Das heißt, in der ursprünglichen Einheit von Leben und Welt löst sich der dualistische
Gegensatz von Subjekt und Objekt, vom Ich und der Außenwelt auf. Solcher
Dualismus entstehe nur als Ergebnis des analytischen Denkens in der Theoretisierung
des Lebens.
Wenn die Welt in Einheit mit dem Leben zu denken ist, so stellt sich die Frage, wie
56 Dilthey, VII, S. 129. 57 Bollnow, 1955, S 37. 58 Ebd. S. 50. 59 Dilthey, VIII, S. 16.
30
die Auffassung einer Außenwelt, zu der wir uns als außer uns seiend verhalten,
entsteht. Dilthey zufolge entspringe die Erfahrung der Außenwelt aus der
Zweckmäßigkeit des Lebens.60 Das Leben sei getrieben von der „Willensmacht des
Menschen, welche gleichsam ihre Fangarme ringsumher nach Erfüllung und
Befriedung ausstreckt“. 61 Der Lebenszusammenhang ist insofern als
Zweckzusammenhang gedacht, da er sich aus dem Willen des Menschen nach einem
bestimmten Zweck ergibt. Aber wie konstituiert sich die Erfahrung des Anderen und
der Außenwelt innerhalb dieses Zweckzusammenhangs? Die Erfahrung von
Hemmung und Widerstand ergibt sich, wenn wir wollend und zweckmäßig handeln
und uns dann gegenüber dem Äußeren verhalten. „Uns ist [...] in der Erfahrung der
Hemmung und des Widerstandes die Gegenwart einer Kraft gegeben, die wir dann als
eine äußere, von uns getrennte auffassen müssen.“ 62 Aus der Erfahrung der
Hemmung und des Widerstandes entsprängen unsere Auffassungen vom Anderen und
der Außenwelt, bzw. die Unterscheidung von Selbst und Anderen, Ich und
Außenwelt.
Der ganze Sinn der Worte Selbst und Anderes, Ich und Welt, Unterscheidung des Selbst von der Außenwelt liegt in den Erfahrungen unseres Willens und der mit ihm verbundenen Gefühle [...]Deren Kern ist [...] das Verhältnis von Impuls und Hemmung der Intention, von Wille und Widerstand.63
Hieraus lassen sich zwei Thesen folgern: 1) Die Auffassung des Gegenstandes und
der Außenwelt ist primär kein theoretisches Erkennen und Denken, sondern liege
ursprünglich in den zweckmäßigen inneren Lebenserfahrungen, die vom Willen und
von Gefühlen motiviert werden. 2) Da unsere Lebenserfahrung primär zweckmäßig
ist und vom Willen getrieben wird, suche sie spontan die Erfüllung, gehe von selbst
über sich hinaus und richte sich daher auf den Anderen, sowie auf den Gegenstand
60 Die hier erwähnte Erfahrung der Außenwelt ist immer als vortheoretische faktische Lebenserfahrungen zu betrachten und unterscheidet sich von der Objektauffassung im theoretischen Sinn. 61 Dilthey, V, S. 96. 62 Ebd., S. 131. 63 Ebd., S. 130.
31
und die Welt. Das heißt, dass die Weltmäßigkeit und der über sich hinausweisende
Bezug, also die Transzendenz, Grundcharaktere des Lebens sind. Mit der zweiten
These lässt sich auch die Einheit von Leben und Welt deutlicher explizieren. Welt ist
bei Dilthey primär als Weltmäßigkeit des Lebens zu verstehen und gerade deswegen
nicht vom Leben zu trennen.
Mit den so hergeleiteten Thesen ist die Perspektive gewonnen, von der aus Diltheys
Gegenposition zu Husserl, in Bezug auf die Auffassung der gegenständlichen
Selbstgegebenheit im Bereich des immanenten Bewusstseins, bereichert und verstärkt
werden kann. Der ersten These entsprechend ist das Gegenständliche bei Dilthey
nicht, wie bei Husserl, primär das ideal Gegenüberstehende, auf das sich der
intentionale und erkennende Akt richtet, sondern ist primär das in den
vortheoretischen Erfahrungen Erfahrene. Der zweiten These entsprechend liegt die
Sphäre der gegenständlichen Gegebenheit nicht primär im erkennenden Bewusstsein,
sondern im faktischen und weltmäßigen Leben, das heißt, um es mit John Van Buren
zu sagen, „im Bereich der Lebenserfahrung der praktischen und kulturellen Welt“.64
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Gegenständliche bei Dilthey primär im
vortheoretischen Leben, für das die Weltmäßigkeit und der Transzendenz
kennzeichnend sind, erfahren wird, während es bei Husserl als eine ideale Einheit in
der immanenten Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins intendiert wird. Es handelt
sich hier aber nicht um zwei unterschiedliche Ausgangpunkte in der Interpretation der
Gegebenheit, etwas um einen lebensphilosophischen und einen phänomenologischen
Ausgangpunkt, sondern es handelt sich überhaupt um die Spannung zwischen zwei
Erklärungsmodi, die hier angesetzt werden. Diese Spannung erkennt auch Heidegger,
und er bringt sie in seinen Untersuchungen zur Ursprungswissenschaft in den frühen
Freiburger Vorlesungen zum Ausdruck. Dabei positioniert er sich selbst auf der Seite
Diltheys statt auf der Seite seines Lehrers Husserl, worauf wir im nächsten Kapitel
näher eingehen werden. Zunächst werfen wir aber einen Blick auf eine weitere
64 Vgl. John Van Buren, The young Heidegger and phenomenology, in: Man and World 23, S. 250.
32
zentrale Konzeption in der Lebenstheorie Diltheys, die dessen Gegenposition zu
Husserl noch einmal in vollem Ausmaß zum Ausdruck bringt: die Bedeutung.
1.3.2 Die Bedeutung und das Leben als der geschichtliche Horizont
Wie zuvor erläutert wurde ist das Leben als Ganzes bei Dilthey aus inneren
Beziehungen konstituiert. Insofern begreift er das Leben direkt als den
Lebenszusammenhang. Dieser wird auch als Ganzheitszusammenhang bezeichnet,
denn „Zusammenhang ist der Inbegriff der im Verhältnis des Ganzen zu den Teilen
bestehenden Beziehungen“.65 Der Lebenszusammenhang versteht sich wiederum als
Bedeutungszusammenhang oder als Bedeutung.66 „Bedeutung ist die besondere Art
von Beziehung, welche innerhalb des Lebens dessen Teile zum Ganzen haben“.67
Und erst durch die Beziehung zum Ganzen ist ein Erlebnis 68 bedeutsam.
„Bedeutsamkeit ist die [...] Bestimmtheit der Bedeutung eines Teiles für ein
Ganzes.“69 Das heißt, Leben fasst sich in seinem Bedeutungszusammenhang als ein
Ganzes, zu dem sich die Einzelerlebnisse als Teile des Lebens beziehen. Diese These
ist in drei Schritten zu vertiefen.
1) Erstens ist die Beziehung zum Ganzen der ursprüngliche Zusammenhang der
Erlebnisse. Zuvor wird die innere Beziehung als der Zusammenhang zwischen
Erlebnissen dargestellt. Dilthey hält aber den Zusammenhang zwischen
Einzelerlebnissen für das Abgeleitete aus dem ursprünglichen Bezug von einem
Einzelerlebnis zum Lebensganzen. Jedes Erlebnis hat in jeder Gestalt ursprünglich
65 Dilthey, XI, S. 218. 66 Dilthey, VII, S. 195, 197, 237. 67 Dilthey, VII, S. 233; Vgl. VII, S. 73, 243, 255; VI, S. 319. Der Begriff der Bedeutung hat zwar bei Dilthey den eigentümlichen Sinn des Zusammenhangs vom Teil zum Ganzen angenommen, jedoch verliert er seinen eigenen Wortsinn, nämlich „Bedeutung zum Verstehen“ nicht. 68 Der emotional gefärbte Begriff Erlebnis kommt in Diltheys Wortverständnis der Erfahrung nahe. In seinen Spätschriften ersetzt er den Begriff Erlebnis eher mit Erfahrnis oder Erfahrung. (Vgl. Dilthey, XXVI, Das Erlebnis und die Dichtung, 199, 394 und anderswo); In der Schrift Das Wesen der Philosophie erklärt Dilthey Erlebnis auch als Geschehnis, „dieses Wort ist einem Sinne genommen, in dem es Erlebbares wie Erlebtes, eigene wie fremde Erfahrung, Überliefertes wie Gegenwärtiges einschließt“.(Dilthey, V, 392) 69 Dilthey, VII, S. 238, Vgl. S. 229, 240.
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eine Beziehung zum Ganzen, und in dieser Beziehung zum Ganzen liegt seine
Bedeutsamkeit.70 Das Ganze ist nämlich das Leben. Das heißt, jedes Einzelerlebnis
ist in seiner Beziehung zum Lebensganzen bedeutsam.
2) Zweitens ist der Ganzheitscharakter des Lebens oder der Ganzheitszusammenhang
„durch die Zeit bestimmt.“71 Wie ist das zu verstehen?
Wir erfassen die Bedeutung eines Momentes der Vergangenheit. Er ist bedeutsam, sofern in ihm eine Bindung für die Zukunft durch die Tat oder durch ein äußeres Ereignis sich vollzog. Oder sofern der Plan künftiger Lebensführung erfasst wurde. Oder sofern ein solcher Plan seiner Realisierung entgegengeführt wurde [...] In allen diesen und anderen Fällen hat der einzelne (gegenwärtige) Moment Bedeutung durch seinen Zusammenhang mit dem Ganzen, durch die Beziehung von Vergangenheit und Zukunft.72
Der Bedeutungszusammenhang des Lebens als Beziehung vom Einzelerlebnis zum
Lebensganzen vollzieht sich in der Beziehung des gegenwärtig erlebten Momentes zu
Vergangenheit und Zukunft. Das heißt, die Beziehung geschieht in einem zeitlichen
Horizont, der sich als eine innere Einheit von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart
darstellt. Eben diese zeitliche innere Einheit macht die Ganzheit des Lebens aus. Die
Zeitlichkeit ordnet Dilthey daher den Lebenskategorien unter. „In dem Leben ist als
erste kategoriale Bestimmung desselben, grundlegend für alle anderen, die
Zeitlichkeit enthalten.“73 Hier sei darauf hingewiesen, dass die Ganzheit des Lebens
nicht lediglich vom einheitlichen zeitlichen Horizont ausgebildet wird,74 sondern
70 Anzumerken ist, dass innere Beziehung als der Lebenszusammenhang für Dilthey nicht nur Zusammenhang zwischen Einzelerlebnissen bedeutet, sondern eher als ein Inbegriff für sowohl das Abgeleitete als auch den ursprünglichen Bezug vom Teil zum Ganzen erfasst werden soll, während unter Bedeutungszusammenhang nur der Bezug vom Teil zum Ganzen zu verstehen ist. 71 Dilthey, VII, S. 220. 72 Ebd., S. 223-233. 73 Ebd., S. 192. 74 Der Grund dafür, dass Zeitlichkeit die Einheit des Lebens ermöglicht, liegt in der Tat nicht darin, dass Zeitlichkeit als einheitlicher Horizont des Lebens oder der zeitlichen Erlebnisse fungiert, sondern darin, dass sie die Substanz des Lebens selbst ausmacht. Zeit stellt Dilthey als beständigen kontinuierlichen Strom dar, der sich in der Form des Lebensgeschehens aufzeigt und im Leben seine Erfüllung findet. ( Vgl. Dilthey, VII, 73, 193, 315) Insofern sagt er, dass Zeit nicht von Uhren gemessen wird, sondern durch das, was geschieht. (Vgl. Dilthey, VII, 221) Zwischen Zeit und ihrer Erfüllung, d. i. Geschehen ist bei Dilthey eine innere Verbundenheit zu sehen, die ebenfalls für seine Lebensinterpretation von großer Bedeutung ist. Diese bedürfte als selbständiges Thema weiterer Aufklärung, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit leider nicht möglich ist.
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vielmehr darin liegt, dass das, was in der Zeit geschieht, seine Bedeutung hat, nämlich
den Bedeutungszusammenhang des Teils zum Ganzen.
3) Mit Diltheys Interpretation der Einheit des Lebens durch die Zeitkategorie oder
Zeitlichkeit ist der dritte Aspekt der oben vorgelegten These eröffnet: Bedeutung als
die Beziehung vom Einzelerlebnis zum Ganzen ist in einem einheitlichen
dynamischen Geschehen konstituiert, das sich als Leben bezeichnet.
Im Leben allein umschließt die Gegenwart die Vorstellung von der Vergangenheit in der Erinnerung und die von der Zukunft in der Phantasie, die ihren Möglichkeiten nachgeht, und in der Aktivität, welche unter diesen Möglichkeiten sich Zwecke setzt. So ist die Gegenwart von Vergangenheiten erfüllt und trägt die Zukunft in sich. Dies ist der Sinn des Wortes „Entwicklung“ in den Geisteswissenschaften.75
So drückt sich bei Dilthey mit dem Wort „Entwicklung“ die Dynamik des
Lebenszusammenhangs in Sinne der inneren Wirkung zwischen den zeitlich
geschehenden Erlebnissen von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart im
einheitlichen Horizont aus. Diese Dynamik lässt sich mit Dilthey als
Geschichtlichkeit des Lebens bezeichnen. An dieser Stelle deutet er darauf hin, dass
Bedeutung, die Beziehung des Einzelerlebnis zum Ganzen, als innere Wirkung der
Erlebnisse zu konkretisieren sei, und insofern als geschichtlicher
Wirkungszusammenhang verstanden werden muss. Alle Einzelerlebnisse
konstituieren sich durch ihren Wirkungszusammenhang als Lebenseinheit, und sie
erhalten ihre Bedeutsamkeit primär aus diesem Wirkungszusammenhang, aus ihrem
Bedeutungszusammenhang zur Lebenseinheit. Dieses Verhältnis zwischen
Einzelerlebnis und Lebensganzem erläutert Landgrebe wie folgt:
Die einzelnen Momente des Strukturzusammenhanges, die Gefühle und Triebe, das gegenständliche Auffassen, die Wertgebungen und Zwecksetzungen – all das, was wir die einzelnen „Erlebnisse“ nennen – dürfen nicht psychologisch für sich analysiert werden als Phänomene einer isolierten Immanenz, sondern sie müssen in ihrer Lebensbedeutung verstanden werden, in ihrer Funktion, die Lebenseinheit zur bedeutsamen Einheit zu gestalten,
75 Dilthey, VII, S. 232.
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die in ihrer Bedeutung Kraft im geschichtlichen Wirkungszusammen ist.76
Das heißt, das Lebensganze ist zunächst nicht als eine bloße Gesamtheit von
Einzelerfahrungen, die sich in einer bestimmten Struktur zu einem Ganzen
verknüpfen, zu verstehen, sondern es muss ursprünglich als „eine bedeutsame Einheit
im konkreten Ganzen eines Lebensverlaufes, weiter gefasst, im Ganzen eines
geschichtlichen Wirkungszusammenhanges“77 begriffen werden. Dieses Ganze des
geschichtlichen Wirkungszusammenhangs interpretiert Landgrebe, in Vorausdeutung
auf die Nähe zwischen Dilthey und Heidegger, als „In-der-Welt-sein“, und er macht
darauf aufmerksam, dass alle Lebenskategorien in der Auslegung des Lebensganzen
dazu dienen, dass „der Strukturzusammenhang zur Deutlichkeit erhoben wird, (und)
nichts anderes als Explikation ihres In-der-Welt-seins“ 78 sind. Hier nun hebt
Landgrebe eine wichtige Einsicht Diltheys an den Tag. Wie zuvor aufgezeigt wurde,
steht das Leben für Dilthey zur Welt in einem Verhältnis der Einheit, und diese
Einheit liegt an der ursprünglichen Weltmäßigkeit des Lebens. Diese Weltmäßigkeit
des Lebens, so Landgrebe, beziehe sich auf den Horizont des Lebens, genauer gesagt
auf das Horizontsein des Lebens. „Welt begegnet als ... der universale
allumspannende Horizont der Möglichkeiten unseres Erfahrens – wobei Erfahren
ganz konkret verstanden sein soll“79. Das heißt, das Lebensganze als das weltmäßige
Leben lässt sich bei Dilthey als ein lebensweltlicher und einheitlicher Horizont
verstehen, der sich einerseits aus dem geschichtlichem Wirkungszusammenhang
unseres Lebens konstituiert, und der andererseits alle Möglichkeiten unseres
Erfahrens umspannt, vom der her alle unsere Erfahrungen verstanden werden. Hier ist
zu betonen, dass das Lebensganze als Horizont nicht bloß den Horizont des
individuellen Lebensverlaufes bedeutet, sondern, wie Karol Sauerland an dieser Stelle
ergänzt, es bezieht sich vielmehr auf das gemeinsame Leben mit Mitmenschen. Es
handelt sich hier auch um ein intersubjektiven Horizont. Diese Fassung des
76 Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh, 1967, S. 22-23. 77 Ebd., S. 22. 78 Ebd., S. 24. 79 Ebd., S. 25.
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Lebensganzen als eines intersubjektiven und lebensweltlichen Horizontes hänge
damit zusammen, „dass es dem Mensch gegeben sei, andere Menschen und die
vielfältigen Erscheinungen des Lebens zu verstehen, weil beim Erlebnis das ganze
Seelenleben mitspielt und wir im Erlebnis ein Ganzes erfahren.“80 Insofern gibt sich
das Lebensganze als universaler lebensweltlicher Horizont, in dem das Erfahren und
das Leben des Menschen in den vielfältigen Verstehensmöglichkeiten konstituiert
wird.
Zusätzlich dazu, universaler lebensweltlicher Horizont zu sein, ist noch ein weiterer
Charakter des Lebensganzen zu betonen. Es ist die schöpferische Kraft des Lebens,
die zuvor im Rahmen der Explikation der Unergründlichkeit des Lebens bereits
Erwähnung fand. Der Sinn der schöpferischen Kraft des Lebens wird in Diltheys
Begriff der Geschichtlichkeit aufgenommen und in der Konzeption der Bedeutung
konkret zur Darstellung gebracht. Da die Bedeutung sich erst von der Zukunft aus
konstituiere, und die Zukunft nie zu Ende geht, stellt er fest, dass Bedeutung nie
abgeschlossen sei. Bedeutung sei „eine Beziehung, die niemals ganz vollgezogen
wird“81 und die sich im Lebensverlauf nach ihren zukünftigen Möglichkeiten und
zwecksetzend stets ändert und erneuert. In diesem Sinne bezieht das Leben aus
seinem Bedeutungszusammenhang eine schöpferische Kraft, die für Diltheys
Konzeption der Geschichtlichkeit des Lebens kennzeichnend ist.82 Die schöpferische
Kraft bezieht sich hier auf den Vollzug der unerschöpften Verständnismöglichkeiten
des geschichtlichen Lebens des Menschen 83 und entspringe aus der
80 Karol Sauerland, Diltheys Erlebnisbegriff, Berlin, 1972, S. 143-144. 81 Dilthey, VII, S. 233. 82 In dieser Interpretation der Bedeutung liegt die Grundlage seiner Geschichtskonzeption. Die Bedeutung der Vergangenheit änderst oder erneut sich nach Dilthey im Verlauf der Geschichte und kann nie erschöpft werden, da die Geschichte ohne festlegbares Ende voran geht. „Man müsste das Ende des Lebenslaufes abwarten und könnte in der Todesstunde erst das Ganze überschauen, von dem aus die Beziehung seiner Teile feststellbar wäre. Man müsste das Ende der Geschichte erst abwarten, um für die Bestimmung ihrer Bedeutung das vollständige Material zu besitzen.“ (Dilthey, VII, 233) Nach Bollnows Ansicht ist bei Dilthey die geschichtliche Wirklichkeit mit ihrer Auffassung nicht ablösbar, die sich von der nicht festzulegenden Zukunft aus stets erneut, insofern erhält die Geschichte immer neue Bedeutung und wird immer erneut verstanden und interpretiert. „Wirklichkeit und Wirksamkeit fallen im strengen Sinne zusammen. Freilich geschieht eine solche Verwandlung nicht im Sinne beliebiger Verschiedenheit, sondern als schöpferische Vermehrung.“(Bollnow, Dilthey, 122) 83 Die schöpferische Kraft bezeichnet Diltheys philosophischer Gesprächspartner Graf Paul Yorck von
37
Unergründlichkeit des Lebens.
Zusammen mit der oben vorliegenden Explikation des lebensweltlichen Horizontes
erweitert und konkretisiert die Aufklärung der schöpferischen Kraft Diltheys Fassung
des Lebensganzen zu einem geschichtlichen Horizont, in dem sich die
Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten des menschlichen Lebens dynamisch
bildet oder vollzieht und das Erleben oder Erfahren in seiner ursprünglichen
Beziehung auf das Ganze seine unerschöpfte Bedeutsamkeit erhält.
1.3.3 Die Divergenz der Auffassungen zur gegenständlichen Gegebenheit
zwischen Dilthey und Husserl
Die Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit bei Dilthey lässt sich nun in
Kontrast zu derjenigen Husserls folgendermaßen zusammenfassen: Bei Dilthey wird
das Gegenständliche ursprünglich aus dem Lebensganzen heraus als dem System des
Lebenszusammenhangs gegeben, das als die Verwebung von Gefühl, Wille und
gegenständlichen Auffassens erfahren und vollgezogen ist. Bei Husserl dagegen wird
es als ideale Einheit in der dualistischen Intentionalitätsstruktur von Intention und
sinnlichen Inhalten aufgefasst. Anzumerken ist hier, dass in Diltheys Auffassung des
Gegenständlichen eine gewisse Ambiguität zu erkennen ist. Einerseits wird das
Gegenständliche hier als das gehaltmäßig Erlebte im vortheoretischen Lebens direkt
erfahren; andererseits wird es als gegenständliche Relation betrachtet, die sich als
Wartenburg als „Virtualität” und setzt es direkt mit dem Termimus der Geschichtlichkeit gleich. Dabei nimmt er „Virtualität” als den Kern der Konzeption des historischen Bewusstseins bei Dilthey. (Vgl. Frithjof Rodi, Das Strukturierte Ganze, Weilerswist, 2003, 231) Diese Struktur der Geschichte, die mit der Kraft oder Virtualität kennzeichnet wird, fasst Fritz Kaufmann als folgendes zusammen: „Das Historische ist eben dadurch etwas anderes als das bloß Geschehene und Gewesene, dass es in einer solchen ursprünglichen Lebenshabe gegenwärtig gehalten wird, in deren Dauer und Erneuerung es selber als fruchtbare Lebensmacht immer neue, immer aus der Tiefe kommende und in sie zurückwirkende Antriebe aussendet.”(Fritz Kaufmann, Die Philosophie des Grafen Paul Yorck von Wartenburg, Halle, 1928, 47) In Heideggers Augen ist der dynamischen Vollzugscharakter des faktischen Lebens, das nicht objektivierbar ist, mit diesem Terminus „Virtualität” im vollen Maß hervorgehoben und den macht er in Sein und Zeit auch bekanntlich, „Die klare Einsicht in den Grundcharakter der Geschichte als ‚Virtualität’ gewinnt Yorck aus der Erkenntnis des Seinscharakters des menschlichen Daseins selbst, also gerade nicht wissenschaftstheoretisch am Objekt der Geschichtsbetrachtung. ” (Heidegger, GA2, 530.)
38
innere Beziehung der Erlebnisse zum Lebensganzen konstituiert. Das
Gegenständliche scheint daher bei Dilthey mit einer zweifachen Bedeutung behaftet
zu sein. Jedoch vermindert oder negiert diese Ambiguität nicht seine Positionierung
gegen Husserls Auffassung der Gegebenheitsweise des Gegenständlichen.
Die grundliegende Divergenz zwischen den Gegebenheitsmodellen bei Dilthey und
Husserl ist in ihren unterschiedlichen Auffassungen von der Sphäre, in der
Gegenständliche gegeben ist, zu verorten: im Leben oder im Bewusstsein. Für Dilthey
ist es das Leben als der vortheoretische und geschichtliche Horizont, in dem sich die
Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten des gemeinsamen menschlichen
Erfahrens vollzieht, und in dem sich somit der unerschöpfte Spielraum für das
Verstehen des Erfahrens, einschließlich des gegenständlichen Auffassens eröffnet.
Währenddessen gilt bei Husserl das transzendentale Konstitutionsbewusstsein als der
letzte Grund der Gesetzlichkeit, der somit eher auf die objektive Geltung der
Selbstgegebenheit des Gegenständlichen für die Erkenntnis hinausläuft. Die
Dimension des geschichtlichen Horizontes ist zwar in Husserls späterem Denken der
Lebenswelt auch präsent, aber diese bringt Husserl erst in 1930er Jahren zum
Ausdruck, das heißt mehr als 20 Jahre nach dem Erscheinen von Diltheys Werk Der
Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), wo er die
Thematik der gegenständlichen Gegebenheit behandelt. In wieweit Husserl durch
Dilthey zur Entwicklung des Denkens der Lebenswelt veranlasst wurde, wäre erst
noch zu untersuchen. Sicher ist aber, dass der geschichtliche Horizont den Kern der
Dilthey-Rezeption Heideggers ausmacht, und eine maßgebliche Rolle in der
Entwicklung des phänomenologischen Denkens des frühen Heideggers spielen wird,
insbesondere für Heideggers Distanznahme gegenüber Husserl.
Der Einsatz des Lebens als des geschichtlichen Horizontes in der
Gegebenheitsthematik gibt Heidegger in seinen Freiburger Anfängen die Mittel an die
Hand, über Husserls Transzendentalphänomenologie hinauszugehen. Aber Diltheys
Objektivation des Lebens nimmt er nicht in Kauf. Die Objektivation des Lebens
39
besteht in der Annahme, das vortheoretische Leben als des geschichtlichen Horizontes
unserer Erfahrung zum Ausdruck und auf Begriffe bringen zu können. Sie führt zu
einer Weltanschauung, die sich zwar als historisch bedingte und beschränkte
Sinnbildungen anerkennt, in denen das Leben sein Streben nach einer universalen
Geltungs- und Sinnsphäre von Normen, Zielen und Zwecken zu erfüllen versucht,84
aber unter der schaffenden Macht des Lebens immer wieder neu zu gestalten ist. Die
Objektivation des Lebens, das heißt den Aufbau der Weltanschauung, interpretiert
Landgrebe als die Leistung der Konstitution der Subjektivität des Menschen.
Landgrebe fährt fort, dass der Ursprung der geschichtlichen Gestaltung der
Weltanschauung als der „Kontinuität der schaffenden Macht“ bei Dilthey in der
Unergründlichkeit des Lebens liege. Die Unergründlichkeit des Lebens, so Landgrebe,
deren Rede ein Index für die Verborgenheit sei, sei nun aber „nicht mehr
philosophisch zu begründen“. 85 Die philosophische Begründung soll „in
methodischer Besinnung auf die Strukturen der Subjektivität“ geführt werden, wobei
die Subjektivität sich „nicht als die Subjektivität des Menschen in ihrer geschichtlich
bedingten Gebundenheit an die Horizonte jeweiliger historischer Welt, sondern als die
diese Horizonte selbst entspringen lassende transzendentale Subjektivität“86 zeigt.
Vor diesem Hintergrund meint Landgrebe, dass der Gegensatz zwischen dem
geschichtlich schaffenden Leben bei Dilthey und der konstituierenden
transzendentalen Subjektivität bei Husserl aufzulösen sei.
Die Rückführung des geschichtlichen Lebens auf das transzendentale
Konstitutionsbewusstsein, in der Suche nach der philosophischen Begründung der
Objektivation des Lebens, weist Heidegger zurück. Dagegen bemüht er sich, das
geschichtliche Leben in Richtung einer Gegen-Objektivation abzubauen, und so den
84 Vgl. Frithjof Rodi, Die Lebensphilosophie und die Folgen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 1967, S. 602-603; Bollnow, Lebensphilosophie und Existenzphilosophie, 4. Auflage , 2010, S. 42; Bambach, Phenomenological Research as Destruction, in: Philosophy Today,1993, S. 122; Andere Le Moli, Von der Phänomenologie des Lebens zur Ontologie der Geschichte, in: Perspektiven der Philosophie: Neues Jahrbuch, 2012, S. 371. 85 Vgl. Ludwig Landgrebe, Phänomenologie und Geschichte, 1967, S. 32-33. 86 Ebd., S. 33.
40
Horizont der Husserlschen Transzendentalphänomenologie zu überschreiten. Er tut
dies, indem er sich der undurchsichtigen Unergründlichkeit des Lebens, das heißt der
Offenheit der Möglichkeiten als des grundlosen Ursprungs des Lebens, anzunähern
versucht.
Fazit: In der bisherigen Rekonstruktion wurde Diltheys Behandlung der
Gegebenheitsthematik im Rahmen seiner Lebenslehre deutlich herausgearbeitet.
Seine Kritik am künstlichen Aufbau der meta-wissenschaftlichen Wissensstruktur der
traditionellen Erkenntnistheorie, vor allem aber der Transzendentalphilosophie,
manifestiert sich deutlich in seiner Gegenposition zu Husserl hinsichtlich der
Gegebenheitsthematik. Auf Husserls Intentionalitätslehre der Erlebnisse aufbauend,
entwickelt sich Diltheys eigene Auffassung der gegenständlichen Gegebenheit mit der
Einführung der Lebenslehre in der Spätschrift. Er hält im Gegensatz zu Husserl das
Gegenständliche für das primär Erfahrene im vortheoretischen Lebensganzen, das als
Verwebung von Willen, Gefühl und gegenständlicher Auffassung zu begreifen ist. Er
führt den geschichtlichen und lebensweltlichen Horizont als den Spielraum des
Verstehens des Erfahrens ein, in dem das Gegenständliche gegeben und das Erfahren
in seinen unerschöpften Möglichkeiten verstanden wird. In Diltheys Auffassung der
gegenständlichen Gegebenheit, insbesondere in der Einsicht in den geschichtlichen
Horizont des Lebens, findet Heidegger die Mittel, um sich gegen Husserls
Transzendentalphänomenologie auszusprechen, und um die phänomenologische
Untersuchung des Lebens über diese hinauszuführen, wobei er stets im Kopf behält,
die Untersuchung des Lebens durch eine Destruktion zurück auf dessen grundlose
Offenheit, statt durch eine aufbauende Objektivation voranzubringen.
41
2. Phänomenologie als Ursprungswissenschaft
Nach dem ersten Weltkrieg beginnt Heidegger als Assistent Husserls enger mit
diesem zusammen zu arbeiten, er hält Vorlesungen und verfasst Arbeiten unter dem
Titel Phänomenologie. Im Vorwort der Vorlesung Ontologie von 1923 drückt er
seinen Dank an Husserl so aus, dass es dieser gewesen sei, der ihm die
philosophischen Augen eingesetzt habe.87 Jedoch entwickelt sich sein Denken bereits
zu dieser Zeit in eine andere Richtung als Husserl. In der Nachfolge von Husserl
erfasst Heidegger Phänomenologie als „Wissenschaft vom Ursprung“.88 Aber seine
Auffassung sowie Interpretation des Ursprungs, die in Annäherung zu Dilthey steht,
differenziert sich von Husserls. In Heideggers früher Entwicklung der
Phänomenologie nimmt Dilthey eine besondere Stellung ein. Aus Diltheys
Lebensphilosophie entnimmt Heidegger die Einsicht, das Leben als Ursprung des
Wissens anzunehmen und die Möglichkeit eine Wissenschaft vom Leben selbst zu
gründen. Mit dem Titel der „Ursprungswissenschaft von Leben“ spricht Heidegger
das zentrale Thema an, das er auf dem Boden der Phänomenologie in den frühen
Freiburger Vorlesungen behandelt: das faktische Leben.
Dieses nimmt Heidegger als den fundamentalen Gegenstand seiner
phänomenologischen Forschung, welche sich in Abgrenzung zu Husserls
Transzendentalphänomenologie zur Aufgabe macht, das Ursprungsgebiet des
faktischen Lebens zu erschließen. Durch die phänomenologische Destruktion arbeitet
er die ursprüngliche Sinnstruktur des Lebens, die sich als das Gegebenheitsmodell des
Phänomens abzeichnet, heraus. Die ursprüngliche Sinnstruktur des Lebens gründet
nach Heidegger im grundlosen Lebensvollzug. Eben diesen grundlosen
Lebensvollzug nimmt er als den Ursprung des Lebens an, dem er sich mit seiner
destruktiven Methode anzunähern bemüht.
87 Heidegger, GA 63, Ontologie, S. 5. 88 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 3. Auflage, 1990, S. 28.
42
2.1 Das faktische Leben als Gegenstand der Phänomenologie
In den Freiburger Anfängen sucht Heidegger nach einem erweiterten Begriff von
Phänomenologie – erweitert um diejenige Dimension, deren Fehlen er Husserl
gegenüber immer wieder moniert hat: das Leben. In der Vorlesung des
Sommersemesters 1919 zu Phänomenologie und Transzendentale Wertphilosophie
nimmt er das Ziel der phänomenologischen Kritik als „das Sehen und
Zum-Sehen-Bringen der echten, wahrhaften Ursprünge des geistigen Lebens
überhaupt“ 89 an. Das Leben wird in den frühen Freiburger Vorlesungen zum
fundamentalen Gegenstand der Phänomenologie, die Heidegger als die
„Ursprungswissenschaft des Lebens“ bestimmt.
2.1.1 Das Prinzip der Prinzipien
Die Bezeichnung der Ursprungswissenschaft stammt aus Husserls Bestimmung der
Philosophie in der im März 1911 in der Zeitschrift Logos erschienenen Schrift
Philosophie als strenge Wissenschaft. Dieser Text war die erste wichtige Publikation
Husserls nach den Logischen Untersuchungen. Um die Philosophie durch ein klares
und fundamentales Prinzip als erste Wissenschaft zu begründen, untersucht Husserl
eine lange Tradition, die von Descartes über Kant und Fichte in das 20. Jahrhundert
reicht, und weist darauf hin, dass der neue Anfang der Philosophie von zwei
gegenwärtigen Tendenzen bedroht wird. Die Erste ist der naive Naturalismus, der eine
Naturalisierung des Bewusstseins enthält. Die Zweite ist der Historismus, der zu
Relativismus und zu einer Weltanschauungsphilosophie führt. Nach Husserl sollten
beide Tendenzen bekämpft werden, um die wahre Bedeutung der Philosophie
hervorzubringen: Philosophie als die erste Wissenschaft. „Philosophie ist aber ihrem
Wesen nach Wissenschaft von den wahren Anfängen, von den Ursprüngen, von den
ῤιζώµατα πάντων.“90 Die „Ursprünge“ der Wissenschaft und der Erkenntnis liegen
89 Heidegger, GA 56/57, Zur Bestimmung der Philosophie, S. 127. 90 Hua XXV, S. 61.
43
gemäß Husserl im absoluten Bewusstsein.
In seiner Kriegsnotsemestervorlesung unter dem Titel Die Idee der Philosophie und
das Weltanschauungsproblem von 1919 bezeichnet Heidegger in Einklang mit
Husserl die Philosophie als „Urwissenschaft“91, die die Ursprünge der Erkenntnis zum
Gegenstand hat.92 Husserl geht von dem „Prinzip der Prinzipien“ aus, wonach „jede
originäre gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was
sich in der Intuition originär, darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich
gibt.“93 Es ist das Prinzip der Prinzipien, an dem „uns keine erdenkliche Theorie irre
machen“ kann. Dieses Prinzip weist die anschauliche Gegebenheit als Rechtsquelle
aller Erkenntnisse auf. Die Phänomenologie lässt sich somit als die Untersuchung der
unmittelbaren Erlebnisse auffassen.
Husserls Prinzip der Prinzipien erkennt auch Heidegger als das grundlegende Prinzip
der phänomenologischen Untersuchungen an, da es ihm zufolge den unmittelbaren
Zugang zu den Erlebnissen selbst ausspricht. Aber Heideggers Auffassung des
Prinzips der Prinzipien weicht von der Husserls ab. Er verweist darauf, dass das
Prinzip der Prinzipien „nicht theoretischer Natur ist“94, da die Phänomenologie sonst
nur eine Art Metaphysik des wissenschaftlichen Denkens wäre. 95 Wenn
Phänomenologie die theoretische Wissenschaft begründen können soll, dann muss
dieses Prinzip, so Heidegger, selbst einen vortheoretischen statt theoretischen Sinn
haben, und muss sich als die „Urintention des wahrhaften Lebens überhaupt, die
Urhaltung des Er-leben und Lebens als solchen, die absolute, mit dem Erleben selbst
identische Lebenssympathie“96 bestimmen. Unter dem Begriff der Lebenssympathie
versteht Heidegger, das Erlebnis oder das Leben nicht von außen, sondern dieses von
91 Vgl. Heidegger, GA 56/57, S. 24, 26, 31, 96; Vgl. GA 58, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 2, 12, 19, 26, 171. 92 Vgl. Heidegger, GA 56/57, S. 31. 93 Hua III/1, 1976, S. 51. 94 Heidegger, GA 56/57, S. 109. 95 Vgl. Tugendehat, 1970, S. 254.96 Heidegger, GA 56/57, S. 110.
44
innen her zu ergreifen. Lebenssympathie zeichnet sich bei Heidegger als die
Grundhaltung zum Leben aus.
Die ‚Strenge’ der in der Phänomenologie erwachten Wissenschaftlichkeit gewinnt aus dieser Grundhaltung ihren originären Sinn und ist mit der ,Strenge’ abgeleiteter, nicht-ursprünglicher Wissenschaften nicht vergleichbar. Zugleich wird ersichtlich, warum in der Phänomenologie das Methodenproblem eine so zentrale Stellung hat wie in keiner anderen Wissenschaft.97
Für Heidegger bezieht sich die „Strenge“ der Wissenschaftlichkeit der
Phänomenologie auf die Ursprünglichkeit, deren originärer Sinn aus der
Grundhaltung zum Leben zu gewinnen ist. Um die Ursprünglichkeit zu erreichen,
bedarf es aber der richtigen Methode.
2.1.2 Voraussetzungslosigkeit
In der Rede über die „Strenge“ der Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie geht es
bei Husserl zunächst um die methodische Anforderung einer Voraussetzungslosigkeit
in der Phänomenologie. Er versteht Phänomenologie als erste Wissenschaft, da sie die
Grundlage und die Voraussetzungen der Einzelwissenschaften im
erkenntnistheoretischen Sinne überprüft und untersucht. Husserl sieht aber, dass es
unmöglich ist, diese Untersuchung zu führen, wenn die Phänomenologie die gleiche
Einstellung zur Grundlage hat, die wir in unserem Alltagsleben sowie in den
Einzelwissenschaften voraussetzen. Dies ist der Glaube an die Existenz der
Gegenstände in einer realen Welt, welche unabhängig von dem Bewusstsein ist.
Solchen Glauben bezeichnet Husserl als die natürliche Einstellung zur Welt. Diese
muss aber eingeklammert werden, damit die Phänomenologie zur methodischen
Voraussetzungslosigkeit gelangen kann. Heidegger übernimmt Husserls Bestimmung der „Strenge“, sucht aber einen anderen
Weg, um die Forderung der Voraussetzungslosigkeit zu erfüllen. Die Wissenschaft
97 Heidegger, GA 56/57, S. 110.
45
von den Ursprüngen ist laut Heidegger so geartet, „dass sie nicht nur keine
Voraussetzungen zu machen braucht, sondern sie nicht einmal machen kann, weil sie
nicht Theorie ist.“ 98 Seiner Ansicht nach ist die Voraussetzungslosigkeit der
phänomenologischen Untersuchung überhaupt erst dann möglich, wenn es um das
Nicht-Theoretische oder Vortheoretische geht. Denn im Vortheoretischen liegen die
Ursprünge. Sobald die phänomenologische Untersuchung über ein theoretisches
Prinzip verfügt, gerate sie in einen unendlichen Regress, da das Theoretische immer
Theoretisches voraussetzt. Der Voraussetzungs-Regress ist „eine theoretische und
theoretisch gemachte Schwierigkeit.“99 Die Phänomenologie sollte sich bemühen,
„an die Grenze von Voraussetzungslosigkeit zu kommen, d.h. zum Ur-sprung, alles
wegzuräumen, was mit Voraussetzungen belastet ist.“100
Die Anforderung der Voraussetzungslosigkeit wird bei Husserl zur Forderung, die
natürliche Einstellung zur Welt, die im Alltagleben und in den Einzelwissenschaften
vorausgesetzt wird, einzuklammern. Darauf basierend entwickelt Husserl die
Methode der phänomenologischen Reduktion, durch die Ausschaltung der
Seinssetzungen der realen Welt zum immanenten Bereich des absoluten Bewusstseins
zu gelangen. Aber für Heidegger muss man nicht die natürliche Einstellung, sondern
die theoretische Haltung vermeiden, und er entdeckt die Voraussetzungslosigkeit im
vortheoretischen Leben. Die Ursprungssphäre ist voraussetzungslos, da der Sinn der
Voraussetzung überhaupt aus ihr entspringt. 101 Für Heidegger ist die
Voraussetzungslosigkeit der phänomenologischen Forschung erst dann erfüllt, wenn
diese Ursprungssphäre im vortheoretischen Leben zugänglich wird. Hans Ruin stellt
an dieser Stelle fest, die Voraussetzungslosigkeit sei für Husserl, „mindestens in
weitesten Sinne, zunächst eine methodische Aufforderung, während sie in Heideggers
Ansatz, für sich genommen, eine ontologische Aufgabe wird.“102 Das heißt, die
98 Heidegger, GA56/57, S. 96 - 97. 99 Ebd., S. 95. 100 Ebd. 101 Vgl. Ebd., S. 97. 102 Hans Ruin, Enigmatic Origins, 1994, S. 51.
46
Forderung der Voraussetzungslosigkeit führt bei Heidegger zur Suche nach dem
Ursprung oder dem Ursprungsgebiet. Dieses befindet sich für Heidegger in
Anlehnung an Diltheys Lebensphilosophie im faktischen Leben. 2.1.3 Das faktische Leben als Gegenstand der Ursprungswissenschaft
Dilthey nimmt im philosophischen Denken Heideggers eine besondere Stellung ein.
Dilthey versucht, die Wissenschaft vom Leben selbst aus zu begründen, und das
Leben als „die Grundtatsache, die den Ausgangspunkt der Philosophie bilden
muss“103 , zu bestimmen. In Diltheys Lebensphilosophie erkennt Heidegger die
Möglichkeit, eine Phänomenologie des Lebens zu entwerfen, „das Leben aus sich
selbst heraus, ursprünglich zu deuten.“104
Bereits im Kriegsnotsemester von 1919 spricht Heidegger über Diltheys Terminologie
vom Lebenszusammenhang, Lebensbezug, Selbstbesinnung, Motivationen usw. und
nimmt dessen Denken als Stütze, um sich gegen die Problematik der Wertphilosophie,
wie sie von Neukantianern wie Wilhelm Windelband entwickelt wurde, zu wenden. In
den Vorlesungen vom Wintersemester 1919/1920, Grundprobleme der
Phänomenologie, und vom Sommersemester 1920, Phänomenologie der Anschauung
und des Ausdrucks, bemüht sich Heidegger um eine Aneignung der Philosophie
Diltheys, und bestimmt die Phänomenologie als die „absolute Ursprungswissenschaft
vom Leben an und für sich“105.
Heideggers Konzeption des Lebens ähnelt derer Diltheys. Wie wir im vergangenen
Kapitel darstellt haben, hat Leben bei Dilthey zwei Grundcharaktere. Erstens ist
Leben in seiner Ganzheit gegeben und besteht nicht aus Bestandteilen, die durch
theoretische Objektivierung voneinander zergliedert und isoliert werden können.
103 Dilthey, VII, S. 359. 104 Heidegger, GA 59, Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks, S. 154. 105 Heidegger, GA 58, S. 171.
47
Zweitens ist Leben in sich lebendig und seine innere Lebendigkeit, die für das Leben
kennzeichnend ist, liegt immer schon im Lebenszusammenhang, der sich als die
innere geschichtliche Beziehung zum Ganzen aufzeigt und nicht als bloße
Bestandteile herausgestellt werden kann. Daher nehmen Dilthey und auch Heidegger
zur Kenntnis, dass ein angemessener Zugang, durch den man das Leben in die
philosophische und wissenschaftliche Betrachtung bringen kann, ohne es zu
objektivieren und seine innere Lebendigkeit zu zerstören, für die Wissenschaft des
Lebens von großer Bedeutung ist. Der Zugang zum Leben ist bei Dilthey das
Selbsterleben, und bei Heidegger in Annäherung daran die hermeneutische Intuition.
2.2 Hermeneutische Intuition als phänomenologischer Zugang zum faktischen
Leben Für jeden, der versucht, im Ausgang vom Leben über das Leben zu sprechen, besteht
eine Schwierigkeit, nämlich der hermeneutische Zirkel. Eine Lösung dafür findet
Heidegger in der Hermeneutik Diltheys. Die zirkelhafte hermeneutische Struktur des
Lebens wird durch das Verhältnis von Erleben, Ausdruck und Verstehen verständlich
gemacht. In Heideggers Augen macht gerade die Zirkelstruktur des geschichtlichen
Lebens es möglich, das Leben unmittelbar zu betrachten. In Annäherung an Dilthey
spricht Heidegger vom „sich selbst mitnehmendem Erleben des Erlebens“106, das
nicht als die erkenntnistheoretische Reflexion, sondern als die „verstehende, die
hermeneutische Intuition“107 zu begreifen ist. In diesem Sinne vollzieht sich bei
Heidegger mit dem hermeneutischen Zugang zum Leben eine hermeneutische
Umwandlung der Phänomenologie.
Die Aufgabe der hermeneutische Intuition stellt sich, so Robert Scharff, als eine
Doppelte dar: Einerseits, alle traditionellen Verzerrungen der Phänomene in der
theoretischen Objektivierung abzuwenden und uns das Phänomen so darzustellen, wie
106 Heidegger, GA 56/57, S. 117. 107 Ebd.
48
es selbst ist; Andererseits, das Lebensphänomen uns immer noch begrifflich
begreifen zu lassen.108 Mit der doppelten Aufgabe zeigt sich die hermeneutische
Intuition als phänomenologische Begriffsbildung, die Heidegger als „originäre
phänomenologische Rück- und Vorgriffs-bildung, aus der jede
theoretisch-objektivierende, ja transzendentale Setzung herausfällt“,109 bestimmt. Mit
Vorgriff meint Heidegger „die in ihm liegende [...] ausgreifende [...] Tendenz, die
darin zugleich immer auch Rückgriff ist, auf die im faktischen ‚Ich erlebe etwas’
tiefenwirksam zu denkende Motivation“.110 Hier weist Hans-Helmuth Gander darauf
hin, dass die gemeinte Motivation als „reine Motive des Sinnes der reinen
Erlebnisse“ verstanden werden soll, wobei das ‚Reine’ der Sinnmotive nicht als
transzendentale Möglichkeitsbedingung, sondern als „das Pure des Faktischen im
Sinne des Ursprünglichen des vortheoretischen Lebens“ 111 und Motivation als
Sinnverweisungszusammenhang des faktischen Lebens in ihrem Bedeutungscharakter
zu bestimmen ist. Mit der phänomenologischen Begriffsbildung vom ‚Leben’
versucht Heidegger, „die transzendentalen Konzeptionen des Ich als Zentrum des
Bewusstseins zu entkräften [...] (und) einen von der Theorie befreiten Begriff des
Lebens und des Selbst zu gewinnen“.112
2.3 Formale Anzeige und Gegebenheitsthematik Für Heidegger lautet die Aufgabe der Ursprungswissenschaft, „das Leben an sich und
für sich ursprünglich zu deuten“. Dies bedeutet für ihn, sich dem Ursprung oder
Ursprungsgebiet des Lebens zu nähern. Er stellt fest, dass das „Ursprungsgebiet nur
radikaler wissenschaftlicher Methode zugänglich, überhaupt gegenständlich nicht in
anderer Weise erlebnismäßigen Erfassens“ 113 sei. Mit dem „erlebnismäßigen
108 Vgl. Robert Scharff, What Heidegger learnd from Dilthey, in: Britische Journal for the History of Philosophy, 2013, S. 135-136. 109 Heidegger, GA 56/57, S. 117. 110 Hans-Helmuth Gander, Phänomenologie in Übergang – Zu Heideggers Auseinandersetzung mit Husserl, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, 2004, S. 300. 111 Ebd., S. 300. 112 Vgl. Georg Imdahl, Das Leben Verstehen, 1997, S. 91.113 Heidegger, GA 58, S. 27.
49
Erfassen“ meint Heidegger den phänomenologischen Zugang zum Ursprungsgebiet
des Lebens, nämlich die hermeneutische Intuition. Und mit „radikaler
wissenschaftlicher Methode“ meint er die formale Anzeige, Heideggers destruktive
Methode. In der Durchführung der Destruktion des faktischen Lebens wird eine
andere Problemsphäre eröffnet. Es geht um die gegenständliche Gegebenheit. Im
Folgenden werden wir zuerst zwei leitende Begriffe in Betracht ziehen: Welt (3.1)
und Situation (3.2). Da beides selbst bereits formal anzeigende Begriffe sind, fungiert
die Destruktion des faktischen Lebens in Heideggers Darstellung der beiden Begriffe,
welche dabei auch die Gegebenheitsthematik ins Auge fasst. Aber erst durch einen
tieferen Einblick in die formale Anzeige kann die Struktur der Gegebenheit sichtbar
werden (3.3).
2.3.1 Heideggers Weltverfassung
Die Ausführung der faktischen Lebenserfahrung erfolgt bei Heidegger immer über
zwei Leitbegriffe: Welt und Situation. Die faktische Lebenserfahrung beschreibt
Heidegger als „die gesamte aktive und passive Stellung des Menschen zur Welt“,114
nämlich des menschlichen Verhaltens zur Welt. Welt ist nach Heidegger nicht zu
objektivieren, sondern sie ist „etwas, worin man leben kann. […] Die Welt kann man
formal artikulieren als Umwelt, als das was uns begegnet, wozu nicht nur materielle
Dinge, sondern auch ideale Gegenständlichkeiten […] gehören.“115
Nach Heidegger ist die Welt durch den erfahrenen Gehalt zusammen mit dem
situativen Wie des Erfahrens gekennzeichnet. Das Wie des Erfahrens heißt
Bezugssinn der faktischen Lebenserfahrungen, der den Gehalt des Erfahrens bestimmt.
Der Bezugssinn wird aber nicht gegenständlich erfahren, sondern geht höchstens in
den Gehalt mit ein. 116 An dieser Stelle führt Heidegger den Begriff der
114 Heidegger, GA 60, Phänomenologie des religiösen Lebens, S. 11. 115 Ebd.116 Ebd., S. 12.
50
Bedeutsamkeit ein und definiert Welt als das, was in der faktischen Lebenserfahrung
von uns gehaltmäßig erfahren wird und durch Bedeutsamkeit charakterisiert ist. In der
Definition von Bedeutsamkeit bezieht sich Heidegger auf den Begriff der Bedeutung
bei Dilthey, bei dem sie sich als innere Beziehung des Lebens versteht, nicht auf
denjenigen Husserls. Bei Heidegger ist die Bedeutsamkeit als Bezugssinn, nämlich
das Wie des Erfahrens oder der situativen Verweisungen zu verstehen. „In dieser
Weise der Bedeutsamkeit, die den Gehalt des Erfahrens selbst bestimmt, erfahre ich
alle meine faktischen Lebenssituationen.“ 117 Der erfahrene Gehalt wird nach
Heideggers Ansicht erfahren mit seinen situativen Verweisungszusammenhängen,
durch welche eine konkrete Welt, eine faktische Lebenswelt gehaltvoll ist.118 Diese
Auffassung der Welt wird auf Sein und Zeit übertragen, und ab hier definiert
Heidegger die Welt als die Gesamtheit der Bedeutsamkeiten mit allen ihren situativen
Verweisungen.
Aus dieser Erläuterung wird ersichtlich, wie Heideggers Weltverständnis sich von
dem Husserls unterscheidet, und sich dabei derer Diltheys annähert. Husserl spricht
über die Welt als „gesamte gegenständliche Einheit, welche dem idealen System aller
Tatsachenwahrheiten entspricht und von ihm untrennbar ist“.119 Die Definition der
Welt als Einheit der Gegenständlichkeit wird bei Heidegger durch die Auffassung der
Welt als eines Ganzen an Bedeutsamkeit überwunden, das sich aus situativen
Verweisungen zu einer einheitlichen Sinnerschlossenheit konstituiert und es daher
überhaupt möglich macht, dass die konkreten Lebenserfahrungen bedeutsam werden,
das heißt, dass die erlebte Gegenständlichkeit in der Bedeutsamkeit gegeben ist. Es
wird deutlich, dass die Weltauffassung bei Heidegger in Annährung an Diltheys
Weltverständnis, das aus der Einheit von Leben und Welt entspringt, entsteht. Das
faktische Leben als menschliches Verhalten zur Welt besagt sowohl für Dilthey als
auch für Heidegger kein Subjekt-Objekt-Verhältnis, sondern ein Ganzes an
117 Vgl. Heidegger, GA 60, S. 13. 118 Vgl, Gerhard Ruff, Am Ursprung der Zeit, 1996, S. 55. 119 Hua XVIII, S. 128.
51
Bedeutsamkeit, eine sich aus situativen Verweisungen konstituierende Einheit, die als
die Sinnerschlossenheit die gegenständliche Erfahrung ermöglicht. Wie das Leben, so
ist auch Welt bei Dilthey und Heidegger nicht objektiviert, sondern kann nur
vortheoretisch erlebt werden.
Die Lebenserfahrung heißt bei Heidegger auch Phänomen. Mit der Rede vom
Phänomen kommt gerade hier Husserls phänomenologischer Ansatz ins Spiel. Es ist
die phänomenologische Reduktion - Epoché. Epoché bedeutet die Auschaltung der
naturalistischen Seinssetzung der realen Gegenstände und der Welt. Mit Epoché ist
die phänomenologische Sphäre der Gegebenheiten eröffnet, in der das
Gegenständliche als reines Phänomen zu betrachten ist. Aber schon seit dem Anfang
der 20er Jahre setzt Heidegger ein eigenes Verständnis gegenständlicher Gegebenheit
durch, das sich von dem Husserls unterscheidet.
Die Gegebenheit bedeutet die erste vergegenständlichende Antastung des Umweltlichen [...] Wird nun der eigentliche Sinn des Umweltlichen, sein Bedeutungscharakter, gleichsam ausgehoben, dann ist das bereits als gegeben Hingestellte zum bloßen Ding verblaßt. Es hat noch Qualitäten, Farbe, Härte, Räumlichkeit, Ausdehnung, Schwere usf., alles aber dinghaft.120
Für Husserl ist das Gegenständliche als isolierter Gegenstand gegeben, während es
sich bei Heidegger bei der gegenständlichen Gegebenheit im ursprünglichen Sinne
um umweltliches Begegnen handelt. Die Gegebenheit eines isolierten
Gegenständlichen gibt es gemäß Heidegger nur in der Theoretisierung und ist keine
ursprüngliche Gegebenheitsweise. Die ursprüngliche Gegebenheit geschieht nach
Heidegger im vortheoretischen, nämlich dem faktischen Leben. Wenn etwas in der
faktischen Lebenserfahrung gegeben ist, d.h. begegnet, so begegnet es immer in einer
Lebensumwelt oder in einer Situation. Das heißt, das Gegenständliche ist gegeben mit
und in seinen situativen Verweisungen, die den gegenständlichen Gehalt bestimmen
und sich als eine Welt als dem Ganzen der Verweisungen oder der Bedeutsamkeit
120 Heidegger, GA 56/57, S. 89.
52
konstituieren. Gegenständliches ist primär in einer Welt gegeben.
2.3.2 Die Konzeption der Situation
Nach Tugendhats Ansicht sei Husserls Phänomenologie der Erlebnisse nur möglich,
wenn man die „intentionale Gegenständlichkeit“ thematisiere, und diese lasse sich als
das gegenständlich Gegebene im Wie seines Gegebenseins verstehen.121 Er weist
darauf hin, dass das gegenständliche Gegebensein auch bei Heidegger ein zentrales
Thema sei, das mit dem Wie des Erfahrens oder des Lebens bearbeitet wird. „Aber
Husserls Thematisierung des Wie des Gegebenseins bleibt am Gegenständlichen
orientiert. Gegenüber solchem Wie unterscheidet sich das Wie des Lebens selbst als
das ursprünglichere.“122 In Heideggers Augen ist die gegenständliche Gegebenheit in
faktischen Lebenserfahrungen ursprünglicher als in der Theoretisierung. Wie oben
dargestellt ist der Gegenstand im faktischen Leben mit und in situativen
Verweisungen gegeben. Die situativen Verweisungen machen „das Wie des
Lebens“ aus, das sich als Lebenssituation manifestiert.
„Situation“ trägt in der gewöhnlichen Sprache eine Bedeutung des Statischen an sich; dieser Nebensinn muss beseitigt werden. Aber ebenso verkennt eine „dynamische“ Auffassung die Situation, in der man den Phänomenzusammenhang als ein „Fließen“ auffasst und vom Fluss der Phänomene spricht. [...] der Zusammenhang der Situation steht jenseits der Alternative „statisch-dynamisch“. [...] Wir fassen Situation rein formal als Einheit einer Mannigfaltigkeit. [...] doch ist die Situation nicht ein homogener Bereich von Beziehungen; die Situationsstruktur verläuft nicht in einer oder mehreren Dimensionen, sondern ganz anders. Schon der Ansatz einer phänomenologischen Betrachtung als ordnungsmäßig und der Versuch
121 In Tugendhats Zusammenfassung der Phänomenologie Husserls wird ein zentrales Thema herausgehoben, nämlich die Herausarbeitung der gegenständlichen Gegebenheit durch die phänomenologische Methode. Gerade dieses Thema wird Tugendhat zufolge von Heidegger aufgegriffen und auf radikalere Weise erforscht. Diese Ansicht nehme ich als den Ausgangpunkt für die folgende Erläuterung. Das vollständige Zitat heißt: „Die Phänomenologie der intentionalen Erlebnisse ist überhaupt nur möglich bei gleichzeitiger Thematisierung der „intentionalen Gegenständlichkeit“ dieser Erlebnisse, d.h. der Gegenständlichkeit so wie sie von dem jeweiligen Akt gemeint ist. Diese gleichzeitige gegenständliche Ausrichtung macht erst den vollen Sinn der „Phänomenologie“ aus, so dass dieses Wort, das bei Husserl ursprünglich für die Lehre von den „Phänomenen“, d.h. den Erlebnissen steht, nun auch verstanden werden kann als die Lehre von den „Phänomenen“, d.h. des gegenständlich Gegebenen im Wie seines Gegebenseins.“ Tugendhat, Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1970, S. 27-28. 122 Tugendhat, 1970, S. 265.
53
einer sachhaltigen Beschreibung scheitert an dem Phänomenen selbst.123
Makkreel meint, dass Diltheys Begriff des Lebenszusammenhangs bei Heidegger in
den Begriff der Situation umgewandelt wird.124 Eine Situation ist ein Komplex von
weltlichen Verweisungszusammenhängen, die auch als Verstehensmöglichkeit
anzunehmen sind. Mit dem Begriff der Situation unterstreicht Heidegger vor allem
die Vielfalt der Möglichkeiten der Weltverständnisse. Jedoch stellt sich in Heideggers
Begriffsbildung noch ein besonderes Element in der Konzeption der Situation ein,
nämlich der Vollzugscharakter. „Situation ist eben der eigentümliche Charakter, in
dem ich mich selbst habe, nicht den Inhalt des Erlebten.“ 125 Mit dem
Sich-Selbst-Haben meint Heidegger den Vollzug des Lebensbezugs. Der
Verweisungszusammenhang und der Inhalt des Erlebten lassen sich bei Heidegger
jeweils als Bezugssinn und Gehaltsinn der Lebenserfahrung verstehen. Diese macht
die Lebenswelt aus, die im Vollzug des Lebens geschöpft und stets neu gestaltet
wird.126 Der Vollzug kommt Heidegger zufolge aus der „Spontaneität des Selbst“ her.
„Das Selbst ist kein letzter Ichpunkt, es ist offen gelassen.“127 Mit der Konzeption
des Selbst wendet sich Heidegger gegen Husserls transzendentales Bewusstsein. Aber
der Begriff des Selbst wird schon ab den zwanziger Jahre nur noch selten verwendet,
da Heidegger diesen durch „Lebenssituation“ oder „Lebensvollzug“ ersetzt.
Von der oben vorliegenden Darstellung der Situation ausgehend erweitert sich
Heideggers Auffassung der Gegebenheit. Das heißt, die gegenständliche Gegebenheit
ist ermöglicht 1) nicht nur in der Welt, d.h. als Sinnerschlossenheit, die sich aus der
Mannigfaltigkeit der Verweisungszusammenhänge oder der Verstehensmöglichkeiten
ergibt; 2) sondern auch in diesem Vollzug der Sinnerschlossenheit, der sich in
meinem jeweiligen konkreten Umwelterleben vollzieht. Die zwei
123 Heidegger, GA 60, S. 92. 124 Vgl. Makkreel, Dilthey, Heidegger und der Vollzugssinn der Geschichte, in: Heidegger und die Anfänge seines Denkens, Heidegger- Jahrbuch 1, Alfred Denker, Hans-Helmuth Gander, Holger Zaborowski (Hrsg.), Freiburg/München 2004, S. 308. 125 Heidegger, GA 58, S. 260. 126 Vgl. Ebd., S. 261. 127 Ebd., S. 260.
54
Möglichkeitsbedingungen der gegenständlichen Gegebenheit machen den vollen Sinn
der Konzeption der Situation aus, die als die sich dynamisch vollziehende
Sinnerschlossenheit zu verstehen ist.
Es ist ersichtlich, dass die Situationsstruktur aus dem Gehaltsinn, dem Bezugssinn
und ihrem Vollzug zusammengesetzt ist. Aber die drei Momente sind nach Heidegger
nicht als Ordnungsmäßiges in homogener Dimension und auch nicht in sachhaltiger
Beschreibung zugänglich. „Schon der Ansatz einer phänomenologischen Betrachtung
als ordnungsmäßig und der Versuch einer sachhaltigen Beschreibung scheitert an den
Phänomenen selbst.“128 Hier setzt die „radikale Methode“ ein – die formale Anzeige.
2.3.3 Formale Anzeige
Schon in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks
behandelt Heidegger seine destruktive Methode. Er stellt dort die endgültige Aufgabe
der phänomenologischen Untersuchung des faktischen Lebens als „Zurückführung
auf die echten Sinnzusammenhänge und die Artikulierung der darin beschlossenen
genuinen Sinnrichtungen“ dar. 129 Die „Zurückführung auf die echten
Sinnzusammenhänge“ geht die kritische Destruktion an.
Der Sinnzusammenhang aber (z.B.) Geschichte verlangt nicht nur seinem Wasgehalt nach ein Verstehen im weiteren genetischen Zusammenhang mit anderen, sondern die kritische-Destruktion selbst läuft gleichsam aus in das, was die phänomenologische Diiudication genannt sei [...] Diese Diiudication ist die Entscheidung über die genealogische Stelle, die dem Sinnzusammenhang vom Ursprung her gesehen zukommt.130
Zum genetischen Ursprung des Sinnzusammenhangs vorzudringen, setzt Heidegger
als Ziel der Destruktion, nämlich der formalen Anzeige, die er in der Vorlesung
Grundprobleme der Phänomenologie 1919/1920 erörtert und in der Vorlesung
128 Sieh Anm. 123 129 Heidegger, GA 59, S. 74. 130 Ebd.
55
Einleitung in Phänomenologie der Religion 1920/21 konkret ausführt.
2.3.3.1 Die Struktur der Phänomene: Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn
Durch formale Anzeige wird die Lebenserfahrung als Phänomen auf drei Momente
reduziert: Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn. Der Gehaltsinn ist der erfahrene
Gehalt des Gegenstandes. Der Bezugssinn betrifft das Wie seines Erfahrens, das heißt,
der Bezugssinn versteht sich als situative Verweisung. Vollzugssinn ist unter „dem
ursprünglichen Wie, in dem der Bezugssinn vollzogen wird,“131 zu erfassen.132 In der
Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles 1921/1922 gibt
Heidegger weitere Erläuterungen zu den drei Momenten des Phänomens. Bezugssinn
lässt sich als „sich verhalten zu ...“, „in Beziehung stehen zu ...“ erfassen und
Gehaltssinn als das „Worauf und Wozu des Bezugs“. Vollzugsinn ist das Wie des
Sichverhaltens, nämlich „die Weise, wie es vorgeht, d.h. vollzogen wird“133.
Durch formale Anzeige stellt Heidegger die Sinnstruktur der Lebenserfahrung von
den drei Momenten ausgehend heraus, die sonst vom Leben selbst verdeckt wird.
Daher stellt Heideggers formale Anzeige als Abwehr gegen eine Tendenz des
faktischen Lebens dar. Was ist diese abzuwehrende Tendenz des Lebens? „Die
Lebenserfahrung legt sich ganz in den Gehalt […] zeigt eine Indifferenz in Bezug auf
die Weise des Erfahrens.“ 134 Heidegger beschreibt diese Tendenz als die
131 Heidegger, GA 60, S. 63. 132 Gethmann sieht eine Parallele zwischen Gehaltssinn und Vollzugssinn bei Heidegger und noema-noesis bei Husserl, wobei er zugibt, dass er nicht genau weiß, was Heidegger mit der Einführung des Bezugssinn intendiert. Vgl. Gethmann, Philosophie als Vollzug und als Begriff. Heideggers Identitätsphilosophie des Lebens in der Vorlesung vom Wintersemester 1921/1922 und ihr Verhältnis zu Sein und Zeit, in: Dilthey-Jahrbuch 4, 1986-1987, S. 46; In Makkreels Interpretation ist der Zusammenhang zwischen Gehaltsinn, Bezugssinn und Vollzugssinn als solches darstellt, dass der Vollzugssinn den Bezugssinn als den existenziellen Bezug des Lebens zur Welt mit dem Gehaltsinn als kognitiven Gehalt des Seienden in der Welt verbindet und vollzieht. Insofern wäre Gehaltssinn und Vollzugssinn nicht im Sinne von noema-noesis zu verstehen. Denn noema und noesis sind bei Husserl gleichursprünglich, während der Vollzugssinn ursprünglicher als der Gehaltsinn und auch der Bezugssinn ist und diese ermöglicht. Vgl. Makkreel, The genesis of Heidegger's phenomenological hermeneutics and the rediscovered „Aristotle introduction“ of 1922, in: Man and World 23, 1990, S. 309, 312.133 Heidegger, GA 61, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, S. 52-53. 134 Heidegger, GA 60, S. 12.
56
„einstellungsmäßige, abfallende, bezugsmäßig-indifferente, selbstgenügsame
Bedeutsamkeitsbekümmerung“. 135 Mit der abzuwehrenden Tendenz ist die
objektivierende Betrachtungsweise gemeint, die für das Alltagsleben und in der
Theoretisierung kennzeichnend ist. Nach Heidegger verdeckt diese Tendenz des
faktischen Lebens das Wie des Erlebens, strenger genommen, das Wie des Erlebens
in seinem Vollzug. Das Wie des Vollzugs ist eben das, worauf Heidegger mit dem
Begriff der formalen Anzeige abzielt, deshalb muss die formale Anzeige diese
abfallende und sich verdeckende Tendenz abwehren, und zwar dadurch, dass sie den
Bezugssinn in der Schwebe hält. 136 Das Abwehren erklärt Heidegger mit der
Bezeichnung der formalen Anzeige. „Warum heißt sie ‚formal’? Das Formale ist
etwas Bezugsmäßiges. Die Anzeige soll vorweg den Bezug des Phänomens anzeigen
– in einem negativen Sinn allerdings, gleichsam zur Warnung!“137 Warnung gegen
die Indifferenz zum Bezugssinn. In diesem Punkt stellt Theodore Kisiel fest, dass die
formale Anzeige eine negative Methode ist, da sie nur auffordert, den Bezugssinn in
der Schwebe zu halten, ohne irgendwelche positive methodische Prinzipen
anzugeben. 138 Aber das „Negative“ der formalen Anzeige betrifft eben die
eigentümliche Operationsweise dieser Methode.
Die formale Anzeige ist immer missverstanden, wenn sie als fester, allgemeiner Satz genommen und mit ihr konstruktiv dialektisch deduziert und phantasiert wird. Alles liegt daran, vom unbestimmten, aber irgendwie verständlichen Anzeigegehalt aus das Verstehen auf die rechte Blickbahn zu bringen.139
Heidegger meint, dass die formale Anzeige mit dem negativen Charakter eben eine
positive Anweisung schafft. Formale Anzeige heißt, anzuzeigen, „was gesagt ist, vom
Charakter des ‚Formalen’ ist, uneigentlich, aber gerade in diesem ‚un’ ist zugleich
positiv die Anweisung. Das leer Gehaltliche in seiner Sinnstruktur ist zugleich das,
135 Heidegger, GA 60, S. 16. 136 Vgl. Ebd., S. 64. 137 Ebd., S. 63. 138 Vgl. Kisiel: The Genesis of Heidegger´s Being and Time, 1993, S. 170. 139 Heidegger, GA 63, S. 80.
57
was die Vollzugsrichtung gibt.“140 Das heißt, mit der formalen Anzeige ist der
Bezugssinn, nämlich das Wie des Erfahrens oder das Wie des Sichverhalten, das den
Gehaltssinn bestimmt, in Bewegung zu halten, das heißt, nicht festzumachen, sondern
sich in die Vielfalt der Verstehensmöglichkeiten oder Sinnerschlossenheit frei
entfalten zu lassen. Erst dadurch ist der dynamische Sinnvollzug oder der Vollzug der
Verstehensmöglichkeiten zugänglich. Die Sinnstruktur, die in formaler Anzeige
angezeigt wird, manifestiert sich in Heideggers Darstellung des Begriffs der Welt und
der Situation als die Struktur des Bedeutsamkeitsganzen, das sich aus situativem
Verweisungszusammenhang konstituiert und geschichtlich vollzieht, in dem das
Phänomen zur Erscheinung kommt oder gegeben wird. Dies führt zum
Gegebenheitsmodell Heideggers, das er von Dilthey übernimmt und weiterentwickelt.
2.3.3.2 Lebensvollzug als Ursprung des Lebens
Durch Heideggers Destruktion des Phänomens kann zuerst die Ambiguität der
Auffassung des Gegenständlichen sowie ihr Zusammenhang mit dem
Bedeutungsbegriff bei Dilthey aufgeklärt werden. Wie im vorangegangenen Kapitel
erläutert, ist Diltheys Auffassung des Gegenständlichen von einer gewissen
Ambiguität. Das Gegenständliche wird in seiner Interpretation einerseits als das
gehaltmäßig Erlebte im geschichtlichen Lebensganzen aufgefasst oder gegeben;
andererseits fungiert es als Bedeutungszusammenhang, der das Lebensganze
konstituiert. Das Gegenständliche scheint daher bei Dilthey eine Doppelbedeutung zu
haben. Diese Doppelbedeutung des Gegenständlichen wird bei Heidegger durch den
Gehaltsinn als den erlebten gegenständlichen Gehalt und den Bezugssinn als
situativen Verweisungszusammenhang bestimmt.
Aber in Heideggers Destruktion der Lebenserfahrung tritt neben dem Gehaltsinn und
dem Bezugssinn auch noch der Vollzugssinn auf. Erst mit der Artikulation der drei
140 Heidegger, GA 61, S. 33.
58
Momente ergibt sich ein klar strukturiertes Gegebenheitsmodell, in welchem das
erlebte gehaltmäßige Gegenständliche in einer Sinnerschlossenheit, die sich aus
situativen Verweisungszusammenhang (Bezugssinn) konstituiert und als
geschichtlicher Vollzug (Vollzugssinn) vollzieht, gegeben wird. Heideggers
Gegebenheitsmodell ist durch formale Anzeige herausgearbeitet und macht dabei die
Aufgabe der phänomenologischen Destruktion der Lebenserfahrung ersichtlich,
nämlich den Blick von dem Gehaltsinn abzuwenden und den Bezugssinn in
Bewegung zu halten, um zum Vollzugssinn vorzudringen. Destruktion versteht sich
daher als „die Herausstellung der eigentlichen ursprünglichen
phänomenologisch-philosophischen Vollzugs- und Ursprungsbesinnung“. 141 Den
Vollzugssinn oder den Lebensvollzug deutet Heidegger als den Ursprung des Lebens
an. Als Kriterium der Ursprünglichkeit nennt er, „dass im Sinne des Vollzugs die
Forderung einer Erneuerung liege, die selbstweltliches Dasein mit ausmacht.“142
Heidegger zufolge ähnelt sein Gegebenheitsmodell eher der Konstruktion des Lebens
bei Dilthey, nicht dem Konstitutionsmodell des transzendentalen Bewusstseins bei
Husserl. Wie im vergangenen Kapitel erläutert, liegt die entscheidende Einsicht
Diltheys in der Einführung des geschichtlichen Horizontes in die Gegebenheit des
Lebensganzen. Diese Einsicht wird von Heidegger übernommen und macht den Kern
seines Gegebenheitsmodells aus. Dabei lässt sich der geschichtliche Horizont bei
Heidegger als Lebensvollzug, als sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit,143
in der das Phänomen gegeben wird, bezeichnen. Aber Diltheys Entwicklung der
Lebensphilosophie orientiert sich am Aufbau der Typologie der Weltanschauungen,
das heißt, an die Objektivation des Lebens, während Heidegger sich eher auf die
Destruktion oder den Abbau des Lebens konzentriert und versucht, sich dem 141 Heidegger, GA 59, S. 185-186. 142 Ebd., S. 148; Vgl. S. 152, 186. Der Begriff der Erneuerung in der Rede ist auch unter Vollzug zu verstehen und drückt die Dynamik des Lebensvollzugs aus, dabei spricht Heidegger an manchen Stellen von „erneuerungs- und vollzugsmäßig“, das heißt, „Erneuerung“ und „Vollzug“ sind wohl als eins zu erfassen. 143 Die Lebenssituation ist, wie früher erläutert wurde, auch die sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit. Insofern ist Lebensvollzug in eins mit Lebenssituation. Das Letztere ist eine situative Konkretisierung des Ersteren, da das konkrete Umwelterleben im Begriff der Situation betont wird.
59
Lebensvollzug als dem Ursprünglichen anzunähern. Und in der Destruktion auf den
Lebensursprung gewinnt Heidegger einen Ansatzpunkt, um sich gegen Husserls
Transzendentalphänomenologie auszusprechen. Dies reflektiert sich zunächst in der
Divergenz ihrer Gegebenheitsmodelle des transzendentalen Bewusstseins und des
faktischen Lebens.
2.4 Destruktion des faktischen Lebens auf den Lebensursprung
Im Gegebenheitsmodell des transzendentalen Bewusstseins bei Husserl144 ist der
intentionale Gegenstand in der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins
mit apodiktischer Gewissheit gegeben. 145 Im Vergleich dazu manifestiert sich
Heideggers Gegebenheitsmodell als das faktische Leben, genauer gesagt, die sich
geschichtlich vollziehende Sinnerschlossenheit. Nach Meinung einiger Interpreten ist
der Sinnvollzug der Sinnerschlossenheit aber mit der Bewusstseinskonstitution
gleichzusetzen, da es in beiden Modellen im Grunde um die Sinnkonstitution der
gegebenen Erlebnisse ginge. 146 Darauf, inwiefern das Gegebenheitsmodell des
faktischen Lebens von dem des transzendentalen Bewusstseins zu differenzieren ist,
wird jetzt einzugehen sein. Die folgende Erläuterung nähert sich diesem Thema aber
über einen Umweg, nämlich nicht direkt über die Spannung zwischen Husserl und
Heidegger, sondern über diejenige zwischen Natorp und Dilthey, die für Heidegger
aber als Stellvertreter für die erstere fungiert.
144 Husserls Gegebenheitsmodell erlebt eine kleine Modifikation von der Zeit der Logischen Untersuchungen zur Phase der Transzendentalphänomenologie, nämlich, von der dualistischen Schemata von Intention – Intuitiven Repräsentant in Logischen Untersuchungen zum Modell der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins, einschließlich der noesis-noema genetischen Schemata. Die erste Schemata von Intention – Intuitivem Repräsentant ist von Husserls selber aufgegeben. Was hier in der Diskussion steht ist das Modell der Sinnkonstitution des transzendentalen Bewusstseins. 145 Vgl. Landgrebe, Faktizität und Individuation, 1982, S. 75-76; Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, 1970, S. 272; Pöggeler, Heidegger und die Hermeneutische Philosophie, 1983, S. 98. 146 Vgl. Gethmann, Verstehen und Auslegung – Das Methodenproblem in der Philosophie Martin Heideggers, Bonn, 1974, S. 48-52; Hans Ruin, Enigmatic Origins, 1994, S. 55-61; Steven Crowell, Heidegger´s Phenomenological Decade, in: Man and World 28, no. 4, 1995, S. 435-438.
60
2.4.1 Die Gegebenheitsmodelle bei Natorp und Dilthey
In der Vorlesung vom Sommersemester 1920, Phänomenologie der Anschauung und
des Ausdrucks, betrachtet Heidegger die Philosophien Natorps und Diltheys mit Blick
auf das Thema der ursprünglichen Philosophie. Bei beiden geht es um das Erlebnis,
wenn auch je als Bewusstseinserlebnis (Natorp) und als seelisches Leben (Dilthey).
Bei den beiden Weisen, wie sie jeweils das Erlebnisproblem behandeln, handelt es
sich laut Heidegger um einen radikalen Gegensatz. Dabei sei Natorps Philosophie
aber ursprungsfern und Diltheys ursprungsnah.147 In dieser Stellungnahme drückt
sich indirekt Heideggers eigene Position gegen Husserl aus, da ihm zufolge Natorps
Ansatz im Grunde der gleiche wie Husserls sei.
Natorp verweigert einen unmittelbaren Zugang zum Gegebenen des Bewusstseins
durch Reflexion. „Jede vermeintlich unmittelbare Beobachtung des Erlebten ist
bereits Reflexion; als in der Selbstbeobachtung reflektiert, ist aber das Unmittelbare
schon nicht mehr das Unmittelbare.“148 Gleichwohl sieht er die Möglichkeit, die
Unmittelbarkeit des Bewusstseins zu „rekonstruieren“, indem wir „den Prozess der
Objektivierung durch alle Stufen rückwärts verfolgen bis zu dem, was aller
Objektivierung voraus das im Bewusstsein Gegebene war“149. Obwohl Natorp das
Gegebene in Annäherung an die Lebensphilosophie als „Strom des Erlebens“, „ewig
flutende Leben“ und „Lebendigkeit“150 bezeichnet, nimmt er für die Methode der
Rekonstruktion die subjektive Deduktion bei Kant zum Vorbild.
Nach Heideggers Interpretation setzt Natorp den „Strom des Erlebens“ als
Bewusstsein an, das als der letzte Grund die Erlebniszusammenhänge in der Einheit
konstituiert.151 „Bewusstsein wird aber nicht als ein besonderes Sachgebiet, als
147 Heidegger, GA 59, S. 164. 148 Natorp, Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode, 1888, S. 88. 149 Ebd. S. 105. 150 Natorp, Allgemeine Psychologie, 1912, S. 190, 202. 151 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 130.
61
Arsenal von Kategorien verstanden, sondern in seiner reinen Fassung als Einheit der
Bestimmung eines Mannigfaltigen von Beziehungen.“152 Bewusstsein bei Natorp ist
auch als subjektive Icheinheit zu verstehen. Heidegger weist darauf hin, dass Natorp
die Determination des Bewusstseins mit dem Vorgriff der Konstitution des
Bewusstseins verbindet. Aus dem Vorgriff der Konstitution des Bewusstseins
bestimmt sich der Sinn von Erlebniszusammenhang und Bewusstsein. Im Ausgang
von Natorps Auffassung fasst Heidegger drei Charaktere des
Konstitutionsbewusstseins zusammen.
1) Erstens, Bewusstsein oder Icheinheit als die letzte apriorische Gesetzlichkeit,
nämlich der letzte Grund. Bewusstsein bekommt bei Natorp „so eine ganz bestimmte
Rolle zugesprochen, und zwar die entscheidende und ursprüngliche, nämlich Grund
aller Konstitution, Einheit aller Mannigfaltigkeit im Bewusstsein zu sein.“153 2)
Zweitens, Bewusstsein als das Ursprungsdenken. Heidegger verweist daraufhin, dass
die Bestimmung der Icheinheit von Anfang an in eine ganz bestimmte Richtung
gedrängt sei: dass das „Ich“ in der Rolle der letzten Einheitsbedingung des
Bewusstseins als des konstituierenden steht und dass von diesem der Sinn von
Denkeinheit bestimmt ist. 154 In dieser Denkeinheit steht nach Heidegger das
Konstituierte als logische und universale Wechselbezüge. 3) Drittens, Bewusstsein,
Bewusstseinsinhalt sowie Bewusstseinskonstitution sind bewusst. Das „Bewusste als
solches und in jeder Hinsicht – konstituiert sich und die Subjektivität“155. Insofern
deutet Heidegger an, dass die Bewusstheit des Bewusstseins als
Gegenstandsbestimmung und dabei die Bewusstseinskonstitution als ein Vorkommen
des Ordnungszusammenhangs anzusehen sind.
Nach dieser Auslegung des Konstitutionsbewusstseins bei Natorp zieht Heidegger den
Schluss, die Natorpsche Philosophie sei „nicht ursprünglich, sondern in einen
152 Heidegger, GA 59, S. 130.153 Ebd., S. 131-132. 154 Vgl. Ebd., S. 132. 155 Ebd. S. 135.
62
einstellungsmäßigen Charakter abgefallen“. Dieser Position stellt er nun diejenige
Diltheys gegenüber. Bei Natorp handele es sich um das Ganze der
Konstitutionsbeziehungen und bei Dilthey um den Wirkungszusammenhang des
Lebens, der kein logischer und dialektischer Ordnungszusammenhang sei, sondern
von der wechselnden inneren Beziehung von Vorstellung (Denken), Gefühl und
Willen konstituiert wird. Das Ganze der Konstitutionsbeziehungen erfordert die
Methode der Rekonstruktion, und der Wirkungszusammenhang des Lebens erfordert
ursprüngliche Explikation, die im Zusammenhang von Erlebnis, Ausdruck und
Verstehen gründet.156 Ein mit dem Konstitutionsbewusstsein vergleichbarer Begriff
bei Dilthey sei das „Selbst“, das die „Einheit des Seelischen zusammenhält“ und „die
Rolle der Triebkräfte, des Antriebs für die Entwicklung“ 157 spiele. Heidegger
bezeichnet es als „das historisch vollzogene Dasein“158. Das Selbst ist keine letzte
Gesetzlichkeit, in der die logischen Konstitutionsbeziehungen gründen, sondern das
vollzugsmäßige selbstweltliche Dasein, das nicht objektivierbar ist und in dem sich
der Wirkungszusammenhang entwickelt. Es ist als Vollzugsmäßiges charakterisiert
und wird in der hermeneutischen Explikation zugänglich.
Von Heideggers Standpunkt der formalen Anzeige gesehen ist der Zugang zum
Ursprung im Konstitutionsmodell bei Natorp (und Husserl) versperrt, denn die
Konstitutionsbeziehung (Bezugssinn) wird als theoretisch fest gesetzt statt in
Bewegung gehalten, wobei die bewusste Konstitution (Vollzug) als „Vorkommen in
einem Ordnungsbezug gefasst“ und insofern „der eigentliche Sinn des
Vollzugsmäßigen von vornherein ausgeschaltet“159 wird. Nicht zuletzt da das als
letzte Gesetzlichkeit fungierende Bewusstsein sich an Universität und Allgemeinheit
orientiert, ist der vollzugsmäßige Sinn des Bewusstseins überhaupt nicht in Rede. Im
Vergleich dazu ist in Diltheys Modell der Wirkungszusammenhang (Bezugssinn) als
die wechselnde innere Beziehung zwischen Denken, Gefühlen und Willen bereits von
156 Vgl. Heidegger, GA 59, S. 159, 166, 168, 169. 157 Ebd., S. 167. 158 Ebd., S. 169. 159 Ebd., S. 148.
63
Bewegtheit charakterisiert und vollzieht sich als das Selbst, das als Vollzugsmäßiges
in der hermeneutischen Explikation zugänglich ist.
Daher zieht Heidegger den Schluss, dass die Natorpschen Philosophie ursprungsfern
und diejenige Diltheys ursprungsnah sei. Alle oben dargestellten Bestimmungen des
Konstitutionsmodells bei Natorp treffen in den Augen Heideggers gleichsam auf
Husserls Konstitutionsmodell des transzendentalen Bewusstseins zu. Deswegen ist
seine Kritik an Natorp andeutungsweise auch auf Husserl zu übertragen. Die
Divergenz zwischen Husserls und Heideggers Gegebenheitsmodell liegt also darin, ob
jenes einen Zugang zum Ursprung, dem Vollzug des Lebens, eröffnet.
2.4.2 Geschichtlichkeit und das Nichts
Aus der vorherigen Erläuterung wird ersichtlich, dass Phänomenologie als
Ursprungswissenschaft durch eine Destruktion des faktischen Lebens in den
Lebensvollzug als dessen Ursprung vorzudringen sucht. Dabei ist auf zwei wichtige
Charakteristika dieses Lebensvollzugs hinzuweisen. Diese sind Geschichtlichkeit und
„das Nichts des faktischen Lebens“.
Der Begriff des Vollzugssinns als des Ursprünglichen des Lebens wird bei Heidegger
immer um Geschichtlichkeit ergänzt. „Ursprünglichkeit (ist) motiviert in ...
Geschichtlichkeit jeder geistigen oder überhaupt Lebens-Situation“ 160 . In
Anmerkungen zu Karl Jaspers „Psychologie der Weltanschauungen“ von 1920/1921
sagt er: „Die faktische Lebenserfahrung selbst ist ein wesentlich dem Wie seines
Eigenvollzugs nach ‚historisches’ Phänomen, und zwar primär, ein sich selbst so
erfahrendes vollzugsgeschichtliches Phänomen.“ 161 Dabei werden in frühen
Freiburger Vorlesungen „Zeitlichkeit“ und „Zeitigungssinn“ auch als Ersatzbegriffe
160 Heidegger GA 59, S. 185. 161 Heidegger, GA 9, S. 32.
64
für den Vollzugssinns verwendet.162 Von daher sagt Kisiel, dass formale Anzeige als
phänomenologische Destruktion einen störungsfreien Zugang zur Zeitlichkeit und
Geschichtlichkeit des vortheoretischen Phänomens suche.163
Um den Grundcharakter des Vollzugs des Lebens zu beschreiben, führt Heidegger die
Konzeption „das Nichts des faktischen Lebens“ ein. 164 In der Vorlesung vom
Wintersemester 1921/1922 Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles,
spricht er über „das Nichts des faktischen Lebens“. „Das Nichts des faktischen
Lebens ist dessen eigenes, von ihm und für es selbst gezeitigtes lebensmäßiges
umweltliches Nichtvorkommen im ruinanten Dasein seiner selbst (Faktizität).“165
Nichts bedeutet weder bloße Negation noch Leersein, sondern „Bewegtheit des
faktischen Lebens“. Zeit ist das „Wie der Bewegtheit“166. Wie versteht sich diese
Bewegtheit? 1) Zuerst, es ist nicht objektivierbar und verweigert daher alle
gegenständlichen Bestimmungen167; 2) zweitens, es ist für die Gegenständlichkeit
(Realität) der gelebten bedeutsamen Welt in Sinne des Charakters der
Widerständigkeit des Lebens konstitutiv.168 3) Drittens, es macht den Charakter der
Undurchsichtigkeit des Lebens im Gegensatz zum Bewusst-sein aus.
Das umweltliche Leben meldet sich noch in seinem Nichtvorkommenkönnen und zwar so, dass es sich dabei nicht eigens abhebt, sondern so unabgehoben mit der gelebten Welt und als solche begegnet, so zwar dass dieses damit den Charakter des Undurchsichtigen, doch noch, wenn auch nur in ihrem Dasein und Begegnen als solchen, bei aller Unmittelbarkeit Rästelhaften behält.169
162 Vgl. Heidegger, GA 61, S. 20, 31, 60. 163 Vgl. Kisiel, 1993, S. 219.164 “Das Nichts des faktischen Lebens“ bezeichnet Heidegger auch terminologisch als „Ruinanz des Lebens“. Die verweist auf „die Bewegtheit des faktischen Lebens, die das faktische Leben in ihm selbst als es selbst für sich selbst aus sich hinaus und in all dem gegen sich selbst vollzieht.“ (Heidegger, GA 61, 131) Das heißt, der Terminus “Das Nichts des faktischen Lebens“ dient dazu, den Grundcharakter des Lebensvollzugs als Bewegtheit zu beschreiben. 165 Heidegger, GA 61, S. 148. 166 Ebd., S. 139. Früher Heidegger verwenden die Begriffe wie Geschichtlichkeit, Historisches, Zeit, Zeitigung als dasselbe, ohne klare Unterscheidung von ihnen zu machen. Sie sind die Bezeichnung für entweder den Vollzugssinn des Lebens oder den Charakter der Bewegtheit des Lebensvollzugs. 167 Ebd., S. 144 - 145. 168 Vgl. Ebd., S. 148 - 149. 169 Ebd., S. 148. Anzumerken ist, dass Heidegger Auffassung des Lebensvollzugs als das Nichtvorkommenkönnen und das Rätselhafte ein zentrales Element seiner Dilthey-Rezeption ausmacht. Das Leben bei Dilthey ist unergründlich und erscheint nicht in der Introspektion des Bewusstseins. Es
65
Über den Vollzug als „das Nichts des faktischen Lebens“ wird im Anschluss an die
Vorlesung des Wintersemester 1921/1922 nur noch sehr selten gesprochen. Erst nach
Sein und Zeit fängt Heidegger mit Was ist Metaphysik von 1929 wieder an, sich mit
dem „Nichts“ auseinanderzusetzen. Aber das „Nichts“ bleibt als die rätselhafte
Bewegtheit des Lebens immer noch im Spiel, auch wenn es zwischenzeitlich nicht
zum Ausdruck gebracht wird.
In die Auffassung des Lebensvollzugs integriert ist Heideggers ontologisches
Interesse, obwohl er zu dieser Zeit sein ontologisches Projekt noch nicht wirklich in
Gang setzt. Bereits in der Vorlesung Phänomenologische Interpretationen zu
Aristoteles wird der Vollzugssinn als „Seinssinn“ und „Seinssinn des Habens“170
andeutet und die Philosophie wiederum als „ontologische Phänomenologie“ 171
bezeichnet, wobei Heidegger das Ziel der Phänomenologie weiterhin im Auge behält,
nämlich den Lebensursprung zum Sehen, mit anderen Worten, zum Ausdruck zu
bringen. Dies Ziel formuliert Heidegger nun aber folgendermaßen um: „die so
angezeigte Lebenssituation als Seiendes in ihrem Was und Wie zu bestimmen“.172
Mit der Lebenssituation ist hier eben der Lebensvollzug gemeint.173 Dabei erkennt
Heidegger selbst die Schwierigkeit des Zum-Ausdruck-Bringens des Lebenssituation.
„Eine Schwierigkeit ist schon, die Situation selbst als solche zu sehen, sie ferner
genuin als Seiendes zu fassen,“174 da dieses sich durch den geschichtlichen Vollzug
charakterisiert. Heideggers experimentaler Versuch, den geschichtlichen
Lebensvollzug zum Ausdruck zu bringen, entfaltet sich später durch die
Daseinsanalytik von Sein und Zeit. Darauf wird im vierten Kapitel einzugehen sein.
fungiert als die lebendige Kraft, die unser Weltverstehen in Bewegung hält und uns in die Offenheit der Möglichkeit freilässt. Diese Bedeutung des Lebens ist bei Heidegger als rätselhafte Bewegtheit des Lebensvollzugs übernommen und bleibt inseinenfrühenDenkgängenimmerimSpiel.170 Heidegger, GA 61, S. 61. 171 Ebd., S. 60.172 Ebd., S. 64.173 Sieh. Anm. 143.174 Heidegger, GA 61, S. 64.
66
In der Marburger Vorlesung vom Wintersemester 1923/1924, Einführung in die
phänomenologische Forschung, fasst Heidegger die Aufgabe der Phänomenologie
erneut so auf, „Leben selbst in seinem eigentlichen Sein zu verstehen und die Frage
nach seinem Seinscharakter zu beantworten.“175 Heideggers Phänomenologie als
Ursprungswissenschaft wandelt sich in den Marburger Vorlesungen also zur
ontologischen Phänomenologie. Dies zeichnet sich insbesondere der Marburger
Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs von 1925 ab.
Fazit:
Zusammenfassend lassen sich zwei wichtige Einsichten aus der phänomenologischen
Destruktion auf den Lebensursprung festhalten. Erstens, die ursprüngliche
Sinnstruktur des Lebens, die sich als Gegebenheitsmodell des Phänomens abzeichnet,
manifestiert sich als Sinnerschlossenheit, die sich aus allen Verstehensmöglichkeiten
in Form des Verweisungszusammenhangs konstituiert und geschichtlich vollzieht,
und in der das Gegenständliche gegeben ist oder erscheint, d. h. in der das Phänomen
sich offenbart. Zweitens, der Lebensursprung als der Lebensvollzug ist rätselhafte
Bewegtheit. Die „rätselhafte Bewegtheit“ ist eine Bezeichnung des Grundcharakters
des Lebensvollzugs, der als die sich dynamisch vollziehende Sinnerschlossenheit die
Erscheinung des Phänomens ermöglicht, aber selbst nicht erscheint. Diese Auffassung
von der Sinnerschlossenheit steht in Einklang mit Diltheys Konzeption des
geschichtlichen Horizontes und macht den entscheidenden Aspekt aus, in dem sich
Heideggers Gegebenheitsmodell von dem Husserls unterscheidet.
Die zwei Einsichten machen den Kern von Heideggers Auffassung der Gegebenheit
in seiner Stellung gegen Husserls transzendentale Konstitution des Bewusstseins aus,
und bilden auch den Fokus der phänomenologischen Untersuchungen seines
ontologischen Projektes, die er in den Marburger Vorlesungen durchführt, wobei die
175 Heidegger, GA 17, Einführung in die Phänomenologische Untersuchung, S. 275.
67
Spannung zwischen Husserl und Heidegger bezüglich ihrer Auffassung der
ursprünglichen Gegebenheit sich zur Divergenz der Seinsverfassung zu modifizieren
scheint.
68
3. Heideggers ontologisches Projekt und Ursprungsdenken
Im Vergleich zu den eher indirekten Vorwürfen während der frühen Freiburger
Vorlesungen unterzieht Heidegger in der Marburger Prolegomena–Vorlesung die
Transzendentalphänomenologie Husserls nach Logischen Untersuchungen einer
ausdrücklichen Kritik. Über die Logischen Untersuchungen spricht Heidegger stets
lobend, da er in diesem Werk Husserls die Möglichkeit angelegt sieht, das
menschliche Leben zum Boden der phänomenologischen Untersuchungen zu machen.
Aber mit der transzendentalen Wende Husserls ab den Ideen I sieht er diese
Möglichkeit verloren.
Anders als die Kritik am Ursprungsfern-sein der transzendentalen
Bewusstseinskonstitution nimmt Heidegger in der Prolegomena-Vorlesung Husserls
Versäumnis der Seinsfrage zum Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung mit
dessen Transzendentalphänomenologie. In dieser Kritik zeichnet sich sein Bruch mit
Husserls Transzendentalphänomenologie darin ab, dass er nun das Projekt einer
Ontologie zum zentralen Thema der Phänomenologie macht. Phänomenologie
bezeichnet er in Sein und Zeit als „Wissenschaft vom Sein des Seienden“176. Wie Otto
Pöggeler sein Denken der 1920er Jahre interpretiert: „Phänomenologie ist vielmehr
die methodische, Ontologie die sachhaltige Bezeichnung für dasselbe.“177 Insofern
wandelt sich die Ursprungwissenschaft in den Marburger Vorlesungen in eine
„ontologische Phänomenologie“ um.
Heideggers Kritik an Husserls Versäumnis, die Seinsfrage zu stellen, ist seit langem
umstritten. Die Aufgabe dieses Kapitels aber nicht, diese Kritik als gültig auf ihre
Gültigkeit hin zu betrachten, sondern im Anschluss an Jean-Luc Marions
176 Heidegger, GA 2, S. 50. 177 Otto Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, 1983, S. 98. Vgl. Heidegger, GA 2, S. 51. „Ontologie und Phänomenologie sind nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach Gegenstand und Behandlungsart.“
69
Interpretation herauszuarbeiten, wie Heidegger sich zugleich auf Husserl beziehen
und sich von ihm absetzen kann. Es geht um das Spannungsfeld, in dem er sich gegen
Husserls Transzendentalphänomenologie ausspricht, aber von Husserls
phänomenologischem Ansatz her das Projekt der Ontologie als klaren Bruch mit
Husserls Denken entwickelt. Dabei wird auch zu erörtern sein, welcher
Zusammenhang zwischen Heideggers ontologischem Projekt in den Marburger
Vorlesungen und seiner phänomenologischen Destruktion auf den Lebensursprung
besteht und wie das Ursprungsdenken in der Erschließung des Seinssinns ins Spiel
gesetzt wird.
3.1 Die Marburger Vorlesung „Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs“
In der Marburger Vorlesung vom Sommersemester 1925, Prolegomena zur
Geschichte des Zeitbegriffes, skizziert Heidegger zunächst die phänomenologischen
Untersuchungen Husserls. Zuerst spricht er sein Lob für Husserls drei entscheidende
Entdeckungen der Phänomenologie aus: Intentionalität, kategoriale Anschauung und
den ursprünglichen Sinn des a priori. Unter den drei Entdeckungen sei die
Intentionalität die wichtigste, weil sie die anderen zwei ermöglicht. Husserl selbst
meint: „Der Problemtitel, der die ganze Phänomenologie umspannt, heißt
Intentionalität.“178
Die Konzeption der Intentionalität übernahm Husserl von Brentano, dessen
bedeutendste These lautet, dass Intentionalität der Grundcharakter der Erlebnisse ist
und es unterschiedliche intentionale Bezüge gibt. Heidegger zufolge übersteige
Husserls Intentionalitätslehre die Brentanos aber dadurch, dass Husserl sehe, dass der
intentionale Gegenstand nicht für sich genommen, sondern je nach seinem
Intendiertsein zu bestimmen sei. Er unterscheidet in den Logischen Untersuchungen
den Gegenstand, so wie er intendiert ist, und den intendierten Gegenstand
178 Hua XIX/1, S. 303.
70
schlechthin.179 In der Marburger Prolegomena-Vorlesung unterzieht Heideggers diese
Unterscheidung zwischen dem, was intendiert ist, und der Weise, wie es intendiert ist,
einer eigenen Betrachtung. Und davon ausgehend deutet er den Kern der
Intentionalitätslehre Husserls als die Unterscheidung zwischen „dem Seienden selbst
[...] und dem Seienden in der Weise seines Intendiertseins“.180
Auf der Unterscheidung zwischen dem intendierten Gegenstand und dem Gegenstand,
so wie er intendiert ist, baut Husserls Lehre der Wahrheit auf. Er unterscheidet zwei
Arten intentionaler Erlebnisakte. Die erste ist „bloß vermeinender Akt“, in dem man
auf den Gegenstand bloß intentional gerichtet ist. Der „bloß vermeinende“ Akt oder
das „Leermeinen“ benötigt eine Erfüllung durch die zweite Art des Erlebnisaktes,
wenn er sich als „wahr“ erweisen soll. Der zweite Akt ist nämlich Anschauung. In der
Anschauung ist der Gegenstand nicht nur intentional vermeint, sondern leibhaftig
gegeben. Erst durch das leibhaftig Gegebensein kann die Anschauung das bloß
Vermeinte in der Leermeinung erfüllen. Dabei kommt der Unterschied der
intentionalen Struktur der zwei Arten von Erlebnisakten zum Augenschein. Der
Gegenstand in beiden Akten ist intendiert. Was die Anschauung von dem Leermeinen
unterscheidet, ist der intuitive sinnliche Empfindungsinhalt. Durch sinnliche
Empfindungsinhalte kann der Gegenstand in der Anschauung leibhaftig gegeben
werden. „Leibhaftigkeit ist ein ausgezeichneter Modus der Selbstgegebenheit eines
Seienden.“181
Anschauung wird üblicherweise als sinnliche Wahrnehmung verstanden. Aber in
Husserls Wahrheitsanalyse geht es nicht nur um sinnliches Wahrnehmen, sondern
vielmehr um kategoriale Anschauung. Zum Gegenstand der intentionalen Erlebnisse
zählt nicht nur der einzelne Gegenstand, der sich in sinnlichen Wahrnehmungen
darstellt, sondern vielmehr der Sachverhalt und das generelle Wesen. Solche
179 Hua III/1, S. 302-303. 180 Heidegger, GA 20, S. 53. 181 Ebd., S. 54.
71
höherstufigen Gegenstände werden nach Husserl in kategorialen Anschauungen
aufgefasst oder gegeben.
Einzelne Gegenstände sind, wie Husserl meint, in sinnlichen Wahrnehmungen auf
schlichte Weise, bzw. „mit einem Schlag“ gegeben. „Schlichtheit besagt Fehlen von
gestuften, erst nachträglich Einheit stiftenden Akten.“182 Kategoriale Anschauung ist
dagegen gestufter Akt. Die kategoriale Anschauung fasst als der Akt, der die
sinnlichen Wahrnehmungsakte synthetisiert, kategoriale Gegenstände intuitiv auf.
Heidegger beschreibt die Auffassung der kategorialen Gegenstände als Abhebung des
Idealen aus der sinnlichen schlichten Wahrnehmung. „Diese Abhebung vollzieht sich
in neuen eigenen Akten der Explikation.“183
Die kategoriale Anschauung ist nach Husserl aber in sinnlichen Wahrnehmungen
fundiert, da die sinnlichen Inhalte wie auch die Teilintentionen, die in kategorialer
Synthesis gesetzt werden, aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen. Heidegger
zufolge verschärft Husserls Analyse der kategorialen Anschauung den Sinn des
Apriori. „Die Konsequenz dieser Entdeckung (kategorialer Anschauung) liegt darin,
dass dadurch die philosophische Forschung instand gesetzt wurde, das Apriori
schärfer zu fassen“.184 Das Allgemeine sowohl im Feld des Realen, wie zum Beispiel
Farbe, Materialität usw., als auch im Feld des Idealen, wie zum Beispiel Einheit,
Mehrheit und Beziehung, ist in der kategorialen Anschauung, in sinnlicher
Wahrnehmung fundiert, aufgefasst. Das heißt, das Allgemeine und das Ideale, das in
der kategorialen Anschauung direkt erfasst wird, ist schon in der sinnlichen
Wahrnehmung impliziert. Von der Lehre der kategorialen Anschauung ausgehend
entdeckt Heidegger, dass das Apriorische nicht so etwas ist wie transzendentale
Kategorien oder adäquate Ideen im Subjekt, die von der Wahrnehmung unabhängig
seien, sondern in sinnlicher Wahrnehmung fundiert, die in den Augen Heideggers auf
182 Heidegger, GA 20, S. 82. 183 Ebd., S. 85. 184 Ebd., S. 98.
72
das reale Leben verweist. Das Apriori ist „nicht nur nichts Immanentes, primär der
Subjektsphäre zugehörig, es ist auch nichts Transzendentes, spezifisch der Realität
verhaftetes.“ 185 Ihm zufolge liege das Apriori „strukturmäßig früher in realen
Erlebnissen“, da es „in den Sach- und Seinsgebieten gründet“186:
Eine grundsätzliche Hebung des apriorischen Feldes der Intentionalität wird als Aufschluß geben müssen: ersten über den exemplarischen Boden, das Feld der konkreten Vereinzelungen der Erlebnisse, aus dem heraus ihre Struktur der Intentionalität ideativ abgehoben werden soll; zweitens über die Art dieser Abhebung der apriorischen Strukturen aus diesem Vorfeld; drittens über den Charakter und die Seinsart dieser herausgehobenen Region als solcher.187
Nachdem Heidegger Husserls drei fundamentale Entdeckungen der Phänomenologie
lobend anspricht, unterzieht er die weitere Entwicklung seiner Phänomenologie, vor
allem in den Ideen I der Kritik, indem er sich mit der phänomenologischen Reduktion
und Husserls Bewusstseinsauffassung kritisch auseinandersetzt.
3.2 Heideggers Kritik an Husserls phänomenologischer Methode
Husserls entwickelt in den Ideen I die phänomenologische Reduktion, um die volle
Struktur der Intentionalität herauszuheben. Diese Methode bezeichnet er auch als
epoché, die seinen Endpunkt im absoluten Bewusstsein finde. Heidegger bringt nun
gegen Husserl zwei Haupteinwände vor: Der erste Einwand richtet sich gegen den
Ausgangpunkt der Epoché; der zweite gegen die Seinsbestimmung des Bewusstseins.
Beide Einwände weisen aber auf dieselbe Problematik hinaus: die Seinsvergessenheit
in Husserl Bestimmung des Seins des Intentionalen.
3.2.1 Kritik am Ausgangspunkt der Epoché
Der Mensch, so Husserl, sei in der natürlichen Einstellung „ein reales Objekt wie
185 Heidegger, GA 20, S. 101. 186 Ebd. 187 Ebd., S. 130.
73
andere in der natürlichen Welt“ 188 und vollziehe intentionale Akte, die auch
„Vorkommnisse derselben natürlichen Wirklichkeit“189 seien. In reflexiven Akten
werden die intentionalen Akte aber selbst Gegenstand der Reflexion. In diesem Fall
gehören die intentionalen unreflexiven Akte und die Reflexion zu ein und derselben
Seinssphäre und sind gegenseitig immanent. „Immanenz hat hier den Sinn des reellen
Zusammenseins des Reflektierten und der Reflexion.“190 In der Reflexion ist nach
Husserl die transzendente und reale Welt auszuschalten. Heidegger interpretiert diese
Ausschaltung als das Nicht-Mitmachen der Thesis der Welt. „Dieses
Nicht-Mitmachen der Thesis der materiellen Welt und jeder transzendenten Welt wird
als epoché, Sichenthalten, bezeichnet.“191 So versteht er Husserls epoché, die auch
als Einklammerung bezeichnet wird.
Nach Heidegger betrachtet man in der Epoché den Stuhl, statt ihn einfach
wahrzunehmen, als wahrgenommenen, sozusagen im Akte des Wahrnehmens. Man
lebt nicht in der Wahrnehmung des Stuhls als solchem, sondern „in der Einstellung
der immanenten reflektiven Erfassung der Stuhlwahrnehmung.“ 192 So wird die
Realität des Bewusstseins im Sinne der menschlichen faktischen Existenz in der Welt
eingeklammert, damit der immanente Bewusstseinsbereich abgehoben wird. In seinen
Augen nimmt sich die phänomenologische Reduktion zur Aufgabe: „Aus dem in der
natürlichen Einstellung gegebenen faktischen, realen Bewusstsein ist das reine
Bewusstsein zu gewinnen.“193 Husserl versuche aber mit der phänomenologischen
Reduktion, „zunächst von der Realität abzusehen, um sie dann gerade als Realität
betrachten zu können, so wie sie sich im reinen Bewusstsein, das ich durch die
Reduktion gewinne, bekundet.“194 Das heißt, der Ausgangspunkt der Epoché sei
keineswegs eine natürliche Erfahrungsweise, sondern „eine ganz bestimmte
188 Hua III/1, S. 67. 189 Ebd. 190 Heidegger, GA 20, S. 132. 191 Ebd., S. 136. 192 Ebd., S. 135. 193 Ebd., S. 150. 194 Ebd.
74
theoretische Haltung, eine solche, für die alles Seiende a priori als gesetzlich
geregelter Ablauf von Vorkommnisssen im räumlich-zeitlichen Auseinander der Welt
gefasst wird.“195 Insofern ist in den Augen Heideggers der Ausgangspunkt der
Epoché widersprüchlich gegenüber ihrer Aufgabe. Dies sei darauf zurückzuführen,
dass Husserl nicht „nach dem Sein der Akte im Sinne ihrer Existenz“196 fragt. Die
Frage nach dem Sein des Intentionalen bleibe bei Husserl unerörtert.197
3.2.2 Kritik an der Seinsbestimmung des Bewusstseins
Die Epoché führt zum immanenten Bewusstseinsbereich, dem reinen Feld des
absoluten Bewusstseins. Die zweite Kritik Heideggers wendet sich an Husserls
Seinsbestimmung des Bewusstseins. Er stellt Husserls Formulierungen vom absoluten
Sein des Bewusstseins dabei wie folgt dar: das Bewusstsein sei absolutes Sein im
vierfachen Sinne: 1) dass es „immanent“ ist, das heißt, ein reelles Beschlossensein;198
2) dass es „als Absolutes gegeben“ ist; absolut in dem Sinne, dass „es die
Seinsvoraussetzung ist, aufgrund deren überhaupt Realität sich bekunden kann.“199 3)
dass es „für uns das Erste ist“: „Dieses erste Sein hat den Vorzug, dass es der Realität
nicht bedarf, sondern umgekehrt diese des ersten Seins.“200 4) dass es „rein“ ist,
sofern es als ideales, d.h. nicht reales Sein bestimmt ist und es als diese Region nicht
mehr in seiner konkreten Vereinzelung und in Anknüpfung an Lebewesen betrachtet
wird.201
Nach Heidegger gehe es in dieser Seinsbestimmung des Bewusstseins nicht um den
Seinscharakter des Intentionalen oder des Bewusstseins, sondern um die
Seinsbestimmung der Intentionalität. Und die Seinsbstimmung des Bewusstseins ist
195 Heidegger, GA 20, S. 155-156. 196 Ebd., S. 151. 197 Ebd., S. 157. 198 Vgl. Ebd., S. 142. 199 Ebd., S. 144. 200 Ebd. 201 Vgl. Ebd., S 145, 146.
75
nicht „im Hinblick auf das Intentionale in seinem Sein selbst gewonnen, sondern [...]
als erfasst, gegeben, konstituierend und ideierend gefasst als Wesen.“202 Dass Husserl
nicht nach dem Sein des Intentionalen fragt, liege daran, dass er die Frage nach dem
Seinssinn des Intentionalen und auch dem Seinscharakter des Bewusstseins nicht als
die primäre Frage erkennt. Heidegger sieht zwar, dass für Husserl das Leitmotiv der
Phänomenologie ist, das Bewusstsein als Region einer absoluten Wissenschaft zu
erschließen. Aber für Heidegger ist dessen Herausarbeitung des reinen Bewusstseins
als thematisches Feld der Phänomenologie nicht phänomenologisch im Rückgang auf
die „Sache selbst“ gewonnen, sondern im Rückgang auf eine traditionelle Idee der
Philosophie, die bereits seit Descartes die neuzeitliche Philosophie beschäftigt.203
3.2.3 Die Frage nach dem Seinssinn des Intentionalen
Husserl stehe, so Heidegger, mit den drei zuvor dargestellten Entdeckungen in den
Logischen Untersuchungen dem phänomenologischen Geist näher als in seiner
Entwicklung der Transzendentalphänomenologie. Denn in den Logischen
Untersuchungen bereitet er sich auf den Weg „zur Sache selbst“ vor, indem er den
phänomenologischen Boden im Feld der konkreten faktischen Erlebnisse findet. Aber
in der Entwicklung der Transzendentalphänomenologie seit den Ideen I ist dieser
Boden aus der Hand gegeben, auf dem einzig nach dem Sein des Intentionalen gefragt
werden könne.204 Für Heidegger setzt sich die phänomenologische Untersuchung zur
„Sache selbst“ immer mit der Frage nach dem Sein bzw. dem ursprünglichen Sein des
Intentionalen in Bewegung, und die Frage nach dem Sein des Intentionalen soll im
konkreten und faktischen Leben den Ausgang nehmen. Aber Husserl geht in den
entgegengesetzten Weg:
Nicht die individuelle Vereinzelung einer konkreten intentionalen Beziehung steht zur Verhandlung, sondern die intentionale Struktur überhaupt, nicht die Konkretion von Erlebnissen, sondern ihre Wesensstruktur, nicht das reale Erlebnis-Sein, sondern das ideale
202 Heidegger, GA 20, S 146. 203 Vgl. Ebd., S. 147. 204 Vgl. Ebd., S. 150.
76
Wesens-Sein des Bewusstseins selbst, das Apriori der Erlebnisse im Sinne des gattungsmäßigen Allgemeinen, das je eine Erlebnisklasse bzw. einen Erlebnisstrukturzusammenhang bestimmt.205
Nach Heidegger geht die Frage nach dem ursprünglichen Sein oder Seinssinn des
Intentionalen in der phänomenologischen Reduktion, die von der Konkretion sowie
von der jeweiligen Vereinzelung der Erlebnisse absieht und die theoretische
Einstellung sowie ideale Seinsbestimmung des Bewusstseins voraussetzt, verloren.
Das heißt, die Seinsfrage gerät in Vergessenheit und wird versäumt.
Aber hier lässt sich fragen, ob es in Husserls Phänomenologie um die Frage nach dem
Seinnsinn geht? Lässt sich die Seinsfrage überhaupt als Leitmotiv für Husserls
phänomenologische Studien auffassen? Ist die Freilegung des Seins des Bewusstseins
oder des Intentionalen notwendig im thematischen Feld der Phänomenologie als
absolute Wissenschaft? Für die ersten zwei Fragen hält Heidegger schon eine Antwort
bereit. Wie aufgezeigt wurde, sieht er selbst, dass das Leitmotiv der Phänomenologie
bei Husserl nicht in erster Linie die Seinsfrage, sondern die Auslegung des
Bewusstseins als Region einer absoluten Wissenschaft ist. Husserls Leitmotiv ist
jedoch in Heideggers Kritik nicht wirklich in Betracht gezogen. Die Gültigkeit der
Kritik entscheidet sich aber mit der dritten Frage. Für diese hat Heidegger sich aber
anscheinend überhaupt nicht interessiert. Daher ist es durchaus umstritten, ob die
Kritik an Husserls Versäumnis der Seinsfrage noch standhält.
3.3 Epoché, Seinsverfassung und Platonischer Idealismus
Obwohl Heideggers Kritik gegenüber Husserls Phänomenologie nicht völlig
zutreffend ist, eröffnet sie doch ein Spannungsfeld, in welchem sich Heideggers
Auffassung des Seinssinns gegen die metaphysische Seinsinterpretation, die in
Husserls Transzendentalphilosophie übernommen wird, richtet. Dieses Spannungsfeld
205 Heidegger, GA 20, S 146.
77
entfaltet sich jedoch in der phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die Husserl
durch die Epoché erreicht. So erhalten wir eine weitere Perspektive, um die
Divergenz zwischen Husserl und Heidegger noch genauer zu betrachten. Im
Folgenden wird zunächst erneut die Epoché betrachtet, um Husserls reduktive
Methode sowie ihren Zusammenhang mit der Seinsfrage kurz ins Auge zu fassen.
3.3.1 Epoché ermöglicht Weltphänomen und Ontologie
Heidegger Vorwurf ist, dass von der Realität der Welt in der Epoché abgesehen wird.
An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass Husserl die Gefahr bereits
geahnt hat, dass die Rede von der Ausschaltung der realen Welt zu einem
Missverständnis führen könnte, nämlich dass das Thema des Daseins der realen Welt
von der Phänomenologie ausgeschlossen würde. Deshalb betont er in verschiedenen
Texten stets, dass das Thema des Seins der Welt nicht von der phänomenologischen
Sphäre ausgetrieben wird.
Die Welt ist nicht verloren gegangen durch die Epoché, sie ist nicht überhaupt Enthaltung hinsichtlich des Seins der Welt und jedes Urteils über sie, sondern sie ist der Weg der Aufdeckung der Korrelationsurteile, der Reduktion aller Seinseinheiten auf mich selbst und meine sinnhabende und sinngebende Subjektivität mit ihren Vermöglichkeiten.206
Die reale Welt bleibe in der Epoché als das Korrelat des transzendentalen Subjektes
immer noch im Horizont der Phänomenologie, und gerade auf diese Weise wird sie
als empirische Transzendentalwissenschaft von Husserl benannt.207 Zahavi weist
darauf hin, dass die sogenannte Ausschaltung der Welt in der Epoché eine
206 Hua XV, S. 366. 207 Vgl. Hua VIII, S. 432. Husserl schreibt: „Zunächst ist die Rede von phänomenologischen „Residuum“ besser zu meiden, wie auch die von der „Ausschaltung der Welt“. Sie verführt leicht zu der Meinung, dass die Welt nunmehr aus dem phänomenologischen Thema herausfällt und stattdessen nur die „subjektiven“ Akte, Erscheinungsweisen etc., die sich auf die Welt beziehen, thematisiert würden. In gewisser, wohlverstandenen Weise ist das richtig. Aber wenn die universale Subjektivität in ihrer vollen Universalität, und zwar als transzendentale, in rechtmäßige Geltung gesetzt wird, so liegt in ihr auf der Korrelat-Seite als rechtmäßig seiend die Welt selbst, nach allem, was sie in Wahrheit ist: eine universale transzendentale Forschung umspannt also in ihrem Thema auch die Welt selbst [...] als empirische Transzendentalwissenschaft alle Tatsachenwissenschaften von der faktischen Welt.“
78
Verwerfung oder Neutralisation der dogmatischen Einstellung zur Realität bedeutet,
so dass wir uns direkt auf das phänomenologisch Gegebene fokussieren können.208
Hopkins sieht auch, dass Epoché eine ontologisch neutrale Dimension schafft, die
„über alle ontologischen Bestimmungen [...] irgendeines anderen Phänomens
transzendiert“.209
Tugendhat führt ein noch treffendere Analytik über Heideggers Fehlinterpretation
über die Weltausschaltung in der Epoché durch, darauf hinweisend, dass die Welt, die
in der Epoché eingeklammert ist, nur die „einstimmig setzbare“ und „objektive
Welt“ sei. Nur mit der Ausschaltung dieser naiv gesetzten, vom Setzen scheinbar
unabhängigen Welt kann gerade die Welt als „Phänomen“ sich erschließen, das
wesensmäßiges Korrelat der Subjektivität ist, und zugleich die Subjektivität, die
ego-cogito-cogitatum wesensmäßig auf diese Welt als Phänomen bezogen ist.210 Das
heißt, erst durch die Epoché steht die Welt oder stehen die Gegenstände als das bloß
gegebene Phänomen den phänomenologischen Forschungen zur Verfügung. Diese
Methode ist auch für das Herausarbeiten des In-der-Welt-seins notwendig. Die
Weltmäßigkeit des Daseins als des In-der-Welt-seins, die Heidegger immer wieder
unterstreicht, bezieht sich ebenso nicht auf eine reale Welt, sondern auf die Welt als
Phänomen. Die Welt zum Phänomen zu bringen ist aber nur durch Epoché möglich.
Heidegger selbst spricht nur wenig darüber, wie Husserls phänomenologischer Ansatz
zu seinem Projekt der Ontologie beiträgt. Nach Caputos Sicht setze Heideggers
Epoché als seine Methode in Sein und Zeit an. Das Sein bei Heidegger sei als Wie des
Gegebensein, das erst durch Einklammerung der naturalistischen Einstellung eröffnet
wird, zu verstehen. 211 Mearleau Ponty verweist in der Phänomenologie der
Wahrnehmung darauf, dass die ganze Ausführung des In-der-Welt-seins nur auf dem
208 Dan Zahavi, Husserls Phenomenology, S. 45. 209 Burt C. Hopkins, Intentionality in Husserl and Heidegger, 1993, S. 8. 210 Vgl. Tugendhat, 1970, S. 263. 211 Vgl. John. D. Caputo, The Question of Being and Transcendental Phenomenology: reflextions on Heidegger´s Relationship to Husserl, in: Research in Phenomenology 7, 1977, S. 89-91.
79
Hintergrund der phänomenologischen Reduktion möglich sei.212 Nach Tugendhat
gewinnt Heidegger erst durch Epoché die phänomenologische Sphäre für die
Seinsfrage. „Heidegger benötigt die Epoché nicht mehr, um in die Dimension der
Gegebenheitsweisen zu gelangen, weil er, nachdem sie von Husserl eröffnet wurde,
von vornherein in ihr steht“.213 Heideggers phänomenologische Ontologie sei nach
Tugendhat dadurch charakterisiert, dass „sie nach dem möglichen Sinn von Sein
überhaupt erst fragt“.214 Und sie setzt sich erst ins Spiel, wenn „ihr im Wie des
Gegebenseins ein Bereich vorgegeben ist, in den sie hineinfragen kann.“215 In diesem
Sinn sagt auch Heidegger selbst: „Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich.”216
Zur hier gemeinten Phänomenologie gehört auch Epoché.
In der phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die durch die Epoché erreicht
wird, fasst sich das Sein als Wie des Gegebenseins. In dieser Thematik erkennt
Heidegger die Möglichkeit einer Erschließung des Seinssinns und einer Ontologie im
ursprünglichen Sinne. Aber für das ontologische Projekt interessiert sich Husserl nicht.
Vielmehr bemüht er ich, im erkenntnistheoretischen Ausgang das Wie des
Gegebenseins des Gegenstandes durch die Konstitution des phänomenologischen
Subjektes zu erklären, wobei er das Sein des Gegebenen am Objektsein orientiert und
das Sein des Bewusstsein als ideal gegebenes Wesen bestimmt. An dieser Stelle
distanziert sich Heidegger von Husserl.
Wie oben dargestellt wurde, richten sich Heideggers Einwände hauptsächlich gegen
die Annahme der theoretischen Einstellung als Ausgang der Epoché und gegen die
Seinsbestimmung des absoluten Bewusstseins. Ihm zufolge zeichnet sich die
theoretische Einstellung im Grunde durch die Objektivierung des Gegebenen aus, d.h.
durch die objektivierende Seinssetzung des Gegebenen. Gleichwohl ist bei Husserl
212 Vgl. Merleau Ponty, Phenomenology of Perception, 2002, xiv 213 Tugendhat, 1970, S. 263. 214 Ebd., S. 267. 215 Ebd. 216 Heideger, GA 2, S. 48.
80
das absolute Bewusstein als konstituierendes und ideales Wesen wie ein Objekt
vorgestellt.217 In den Augen Heideggers ist solche objektivierende Seinssetzung eine
willkürliche Seinsbestimmung, die das Sein des Seienden als Vorhandenheit218, mit
anderen Worten als beständige Anwesenheit bestimmt, ohne nach dem Sinn von Sein
überhaupt zu fragen. Ihm zufolge ist die theoretische Einstellung und die
Seinsbestimmung des Bewusstseins das Charakteristische der
Transzendentalphänomenologie, welche die willkürliche Seinsbestimmung der
beständigen Anwesenheit vom Platonischen Idealismus übernimmt und so die
Seinsfrage versäumt. Daher nimmt sich Heidegger zur Aufgabe, die Seinsverfassung
aus den Platonischen Anfängen durch phänomenologische Destruktion zu beziehen
und den Sinn von Sein zu erschließen.
3.3.2 Platonischer Idealismus und Transzendentalphilosophie
Die Seinsvergessenheit der Transzendentalphilosophie wurzelt gemäß Heidegger in
der Altgriechischen Philosophie, bzw. in Platos Lehre von den Ideen, die als der
Anfang der westlichen metaphysischen Tradition anzusehen sei.219 Ersichtlich ist der
innere Zusammenhang zwischen der Seinsfrage und der ontologischen Destruktion,
durch die Heidegger die Seinsvergessenheit im Rückgang auf die Altgriechischen
Anfänge der westlichen Philosophie herauszustellen und abzubauen versucht, um so
den Sinn des Seins erneut in Frage zu stellen. In Heideggers Destruktion der
metaphysischen Seinslehre werden eine Reihe großer Philosophen, einschließlich
217 Vgl. Heidegger, GA 20, S. 146. 218 Im Wintersemester 1920/1921 und im Sommersemester 1923 sowie im Wintersemester 1925/1926 hält Husserl die Vorlesung mit dem Titel Grundzüge der Logik. Diese Vorlesung ist erst in den Analysen zur passiven Synthesis 1966 herausgegeben. In dieser Vorlesung führt Husserl schon die erste genetische Analyse der Intentionalität in Rahmen der Untersuchungen zum Zeitbewusstsein aus. In der neuen genetischen Intentionalitätsstruktur wird der intentionale Gegenstand nicht mehr als vorhandenes Gegenständliches betrachtet, sondern der intentionale Gegenstand ist als das immanente Zeitobjekt zu betrachten, das von dem Zeitbewusstsein als dem kontinuierlichen Fluss von Urimpression, Protention und Retention konstituiert wird. Daniel Dahlstrom meint, dass Heidegger zu dieser Zeit sehr wahrscheinlich schon zu diesen unveröffentlichten Vorlesungen Husserls Zugang hatte. (Vgl. Dahlstrom, 1994, 111) 219 Jeffrey Andrew Barash, Heidegger´s Ontological “Destruktion“ of Western Intellectual Traditions, in: Reading Heidegger from the Start, Theodore Kisiel und John van Buren (Hrsg.), New York, 1994, S. 117.
81
Kant und Husserl, einer Kritik unterzogen. Den Zusammenhang zwischen
Transzendentalphilsophie und Seinsvergessenheit benennt Heidegger in den 20er
Jahren jedoch nur selten. Erst in den Beträgen zur Philosophie bringt Heidegger
diesen Zusammenhang im Rahmen seiner Analytik des Platonischen Idealismus zum
Ausdruck.
In den Beiträgen zur Philosophie setzt Heidegger sich mit dem Idealismus in Platos
Lehre von den Ideen auseinander. Er interpretiert ἰδἐα bei Plato als das Sein des
Seienden, genauer, als die Seiendheit des Seienden, die zuerst als einheitliche und
beständige Anwesenheit zu erfassen ist.220 Das Seiende bei Plato zeige sich immer in
Hinsicht auf das beständige Aussehen, die ἰδἐα, die alle verschiedenen und sich
ändernden Situationen transzendiert und selbst unverändert bleibt. Neben der
Bedeutung der beständigen Anwesenheit ist nach Heidegger in der Konzeption der
ἰδἐα noch eine weitere Bedeutung herauszuheben, nämlich das Apriori.
Das Apriori eigentlich erst da, wo ἰδἐα, und damit gesagt, dass die Seiendenheit als ὂντως ὂν seiender und damit zuerst seiend ist. [...] Das Apriori meint immer künftig in der Metaphysik, eintsprechend deren Ansatz bei Plato, die Vorgängigkeit der Seiendheit vor dem Seienden. [...] Das Apiroi wandelt sich mit der ἰδἐα zur perceptio, d.h. das Apriori wird dem ego percipio und damit dem „Subjekt“ zugewiesen; Es kommt zur Vorgängigkeit des Vor-stellens.221
Platos Konzeption von ἰδἐα sei als die Urform des Idealismus zu verstehen und
gründe als die erste Seinsinterpretation alle Seinslehre und Metaphysik in der
westlichen Tradition. Bei der Seinsinterpretation handelt es sich um die
Doppelbedeutung von ἰδἐα. Auf der einen Seite ist ἰδἐα als Sein des Seienden, als die
beständige Anweseheit im Aussehen angenommen. Auf der anderen Seite versteht
sich ἰδἐα als die „Vorgängigkeit der Seiendheit vor dem Seienden“, die sich zur
„Vorgängigkeit des Vor-stellens“ im Subjekt wandelt. In Heideggers Interpretation
wird die Doppelbedeutung von ἰδἐα jeweils erweitert zur „Vorgestelltheit als
220 Vgl. Heidegger, GA 65, Beiträge zur Philosophie, S. 208-220. 221 Ebd., S. 222-223.
82
Gegenständlichkeit“ und zur „Selbstgewißheit als Grund der Gegenständlichkeit“222,
die selbst jedoch auch als vorgestellte Gegenständlichkeit aufzufassen und somit auch
als beständiges Anwesendes zu betrachten sei. Aus diesen zwei Bedeutungen von ἰδἐα
stammen ihm zufolge Husserls jeweilige Seinsbestimmungen des konstituierten
Gegebenen und des Konstituierenden, des transzendentalen Subjektes. Das heißt,
Husserls transzendentales Denken sei verwurzelt im platonischen Idealismus.
Platos Seinsinterpretation der ἰδἐα sei nach Heidegger im Grunde genommen die
willkürliche Seinsbestimmung als beständige Anwesenheit. Und in dieser
Seinsbestimmung verwurzelt sei die Metaphysik und Ontologie der westlichen
Tradition. Da die Platonische Seinsverfassung das Sein als Seiendheit, als beständige
Anwesenheit bestimmt, statt nach dem Sinn von Sein selbst zu fragen, sei für
Heidegger solche Seinsverfassung durch Seinsvergessenheit charakterisiert und die
Wurzel der Seinsvergessenheit der ganzen metaphyisischen Traditon in der
westlichen Philosophie, einschließlich der Transzendentalphilosophie.
Mit Blick auf die Seinsinterpretation behandelt Heidegger die
Transzendentalphilosophie als Metaphysik bzw. als traditionelle Ontologie, die durch
Destruktion abzubauen sei. Otto Pöggeler zufolge versucht Heidegger in Sein und Zeit
zu zeigen, wie der Boden der Transzendentalphilosophie einbricht und der Abgrund
der Metaphysik in den Blick gerät.223 Erst durch „die am Leitfaden der Seinsfrage
sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf
die ursprüngliche Erfahrungen“ 224 sei die Ontologie im ursprünglichen Sinne
möglich. Diese sei nach Heidegger primär aus der ursprünglichen Lebenserfahrung
her zu deuten.
222 Heidegger, GA 65, S. 215. 223 Vgl. Otto Pöggeler, 1983, S. 96-97. 224 Heidegger, GA 2, S. 30.
83
3.4 „Transzendentales Subjekt“ und Heideggers Bruch mit Husserl
Da die Transzendentalphilosophie für Heidegger aufgrund ihrer Seinsvergessenheit
einer ursprünglichen Seinsinterpretation entgegensteht, mutet es widersprüchlich an,
zu sagen, es gehe im Denken Heideggers um das Transzendentale. Dennoch wird oft
über Heideggers transzendentales Denken gesprochen. Dahlstrom bezeichnet
Heideggers Denken als ein Transzendentalismus des Daseins.225 Caputo wiederum
fasst Sein und Zeit als ein Werk der Transzendentalphänomenologie auf. In seiner
Interpretation wird dort nach dem Sein des Daseins gefragt als dasjenige, welches das
Sein des innerweltlichen Seienden möglich macht. Insofern wird auch in Sein und Zeit
eine Reduktion auf das transzendentale Subjekt vollzogen, wenn auch in Heideggers
Version. 226 Auch gemäß Seeburger handelt es sich um eine Untersuchung der
transzendentalen Subjektivität, wobei Dasein als das transzendentale Subjekt das Sein
des innerweltlich Seienden durch den Weltzusammenhang bestimme.
Es ist jedoch offensichtlich, dass das transzendentale Subjekt bei Heidegger etwas
Anderes meint als bei Husserl. Caputo weist darauf hin, dass Heideggers Version des
transzendentalen Subjekts im Vergleich zu Husserls als „radikalerweise auf die Welt
richtend“ bestimmt werden muss. Seeburger unterstreicht den Unterschied zwischen
Husserlscher und Heideggerscher transzendentaler Subjektivität, indem er aufzeigt,
wie Dasein als transzendentales Subjekt kein absolutes und von der Welt
unabhängiges Bewusstsein, sondern In-der-Welt-sein ist. 227 Im Vergleich zum
transzendentalen Bewusstsein, das als das von der Welt unabhängige und ideale
Wesen anzusehen sei, ist Dasein aus seiner faktischen Existenz, d.h. aus seinen realen
Verhältnissen zur Welt her zu verstehen. Das Sein des anderen Seienden ist durch das
Verhältnis zwischen Dasein und Umwelt, zu Mitmenschen, sowie zu ihm selbst
225 Vgl. Dahlstrom, Heidegger´s Transzendentalism, 2005, S. 51. 226 Vgl. Caputo, The Question of Being and Transcendental Phenomenology: reflextions on Heidegger´s Relationship to Husserl, in: Research in Phenomenology 7, 1977, S. 100. 227 Vgl. Fransis F. Seeburger, Heidegger and the Phenomenological Reduction, in: Philosophy and Phenomenological Research 36, 1975, S. 213.
84
bestimmt.228 Dies macht den transzendentalen Sinn des Daseins aus.
Die oben dargestellte Differenzierung des transzendentalen Subjektes bei Husserl und
Heidegger ist jedoch nur gemäß seiner inhaltlichen Bestimmung verfasst und betrifft
nicht dessen innere Struktur, auch nicht das Leitmotiv beider Philosophen, welches
erst entscheidet, in welchem Fragekontext ihre jeweilige Bezugnahme auf das
„transzendentale Subjekt“ steht. Die folgende Darlegung fokussiert nicht auf eine
umfangreiche Analytik des Transzendentalismus bei Husserl und Heidegger, sondern
wirft einen Blick auf die innere Struktur des transzendentalen Subjektes bei Husserl
und Heidegger, und zeigt das Leitmotiv für ihren transzendentalen Aufbau auf.
Zunächst muss aber darauf hingewiesen werden, dass die folgende Darlegung
voraussetzt, dass die jeweiligen transzendentalen Subjekte, nämlich absolutes
Bewusstsein und Dasein, das in Sein und Zeit als Ersatzbegriff für das faktische
Leben fungiert, ihrer Transzendentalfunktion nach entlang der Konstitutions- oder
Gegebenheitsmodellen bei Husserl und Heidegger aufzufassen sind. Diese These ist
hier zunächst eine Hypothese, da erst geprüft werden muss, ob Heidegger im Begriff
des Daseins das Gegebenheitsmodell einsetzt. Dieser Prüfung ist das nächste Kapitel
gewidmet. Im Hinblick auf die innere Struktur der Modelle sowie auf das Leitmotiv
für dessen Aufbau ist eine Perspektive zu gewinnen, welche die grundliegende
Divergenz zwischen den Transzendentalauffassungen bei Husserl und Heidegger
verdeutlicht.
3.4.1 Innere Struktur der Gegebenheitsmodelle
Im Gegebenheitsmodell Husserls wird das Gegenständliche im immanenten
Bewusstseinsbereich, der durch die Einklammerung der ontologischen
Seinssetzungen der realen Welt gesichert wird, vom transzendentalen Bewusstsein
228 Vgl. Fransis F. Seeburger, 1975, S. 221; Vgl. Rudolf Bernet, Husserl and Heidegger on Intentionality an Being, in: Journal of the Britisch Society for Phenomenology 21, 1990, S. 145-147.
85
konstituiert, d.h. sich selbst gegeben. Das Gegebenheitsmodell ist hier ein
Konstitutionsmodell. Heideggers Gegebenheitsmodell manifestiert sich im
Lebensvollzug oder in der sich geschichtlich vollziehenden Sinnerschlossenheit des
faktischen Lebens, das in Sein und Zeit unter der Bezeichnung des Daseins ausgeführt
wird. Von außen gesehen fungiert das Dasein auch als transzendentales Subjekt, da es
das Sein, genauer gesagt das Gegebensein des anderen Seienden ermöglicht. Jedoch
unterscheidet sich die innere Struktur des Daseins, genauer gesagt des
Gegebenheitsmodells des Daseins, von der bei Husserl.
Wie zuvor aufgezeigt wurde, unterzieht Heidegger die Bewusstseinskonstitution bei
Natorp einer Kritik, wobei das Gegebenheitsmodell Husserls als der eigentliche
Adressat dieser Kritik anzusehen ist. Heidegger zeigt auf, dass das Bewusstsein in
Natorps Modell als die letzte Gesetzlichkeit den Erlebniszusammenhang, d.h. den
logischen Ordnungszusammenhang, konstituiert. Er betont, dass für Natorp die
Konstitution im Bereich des Bewusstseins oder in der Icheinheit stattfindet, und dass
jede einzelne Konstitution dem Ich bewusst und insofern Vorkommnis ist. Daher ist
Bewusstseinskonstitution als Selbstkonstitution des Ich, nämlich des Subjektes zu
begreifen. Dies charakterisiere die transzendentale Subjektivität.
In den frühen Freiburger Vorlesungen erarbeitet Heidegger bereits sein eigenes
Gegebenheitsmodell, von Husserls Ansatz ausgehend, aber in Annährung an Diltheys
Lebensphilosophie. Statt vom Bewusstsein spricht Heidegger nun vom faktischen
Leben. Das faktische Leben ist kein letzter Grund, sondern geschichtlicher und
dynamischer Lebensvollzug, also die Konstitution selbst, die weder objektiviert noch
als Vorkommnis bewusst werden kann. Obwohl das Gegebenheitsmodell in den 30er
Jahren von Husserl auch genetisch entwickelt wird, betrifft aber das „Genetische oder
Kinetische [...] den durchsichtigen Aufbau der Dinge.“ 229 In Heideggers
Gegebenheitsmodell handelt es sich jedoch nicht um eine durchsichtige
229 Günter Figal, Phänomenologie und Ontologie, in: Heidegger und Husserl: Neue Perspektiven, 2009, S. 16.
86
Sinnkonstitution, sondern im Gegenteil um einen undurchsichtigen Lebensvollzug
oder eine „nicht mehr bewusst erlebte Offenheit“230. Hierin unterscheidet sich Dasein
als „transzendentales Subjekt“ bei Heidegger von dem transzendentalen Bewusstsein
bei Husserl, in dessen immanentem Bereich die Sinnkonstitution letztgründet, nicht
bloß durch seine Weltmäßigkeit, sondern vielmehr durch die innere Struktur seines
Gegebenheitsmodells, für die das Grundlossein sowie die Undurchsichtigkeit des
Lebensvollzugs kennzeichnend ist.
3.4.2 Leitmotive des Aufbaus des Gegebenheitsmodells
Husserls Leitmotiv im Aufbau des Gegebenheitsmodells besteht darin, Evidenz als
Selbstgegebenheit in der Region des absoluten Bewusstseins herauszuarbeiten und die
Objektivität der Erkenntnis durch die transzendentale Konstitution zu rechtfertigen.
Wie Landgrebe meint, ist die Selbstkonstitution des Ich bei Husserl nicht anders zu
begreifen als das Grundmodell aller Konstitution von gegenständlicher Einheit. Dies
ist aus „der schon vielbemerkten Tatsache“ zu verstehen, dass für Husserl „Sein“ das
Gegenständlich-Sein für ein darauf gerichtetes Vorstellen bedeutet. Dabei bedeutet
das absolute Selbstsein des Ich für Husserl nichts anderes als die in der
phänomenologischen Reflexion gegenständlich vorgestellte Beständigkeit des Ich als
Vollzugspol seiner Akte und der letzte Grund der Konstitution.231
Im Gegensatz dazu wird bei Heidegger eher die Konstitution, mit seinen eigenen
Worten, der Lebensvollzug selbst zum Thema seines transzendentalen Denkens. In
seinen Augen, wie Manfred Brelage aufzeigt, liege das Versäumnis der bisherigen
Transzendentalphilosophie gerade darin, „ein Subjekt in Ansatz gebracht zu haben,
ohne den Grund mitzudenken, der es in seinem Subjektsein ermöglicht.“232 Den das
Subjektsein ermöglichenden Grund erkennt Heidegger als die Konstitution selbst und
230 Martina Roesner, Zwischen transzendentaler Genese und faktischer Existenz. Konfigurationen des Lebensbegriffs bei Natorp, Husserl und Heidegger, in: Husserl Studie 28, 2012, S. 78. 231 Vgl. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, 1963, S. 192, 198. 232 Manfred Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie, 1965, S. 206.
87
macht diese zum Thema seiner phänomenologischen Untersuchungen. Wie oben
aufgezeigt wurde, versteht diese Konstitution sich, anders als bei Husserl, als den
unbewussten und grundlosen Lebensvollzug. Die Differenzierung der Leitmotive des
transzendentalen Aufbaus bei Husserl und Heidegger eröffnet jenes Spannungsfeld,
innerhalb dessen Heidegger sich gegen Husserl ausspricht und dessen Versäumnis,
die Frage nach dem Grund des Subjektseins sowie auch des Objektseins zu stellen, als
das Versäumnis der Frage nach dem Seinssinn interpretiert, das aus der Platonischen
Tradition in Husserls Denken überliefert sei. Die Untersuchung der Seinsfrage macht
eben sein ontologisches Projekt aus. Insofern unterscheidet sich Heideggers
„transzendentales Subjekt“ (Dasein oder Leben) von dem Husserls, das
transzendentale Subjekt, nicht nur durch dessen innere Struktur, sondern im Grunde
auch dadurch, dass dieses bei Heidegger umwillen der Erschließung des
ursprünglichen Seinssinns in Frage steht, während die ontologische Thematik bei
Husserl gar nicht thematisiert wird. Bemerkenswert ist, dass die Frage nach dem
Seinssinn bei Heidegger in Grunde mit der Thematik des Lebensvollzugs in Rahmen
der Gegebenheitsthematik verbunden ist.
3.5 Heideggers ontologisches Projekt und Marions Rekonstruktion
Heideggers Projekt der Ontologie entfaltet sich zunächst mit der Ausarbeitung der
Frage nach dem Sinn des Seins durch die Analytik des Seinssinnes des Daseins.
Dieses Seiende, das wir selbst sind und das uns in Hinsicht des Gegebenseins das Fernste ist, soll phänomenologisch bestimmt, zum Phänomen gebracht werden, d.h. so erfahren werden, dass es sich an ihm selbst zeigt, so dass wir aus dieser phänomenalen Gegebenheit des Daseins gewisse Grundstrukturen herausholen, die hinreichend sind, um die konkrete Frage nach dem Sein als durchsichtige zu vollziehen.233
Der in der Prolegomena-Vorlesung skizzierte Plan einer Vorbereitung sowie
Ausarbeitung der Seinsfrage in der Analytik der Grundstruktur des Daseins, wird in
233 Heidegger, GA 20, S. 202.
88
Sein und Zeit durchgeführt. Aber hier muss Heideggers Argumentation noch präziser
betrachtet werden. Heidegger meint, dass die Daseinsanalytik der Seinsfrage und die
phänomenologische Bestimmung des Seienden der Daseinsanalytik vorhausgehen.
Hier nimmt sich die phänomenologische Bestimmung des Seienden als die
Seinsbestimmung dieses Seienden an. So ergibt sich die Frage: Wie kann Heidegger
sicherstellen, dass die Seinsbestimmung des Seienden und die darauf basierende
Daseinsanalytik zur ursprünglichen Seinsverfassung führt?
Müsste es sich nicht gerade so darstellen, dass Heidegger zunächst ein gewisses
Verständnis des Seinssinns bereits herausarbeite, und von diesem ausgehend dann das
Sein des Seienden bestimmen kann? Hierfür liefert Orlando Pugliese einige
Argumente. Den formalen Aufbau von Sein und Zeit erklärt er derart, dass „das
Verhältnis zwischen Ausarbeitung der Seinsfrage und Frage nach der menschlichen
Seinsart umgekehrt (sei) zu dem, was der formale Aufbau der Gesamtuntersuchung
und die Methode selbst annehmen lässt.“234 Das heißt, dass die Fragestellung der
Seinsfrage durch „die Analyse der Seinsart des menschlich Seienden vorbereitet und
methodisch angefangen werden muss, liegt nur darin (begründet), dass zuallererst das
Seiende dieser Seinsart den Sinn von Sein überhaupt erschließt.235 Dieses Argument
kann noch gestärkt werden dadurch, dass Heidegger ein bestimmtes Vorverständnis
des ursprünglichen Seinssinns bereits in die Erörterung einbringt, nach der das Sein
des Daseins als In-der-Welt-Sein und nicht auf irgendeine andere Art bestimmt ist,
und so die Seinsfrage in der ontologischen Analytik des Daseins ausgearbeitet werden
kann. Dann ist aber zu fragen, was dieses bestimmte Vorverständnis vom
ursprünglichen Seinssinn bei Heidegger auszeichnet.
234 Orlando Pugliese, 1986, S. 95. 235 Vgl. Ebd.
89
3.5.1 Heideggers Thematik des Lebensvollzugs und das Vorverständnis des
ursprünglichen Seinssinns
In der Marburger Vorlesung des Wintersemesters 1923/1924, Einführung in die
phänomenologische Forschung, wirft Heidegger die Aufgabe der Phänomenologie,
das „Leben selbst in seinem eigentlichen Sein zu verstehen und die Frage nach seinem
Seinscharakter zu beantworten“236, erneut auf. Somit ist herauszustellen, dass der
eigentliche Seinssinn des Lebens sich auf dessen Seinscharakter bezieht. Aus der
Marburger Vorlesung wird ersichtlich, dass sich Heideggers Destruktion wandelt, von
der Destruktion auf den ursprünglichen Vollzugssinn in den Freiburger Anfängen, hin
zur Destruktion auf den ursprünglichen Seinssinn. Aber diese ursprüngliche
Seinsverfassung ist immer noch aus dem faktischen Lebens her zu deuten.
Martina Roesner legt den Grundcharakter des faktischen Lebens bei Heidegger so dar,
dass es bei der Bestimmung der Bedeutung des faktischen Lebens nicht um ein
extensional erfassbares Was, sondern „um ein intensionales Wie gehe, das auch die
bereits konstituierten, scheinbar verfestigten Sinngebilde aus der entfremdeten
Veräußerlichung und Objektivierung wieder in die Ursprungsdynamik des Lebens
zurückzunehmen vermag.“237 Die Ursprungsdynamik als der Ursprung des Lebens
verweigert alle Gehaltmäßigen und gegenständlichen Seinsbestimmungen, und dies
ist laut Roesner auf Heideggers „Radikalisierung des Phänomens der
Ursprünglichkeit“ zurückzuführen, durch die er für die Verfassung des faktischen
Lebens „ein Synonym des Nichts“ gewinnt, „von dessen negativer Bedeutung als
schlechthinniges Nicht-Etwas es so gut wie nichts und zugleich doch alles trennt,
nämlich dessen positive Fassung im Sinne grundlos-unumschränkter
Beweglichkeit.“238
236 Heidegger, GA 17, S. 275. 237 Martina Roesner, 2012, S. 75.238 Ebd. S. 79.
90
„Ursprungsdynamik“ oder „grundlos-unumschränkte Beweglichkeit“, die sich auf das
Charakteristikum des Vollzugs des Lebens bezieht, ist die Bezeichnung des
ursprünglichen Grundcharakters des Lebensvollzugs. 239 Jedoch macht die
„Ursprungsdynamik“ nicht den vollen Sinn des Grundcharakters des Lebens aus. Der
volle Sinn des Grundcharakters des Lebens umspannt Geschichtlichkeit und
Rätselhaftigkeit oder Undurchsichtigkeit. Die Anweisung auf Rätselhaftigkeit hier hat
nichts mit irrationalistischer Haltung oder mit Mystizismus zu tun, sondern bezieht
sich auf den entscheidenden Einsatz, welcher der Annäherung an die tiefere
Ursprünglichkeit des Lebens zugrunde liegt. Der Grundcharakter des Lebens ist daher
in vollem Maß als Ursprungsdynamik oder Beweglichkeit, die geschichtlich und
rätselhaft ist, aufzufassen.
Ist dieses Verstehen des Grundcharakters des Lebensvollzugs als der Seinssinn und
als Seinscharakter des Lebens anzusehen? Geht dieses über ein bloßes Vorverständnis
vom ursprünglichen Seinssinn hinaus? Für diese Identifikationen muss zunächst die
Frage geklärt werden, wie sich Heideggers Fassung des Grundcharakters des
Lebensvollzugs in sein gesamtes Projekt der Ontologie einfügt. In dieser Frage gibt
Jean-Luc Marions Interpretation über Heideggers Aufbau seines ontologischen
Projekts aus dem Ansatz der phänomenologischen Reduktion Husserls heraus
Aufschluss.
3.5.2 Marions Interpretation der Gegebenheitsthematik bei Heidegger Marion liefert uns eine scharfsinnige Analytik über Husserls und Heideggers
unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der phänomenologischen Reduktion für
die Entwicklung ihrer jeweiligen zentralen Thematik. Für Husserl ist die
phänomenologische Reduktion „die Methode der Rückführung des
phänomenologischen Blickes von der natürlichen Einstellung des in der Welt der
239 Hier ist anzumerken: „Ursprungsdynamik“ oder die „grundlos-unumschränkte Beweglichkeit“ ist als keine gegenständliche und gehaltmäßige Seinsbestimmung von etwas Substanziellem zu verstehen, sondern sie drücken nur den Grundcharakter des nicht objektivierbaren Lebensvollzugs aus.
91
Dinge und Personen hineinlebenden Menschen auf das transzendentale
Bewusstseinsleben und dessen noetisch-noematische Erlebnisse in denen sich die
Objekte als Bewusstseinskorrelate konstituieren.“ 240 Das heißt, die
phänomenologische Reduktion fungiert bei Husserl als die Methode, um die Welt der
Gegenstände als reale und transzendente Welt in natürlicher Einstellung zu einem
reinen Phänomen in der absoluten Region des konstituierenden Bewusstseins zu
machen, und so die evidente Selbstgegebenheit zu gewinnen. Für ihn ist das
reduzierte Phänomen in seiner evidenten Präsenz als Korrelat des Bewusstseins zu
nehmen, nicht aber als ein Seiendes.241 Im Vergleich dazu ist die Rolle der Reduktion
bei Heidegger gerade, die Bestimmung des Seins des Seienden zu ermöglichen.
Die Einklammerung des Seienden nimmt am Seienden selbst nicht vor, sie besagt auch nicht annehmen, dass das Seiende nicht sei, sondern diese Umschaltung des Blickes hat den Sinn, gerade den Seinscharakter des Seieinden präsent zu machen. Diese phänomenologische Ausschaltung der transzendenten Thesis hat einzig nur die Funktion, das Seiende hinsichtlich seines Seins präsent zu machen. Der Ausdruck Ausschaltung ist deshalb immer missverständlich, sofern man meint, in der Ausschaltung der Daseinsthesis und durch sie hätte die phänomenologische Betrachtung es gerade nicht mehr mit dem Seienden zu tun; umgekehrt: gerade extrem und einzig handelt es sich nun um die Bestimmung des Seins des Seienden selbst.242
Von diesem Zitat her argumentiert Marion, dass die Einklammerung der These des
Seienden nicht das Seiende ausblendet, sondern umgekehrt uns dazu zwingt, das
Seiende nicht anders zu nehmen als wie es selbst ist, das heißt, das Seiende
hinsichtlich seines Seins zu sehen. 243 Die „Einklammerung der These des
Seienden“ bedeutet, dass alle Arten der Seinssetzung des Seienden eingeklammert
werden. Mit der Einklammerung aller Arten der Seinssetzung des Seienden ist uns
dann das Seiende als „rein“ gegeben. Hier unterscheidet sich Heidegger von Husserl
darin, dass er hinzufügt, das Seiende zeige sich in seiner „reinen“ Gegebenheit, wie es
240 Heidegger, GA 24, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 29. 241 Vgl. Marion, Reduction and Givenness, 1998, S. 66. 242 Heidegger, GA 20, S. 136. 243 Vgl. Marion, 1998, S. 65. Der vollständige Text: „To suspend the thesis of being does not eliminate being but prohibits one from seeing it otherwise than according to the thing itself, and therefore compels one to see it as it is – namely as being according to Being.“
92
selbst ist, d.h. hier es zeige sich „hinsichtlich seines Seins“.
Marion stellt des Weiteren fest, dass Heideggers phänomenologische Reduktion sich
von der Husserls nicht etwa unterscheide durch eine regressive Rückkehr zur naiven
Position der Welt, sondern durch ein überschreitendes Vorstoßen zum Sinn des Seins
des Seienden.244 Diese Behauptung bedarf der Aufklärung. Aus dem Zitat von
Heidegger ist ersichtlich, dass 1) das Sichselbstzeigen des Seienden hinsichtlich
seines Seins für ihn als „die Bestimmung des Seins des Seienden selbst“ zu verstehen
ist. Und 2) die Seinsbestimmung des Seienden vollzieht sich selbst durch „die
Rückführung des phänomenologischen Blickes von der wie immer bestimmten
Erfassung des Seienden auf das Verstehen des Seins (Entwerfen auf die Weise seiner
Unverborgenheit) dieses Seienden“245. 3) Dieses Verstehen des Seins des Seienden
konkretisiert sich als der Sinn des Seins des Seienden. Aus den drei Thesen lässt sich
ein Syllogismus herausziehen, der auf die letzte These führt, nämlich, dass das
Sichselbstzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins als den Sinn des Seins des
Seienden im Verstehen zu erfassen ist. Von daher sagt Marion, dass die Reduktion bei
Heidegger zum Sinn des Seins des Seienden führt.
Abschließend fasst Marion zusammen, dass es Husserl um nur eine Reduktion gehe,
nämlich die Reduktion von der transzendenten Welt zum gegeben Phänomen (die
These der Welt/ reduziertes Phänomen), während es Heidegger um eine
Doppel-Reduktion gehe: Zuerst die Reduktion von der transzendenten Welt zum
gegebenen Phänomen durch eine rein Husserlsche Reduktion, und dann die Reduktion
vom Seienden zum Sinn des Seins durch die phänomenologische Interpretation (die
These der Welt/ reduziertes Phänomen; Seiendes/ Seinssinn). 246 Bei diesem
244 Vgl. Marion, 1998, S. 66. Der vollständige Text: „The Heideggerian transgression does not distinguish itself from the Husserlian reduction by a retrogressive return toward the naive position of the world; it distinguishes itself by passing beyond, toward the meaning of the Being of being.“ 245 Heidegger, GA 24, S. 29. 246 Vgl. Marion, 1998, S. 66. Der vollständige Text: „Husserl envisages only two terms that constitute the two sides of one reduction (thesis of the world/reduced phenomenon), without suspecting that Heidegger see three, worked out in two reductions: thesis of the world/phenomenon through a purely Husserlian phenomenological reduction, and then being/meaning of Being through phenomenological
93
Vergleich unterstreicht Marion, dass das reduzierte Phänomen bei Husserl sich nur als
selbstgegebenes Phänomen, aber bei Heidegger als Seiendes (reduziertes
Phänomen=Seiendes) verstehen lassen muss.247
3.5.3 Der Seinssinn des Seienden und die Anerkennung des Rätselhaften der
Offenbarung aus Verborgenheit
Der Bruch zwischen Husserl und Heidegger besteht zusammenfassend darin, ob das
Projekt der Ontologie im Zentrum der phänomenologischen Untersuchung stehe oder
nicht. Husserl übernimmt unbewusst die Seinsbestimmung des Seienden oder des
Phänomens als beständige Anwesenheit (Präsenz) aus der Platonischen Tradition,
ohne die Ontologie zum Thema zu machen. Dagegen strebt Heidegger mit dem
Projekt der Ontologie nach einer Klärung der ursprünglichen Seinsverfassung, und
bemüht sich um eine Destruktion der seit Plato überlieferten Ontologie in der
metaphysischen Tradition. Heideggers Destruktion auf die ursprüngliche
Seinsverfassung vollzieht sich Marion zufolge schließlich in der doppelten Reduktion,
und führt zur Thematisierung des Seinssinns des Seienden. Das heißt, hinter der
Divergenz der Pertinenz eines Projektes der Ontologie steht zwischen Husserl und
Heidegger die Spannung bezüglich der Seinsbestimmung des Seienden oder des
Phänomens: Präsenz contra Seinssinn des Seienden. Marion kommt durch die
Analyse einiger Erläuterungen in und in Folge von Sein und Zeit zu dem Schluss, dass
die Divergenz zwischen Husserl und Heidegger in der Pertinenz eines ontologischen
Projekts „auf die Spannung zwischen der Reduktion des Phänomens zur Präsenz und
der Anerkennung des Rätselhaften der Offenbarung aus Verborgenheit
zurückgeht.“248 Damit meint er, dass der Seinssinn des Seienden bei Heidegger als
das Sichzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins zu erfassen sei und in einer
rätselhaften Offenbarung des Seienden aus Verborgenheit liege.249
interpretation. “ 247 Vgl. Marion, 1998, S. 66. 248 Ebd., S. 59.249 An diesem Punkt ist schon zu erkennen, dass die Divergenz zwischen Husserl und Heidegger in der
94
An dieser Stelle stellt sich die Frage: Warum fasst Heidegger das Sichzeigen des
Seienden hinsichtlich seines Seins als den Seinssinn des Seienden auf? Warum nimmt
Heidegger das Sichzeigen des Seienden hinsichtlich seines Seins als das Sichzeigen
des Seienden in einer rätselhaften Offenbarung aus Verborgenheit an? Diese Fragen
haben Jean-Luc Marion nicht interessiert. Für unsere Diskussion sind sie aber
bedeutend, da sie in die Richtung einer Antwort auf die oben gestellte Frage weist,
nämlich wie sich Heideggers Ursprungsdenken in sein Projekt der Ontologie einfügt.
Die Fassung des Lebensvollzugs arbeitet Heidegger, wie im vergangenen Kapitel
erläutert wurde, durch formale Anzeige im Gegebenheitsmodell aus, wobei diese
destruktive Methode in den frühen Freiburger Vorlesungen bereits in der
phänomenologischen Sphäre der Gegebenheit, die durch die Husserlsche Epoché
eröffnet wird, operiert. Das heißt, die gegenständliche Erfahrung ist in der Operation
der formalen Anzeige bereits auf das reduzierte Phänomen zurückgeführt. Heidegger
artikuliert formal anzeigend das Phänomen in seinem Gehaltsinn, Bezugssinn und
Vollzugssinn, die das ursprüngliche Gegebenheitsmodell des Phänomens
konstituieren. In diesem Gegebenheitsmodell wird das Phänomen hinsichtlich seines
weltmäßigen Verweisungscharakters im grundlosen Lebensvollzug gegeben, statt als
etwas Bestimmtes und Objektiviertes. Heideggers Anliegen der Durchführung des
Gegebenheitsmodells besteht darin, das ursprüngliche Gegebensein des Phänomens
im Gegensatz, genauer gesagt in der Abwehr einer Objektivierung des Phänomens
darzustellen. Aber das Herausarbeiten des ursprünglichen Gegebenseins des
Phänomens ist nicht das Endziel der formalen Anzeige. Heidegger möchte mit der
destruktiven Methode vielmehr auf den ursprünglichen Lebensvollzug, der das
Gegebensein des Phänomens möglich macht, verweisen und gleichwohl in diesen
vordringen, d.h. zu thematisieren. Der Lebensvollzug, in dem das Phänomen gegeben
ist, sei Heidegger zufolge keine erscheinende Substanz, sondern bleibe als die
Pertinenz eines ontologischen Projekts nach Marions Interpretation auf die in ihrer Gegebenheitsthematik zurückzuführen ist.
95
unbewusste Sinnerschlossenheit hinter der Erscheinung des Phänomens, und wird bei
Heidegger als die geschichtliche und rätselhafte Ursprungsdynamik oder Bewegtheit
charakterisiert.
In diesem Punkt ist bereits eine starke Verbundenheit zwischen Heideggers
Interpretation des Seinssinns des Seienden250 als des Sichselbstzeigens des Seienden
in einer Offenbarung aus Verborgenheit, und seiner Fassung des ursprünglichen
Gegebenseins des Phänomens im Lebensvollzug zu sehen. Jedoch bleibt noch zu
überprüfen, ob die Interpretation des Seinssinns des Seienden als des
Sichselbstzeigens des Seienden aus dem ursprünglichen Gegebenheitsmodell
Heideggers herstammt. Auch ist zu überprüfen, ob der Seinssinn des Daseins aus der
Fassung des Lebensvollzugs, dessen Grundcharakter die geschichtliche und
rätselhafte Ursprungsdynamik ist, zu deuten ist. Wir können allerdings bemerken,
dass Heideggers Motiv einer phänomenologischen Destruktion auf den
geschichtlichen Lebensvollzug auch in den Grundzügen der Daseinsanalytik in Sein
und Zeit präsent ist, die zur Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit des Daseins führt. Die
Prüfung der Verbindung zwischen Heideggers Ursprungsdenken und seinem
ontologischen Projekt, strenger genommen, das Prüfen und Ausweisen der
motivischen Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug in
Heideggers ontologischem Projekt ist die Aufgabe des nächsten Kapitels.
Fazit:
Die Entwicklung von Heideggers phänomenologischem Ansatz in den 1920er Jahren
ist begleitet von der Kritik an seinem Lehrer Edmund Husserl, genauer gesagt, an
Husserls transzendentaler Konstruktion der Phänomenologie. Mit der Umwandlung
von einer Ursprungwissenschaft zur ontologischen Phänomenologie wendet sich
Heideggers kritische Vernehmlassung des ursprungsfernen phänomenologischen
250 Dabei ist anzumerken, dass hier mit dem sichselbstzeigenden Seienden das nicht-daseinsmäßige Seiende gemeint ist.
96
Denkens auf das Versäumnis der Seinsfrage bei Husserl, wobei ihre grundlegende
Divergenz sich vom ursprünglichen Gegebenheitsmodell des Phänomens zur
ursprünglichen Seinsverfassung modifiziert. In Marions Interpretation ist die
Divergenz bezüglich der Seinsverfassung bei den beiden Denkern jedoch auf die
Divergenz der Auffassung der Gegebenheitsweise des Phänomens zurückzuführen. Er
sieht den grundlegenden Kontrast weiterhin in ihren unterschiedlichen
Gegebenheitsmodellen.
Im Gegebenheitsmodell, das Heidegger durch formale Anzeige in den frühen
Freiburger Vorlesungen mit Husserls phänomenologischem Ansatz herausarbeitet,
zeichnet sich das ursprüngliche Gegebensein des Phänomens ab, nämlich hinsichtlich
des weltmäßigen Verweisungsbezugs im unbewussten und grundlosen Lebensvollzug,
der durch eine rätselhafte Dynamik oder Bewegtheit charakterisiert ist, zur
Erscheinung zu kommen. Mit der Herausarbeitung des Gegebenheitsmodells strebt
Heidegger an, auf den grundlosen Lebensvollzug, der das Ursprungsgebiet des
Lebens ausmache, vorzudringen, bzw. ihn zu thematisieren. Gerade an diesem Punkt
legt sich die Vermutung nahe, dass die Thematik der Destruktion auf den
Lebensvollzug ein Vorverständnis der Fundamentalontologie ausmacht und das
Ursprungsdenken die Grundlage für Heideggers Aufbau seines Projektes der
Ontologie liefert, welche die Destruktion der metaphysischen Seinverfassung auf die
Erschließung des ursprünglichen Seinssinns des Seienden zum Anspruch hat. Dies
soll sich in der Ausweisung der motivischen Kontinuität dieser Thematik in Sein und
Zeit abzeichnen.
97
4. Die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs
Heidegger führt das ontologische Projekt, die Erschließung des ursprünglichen
Seinssinns, zuerst in der Prolegomena-Vorlesung ein und baut es in Sein und Zeit
systematisch aus. Sein und Zeit behandelt nicht direkt die Frage nach dem Sinn von
Sein, sondern arbeitet die Frage nach dem Sinn des Seins als solche erst aus. Diese
Ausarbeitung der Seinsfrage bezeichnet Heidegger als Fundamentalontologie oder als
Daseinsanalytik. Der Begriff des Daseins taucht bereits in den frühen Freiburger
Vorlesungen auf, in dem ihm die Bedeutung des faktischen Lebens im weiteren Sinne
zukommt. Obwohl die Konzeption des faktischen Lebens im Begriff des Daseins
weiter bestehen bleibt, steht die Thematik einer Destruktion auf den Lebensursprung
oder den Lebensvollzug, gemäß des formalen Aufbaus der ausgesprochenen Thematik
der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, nicht im Mittelpunkt von Heideggers
Ontologie. Theodore Kisiel argumentiert jedoch, dass die formale Anzeige den nicht
ausgesprochenen Kern von Sein und Zeit ausmache.251 Laut Kisiel lasse sich bereits
in den Marburger Vorlesungen Unterstützung für die Hypothese einer motivischen
Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug finden. Allerdings
ist eine Rekonstruktion von Sein und Zeit für die Hervorhebung dieser motivischen
Kontinuität notwendig. Für diese Rekonstruktion beziehen wir uns erneut auf
Jean-Luc Marions Heidegger-Interpretation, da Marions Studie, in der Heideggers
phänomenologische Untersuchung des ontologischen Projektes auf seine
Thematisierung des Erscheinens des Phänomens reduziert wird, einen angemessenen
Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion bietet, in der die motivische Kontinuität der
Thematik des Lebensvollzugs deutlicher ins Blickfeld kommen kann. Die Aufgabe
der Rekonstruktion ist dahingehend zu prüfen, ob die zentrale Thematik, die
Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen behandelt, auch in Sein und Zeit
noch präsent ist, und wenn ja, ob diese in Sein und Zeit weiter entwickelt wird.
251 Vgl. Kisiel, 1993, S. 152.
98
4.1 Die Rekonstruktion von Sein und Zeit auf Basis der Interpretation Jean-Luc
Marions
Die Rekonstruktion von Sein und Zeit dient dazu, die motivische Kontinuität der
Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug seit den Marburger Vorlesungen zu
überprüfen. Für diese Rekonstruktion bietet uns Marions Interpretation des
ontologischen Projektes Heideggers eine Perspektive, in der wir auf dem Boden einer
übergreifenden Thematik Heideggers Auseinandersetzungen in den frühen Freiburger
und Marburger Vorlesungen zusammenfassen, und somit die motivische Kontinuität
in den zwei Phasen Heideggers deutlicher herausarbeiten können.
4.1.1 Das Sehenlassen der Phänomenologie
In § 7 von Sein und Zeit entwirft Heidegger eine Skizze seines ontologischen
Projektes, die uns einen Überblick darüber gibt, was Heidegger im Hauptteil von Sein
und Zeit zu thematisieren beabsichtigt.
Was ist das, was die Phänomenologie ‚sehenlassen’ soll? Was ist es, was in einem ausgezeichneten Sinne „Phänomen“ genannt werden muss? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht.252
Als die Aufgabe einer Phänomenologie erklärt Heidegger hier das Sehenlassen von
dem, „was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt“, was aber den Sinn und
Grund vom „sich zunächst und zumeist Zeigenden“ ausmacht. Was meint Heidegger
mit dem „sich zunächst und zumeist gerade Zeigende[n]“ und dem „sich zunächst und
zumeist gerade nicht Zeigende[n]“? Was ist das, was Heidegger mit der
Phänomenologie „sehenlassen“ möchte?
252 Heidegger, GA 2, S. 47.
99
Hinter dem Phänomenen der Phänomenologie steht wesenhaft nichts Anderes, wohl aber kann das, das, was Phänomen werden soll, verborgen sein. Und gerade deshalb, weil die Phänomene zunächst und zumeist nicht gegeben sind, bedarf es der Phänomenologie. Verdecktheit ist der Gegenbegriff zu „Phänomen“.253
Hier ist anzumerken, dass Heidegger das Wort Phänomen sowohl im Singular als
auch im Plural verwendet. Mit „Phänomen“ ist das Sich-Zeigende gemeint und mit
den „Phänomenen“ das „sich zunächst und zumeist nicht Zeigende“, das der
Phänomenologie bedürfe und erst in der Phänomenologie gesehen würde. Die sich
„zunächst und zumeist“ nicht zeigenden Phänomene sind laut Heidegger Gegenstände
der Phänomenologie. Was aber sind diese Gegenstände? „Die Begegnisart des Seins
und der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens muss den Gegenständen der
Phänomenologie allererst abgewonnen werden.“254 „Die Begegnisart des Seins und
der Seinsstrukturen im Modus des Phänomens“ interpretiert Marion als die
Gegebenheit des Phänomens. Es geht im Modus des Phänomens nicht mehr um „das
unmittelbar Gegebene, um den perzeptiven Inhalt oder das bewusst Erlebte; kurz
gesagt um das Gegebene“, sondern um „den Stil seiner Phänomenalisierung als
Gegebenes, kurz gesagt um seine Gegebenheit“ 255 . Im Anschluss an Marions
Interpretation lässt sich gut verstehen, was Heidegger mit dem „sich zunächst und
zumeist gerade nicht Zeigenden“ meint. Es ist die Gegebenheit des Phänomens. Das
Sehenlassen der Phänomene in der Phänomenologie bedeutet dann die Gegebenheit
des Gegebenen aufzuzeigen. (1)
Als den Gegenstand des Sehenlassens der Phänomenologie nimmt Heidegger neben
dem „sich zunächst und zumeist gerade nicht Zeigenden“ auch das Sein des Seienden
an.
253 Heidegger, GA 2, S. 48.254 Ebd., S. 49.255 Jean-Luc Marion, Wiederaufnahme der Gegebenheit durch Husserl und Heidegger, in: Husserl und Heidegger: Neue Perspektiven, 2009, S. 26. Der vollständige Text: „Derart, dass es sich nicht mehr um das unmittelbar Gegebene handelt, um den perzeptiven Inhalt oder das bewusst Erlebte, kurz gesagt um das Gegebene, sondern um den Stil seiner Phänomenalisierung als Gegebenes, kurz gesagt um seine Gegebenheit.“
100
Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt oder wieder in die Verdeckung zurückfällt oder nur ‚verstellt’ sich zeigt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern [...] das Sein des Seienden. [...] Was demnach in einem ausgezeichneten Sinne, aus seinem eigensten Sachgehalt her fordert, Phänomen zu werden, hat die Phänomenologie als Gegenstand thematisch in den „Griff“ genommen.256
Aber wie lässt einen Phänomenologie das Sein des Seienden sehen, wenn das Sein
des Seienden kein Seiendes und selbst nicht wahrnehmbar ist? „Das Sein des
Seienden kann [...] so etwas sein‚ [...] was nicht erscheint.“257 Das heißt, das
„Sehenlassen“ vom Sein des Seienden ist das „Sehenlassen“ von etwas, das nicht
erscheint. (2) Aber das Sein des Seienden deutet Heidegger nicht als die Gegebenheit
des Seienden. Mit den zwei Behauptungen (1) und (2) zeigen sich zwei Schichten in
Heideggers phänomenologischer Ausarbeitung der Ontologie. Handelt es sich bei den
zwei Schichten um unterschiedliche Thematiken? In welchem Zusammenhang stehen
sie? Lässt sich die Erläuterung von Sein und Zeit in den zwei Schichten skizzieren?
Diese Fragen können mit Hilfe von Marions Interpretation geklärt werden.
4.1.2 Jean-Luc Marions Interpretation der Phänomenalität des Seins
Marion unterscheidet zwei Modi des Phänomens in der Phänomenologie. Das erste ist
das oberflächliche Phänomen, nämlich die Präsenz, die durch Konstitution bei
Husserl angemessen ausgelegt ist; das zweite ist die Tiefe des Phänomens (the depth
of phenomenon). Die Tiefe des Phänomens bedeutet nicht, dass sich etwas hinter dem
Phänomen verbirgt, darauf wartend, sich zu zeigen, sondern sie ist gerade das
Erscheinen des Phänomens selbst.258 Die Tiefe des Phänomens als dessen Erscheinen
selbst bezeichnet Marion als die Phänomenalität des Seins. Phänomenalität des Seins
bedeutet, dass sich Sein als Phänomenalität zeigt und sich nur in dieser zeigt.259 In
256 Heidegger, GA 2, S. 47. 257 Ebd., S. 48. 258 Vgl. Marion, 1998, S. 63. 259 Vgl. Ebd., Marion schreibt: Depth here does not indicate that „behind“ the phenomenon something else would be waiting to appear, but that the very appearing of the phenomenon – as a way (of Being) and therefore as a nonbeing – reveals a depth. The depth does not dub or betray the phenomenon (in the cinematographic or detective sense of doubler); it reveals it to itself – namely, it shows that it is
101
seiner Interpretation der Phänomenalität des Seins übersetzt Marion Heideggers
ontologische Thematik in eine phänomenologische Sprache und rekonstruiert das
ontologische Projekt Heideggers als die Thematisierung des Erscheinens des
Phänomens oder der Phänomenalität des Seins.
Die Phänomenalität des Seins legt Marion auf zwei Ebenen aus: Auf der ersten Ebene
wird die Phänomenalität des Seins als solche dargestellt, sodass das Phänomen als das
Seiende zur Erscheinung kommt.260 Das heißt, die erste Ebene der Phänomenalität
des Seins ist die Erscheinung des Phänomens selbst, oder in Heideggers Worten: die
ontische Erscheinung des Phänomens. Der phänomenologische Zugang zur
Erscheinung des Phänomens ist bei Heidegger die phänomenologische Beschreibung
der Gegebenheit des zur Erscheinung Kommenden. Diese phänomenologische
Beschreibung der Gegebenheit entspricht gleichsam dem sogenannten „Sehenlassen
des Phänomens“ in der Phänomenologie.
Die zweite Ebene der Phänomenalität des Seins befasst sich mit dem „Rätsel des
Phänomens“. Mit dem Rätsel des Phänomens meint Marion, dass das Sein sich nie
selbst zeige, aber gerade durch dieses Nicht-Zeigen ermögliche, dass das Seiende sich
enthüllt. Marion nennt es „das Rätsel des Spiels zwischen Unverborgenem und
Verborgenem“.261 Die Entdeckung dieses Rätsels des Phänomens ist laut Marion
entscheidend, da sie überhaupt erst die Phänomenalität des Seins konstituiert, die
sonst gerade im Erscheinen des Seienden verdeckt wird. Das Rätsel des Phänomens
ist zu verstehen als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden, die selbst
im Erscheinen des Seienden nicht erscheint und als „das Spiel zwischen
Unverborgenem und Verborgenem“ bleibt. Das oben erwähnte „Sehenlassen des
Seins des Seienden“ in der Phänomenologie, dass nach Heidegger das Aufzeigen vom
Nicht-erscheinenden meint, sei gerade als die Phänomenalität des Seins im Sinne der
inasmuch as Being first opens as the phenomenality in which, only then, it can itself be discovered.” 260 Vgl. Marion, 1998, S. 63. 261 Ebd., S. 60.
102
zweiten Ebene zu begreifen. Bei Marion wird das ontologische Projekt Heideggers als
die Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, d.h. des Seienden rekonstruiert,
das auf zwei Ebenen durchgeführt wird. Auf der ersten handelt es sich um die
phänomenologische Beschreibung der Gegebenheit des Seienden und auf der zweiten
um die Untersuchung des „Rätsels des Phänomens des Seins“, also um die
Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden. Jedoch lässt sich der Terminus
der Möglichkeitsbedingung bei Heidegger nicht im Sinne von Kantischen und
Husserlschen transzendentalem Sinne verstehen. Dies wird in der folgenden
Erläuterung aufgezeigt.
4.1.3 Die Perspektive der Rekonstruktion von Sein und Zeit
Mit Hilfe der Rekonstruktion Marions gewinnen wir eine Perspektive, von der her wir
die motivische Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs von den frühen
Freiburger Vorlesungen bis zu den Marburger Vorlesungen betrachten und prüfen
können, auch wenn das Anliegen Heideggers in den zwei Phasen zunächst
unterschiedlich zu sein scheint. Die Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug
in den frühen Freiburger Vorlesungen befasst sich in der Tat auch mit der
Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, das ebenfalls auf zwei Ebenen
durchgeführt wird. Die erste Ebene: Bei Heideggers Herausarbeitung des
Gegebenheitsmodells des Phänomens handelt es sich um die phänomenologische
Beschreibung der Gegebenheit des Phänomens. Die zweite Ebene: Mit dem
Vordringen auf den Lebensvollzug, bzw. mit der Thematisierung des Lebensvollzugs
an sich, zeigt sich Heideggers Versuch, die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten im
Lebensvollzug, die als unbewusst erlebte und rätselhafte Bewegtheit das Erscheinen
des Phänomens erst ermöglicht, ans Licht zu bringen. Die Thematisierung des
Lebensvollzugs gehört zur Untersuchung der Möglichkeitsbedingungen des
Erscheinens des Seienden. Insofern kann man Heideggers Beschäftigung mit der
Destruktion auf den Lebensursprung und mit dem ontologischen Projekt auf eine
übergreifende Thematik zurückführen, nämlich das Erscheinen des Phänomens. Diese
103
motivische Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug von den
frühen Freiburger Vorlesungen zu den Marburger Vorlesungen kann somit auf dem
Boden dieser übergreifenden Thematik geprüft werden.
Im Folgendem wird Sein und Zeit als ein Hauptexempel des ontologischen Projekts,
mit dem Heidegger sich in den Marburger Vorlesungen befasst, aus der Perspektive
der Thematisierung des Erscheinens des Phänomens rekonstruiert. Zunächst ist es
Aufgabe dieser Rekonstruktion zu prüfen, inwieweit das durch formale Anzeige
herausgearbeitete ursprüngliche Gegebenheitsmodell und die Thematisierung des
Lebensvollzugs in Sein und Zeit präsent ist, um anschließend zu betrachten, inwieweit
die Thematisierung des Lebensvollzugs in Sein und Zeit schließlich weiter entwickelt
wird, das heißt, ob die Offenheit des Lebensvollzugs zur Explikation gebracht wird.
4.2 Die Gegebenheitsthematik in der Wahrheitslehre Heideggers
Die folgende Rekonstruktion muss zunächst bei der Wahrheitslehre, die Heidegger in
der Marburger Zeit ausführt, ansetzen, da es gerade in dieser um das Thema des
Erscheinens des Seienden geht. In der Einleitung von Sein und Zeit betrachtet
Heidegger den Begriff der Phänomenologie aus etymologischer Sicht, wobei er sich
auf die altgriechischen Begriffe λὀγος und ἀλἠθεια bezieht. ἀλἠθεια erfasst Heidegger
dabei als Entdecktheit oder Unverborgenheit und interpretiert dies als den
eigentlichen Sinn der Wahrheit. λὀγος deutet er als ἀποφαντικὀς, als Sehenlassen des
Seienden, wie es ist. „Weil der λὀγος ein Sehenlassen ist, deshalb kann er wahr oder
falsch sein. Auch liegt alles daran, sich von einem konstruierten Wahrheitsbegriff im
Sinne einer Übereinstimmung freizuhalten.“262 Heideggers Bemühen um eine neue
Auffassung des Wahrheitsbegriffs läuft nicht nur auf eine Distanzierung von der
traditionellen Übereinstimmungswahrheit hinaus, sondern zielt vielmehr auf seine
Behandlung der Thematik des Erscheinens des Seienden ab.
262 Heidegger, GA2, S. 44.
104
Zu Beginn des § 44 geht Heidegger in Sein und Zeit auf die traditionelle These ein,
Erkenntnis in Form des Urteils sei der Ort der Wahrheit. Er fragt daher: „Wann wird
im Erkennen selbst die Wahrheit phänomenal ausdrücklich?“263, und antwortet selbst:
„Dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist.“ 264 Wie weist sich das
Erkennen als wahres aus? Das Beispiel und die Argumentation zur Klärung dieser
Frage leitet Heidegger unmittelbar aus den Logischen Untersuchungen Husserls ab.
Die Ausweisung vollziehe sich etwa, wenn jemand mit dem Rücken zur Wand steht
und sagt: „Das Bild an der Wand hängt schief.“ Daraufhin dreht er sich um und sieht,
dass das Bild an der Wand tatsächlich schief hängt. Was aber wird durch diese
Wahrnehmung ausgewiesen? „Nichts anderes als dass es das Seiende selbst ist, das in
der Aussage gemeint war ... Ausgewiesen wird das Entdeckend-sein der Aussage.“265
Die Wahrheit geschehe also, so Husserl, wenn die meinende Aussage von der
Anschauung erfüllt sei, das Gemeinte und das Geschaute sich also decken. Heidegger
wiederum formuliert dies so, dass die Aussage dann wahr sei, wenn das Ausgesagte,
das das Seiende selbst ist, sich als dasselbe zeige wie in der Wahrnehmung. Das
bedeutet, sie entdecke das Seiende an ihm selbst.266 Das ist gemeint, wenn Heidegger
die Wahrheit als das Entdeckendsein bezeichnet, das eins mit dem Entdecktsein oder
der Entdecktheit des Seienden, mit anderen Worten, den innerweltlich Seienden ist.
Die Erweiterung des Wahrheitsbegriffs sucht Heidegger im altgriechischen Begriff
der ἀλἠθεια. Er legt dar, dass ἀλἠθεια bedeute: „Seiendes – aus der Verborgenheit
herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen (zu) lassen.“267
Daher sei Wahrheit als Unverborgenheit oder Entdecktheit zu verstehen. Mit diesem
erweiterten Sinn von Entdecktheit geht Heideggers Wahrheitsbegriff über den von
Husserl hinaus, da er die Entdecktheit des Seienden näher betrachtet, und das
263 Heidegger, GA 2, S. 287-288. 264 Ebd., S. 288. 265 Ebd., S. 288. 266 Vgl. Ebd., S. 289. 267 Vgl. Ebd., S. 290.
105
Phänomen des Entdeckens von der Aussage zum Besorgen erweitert.
Entdecken sei laut Heidegger eine Seinsweise des Daseins als das „umsichtige oder
auch das verweilend hinsehende Besorgen entdecken innerweltliches Seiendes.“268
Die Seinsart des innerweltlich Seienden, so lautet seine These nun, ist von unserer
Zugangsweise zu diesem entschieden. Diese These lässt sich zurück verfolgen zur
Analyse der Seinsart des innerweltlichen Seienden in der Prolegomena-Vorlesung.
Dort diskutiert Heidegger erstmals die Seinsart des Seienden und weist darauf hin,
dass das Seiende im reinen Wahrnehmen oder Anschauen kein primäres Seiendes ist,
um Husserls objektivierende Auffassung des Seins als Gegenständliches zu
hinterfragen. Vielmehr gibt es unterschiedliche Seinsarten des Seienden. Das Seiende
im bloßen Wahrnehmen habe den Charakter des Vorhandenen, allerdings sei dies kein
primäres Seiendes. Das primär Seiende bei Heidegger heißt das Zuhandene. Es ist
„das im besorgenden Umgang Anwesende“269 und tritt nicht vor Augen. Dieser
Unterschied der Seinsart des innerweltlich Seienden gründe nun, so Heidegger, in der
Zugangsweise zu demselben. Da das besorgende Umgehen in der Welt ihm zufolge
aber im Vergleich zum bloßem Wahrnehmen eine primärere Zugangsart zum
Seienden sei, zeichnet sich das Zuhandene, das nur im besorgenden Umgang des
Daseins zugänglich ist, als das primäre innerweltlich Seiende ab. Das bloße
Wahrnehmen als der Zugang zum Vorhandenen sei nur eine darin fundierte
Zugangsweise, die sich durch eine bestimmte Unterbrechung des umsichtigen
Besorgens konstituiert. Daher wird das bloße Wahrnehmen dann auch als „verweilend
hinsehendes Besorgen“ bezeichnet. Beim bloßen Wahrnehmen setzt das Erkennen an,
das ebenfalls das Vorhandene als seinen Gegenstand hat. Das heißt, sowohl
verweilend hinsehendes als auch umsichtiges Besorgen sind entdeckende Zugänge
zum Seienden und entscheiden dabei jeweils die Seinsart dieses Seienden. Das
Seiende wird entdeckt im menschlichen Verhalten zu ihm. Daher weist Heidegger
darauf hin, dass sich die Definition der Wahrheit als Entdecktheit aus der Analytik
268 Heidegger, GA 2, S. 292. 269 Heidegger, GA 20, S. 264.
106
unserer Verhaltung speist.
Die Definition der Wahrheit als Entdecktheit und Entdeckendsein ist auch keine bloße Worterklärung, sondern sie erwächst aus der Analyse der Verhaltung des Daseins, die wir zunächst „wahre“ zu nennen pflegen. [...] Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins. [...] Entdecktheit des innerweltlichen Seienden gründet in der Erschlossenheit der Welt. Erschlossenheit aber ist die Grundart des Daseins.270
In der Erschlossenheit des Daseins erkennt Heidegger nun die ursprünglichste
Wahrheit.271 In dieser, d.h. in der Erschlossenheit, ist die Entdecktheit fundiert.272
Erschlossenheit ist daher „die ontologische Bedingung der Möglichkeit“ der
Entdecktheit. 273 Im weiteren Verlauf der Erklärung führt Heidegger noch die
Dimension der Verborgenheit ein. Erschlossenheit sei die Grundart des Daseins,
daher sei Dasein in der Wahrheit. Diese Behauptung ist nach Heidegger aber
gleichursprünglich mit: „Dasein ist in der Unwahrheit.“ Denn „sofern mit dem Dasein
je schon innerweltliches Seiendes entdeckt ist, ist dergleichen Seiendes als mögliches
innerweltlich Begegnendes verdeckt (verborgen) oder verstellt.“274 Die Dimension
der Verborgenheit wird an dieser Stelle allerdings nur erwähnt, aber nicht wirklich in
die Diskussion einbezogen.
In Heideggers Darstellung des Wahrheitsphänomens wird die Gegebenheitsweise des
Phänomens thematisiert. Die unseren entdeckenden Zugängen zum Seienden
entsprechenden Seinsarten desselben beziehen sich gerade auf die Art und Weise, in
der das Seiende gegeben ist. Die Vorhandenheit ist als fundierte Gegebenheitsweise
des Seienden in der objektivierenden Betrachtung zu begreifen, während die
Zuhandenheit als die primäre oder ursprüngliche Gegebenheitsweise des Seienden im
umsichtigen Besorgen ausgewiesen wird. Die Gegebenheit des Seienden als
Entdecktheit wird durch die Welterschlossenheit des Daseins ermöglicht. Das heißt,
270 Heidegger, GA 2, S. 291-292. 271 Vgl. Ebd., S. 295. 272 Vgl. Ebd., S. 297. 273 Vgl. Ebd., S. 299. 274 Ebd., S. 294.
107
die Erschlossenheit ist die Möglichkeitsbedingung des Gegebenseins oder des
Erscheinens des Seienden. Auf die Welterschlossenheit geht die Wahrheitslehre
Heideggers nicht ausführlich ein, dennoch wird schon hier ersichtlich, dass das
Erscheinen des Seienden auch in Sein und Zeit eigens thematisiert wird. Ob aber das
ursprüngliche Gegebenheitsmodell aus den frühen Freiburger Vorlesungen auch hier
greift, sowie ob der Lebensvollzug als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des
Seienden auch eigens behandelt wird, ist noch zu klären.
Der Einsatz des ursprünglichen Gegebenheitsmodells, welches Heidegger mittels
formaler Anzeige herausarbeitet, ist in der Wahrheitslehre wie auch in den weiteren
Ausführungen in Sein und Zeit offenbar nicht zu finden. Ein Grund dafür ist freilich,
dass Heidegger nach den Marburger Vorlesungen selten von formaler Anzeige sowie
von der Thematik, die mittels formaler Anzeige erschlossen werden sollte, spricht.
Das bedeutet jedoch nicht, dass diese nicht auch in seiner ontologischen
Untersuchung präsent ist. In einem Brief, den Heidegger an Löwith im Jahr 1928 nach
der Publikation von Sein und Zeit schrieb, verweist er auf die Kontinuität der
Thematik von den Freiburger Anfängen bis zu Sein und Zeit.
Die Probleme der Faktizität bestehen für mich ebenso wie in den Freiburger Anfängen ... ich musste zuvor extrem auf das Faktische losgehen, um überhaupt die Faktizität als Problem zu gewinnen. Formale Anzeige, Kritik der üblichen Lehre vom Apriori, Formalisierung und dergleichen ist alles noch für mich da, wenn ich auch jetzt nicht davon rede.275
Theodore Kisiel vertritt sogar die These, dass die formale Anzeige den wesentlichen
Kern von Sein und Zeit ausmacht.276 Hier wird jedoch nicht die zentrale Rolle der
275 Heidegger, Brief an Karl Löwith, in: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Band 2, Papenfuß/Otto Pöggeler (Hrsg.), Frankfurt am Main, S. 37. 276 In seiner ausführlichen Untersuchung der Texte sowie Vorlesungen Heideggers, die vor der Publikation von Sein und Zeit verfasst wurden, und die zusammen die Entwicklung seines Denkens illustrieren, das endlich in Sein und Zeit systematisch zur Explikation gebracht wird, argumentiert Kisiel, dass die formale Anzeige und die Kairologie zusammen den wesentlichen aber nicht ausgesprochenen Kern von Sein und Zeit ausmacht. Vgl. Kisiel, 1993, S. 152. Der vollständige Text: “Kairology and formal indication will together constitute the most essenstial, but largely unspoken, core of Being and Time itself.“ Kairologie ist eine Konzeption, die Heidegger nach Kisiel in seiner Untersuchung des Phänomens des christlichen Urglaubens herausholt und zur Thematik der Geschichtlichkeit oder Zeitlichkeit des Daseins entwickelt.
108
formalen Anzeige für Sein und Zeit, sondern eher die oben dargestellte motivische
Kontinuität seit den frühen Freiburger Vorlesungen im Vergleich zu den Marburger
Vorlesungen befragt. In der folgenden Ausführung wird es um die Rekonstruktion die
Figur des In-der-Welt-seins gehen müssen, die Heidegger im ersten Abschnitt von
Sein und Zeit beschreibt. In seiner Illustration desselben zeichnet sich nicht nur eine
Thematisierung des Erscheinens des Phänomens, sondern auch der Einsatz des
ursprünglichen Gegebenheitsmodells deutlicher ab.
4.3 Die Behandlung der Thematik der Gegebenheit in der Illustration des
In-der-Welt-seins
Die Thematisierung des Erscheinens des Phänomens umfasst zwei Ebenen. Auf der
ersten Ebene geht es um die Gegebenheit des Seienden, und auf der zweiten um die
Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden. Die beiden Ebenen sind
jeweils im ersten Abschnitt, „Die vorbereitende Fundamentalanalyse des Daseins“,
und im zweiten Abschnitt, „Dasein und Zeitlichkeit“, von Sein und Zeit behandelt.
Die Wahrheitsanalyse im § 44 dient, wie John Sallis zusammenfasst, als ein Übergang
von der „gesamten vorbereitenden Analysen des Daseins“ im ersten Abschnitt zur
ursprünglicheren Interpretation des Daseins im zweiten Abschnitt. 277 Wie oben
aufgezeigt wurde, lässt sich in diesem Übergang auch die Thematisierung des
Erscheinens des Seienden skizzenhaft zusammenfasst.
4.3.1 Das Thema der Gegebenheit in der Fundamentanalyse des Daseins
Zu Beginn seiner Einführung der Wahrheitslehre in § 44 weist Heidegger darauf hin,
dass das Wahrheitsphänomen bereits Thema der früheren Analysen gewesen ist,
wenngleich nicht ausdrücklich unter diesem Titel.278 Das Wahrheitsphänomen wird
in § 44 als Entdecktheit des innerweltlichen Seienden und Erschlossenheit des
277 Vgl. John Sallis, Heidegger und der Sinn von Wahrheit, Frankfurt am Main, 2012, S. 94. 278 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 283.
109
Daseins ausgelegt. Die Begriffe des Entdeckens und besonders der Erschlossenheit
werden jedoch schon in der Illustration des In-der-Welt-seins ab § 14 thematisiert.
Die Aufgabe des nächsten Abschnitts wird es sein, Heideggers Ausführungen zum
In-der-Welt-sein zu rekonstruieren, um die erste Ebene der Thematisierung des
Erscheinens des Seienden, nämlich die Gegebenheit des Seienden hervorzuheben.
4.3.1.1 Das begegnende innerweltlich Seiende – das Zuhandene
Werfen wir zunächst einen Blick auf Heideggers Analytik des Seins des innerweltlich
Seienden. Die Analyse fängt an mit der „ontologischen Interpretation des
nächstbegegnenden inner-umweltlichen Seienden“279. Dieses Seiende begegnet uns in
unserem besorgenden Umgang. Heidegger bezeichnet das im Besorgen
nächstbegegnende Seiende als Zeug und er legt dar, dass das Zeug wesentlich die
Struktur des „Um-zu“ hat. In der Struktur des „Um-zu“ liegt „eine Verweisung von
etwas auf etwas“. 280 Diese Verweisungs-Struktur bringt eine
„Verweisungsganzheit“ in den Blick, wobei diese Ganzheit nicht als Totalität,
sondern als „Verweisungsmannigfaltigkeit“ aufzufassen ist. 281 Mit der
„Verweisungsmannigfaltigkeit“ meint Heidegger, dass das Zeug in seiner
Dienlichkeit mit allen anderen Dingen aus der Verweisungsganzheit zusammenhängt,
je nachdem wie Dasein mit dem Zeug besorgend umgeht. Im besorgenden Umgang
des Daseins begegnet uns das Zeug „unauffällig“ und überhaupt nicht als ein vor
Augen entgegenstehender Gegenstand, so fährt er fort. „Die Seinsart von Zeug, in der
es sich von ihm selbst her offenbart, nennen wir die Zuhandenheit.“ 282 „Das
Zuhandene“ dient als Bezeichnung für dasjenige innerweltlich Seiende, das zunächst
im umweltlichen Besorgen begegnet und die Struktur der Verweisung hat. Mit dieser
Struktur steht die Zuhandenheit in dem „ontologischen Bezug zur Welt und
279 Heidegger, GA 2, S. 89. 280 Ebd., S. 92. 281 Vgl. Ebd.282 Ebd., S. 93.
110
Weltlichkeit“. 283 Neben der „Zuhandenheit“ spricht Heidegger auch von der
„Vorhandenheit“, einer abgeleiteten Seinsart des innerweltlich Seienden, das aber im
Gegensatz zum Zuhandenen im Moment des Abbruchs des Besorgens ins Auge fällt.
Das Vorhandene gehört laut Heidegger zu den „bloßen Dingen“.284
Die Struktur der Verweisung des Zuhandenen, so Heidegger, sei „die seinsmäßige
Bedingung der Möglichkeit“285 dafür, dass das Zuhandene als etwas begegnet. Da
das Zuhandene immer als ein solches begegnet, das sich auf etwas bezieht oder das
bei etwas sein Bewenden hat, bezeichnet er die ontologische Bestimmung des Seins
des Zuhandenen als Bewandtnis.286 Das Begegnenlassen des innerweltlich Seienden
auf der Seite des Daseins nennt Heidegger Entdecken. Begegnen und Entdecken
beziehen sich beide auf das Gegebensein des innerweltlich Seienden. Das Zuhandene
„ist daraufhin entdeckt, dass es als dieses Seiende, das es ist, auf etwas verwiesen
ist.“ 287 Bemerkenswert ist, dass das „auf etwas verwiesen-sein“ einerseits die
ontologische Bestimmung des Zuhandenen, d.h. die Bewandtnis ist, andererseits sich
auf die Struktur der Verweisung bezieht. Das heißt, dass die Bewandtnis als
ontologische Bestimmung des Zuhandenen mit seiner Verweisungsstruktur eins ist. In
diesem Punkt lässt sich argumentieren, dass die Bewandtnis als der Bezugssinn des
Gegebenen im Sinne des Gegebenheitsmodells zu verstehen ist, der als der
Verweisungszusammenhang des Gegebenen das gehaltliche Was des Gegebenseins
bestimmt.
4.3.1.2 Die Welterschließung des Daseins
Die Verweisungsstruktur oder die Bewandtnis des innerweltlich Begegnenden
gründet in einer vorentdeckten Bewandtnisganzheit, die durch die vorgängige
283 Heidegger, GA 2, S. 111. 284 Ebd., S. 99. 285 Ebd., S. 112. 286 Vgl. Ebd. 287 Ebd.
111
Erschließung des Daseins ermöglicht wird.288 Diese vorgängige Erschließung erklärt
Heidegger „als das Verstehen der Welt, zu der sich das Dasein als Seiendes schon
immer verhält“. 289 Hier ergibt sich ein Komplex an Termini, der weiterer
Erklärungen bedarf.
Zunächst ist zu klären, was Bewandtnisganzheit heißt. Heidegger beschreibt es als die
Weltmäßigkeit des Zuhandenen, d.h. der ontologische Bezug des Zuhandenden zur
Welt.290 Für die Bewandtnisganzheit greift Heidegger auf ein Beispiel aus dem
alltäglichen Leben zurück: Für einen Hammer kann die Bewandtnisganzheit eine
Werkstatt mit allen anderen Zeugen und Einrichtungen sein, wobei die Werkstatt
selber ein Zeug in einem Hof mit seinem Gerät und seinen Liegenschaften sein kann,
die wiederum ihre Bewandtnisganzheit ausmacht. Das heißt, die Bewandtnisganzheit
ist die Umwelt des Begegnens oder des Gegebenseins des Zuhandenen. Das
Bewandtnisganze ist das Ganze des Verweisungzusammenhanges des Zuhandenen
und konstituiert so seine Bewandtnis. Bewandtnis als der Verweisungszusammenhang
ist, wie oben bereits aufgezeigt wurde, der Bezugssinn des Seienden als des
Gegebenen. Gemäß dem Gegebenheitsmodell aus den frühen Freiburger Vorlesungen
konstituiert der Bezugssinn als der Verweisungszusammenhang das Weltphänomen.
Gerade hier, in den Darstellungen in Sein und Zeit, konstituiert die Bewandtnis
(Bezugssinn) das Bewandtnisganze, das ebenfalls als das Weltphänomen bezeichnet
wird.291 Das Bewandtnisganze als die Welt ist durch die Welterschließung des
Daseins ermöglicht. Das Welterschließen des Daseins meint das Verhalten des
Daseins zum innerweltlichen Seienden in der Welt. Das Welterschließen lässt das
innerweltlich Seiende in seiner Umwelt begegnen. Mit der Behauptung, dass das
Bewandtnisganze durch die Welterschließung ermöglicht wird, meint Heidegger, dass
die Konstitution des Bewandtnisganzen im Welterschließen vollgezogen wird.
288 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 112-116. 289 Ebd., S. 115. 290 Vgl. Ebd., S. 114. 291 Vgl. Ebd., S. 116-117.
112
Heidegger weist darauf hin, dass das Bewandtnisganze als das Weltphänomen auf
einer Seite im Welterschließen geschieht; auf der anderen Seite „in Verständlichkeit
vorgängig erschlossen“292 ist, d.h. vorgängig verstanden ist. Tugendhat stellt das
Verhältnis von Weltverständnis und Welterschließen so dar: „Welt ist nicht nur die
Bedingung der Welterschließung, sondern gehört auch in dieses selber.“ 293
Tugendhat setzt an dieser Stelle Welt und vorgängiges Weltverständnis gleich, was
bei Heidegger als Welterschlossenheit bezeichnet wird. Das heißt, einerseits gehört
das Weltphänomen zur Welterschließung des Daseins, d.h. es ist im Welterschließen
vollgezogen; andererseits ist das Weltphänomen im vorgängigen Verständnis der
Welt erschlossen, und diese Welterschlossenheit fungiert als Bedingung der
Welterschließung. Dieses Wechselverhältnis zwischen Welterschließen und
Weltverständnis, d.h. Welterschlossenheit, verweist auf den eigentümlichen Charakter
der Welterschlossenheit, und zwar seine dynamische Offenheit. Das Dasein erschließt
die Welt mit seinem vorgängigen Weltverständnis, aber gleichwohl wird sein
Weltverständnis in der Welterschließung immer wieder neugestaltet. Das offene
Weltverständnis ist eben die Welterschlossenheit in der dynamischen Offenheit. Diese
kann als Welterschließungsvollzug betrachtet werden, der sich in die Offenheit der
Verstehensmöglichkeit entfaltet. An dieser Stelle nun lässt sich das ursprüngliche
Gegebenheitsmodell des Seienden am Beispiel des nächstbegegnenden Seienden, des
Zuhandenen, vollständig herauskristallisieren. Das Zuhandene begegnet oder wird
gegeben in seiner Bewandtnis (Verweisungszusammenhang). Dieser fungiert, wie
oben bereits aufgezeigt wurde, als der Bezugssinn des Gegebenen. Die Bewandtnis ist
in der Welterschließung vollgezogen und konstituiert sich als Weltphänomen. Die
jenes Weltphänomen vollziehende Welterschließung fungiert als der Vollzugssinn des
Gegebenen und entfaltet sich als die Welterschlossenheit in seiner Offenheit, die wir
den Welterschließungsvollzug nennen können. Die Möglichkeitsbedingung des
Erscheinens des Seienden macht Heidegger zufolge die Welterschlossenheit aus,
präzise gesagt, die Welterschlossenheit, die sich dynamisch als die Offenheit der
292 Heidegger, GA 2, S. 115. 293 Tugendhat, 1970, S. 290.
113
Verstehensmöglichkeiten vollzieht. In dieser Sinnoffenheit kommt das Seiende zur
Erscheinung. Obwohl Heidegger den Terminus der Möglichkeitsbedingungen für die
Erschlossenheit verwendet, ist sie als die Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des
Seienden nicht in Kantischen oder Husserlschen transzendentalem Sinne zu verstehen.
Die Erschlossenheit erfasst sich eher als den sich faktisch und geschichtlich
vollziehenden Horizont des Erscheinens des Seienden. Sie ist insofern die horizontale
Möglichkeitsbedingung der Begegnung des innerweltlich Seienden.
Durch diese Erläuterung werden die im vergangenen Kapitel aufgestellten
Hypothesen belegt. Die erste Hypothese war, dass die innere Struktur des Daseins als
des „transzendentalen Subjektes“, gemäß dem Gegebenheitsmodell aufzufassen ist.
Aus der obigen Rekonstruktion von Heideggers Auslegung des In-der-Welt-seins
wird klar, dass die einheitliche Struktur des Daseins als In-der-Welt-sein eine Struktur
des Erscheinens des Seienden in der Welterschließung des Daseins ist, und sich dem
ursprünglichen Gegebenheitsmodell, das Heidegger in den frühen Freiburger
Vorlesungen ansetzt, angleicht. Die zweite Hypothese war, dass Heideggers
Auslegung des Sichzeigens des nicht daseinsmäßigen Seienden vom ursprünglichen
Gegebenheitsmodell des Phänomens herrührt. Diese ist durch die Rekonstruktion
direkt ausgewiesen. Das Sichzeigen des Seienden bedeutet das Gegebensein des
Seienden. Wie dargelegt wurde, ist Heideggers Darstellung der Gegebenheit des
primär gegebenen Seienden, des Zuhandenen, selbst schon eine Wiederholung des
ursprünglichen Gegebenheitsmodells. Die Ausweisung der zweiten Hypothese ist
auch Bestätigung dafür, dass die erste Ebene der Thematisierung des Erscheinens des
Seienden, nämlich die der Gegebenheit des Seienden, auch in Sein und Zeit präsent ist,
und nicht nur das Thema der Gegebenheit, sondern auch das Gegebenheitsmodell der
frühen Freiburger Vorlesungen hier zum Einsatz kommt. Es bleibt noch zu prüfen, ob
die Thematisierung des Lebensvollzugs, der sich, wie aufgezeigt wurde, zum Begriff
der Welterschlossenheit wandelt, in Sein und Zeit präsent ist und weiterentwickelt
wird.
114
4.3.2 Die Wahrheitslehre als die Explikation des primären Verstehens
Im in § 44 erläuterten Wahrheitsphänomen der Entdecktheit und der Erschlossenheit
wird die Gegebenheit des Seienden ausgelegt. Dabei stellt sich die Frage, wie
Heidegger das Wahrheitsphänomen mit dem Thema der Gegebenheit in Beziehung
setzt. Hier soll es daher um den hermeneutischen Ansatz in seiner Untersuchung der
Gegebenheit gehen. Das Gegebensein des Seienden ist für Heidegger als dessen
Verstandensein anzunehmen. Das heißt, das Gegebene ist das Verstandene. In § 32
und § 33 führt er seine Konzeption des Verstehens aus und erläutert, dass das
Verstehen von innerweltlich Seiendem die Form hat, etwas als etwas „auszulegen“,
d.h. es hat die Form der Als-Struktur. Die Verstehensstrukturen differenzieren sich
nach der Seinsart des Seienden. „Alles vorprädikative schlichte Sehen des
Zuhandenen ist an ihm selbst schon verstehend-auslegend“.294 Die Als-Struktur des
Verstehens von Zuhandenem zeichnet sich durch das ursprüngliche Als des
Verstehens aus, und wird auch als „hermeneutisches Als“ benannt. Im Vergleich dazu
vollzieht sich das Verstehen des Vorhandenen im „apophantischen ‚Als’ der
Aussage“295. Es ist eine mitteilende prädizierende Aufzeigung des Vorhandenen.
Als-Strukturen tragen die Funktion des Aufzeigens des Verstandenen, nur jeweils auf
unterschiedliche Weise. Das Verstehen des Vorhandenen ist ein „pures hinsehendes
Aufweisen“, während sich das Verstehen des Zuhandenen in der
„Verständniszueignung im verstehenden Sein zu einer schon verstandenen
Bewandtnisganzheit“ 296 bewegt. Mit dem Kontrast der Verstehensweise von
Zuhandenen und Vorhandenen wendet sich Heidegger wieder gegen Husserls
objektivierenden Zugang zum Seienden. Für die ursprüngliche Seinsart des Seienden,
d.h. die ursprüngliche Gegebenheit des Seienden, gilt ihm stets das Zuhandene als
Exempel.
294 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 198. 295 Ebd., S. 210. 296 Ebd., S. 199.
115
In seiner Erläuterung der Verstehensstruktur des Seienden setzt Heidegger in der Tat
den hermeneutischen Zugang zur Gegebenheit des Seienden an, so dass wir das
Gegebensein des Seienden als dessen Seinssinn zum Ausdruck bringen können.
„Wenn innerweltliches Seiendes ... entdeckt, das heißt zu Verständnis gekommen ist,
sagen wir, es hat Sinn. ... Was im verstehenden Erschließen artikulierbar ist, nennen
wir Sinn.“297 Der Sinn des primären Gegebenen, d.h. des Zuhandenen, ist das
Gegebensein hinsichtlich seines Verweisungszusammenhanges im vorgängigen
Weltverständnis, in dem Dasein die Welt erschließt, d.h. in dem es sich verstehend
zum begegnenden Seienden verhält. Wie Hans-Helmuth Gander dargelegt hat, wird
das Seiende gegeben, d.h. ist verstanden, sofern es „als etwas Sehen“ geleitet wird
„von einem vorgängigen Verständnis des ihm zugehörigen
Verweisungszusammenhanges. Dieser zieht jenem lebensweltlichen Horizont aus, in
dem ich mich verstehend auslegend zu dem umweltlich Begegnenden verhalte.“298
Als ein Verstehen des Seins des Seienden manifestiert sich also das Gegebensein oder
das Sichaufzeigen des Seienden hinsichtlich seines Verweisungszusammenhanges im
Welterschließungsvollzug des Daseins. Die Explikation der Gegebenheit des
Seienden sowie seiner Möglichkeitsbedingung wird dann die Explikation des
Seinsverständnisses des Daseins, die Heidegger sich mit der Wahrheitslehre in Gang
zu bringen bemüht.
In der Vorlesung des Sommersemesters 1927 unter dem Titel Die Grundprobleme der
Phänomenologie, die laut Heidegger eine neue Ausarbeitung des 3. Abschnitts des
ersten Teiles von Sein und Zeit in Angriff nehme, fallen Verstehen, Enthüllen, sowie
Wahrsein nun in eins. Das Verstehen sei nun als das Aufzeigen von etwas in sich
selbst seiner Struktur nach als Enthüllen zu bestimmen. 299 „Wahrsein besagt
Enthüllen. Damit umfassen wir sowohl den Modus des Entdeckens wie den des
Erschließens, das Enthüllen des Seienden, das nicht daseiend ist, und das des
297 Heidegger, GA 2, S. 201. 298 Hans-Helmuth Gander, Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger, in: Heidegger und Husserl: Neue Perspektiven, 2009, S. 152. 299 Vgl. Heidegger, GA 24, S. 309.
116
Seienden, das wir selbst sind.“300 Das heißt, Erschließen des Daseins und Entdecken
des innerweltlich Seienden sind jeweils Enthüllen. Enthüllen ist auf der einen Seite
Wahrsein, dementsprechend lassen sich die Erschlossenheit des Daseins und die
Entdecktheit des Seienden als Wahrheit bezeichnen; Auf der anderen Seite ist das
Enthüllen das Verstehen, das Heidegger als Seinsverständnis bezeichnet.301 Insofern
handelt es sich bei der Wahrheitslehre in Sein und Zeit um eine hermeneutische
Explikation des Seinsverständnisses, das Entdecktheit (Gegebenheit des Seienden)
und Erschlossenheit des Daseins umfasst. Am Ende des § 44 expliziert Heidegger die
Aufgabe der Daseinsanalytik dahingehend, dass das ursprüngliche Seinsverständnis
„zum Begriff gebracht“ 302 werden muss. Dies führt zur Thematisierung des
ursprünglichsten Wahrheitsphänomens: der Erschlossenheit.
4.4 Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der ursprünglichen
Daseinsinterpretation
Wie an früherer Stelle erwähnt wurde, entspricht der erste Abschnitt von Sein und
Zeit, d.h. die Illustration des In-der-Welt-seins, nur der ersten Ebene der
Thematisierung des Erscheinens des Seienden, und zwar der Thematisierung seiner
Gegebenheit. Bei der zweiten Ebene handelt es um die Thematisierung der
Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden. Diese ist durch das Thema
des Welterschließungsvollzugs des Daseins, der in Sein und Zeit als
Welterschlossenheit oder Erschlossenheit des Daseins bezeichnet wird, angedeutet.
Im ersten Abschnitt wird die Struktur der Erschlossenheit nur freigelegt, ohne aber
intensiv thematisiert zu werden. Die Thematisierung der Erschlossenheit ist Aufgabe
des zweiten Abschnittes von Sein und Zeit.
300 Heidegger, GA 2, S. 307. 301 Vgl. Ebd., S. 304. 302 Ebd., S. 305.
117
4.4.1 Die transzendentale Zeitanalytik
Im ersten Abschnitt von Sein und Zeit, in der „vorbereitenden Fundamentalanalyse
des Daseins“, führt Heidegger die Grundbestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein
aus. Dasein und Welt werden im In-der-Welt-sein zu einem einheitlichen Phänomen
zusammengeführt. Was die Einheitlichkeit des Phänomens des In-der-Welt-seins
ausmacht, ist die Sorge-Struktur. „Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit
existenzial-apriorisch ‚vor’ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen
‚Verhaltung’ und ‚Lage’ des Daseins.“303 Die im ersten Abschnitt durchgeführte
Analytik des Daseins „kann den Anspruch auf Ursprünglichkeit nicht erheben.“304
Wenn die Daseinsanalytik auf „eine ursprüngliche Interpretation des Seinssinnes des
Daseins“305 zustrebt, dann „muss sie das Sein des Daseins zuvor in seiner möglichen
Eigentlichkeit und Ganzheit existenzial ans Licht gebracht haben“306 , um „die
Zeitlichkeit als den ursprünglichen Seinssinn des Daseins“307 herauszuheben. In
zweiten Abschnitt expliziert Heidegger das Dasein in seiner Eigentlichkeit sowie in
seinem transzendentalen zeitlichen Horizont, wobei Erschlossenheit nun als die
„Wahrheit der Existenz“ im Zentrum der Analytik des ursprünglichen Daseins steht.
Heidegger behauptet, dass die ursprüngliche Interpretation des Seinssinnes des
Daseins die Explikation des Seins des Daseins in seiner möglichen Eigentlichkeit und
Ganzheit sei. Was ist mit „Sein des Daseins“ gemeint? Das „Sein des Daseins“ sei
laut Heidegger primär als Seinkönnen zu bestimmen.308 Das Sein des Daseins in
seiner möglichen Eigentlichkeit und Ganzheit expliziert sich nach Heidegger im
Phänomen der Entschlossenheit. „Mit dem Phänomen der Entschlossenheit wurden
wir vor die ursprüngliche Wahrheit der Existenz geführt. Entschlossen ist das Dasein
303 Heidegger, GA 2, S. 257. 304 Ebd., S. 310. 305 Ebd., S. 311. 306 Ebd. 307 Ebd., S. 312. 308 Vgl. Ebd., S. 405.
118
ihm selbst in seinem jeweiligen faktischen Seinkönnen enthüllt“.309 Das bedeutet, das
„Dasein in seinem jeweiligen faktischen Seinkönnen“ als das
Entschlossenheitsphänomen zeigt sich als die „ursprüngliche Wahrheit der Existenz“.
Was aber ist diese „ursprüngliche Wahrheit der Existenz“? „Die ursprünglichste und
zwar eigentlichste Erschlossenheit, in der das Dasein als Seinkönnen sein kann, ist die
Wahrheit der Existenz.“ 310 Von daher wird bereits ersichtlich, dass die
Erschlossenheit, bzw. „die ursprünglichste und zwar eigentlichste Erschlossenheit“311,
im Zentrum der „ursprünglichen Interpretation des Seinssinns des Daseins“ steht. In
der ursprünglichen Daseinsanalytik wird die Erschlossenheit selbst thematisiert. Die
Thematisierung der Erschlossenheit ist gleichsam als die Thematisierung des
Lebensvollzugs anzusehen, da Erschlossenheit ein Ersatzbegriff für den
Lebensvollzug ist. Die Thematisierung des Lebensvollzugs ist somit auch in Sein und
Zeit präsent. Die motivische Kontinuität der Destruktion auf den Lebensvollzug von
den frühen Freiburger Vorlesungen bis zur Marburger Zeit ist somit aufgezeigt. Aber
die Aufgabe der Rekonstruktion ist damit nicht vollständig erfüllt, da noch zu zeigen
sein wird, ob und inwieweit sich dieses Motiv in den Marburger Vorlesungen
weiterentwickelt hat, das heißt, ob und wie Heidegger den Lebensvollzug oder die
Erschlossenheit an sich zum Sehen, mit anderen Worten, zum Ausdruck bringt.
Der Lebensvollzug oder die Erschlossenheit ist, wie dargelegt wurde, die faktische
und horizontale Möglichkeitsbedingung für das Erscheinen des Seienden. Daher lässt
309 Heidegger, GA 2, S. 407. 310 Ebd., S. 293. 311 Mit der Bezeichnung der „ursprünglichsten und zwar eigentlichsten Erschlossenheit“ ist der Einsatz der formalen Anzeige in die Ausführungen eingebracht. Formale Anzeige dient bei Heidegger in erster Linie als die Abwehr gegen die sich-selbst-verdeckende Tendenz des Lebens oder Daseins, indem sie den Bezugssinn der Lebenserfahrung in der Schwebe hält, damit sich die Offenheit des Lebensvollzugs oder Sinnvollzugs zeigt. Diese methodische Anwendung vollzieht sich in Sein und Zeit mit der Analyse des Entschlossenheitsphänomens, wobei der Sinnvollzug als die „ursprünglichste und eigentlichste Erschlossenheit“ benannt wird. Diese ist laut Heidegger durch die Analytik des Entschlossenheitsphänomens als des eigentlichen Daseins ans Licht gebracht. „Die Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit führte zugleich auf das Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Wahrheit.“ (GA 2, 418) Heidegger zufolge ist die ursprünglichste Erschlossenheit im Daseins, wie es "zunächst und zumeist" ist, nämlich im uneigentlichen und alltäglichen Dasein, verdeckt. Erst im Entschlossenheitsphänomen offenbart sich die ursprünglichste Erschlossenheit als die ursprüngliche Seinsart des Daseins. Von daher kann man argumentieren, dass das Entschlossenheitphänomen eine Anwendung der formalen Anzeige ist.
119
sich sagen, dass es in der Thematisierung der Erschlossenheit um die
Möglichkeitsbedingung, genauer gesagt, die faktische Möglichkeitsbedingung des
Erscheinens des Seienden geht. Die hier entscheidende Frage lautet, wie man die
Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Seienden zum Ausdruck bringen kann.
In den frühen Freiburger Vorlesungen dient die Auseinandersetzung mit dem
Lebensvollzug der Abgrenzung von Husserls Paradigma einer transzendentalen
Konstitution des Bewusstseins. Insofern beurteilte Heidegger das Denken Husserls
dort, wenn auch auf indirekte Weise, als ursprungsfern. Im Unterschied dazu setzt er
den Lebensvollzug als Möglichkeitsbedingung der Gegebenheit des Seienden an, der
als sich geschichtlich vollziehende Offenheit der Verstehensmöglichkeiten unbewusst
erlebt wird. Die Rede von „Vordringen zum Lebensvollzug“ drückt den Versuch aus,
diese Offenheit zum Ausdruck oder zur näheren Explikation zu bringen. Jedoch treibt
Heidegger die Auslegung des Lebensvollzugs nur so weit, dass sein dynamischer und
rätselhafter Charakter freigelegt wird. Seine Untersuchung ist erst noch auf dem Weg
hin zu einer Explikation der Offenheit des Lebensvollzugs. Das Fortschreiten der
Thematisierung des Lebensvollzugs bestünde also darin, dass die Offenheit des
Lebensvollzugs an sich zur Explikation gebracht wird.
Heideggers Behandlung der Erschlossenheit in Sein und Zeit ist eine Analytik der
transzendentalen Konstitution der faktischen Erschlossenheit in Form der Zeitanalytik.
Erschlossenheit sei konstituiert im transzendentalen ekstatischen Horizont der
Zeitlichkeit. Die zeitliche Konstitution der Erschlossenheit erweist sich als die
ontologische Bedingung der Möglichkeit, dass Dasein als In-der-Welt-sein
existiert.312 Erschlossenheit ist „ein wesenhaftes Konstitutivum des In-der-Welt-seins
als solchen“, 313 das in der ekstatisch-horizontalen Einheit der Zeitlichkeit
312 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 463. Dazu schreibt Heidegger: „Die Erschlossenheit des Da und die existenziellen Grundmöglichkeiten des Daseins, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, sind in der Zeitlichkeit fundiert. [...] In der Orientierung an der zeitlichen Konstitution der Erschlossenheit muss sich daher auch die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür aufweisen lassen, dass Seiendes sein kann, das als In-der-Welt-sein existiert.“ 313 Ebd., S. 393.
120
verständlich wird.314 Das heißt, die Thematisierung der Erschlossenheit entfaltet sich
durch das Herausarbeiten seines transzendentalen Horizontes der Zeitlichkeit. Aber
warum thematisiert Heidegger die Erschlossenheit des Daseins in Form einer
transzendentalen Auslegung? Weil er die ontologische Differenz zum Ausgangspunkt
der ursprünglichen Daseinsinterpretation macht.
In der ontologischen Differenz geht es um den Unterschied zwischen Sein und
Seiendem. Das Sein sei nach Heidegger nicht Seiendes, auch nicht das Sein des
Daseins.315 Da wir wissen, was das Seiende ist, bleibe nur zu fragen, was das Sein ist,
und worin der Unterschied besteht. Der Sinn des Seins „lässt sich ursprünglich nur
fassen auf dem Grunde einer ursprünglichen Interpretation des Daseins.“316 Die
direkte Auffassung des Sinns des Seins wird nicht unmittelbar durch eine
ursprüngliche Interpretation des Daseins erreicht, sondern die eigentliche Frage nach
dem Sinn des Seins soll, so Heidegger, durch die Herausstellung des transzendentalen
Horizonts der Zeitlichkeit in der ursprünglichen Interpretation des Daseins erst
vorbereitet werden.317 Gerade in der Herausstellung des transzendentalen Horizontes
der Zeitlichkeit lässt sich die ontologische Differenz explizieren.318
Marion Heinz zufolge kann die ontologische Differenz folgendermaßen expliziert
314 Vgl. Heidegger, GA 2, S. 384. 315 Zur ontologischen Differenz gehören die Ausdrücke wie: “ ‘Sein’ ist nichts so etwas wie Seiendes.” (GA 2, 5) „“Das Sein des Seienden ist selbst nicht ein Seiendes.“ (GA 2, 8) „Am Ende wird sich zeigen, dass die Idee von Sein überhaupt ebenso wenig einfach ist wie das Sein des Daseins.“(GA 2, 260) 316 Heidegger, GA 2, S. 416. 317 Ganz am Ende von Sein und Zeit fasst Heidegger die ganze Argumentationsstruktur der Daseinsanalytik als drei Hauptschritte zusammen, wobei der dritte Schritt in der veröffentlichten Version von Sein und Zeit eher als ein Ausblick dient: 1) Die Dasein als existierende In-der-Welt-sein ermöglichende unbegriffliche Erschlossenheit hervorzuheben; 2) Basierend auf 1) die transzendentale Zeitlichkeit herauszuarbeiten; 3) Basierend auf 2) den Sinn des Seins überhaupt zu finden oder zu erschließen. Das heißt, die Explikation des transzendentalen Horizontes der Zeitlichkeit soll die Frage oder die Erschließung des Sinns vom Sein überhaupt vorbereiten. „Die vorgängige, obzwar unbegriffliche Erschlossenheit von Sein ermöglicht, dass sich das Dasein als existierendes In-der-Welt-sein zu Seiendem, dem innerweltlich begegnenden sowohl wie zu ihm selbst als existierendem, verhalten kann. Wie ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? [...] Die existenzial-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeitlichkeit. [...] Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ (GA 2, 577) 318 Dazu sagt Heidegger: „Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt.“ (GA 24, 454)
121
werden: Das Sein als die Offenheit des transzendentalen ekstatischen Horizontes der
Zeitlichkeit ermöglicht das intentionale Verhalten, d.h. das Enthüllen des Seienden.319
Eine ähnliche Ansicht vertritt Steven Crowell. Er meint, dass die ontologische
Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein bei Heidegger als die Differenz
zwischen dem verstandenen Seienden und der intentionalen Struktur der Zeitlichkeit,
die das Verstehen des Seienden ermöglicht, zu erfassen sei. 320 Auf Basis der
ontologischen Differenz ist die Zeitanalytik als Explikation der transzendentalen
Konstitution des Daseins, in der das Seiende enthüllt oder gegeben wird, zu
interpretieren. Hierzu schreibt Walter Biemel, „Die transzendentale Konstitution ist
eine zentrale Möglichkeit der Existenz des faktischen Selbst.“321 Davon ausgehend
kritisiert wiederum William Blattner, dass Heideggers Ontologie, entgegen seiner
Behauptung, selbst transzendental sei und im Grunde nicht von der
Transzendentalphilosophie und besonders von Husserls
Transzendentalphänomenologie zu unterscheiden sei. Das ist so zu verstehen, dass
seine Ontologie die Explikation der Formen der Zeitlichkeit, die alle Versuche des
begrifflichen Verstehens des Gegenstandes, der uns begegnet, unterliegt und
ermöglicht.322 Auch wenn William Blattner hinsichtlich der Gleichartigkeit von
Husserls und Heideggers transzendentaler Konstitution übertreibt, wirft seine
Argumentation doch die Frage auf, ob Heideggers transzendentale Konstruktion des
Welterschließungsvollzugs im zeitlichen Horizont als unproblematisch zu betrachten
sei. 319 Marion Heinz, Zeitlichkeit und Temporalität, Würzburg, 1982, S. 190. Der vollständige Text: „Der Unterschied von Sein und Seiendem kann demnach folgendermaßen expliziert werden: Sein ist die durch den Selbstentwurf der Ekstase produzierte Offenbarkeit ihrer selbst, aus der sich das primär durch die jeweilige Ekstase ermöglichte intentionale Verhalten versteht, so dass es ein bestimmtes Enthüllen sein kann; [...] Seiendes ist das, was in einem sich aus dem horizontalen Schema der primär konstitutiven Ekstase verstehenden Enthüllen begegnen kann.“ 320 Steven Galt Crowell, Husserl, Heidegger and the Space of meaning – Path toward transcendental Phenomenology, Illinois, 2001, S. 196. 321 Walter Biemel, Husserls Encyclopaedia-Britannica Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu, in: Tijdschrift voor Philosophie 12, 1950, S. 246. Vgl. S. 274. 322 Vgl. William Blattner, Ontology, the A Priori and the Primacy of Practice, in: Transcendental Heidegger, Steven Crowell und Jeff Malpas (Hrsg.), California, 2007, S. 20-21, Der vollständige Text: „Ontology, therefore, is a priori, because it is the expression of the forms of temporality that underlie and makes possible all attempts to articulate in conceptual form the nature of the objects we confront.“ William Blattner vertritt die These, dass die allgemeine Struktur des ontologischen Projektes Heideggers eine transzendentale Konstitution sei, die nahe an Husserls Transzendentalphänomenologie steht, sei. Vgl. William Blattner, Heidegger´s Temporal Idealism, Cambridge, 1999.
122
4.4.2 Das Scheitern an der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs
Es zeigt sich, dass William Blattners These zu stark ist, sobald man sich die
Unterschiede in der Grundstruktur des transzendentalen Konstitutionsmodells bei
Husserl und Heidegger anschaut. Die Struktur des „transzendentalen Subjektes“ bei
Heidegger, d.h. die des Daseins, unterscheidet sich von der des transzendentalen
Bewusstseins darin, dass bei Husserl die intentionale Konstitution als
Bewusstseinserlebnis paradigmatisch im transzendentalen und subjektiven
Zeitbewusstsein letztgründet323, während es im Konstitutionsmodell des Daseins um
einen unbewusst erlebten und grundlosen Vollzug der Offenheit geht. Aus der
Zeitanalytik Heideggers wird ersichtlich, dass die transzendentale Zeitlichkeit nicht
als Grund des Vollzugs, sondern nur als Horizont des Welterschließungsvollzugs
fungiert. In Husserls transzendentaler Konstruktion, einschließlich der
Lebenswelttheorie, für die sich der späte Husserl einsetzt, herrschen laut Waldenfels
immer die Geltungsansprüche, deren Rahmenbedingungen sich „in einer allgemeinen
Begründung einholen und wahrmachen lassen“ 324 . In seiner kritischen
Auseinandersetzung mit Husserls philosophischer Forschung, „zwischen
Alltagsmeinung und Vernunfteinsicht“325 angesiedelt und als Wissenschaftskritik
behandelt, fordert Waldenfels „das Vergessen des paradigmatischen, modellhaften
Charakters der Wissenschaften“, und er weist darauf hin, dass es Aufgabe der
Philosophie sei, „gegenüber Eindeutigkeit und Exklusivitätsansprüchen die
Vieldeutigkeit und Offenheit des Erfahrungskontextes im Blick zu halten und
gegenüber Fixierung von Regelsystemen das Ungeregelte und das durch die Regeln
Ausgeschlossene zu betonen.“326
323 Husserls transzendentale Konstruktion fasst Derrida als solche auf, die den transzendentalen Hintergrund einer Egologie bildet. Das Ego erscheint als Ort der Selbstpräsenz und als letztfungierende Instanz in Bezug auf alle Sinnbildung. Vgl. Derrida, Of Grammatology, Baltimore, 1976, S. 417. 324 Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1985, S. 32. 325 Ebd., S. 28. 326 Ebd.
123
Waldenfels Kritik des paradigmatischen, modellhaften Charakters der
transzendentalen Konstruktion lässt sich aber auch auf Heideggers transzendentale
Konstitution der Erschlossenheit des Daseins im zeitlichen Horizont übertragen. In
der Thematisierung des Lebensvollzugs in seinen Freiburger Anfängen fasst
Heidegger die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten als den Erfahrungskontext,
mit Waldenfels’ Worten, „das Ungeregelte und das durch die Regeln
Ausgeschlossene“ mit der Destruktion auf den Lebensursprung ins Auge. Aber wie
die Offenheit des Lebensvollzugs als des Ungeregelten zur Explikation gebracht
werden kann, bleibt noch unklar. Von der obigen Rekonstruktion her lässt sich sehen,
dass das Moment des Lebensvollzugs im zweiten Abschnitt von Sein und Zeit in
Gestalt der Erschlossenheit des Daseins weiter thematisiert wird. Aber die
transzendentale Auslegung der Erschlossenheit kann die Offenheit nicht erschließen
und explizieren, denn die transzendentale Konstitution der Erschlossenheit im
allgemeinen, modellhaften Horizont der Zeitlichkeit ist selbst schon eine
paradigmatische Behandlung der Erschlossenheit. Wie Waldenfels auch an Husserl
kritisiert, so verstellt die paradigmatische und modellhafte Konstitution die
Erschließung der Offenheit. Daher lässt sich der Schluss ziehen, dass die
fortschreitende Weiterentwicklung der Thematisierung des Lebensvollzugs in der
Marburger Zeit scheitert.
Dieses Scheitern ist ein zweifaches, wenn man Heideggers Idee einer ursprünglichen
Ontologie, zu der die Daseinsanalytik führen solle, mitberücksichtigt. Heidegger setzt
die ontologische Differenz als den Ausgangspunkt der Ontologie an, die er als
Philosophie der Wissenschaft bezeichnet, um sie von der traditionellen Metaphysik
frei zu halten.327 Die Verfehlung der Metaphysik liege darin, „dass sie das Denken
als ein ‚Sehen’, das Sein als stets Vor-Augen-Sein, als stete Anwesenheit denkt und
327 Dazu schreibt Heidegger, „Mit der Möglichkeit eines hinreichend klaren Vollzuges dieser Unterscheidung von Sein und Seiendem und demnach mit der Möglichkeit des Vollzuges des Überschritts von der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen Thematisierung des Sein steht und fällt die Möglichkeit der Ontologie, d.h. der Philosophie als Wissenschaft.“ (GA 24, 322)
124
so den nicht zum Stehen zu bringenden Vollzug des faktisch-historischen Lebens
selbst nicht zur Erfahrung bringen kann.“ 328 Dies sei laut Otto Pöggeler die
entscheidende Einsicht Heideggers. Die Thematisierung des „nicht zum Stehen zu
bringenden Vollzug des faktisch-historischen Lebens“ könne, wie Otto Pöggeler
impliziert, die ontologische Differenz bzw. den Unterschied zwischen der Seiendheit,
die in der traditionellen Metaphysik als Sein hingenommen wird, und dem Sein selbst
ans Licht bringen, womit die Erschließung des ursprünglichen Seins als des
„vergessenen Grundes der Metaphysik“ 329 vorbereitet wird. Im Rahmen des
ontologischen Projekts besteht der in Sein und Zeit vollzogene Schritt darin, die
ontologische Differenz in der Thematisierung des Erschlossenheit des Daseins
aufzuweisen und zu illustrieren. Pöggeler skizziert das ontologische Projekt
Heideggers im Ganzen folgendermaßen: Von der Illustration der ontologischen
Differenz, d.h. des Unterschiedes zwischen der Seiendheit als der metaphysischen
Seinsbestimmung und dem Sein im ursprünglichen Sinne, ausgehend ist die Ontologie
als „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“330 in Abgrenzung
zur traditionellen Metaphysik aufzubauen. Hier lässt sich zudem argumentieren, dass
die Thematisierung der Erschlossenheit zu einer Explikation der Offenheit der
Verstehensmöglichkeiten des Seins hinleiten soll, damit die Heideggersche Ontologie
sich als eine „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“ bestimmen
und gegen die Metaphysik positionieren kann.
Heidegger illustriert die ontologische Differenz durchgängig in Sein und Zeit,
zunächst indem er 1) den nicht stehenbleibenden Lebensvollzug als die
Erschlossenheit ins Blickfeld bringt und thematisiert; und schließlich indem er 2) die
Zeitlichkeit als den transzendentalen Horizont des Daseins bzw. des Lebensvollzugs,
in der die Seiendheit des Seienden ermöglicht wird, auslegt. Laut Heidegger könne
328 Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 46. 329 Vgl. Ebd., S. 47. Der vollständige Text: „Sein und Zeit ist der Versuch, das ungedacht Gebliebene, den vergessenen Grund der Metaphysik, auf dem freilich all ihr Gedachtes ruhte, denkend zurückzuholen.“ 330 Ebd., S. 49.
125
die ontologische Differenz, die Differenz zwischen Sein und Seiendem (Seiendheit),
in der transzendentalen Auslegung des Daseins mittels Zeitanalytik expliziert werden.
Somit können wir „von der ontischen Betrachtung des Seienden zur ontologischen
Thematisierung des Seins“331 voranschreiten, d.h. nach dem Sinn des Seins fragen.
Wie jedoch oben aufgezeigt wurde, trägt eine analytische paradigmatische
Konstruktion 332 der Erschlossenheit im allgemeinen modelhaften Horizont der
Zeitlichkeit nichts zur Erschließung der Offenheit der Erschlossenheit bei, die erst zur
Ontologie als „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von Sein“ hinleiten
soll. Insofern ist Heideggers Thematisierung der Erschlossenheit in der
transzendentalen Konstruktion ein zweifaches Scheitern, da sie weder die
Entwicklung der kontinuierlichen Thematik des Lebensvollzugs selbst, noch die des
ontologischen Projektes voranbringt.
Fazit:
Mithilfe von Marions Interpretation des ontologischen Projektes im Ausgang des
phänomenologischen Ansatzes ließ sich, in der Rekonstruktion von Sein und Zeit, die
Kontinuität der Thematik der Destruktion auf den Lebensvollzug von Heideggers
Freiburger Anfängen bis zu den Marburger Vorlesungen aufzeigen. Jedoch kommt die
Thematisierung des Lebensvollzugs in Heideggers transzendentaler Konstruktion der
Erschlossenheit des Daseins nicht ans Ziel, nämlich zu einer Explikation der
Offenheit. Denn Heidegger Ansatz einer paradigmatischen Zeitanalytik im Ausgang
von einer transzendental verstandenen ontologischen Differenz verstellt den Zugang
zur Erschließung der Offenheit und Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeit. Aus
dem gleichen Grund kann auch das Projekt des Aufbaus einer Ontologie im
ursprünglichen Sinne, d.h. der „Genealogie der verschiedenen möglichen Weisen von
331 Sieh Amn. 327. 332 Orlando Pugliese fasst den transzendentalen Zeithorizont als„analytisch gewonnen Strukturen“ auf und meint, dass Heidegger von den „analytisch gewonnen Strukturen [...] auf ihren nichtseienden Grund hin“ zurückzuführen versucht. Vgl. Orlando Pugliese, Vermittlung und Kehre, Freiburg/München, 1986, S. 76.
126
Sein“ in Opposition zur traditionellen Metaphysik, nicht an sein Ziel gelangen.
Hinsichtlich ihrer paradigmatischen Behandlungsart gleichen sich das transzendentale
Denken Husserls und Heideggers. Dies erkennt Heidegger selbst als das
transzendentalistische Motiv an, und er versucht dieses im Verlauf seiner
philosophischen Forschung zu überwinden. Aber wie er das ontologische Projekt
daraufhin weiterentwickelt, ist hier nicht unser Anliegen. Im nächsten Kapitel geht es
vielmehr darum, wie Heidegger die im Zuge dessen behandelten Themen in den
1930er Jahren weiterentwickelt, und zwar in der Überwindung des paradigmatisch-
transzendentalistischen Motivs.
127
5. Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit im Kunstwerk Wegen des Scheiterns der Weiterentwicklung der Thematik des Lebensvollzugs im
Rahmen einer analytischen Konstruktion der transzendentalen Zeitlichkeit, sucht
Heidegger in den 1930er Jahren nun nach einer anderen Möglichkeit, um diese
Thematik voranzubringen, wobei darin zugleich das
transzendental-phänomenologische Motiv überwunden werden soll. Diese Suche
beginnt mit der Entwicklung der Wahrheitslehre und der Untersuchung der
Kunsterfahrung, in der die ursprünglichste Wahrheit als die Offenbarkeit des
Seienden im Ganzen in der Entbergung-Verbergung-Dynamik geschieht. In seinen
Untersuchungen der 1930er Jahre zur Kunst, die vor allem im Aufsatz Der Ursprung
des Kunstwerkes verschriftlicht werden, erkennt Heidegger eine ausgezeichnete
Möglichkeit, die Offenheit der Verstehensmöglichkeit zum Ausdruck oder zur
Explikation zu bringen. Friedrich-Wilhelm von Herrmann erkennt im
Kunstwerkaufsatz Heideggers erste Auseinandersetzung mit dem Ereignis-Denken,
und er kommt daher zu dem Schluss, dass die Untersuchungen des
Kunstwerkaufsatzes „in das Gesamtgefüge des Ereignis-Denkens“333 gehören. Diese
Einschätzung ist weithin akzeptiert, weshalb der Kunstwerkaufsatz daher
gängigerweise den Beginn des Ereignis-Denkens des späten Heideggers markiert.
In der folgenden Diskussion wird es aber nicht um die Darstellung des
Ereignis-Denkens gehen, sondern um die Rekonstruktion der Kunstauffassung am
Leitfaden des Zum-Ausdruck-Bringens der Sinnoffenheit, das Heidegger im
Kunstwerkaufsatz ausführt. Auf diese Weise ist ans Licht zu bringen, wie Heidegger
die Thematik des Lebensvollzugs mittels der Überlegungen zur Kunst voranzubringen
versucht. Auch wird zu klären sein, welcher Aspekt dies Zum-Ausdruck-Bringen der
Sinnoffenheit, die Heidegger mit seinen Kunstauffassung herausarbeitet, im Denken
des späten Heidegger weiter zu verfolgen erlaubt. Schließlich soll auch aufgezeigt
333 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Heideggers Philosophie der Kunst, 1994, XIII-XIV
128
werden, dass Heideggers eigentümliche Kunstauffassung in der gegenwärtigen
Kunstphilosophie präsent ist und weiter fruchtbar gemacht werden kann. 5.1 Das Nichts und die Thematisierung des Lebensvollzugs
In Sein und Zeit ist die Thematisierung des Lebensvollzugs zwar präsent, aber nicht
weiterentwickelt worden. Denn die transzendentale Konstruktion verstellt den Weg
zur Explikation der Offenheit des Lebensvollzugs. Daher zögert Heidegger im den
Jahren nach Sein und Zeit nicht, die Analytik der transzendentalen Zeitlichkeit fallen
zu lassen. In seinem Vortrag von 1929, Was ist Metaphysik, hebt er dagegen den
Begriff des Nichts ins Blickfeld, was sich als ein Versuchs deuten lässt, die Thematik
des Lebensvollzugs nun auf andere Weise voran zu bringen.
Den Begriff des Nichts bezieht Heidegger auf das Sein des Seienden. „Das Nichts ...
enthüllt sich als zugehörig zum Sein des Seienden.“334 Es mutet widersprüchlich an,
dass das Nichts zum Sein gehöre. Daher stellt sich zunächst die Frage, was Heidegger
mit dem Nichts meint. Manche Interpreten halten das Nichts bei Heidegger für einen
Verweis auf die Nicht-Seiendheit des Seins.335 Jedoch lassen sich mit der Bedeutung
als „Nicht-Seiendheit“ eine Reihe von Formulierungen in diesem Vortrag nicht
hinreichend erklären. Wie zum Beispiel in der Aussagen: „Nur auf dem Grunde der
ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts kann das Dasein des Menschen auf Seiendes
zugehen und eingehen“336; „Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des
Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein“337; und „Im Sein des
334 Heidegger, GA 9, S. 120. 335 Vgl. Joseph J. Kockelmans´ Interpretation des Begriffes des Nichts bei Heidegger geht auf die ontologische Differenz zurück. Er versteht das Nichts als den Charakter des Seins gegenüber Seiendheit des Seienden. „In What is Metaphysics?, Non-being describes the Not which is characteristic of Being when it is seen from the perspective of being.“ Joseph J. Kockelmans, On the Truth of Being – Reflections on Heidegger´s Later Philosophy, Bloomington, 1984, S. 83; Vgl. Marion, 1998, S 61, 179; 336 Heidegger, GA 9, S. 114-115. 337 Ebd., S. 115.
129
Seienden geschieht das Nichten des Nichts.“ 338 Auch wenn sich hier nicht
ausschließen lässt, dass die Nicht-Seiendheit ein Charakter des Nichts ist, können wir
jedoch mit Sicherheit sagen, dass diese Bedeutung den vollen Sinn des Nichts nicht
umgreifen kann. Im Folgenden wollen wir daher einen Blick auf den vollen Sinn des
Nichts werfen.
Der Begriff des Nichts gerät bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen in den
Blick. Wie im zweiten Kapitel erwähnt wurde, begreift Heidegger dort den
Grundcharakter des Lebensvollzugs als das „Nichts des faktischen Lebens“. Das
„Nichts des Lebens“ sei keine bloße Negation, sondern die nicht zu objektivierende
und rätselhafte Bewegtheit, die konkret als die sich dynamisch vollziehende Offenheit
der Verstehensmöglichkeiten zu erfassen sei. In seinem Vergleich der beiden
Auseinandersetzungen Heideggers mit dem Begriff des Nichts in Was ist Metaphysik
und im „Nichts des faktischen Lebens“ kommt Francesco Malisardi zu dem Schluss,
dass die beiden Begriffe des „Nichts“ identisch sind und jeweils auf die Bewegtheit
des Lebens verweisen.339 Martina Roesner fasst die Konzeption des „Nichts“ noch
konkreter als ein solches auf, von dessen negativer Bedeutung als schlechthinniges
Nicht-Etwas doch dessen positive Fassung im Sinne von grundlos-unumschränkter
Bewegtheit und dem „All“ der Verstehensmöglichkeiten zu trennen sei.340 Die
negative und die positive Auffassung des Nichts machen zusammen seinen vollen
Sinn aus.
Die negative Bedeutung der Nichts lässt sich über die folgende Formulierung
338 Heidegger, GA 9, S.115. 339 Vgl. Francesco Malisardi, Die „Ruinanz“ als Grundbewegtheit des Faktischen und die Wurzeln der Seinsfrage, Paragrana 19, Berlin, 2010, S. 90-93. 340 Vgl. Martina Roesner, 2012, S. 79. Der vollständige Text: „Das Leben [...] ist im Grunde ein durch Radikalisierung des Phänomens der Ursprünglichkeit gewonnenes Synonym des Nichts, von dessen negativer Bedeutung als schlechthinniges Nicht-Etwas es so gut wie nichts und zugleich doch alles trennt, nämlich dessen positive Fassung im Sinne grundlos-unumscränkter Beweglichkeit. Zugleich ist dieses „Nichts“ des Lebens aber keine sich jedem Verständnis verweigernde Ununterschiedlichkeit, sondern gerade das „All“ jedes möglichen Verstehens; ist es doch von einem immanenten Rhythmus durchzogen, der zwischen den von ihm selbst hervorgebrachten Formen des ursprünglichen wie auch des verfallenden Erlebens nach eigengesetzlichen Regeln hin und her schwingt und so das Leben stets in die absolute Ursprünglichkeit erlebter Bedeutungsfülle zurückzuholen vermag.“
130
Heideggers ausweisen: „Das Nichts ist weder ein Gegenstand noch überhaupt ein
Seiendes.“341 Marion interpretiert die Nichts als „Nicht-sichtbar-sein“342. Jedoch
bezieht sich die Nichts für Heidegger nicht nur auf das „Nicht-sichtbar-sein“, sondern
auch auf das „Unbewusst-erlebt-sein“, das er als „rätselhaft“ bezeichnet. Das
rätselhafte Nichts in seinem positiven Sinne ist die grundlose Bewegtheit vom „All
der Verstehensmöglichkeiten“, mit anderen Worten: die sich dynamisch vollziehende
und grundlose Offenheit der Verstehensmöglichkeiten. Hier wird ersichtlich, dass
Heidegger mit dem Begriff des Nichts gerade die Offenheit des Lebensvollzugs meint.
Mit der Fragestellung: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“,
weist Heidegger auf die Forschungsrichtung der 30er Jahre hin, nämlich die
Thematisierung des Nichts. In der Thematisierung des Nichts vollzieht sich nun die
Kontinuität der Thematik des Lebensvollzugs von den Freiburger Anfängen über die
Marburger Vorlesungen bis in die 1930er Jahre. Es wird aufzuzeigen sein, dass diese
Thematik nicht nur nach Sein und Zeit noch präsent ist, sondern dass es sich zudem
dahingehend weiterentwickelt, dass nun die Offenheit der Verstehensmöglichkeiten,
die wir auch Sinnoffenheit nennen können, auf den Weg gesetzt wird, zum Ausdruck
gebracht zu werden.
5.2 Die Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen
Das Nichts bezeichnet Heidegger in Was ist Metaphysik auch als das Seiende im
Ganzen. „Das Nichts begegnet ... ‚in eins mit’ dem Seienden im Ganzen.“343 Und
diese „im Ganzen abweisende Verweisung auf das entgleitende Seiende im Ganzen ...
ist das Wesen des Nichts: die Nichtung.“344 Der volle Sinn des Nichts als rätselhafte
341 Heidegger, GA 9, S.115. 342 Marion, 1998, S. 61. Der vollständige Text: „Being itself does not show itself precisely because it is not. [...] Being, at least from the point of view of the present phenomenon, and therefore of evident beings, is nothing of a being, and it is nothing visible“. 343 Heidegger, GA 9, S. 113. 344 Ebd., S. 114. Die Formulierungen wie „Nichtung des Nichts“ und „das Nichten des Nichts“sollen sich auf die negierende Funktion der formalen Anzeige beziehen, durch die die Offenheit der Verstehensmöglichkeit erst zugänglich ist. Die negierende Funktion heißt Negierung jeder festen gehaltsmäßigen Bestimmung von Seiendem. Der Grund, warum die feste gegenständliche Bestimmung negiert werden muss, liegt in der Abwehr der objektivierenden Tendenz des Lebens, die für die
131
Sinnoffenheit ist somit auf den Begriff des Seienden im Ganzen zu übertragen. Die
Thematisierung des Nichts vollzieht Heidegger in der ersten Mitte der 30er Jahre im
Rahmen seiner Lehre der Wahrheit des Seins des Seienden. Die Wahrheit des Seins
des Seienden verortet er in der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen. In der
Wahrheitslehre der 1930er Jahre geht es also um die Explikation, mit anderen Worten,
das Zum-Ausdruck-Bringen der rätselhaften Sinnoffenheit.
Zu jener Zeit spricht Heidegger nicht mehr von der Wahrheit als Entdecktheit oder
Erschlossenheit, sondern von der Wahrheit des Seins des Seienden. Im Aufsatz Vom
Wesen der Wahrheit von 1930 definiert Heidegger die Wahrheit des Seins als die
Offenbarkeit bzw. Unverborgenheit des Seienden im Ganzen.345 In der Offenbarkeit
entbirgt sich einerseits dieses und jenes Seiende im Seinlassen des Seienden im
Ganzen; andererseits liegt das Seiende im Ganzen wiederum in der Verborgenheit.346
„Gerade indem das Seinlassen im einzelnen Verhalten je das Seiende sein lässt, zu
dem es sich verhält, und es damit entbirgt, verbirgt es das Seiende im Ganzen.“347
Das Seinlassen bezieht sich auf die vortheoretische Welterschlossenheit348, in der das
Seiende zur Erscheinung kommt. Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen fungiert
aber eher als Startpunkt für das Erscheinen des Seienden.
Im Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit zeigt sich die Akzentverschiebung in
Heideggers Ansatz von einer analytischen transzendentalen Konstruktion der
Welterschlossenheit, hin zu dem Versuch, die Welterschlossenheit, genauer gesagt:
Theoretisierung und das Alltagsleben kennzeichnend ist. Jede Objektivierung, die tendenziell mit der Erscheinung des Seienden geschieht, verdeckt die sich vollziehende Offenheit der Möglichkeit, die Erscheinung eben möglich macht. Erst durch das Freihalten des Bezugssinns und durch die Negierung der festen gegenständlichen Bestimmungen aus dem Gehaltsinn wird die Objektivierung abgewehrt und somit die Offenheit der Mannigfaltigkeit der Verstehensmöglichkeiten, in der das Seiende verstanden wird, das heißt zur Erscheinung kommt, uns zugänglich. 345 Heidegger, GA 9, S. 192, 198. 346 Vgl. Ebd., S. 190, 193, 194. 347 Ebd., 193. 348 Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen spielt als das Seinlassen für Heidegger die gleiche Rolle der vortheoretischen Welterschlossenheit in Sein und Zeit. Dazu sagt er, „Wo für den Menschen das Seiende [...] durch Wissenschaft kaum und nur roh erkannt ist, kann die Offenbarkeit des Seienden in Ganzen wesentlicher walten als dort, wo das Bekannte und jederzeit Kennbare unübersehbar geworden ist“. (GA 9, 192)
132
die rätselhafte Sinnoffenheit, unmittelbar zu explizieren. Das Seiende im Ganzen in
der Offenbarkeit als der Startpunkt, in dem das Seiende im Einzelnen sich offenbart,
erscheint selbst nicht, das heißt es liegt in der Verborgenheit. In der Wahrheit als der
Offenbarkeit des Seienden im Ganzen vollzieht sich dann das Spiel von der
Entbergung des Seienden im Einzelnen und der Verborgenheit des Seienden im
Ganzen. Dieses ist bei Marion eben als das „Spiel zwischen Verborgenem und
Unverborgenem“ zu verstehen. In einer Fußnote, die Heidegger 1943 an das oben
gegebene Zitat anfügt, erklärt er den Einblick in die Verborgenheit als den „Sprung in
die (im Ereignis wesende) Kehre“.349 Der „Sprung in die Kehre“ symbolisiert die
Akzentverschiebung hin zur unmittelbaren Explikation der Sinnoffenheit in der
Verborgenheit.
Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen umfasst in Heideggers Auslegung das Spiel
zwischen Entbergung des Seienden im Einzelnen und Verbergung des Seienden im
Ganzen. Zum Verständnis dieses Spiels ist Tugendhats Interpretation aufschlussreich.
Dieses kann seinerseits entborgen werden, aber dann liegt auch über dieses hinaus Verborgenes: das Verborgene wechselt, aber die Verborgenheit – die ‚Verbergung’ – bleibt, und sie macht es überhaupt möglich, dass wir das jeweils Entborgene übersteigen können.350
Nehmen wir hier ein anschauliches, wenn auch nicht ganz angemessenes Beispiel, um
diesem Fall zu erklären: Die Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ist wie das
Sonnenlicht im Meerwasser. Das Meerwasser wechselt seine Farbe, manchmal
erscheint es als blau, manchmal als grün und manchmal gemischt. Wir sehen niemals
alle Farben des Sonnenlichts im Meerwasser auf einmal, da die anderen Farben
jeweils verborgen sind, und sich je nur die eine oder andere offenbart. Das heißt wir
sehen das Licht, während wir es nicht sehen. Die Offenbarkeit des Seienden im
Ganzen als die dynamische Entbergung dieses und jenes Seienden ist gleichwohl auch
eine dynamische Verbergung des Seienden im Ganzen.
349 Heidegger, GA 9, S. 192.350 Tugendhat, 1970, S. 389.
133
Diese Dynamik in der Spannung zwischen Entbergung und Verbergung in der
Offenbarkeit des Seienden im Ganzen ist auf das dynamische Geschehen des
Seienden im Ganzen zurückzuführen. Das Seiende im Ganzen als die Sinnoffenheit
fungiert einerseits als die Welterschlossenheit, das Seinlassen des Seienden im
Einzelnen; andererseits liegt es in der Verborgenheit. Die Verborgenheit und
Offenbarkeit beziehen sich nicht auf zwei Seiten des Seienden im Ganzen, sondern
drücken den Grundcharakter der Sinnoffenheit aus. Mit der Verborgenheit ist das
Unbewusst-erlebt-sein der Sinnoffenheit gemeint. Diese rätselhafte Sinnoffenheit geht
dadurch in die Offenbarkeit, dass sie das Seiende im Einzelnen erschein lässt. Jedoch
ist das Seiende im Einzelnen nicht als etwas Stabiles zu bestimmen, da es nur eine
mögliche Erscheinung bzw. eine mögliche Instanziierung aus der Sinnoffenheit als
der Mannigfaltig der Möglichkeiten ist und stets auch anders sein könnte, und zwar
im Vollzug der Sinnoffenheit. Das heißt, das Seiende im Einzelnen ist nie fest zu
bestimmen, sondern es speist sich im dynamischen Sinnvollzug aus der rätselhaften
Tiefe, und es zeigt sich nur als eine Möglichkeit in der Offenheit und
Mannigfaltigkeit des Sinnes. Dies macht eben die Verbergung-Entbergung-Dynamik
des Wahrheitsgeschehens aus. Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen sei, so
Heidegger, im Vergleich mit der Entbergung das Grundliegende und Ursprünglichste.
„Die Verborgenheit des Seienden im Ganzen [...] ist älter als jede Offenbarkeit von
diesem und jenem Seienden. Sie ist älter auch als das Seinlassen selbst, das
entbergend [...] zur Verbergung sich verhält.“ Sie fungiert als der Ursprung der
Entbergung-Verbergung-Dynamik. Mit dieser Behauptung verweigert sich Heidegger
jeder auf Subjektivität basierenden Interpretation der Sinnoffenheit. Auf diesen Punkt
kommen wir später noch einmal zurück.
Mit der Illustration der Wahrheit als der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen
versucht Heidegger die transzendentale Konstruktion der Sinnoffenheit zu vermeiden,
und die Thematisierung der Sinnoffenheit auf den Weg zu einer darstellenden
Explikation dieses dynamischen Sinnoffenheitsgeschehens zu bringen. Mit der
Illustration der Offenbarkeit des Seienden im Ganzen als ein näherer Hinblick auf die
134
Sinnoffenheit vollzieht Heidegger den ersten Schritt auf diesem Weg. Die weiteren
Schritte erfolgen im Rahmen seiner Kunstauffassung.
Die Offenbarkeit des Seienden in Ganzen, also die Sinnoffenheit in der Dynamik
erkennt Heidegger als das ursprüngliche Geschehen der Wahrheit. Die Zeugerfahrung,
von der ausgehend er das Wahrheitsphänomen in Sein und Zeit illustriert, ist ihm
zufolge nun nicht mehr anwendbar, wenn es um die Darstellung des Grundgeschehens
der Wahrheit als Offenbarkeit des Seienden im Ganzen geht. Denn Zeugerfahrung
gehört zum Alltagsleben. Heidegger weist nun aber darauf hin, dass die Wahrheit als
Offenbarkeit des Seienden im Ganzen nicht im alltäglichen Leben geschieht. „Dieses
‚im Ganzen’ erscheint aber im Gesichtsfeld des alltäglichen Rechnens und
Beschaffens als das Unberechenbare und Ungreifbare.“351 Es ist im „Umkreis der
gangbaren Absichten und Bedürfnisse“ als „Grundgeschehnis in der Vergessenheit
versunken“.352 Das Grundgeschehen der Wahrheit geschieht gleichwohl auch nicht in
der Theoretisierung. Wissenschaft ist „kein ursprüngliches Geschehen der Wahrheit,
sondern jeweils der Ausbau eines schon offenen Wahrheitsbereiches“. 353 Das
ursprüngliche Geschehen der Wahrheit entfaltet sich laut Heidegger in der Dichtung,
bzw. Kunst.354
5.3 Das Sichtbarmachen der Sinnoffenheit in der Kunsterfahrung
Dies ist der Hintergrund, auf dem Heidegger den Aufsatz Der Ursprung des
Kunstwerkes verfasst. Das Grundgeschehen der ursprünglichen Wahrheit geschehe im
Kunstwerk als der „Streit zwischen Welt und Erde“. Die
Entbergung-Verbergung-Struktur des Wahrheitsgeschehens erfasse sich dann als
Welt-Erde-Struktur der Wahrheit im Kunstwerk. Das Wesen der Kunst erkennt
351 Heidegger, GA 9, S. 193; Vgl. GA 5, S. 59. „Aus dem Vorhandenen und Gewöhnlichen wird die Wahrheit niemals abgelesen.“ 352 Heidegger, GA 9, S. 195. 353 Heidegger, GA 5, S. 49. 354 Vgl. Heidegger, GA 40, Einführung in die Metaphysik, S. 140.
135
Heidegger im „Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“. Obwohl der Startpunkt für
Heideggers Überlegungen des Kunstwesens der ist, das ursprüngliche
Wahrheitsgeschehen, also die rätselhafte Sinnoffenheit in der Dynamik, ans Licht
kommen zu lassen, sind in seinem Kunstverständnis auch neue Perspektiven eröffnet,
die in der gegenwärtigen Kunstphilosophie bereits präsent sind, und die für die
gegenwärtigen Kunsttheorien fruchtbar gemacht werden können.
5.3.1 Die Wahrheit als Streit zwischen Welt und Erde und der geschehende
Sinnkontext
Im Ursprung des Kunstwerkes definiert Heidegger das Wesen der Kunst als
„Ins-Werk-Setzen der Wahrheit“. In diesem Aufsatz legt er die Wahrheit als ein Streit
zwischen Welt und Erde aus, „in dem die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen,
die Wahrheit erstritten wird“355. Der Streit von Welt und Erde wird konkretisiert als
der Streit zwischen Entbergung und Verbergung. „Die Wahrheit richtet sich ins Werk.
Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung in der
Gegenwendigkeit von Welt und Erde.“356 Mit „Welt“ und „Erde“ sind hierbei nicht
zwei voneinander unabhängige Substanzen gemeint, vielmehr verwendet Heidegger
die Begriffe für die Entbergung und Verbergung des Selben, nämlich des Seienden im
Ganzen in der Dynamik. „In dem Streit wird die Einheit von Welt und Erde
erstritten.“357 Entbergung und Verbergung sind zusammengehörig und machen die
Entbergung-Verbergung-Dynamik des Seienden im Ganzen, des
Wahrheitsgeschehens aus.
Heidegger betrachtet einige Kunstwerke im Besonderen, um die sich entbergende
Welterschlossenheit aufzuzeigen. So zum Beispiel das Bild „Bäuerin-Schuhe“ von
Van Gogh, das Gedicht „Der römische Brunnen“ von C.F. Meyers und ein
355 Heidegger, GA 5, S. 42. 356 Ebd., S. 50. 357 Ebd., S. 51.
136
altgriechischer Tempel. In Van Goghs Bild zeigen sich nach Heidegger nicht nur ein
paar gebrauchte Schuhe, sondern vielmehr die Lebenswelt einer Bäuerin. Mit dem
Öffnen der Welt einer Bäuerin eröffne sich gerade die Wahrheit der Schuhe im Werk.
Im Gedicht „Der römische Brunnen“ sogar wird überhaupt kein vorhandener Brunnen
beschrieben, sondern es wird geschildert, wie im Alltag das Wasser aus dem Brunnen
geholt wird. In dieser Schilderung erkennt Heidegger: „die Wahrheit ist ins Werk
gesetzt.“358 Beim griechischen Tempel schließlich „sieht“ Heidegger die Götterwelt
und „die Welt dieses geschichtlichen Volkes“ 359 des alten Griechenlands. Die
Wahrheit im Kunstwerk ist in Heideggers Interpretation keine Abbildung von Etwas,
keine Übereinstimmung von Bild und Abgebildetem, sondern das Vollzugsgeschehen
der Welt, das heißt des offenen Sinnkontextes, in dem das dargestellte Ding
verstanden wird und verständlich gemacht werden kann.
Der Sinnkontext im Geschehnis verweist eben auf die Sinnoffenheit in der Dynamik,
die als Wahrheit ins Kunstwerk gesetzt und in der performativen Darstellung des
Kunstwerkes erfahren wird. In Sein und Zeit fungierte die Welterschlossenheit als
Möglichkeitsbedingung des Erscheinens des Seienden, die analytisch mit der
transzendentalen Zeitanalytik behandelt wird. Im Kunstwerkaufsatz wendet sich
Heidegger von der transzendentalen Darlegung der Erschlossenheit ab und der
Darstellung des inhaltlichen und phänomenalen Geschehens der Erschlossenheit
(Sinnoffenheit) zu, das als der Sinnkontext des Verstehens des Kunstwerkes zwar
über das Kunstwerk hinausgeht, jedoch mittels der Darstellung des Kunstwerkes
„gesehen“, das heißt phänomenal erfahren werden kann. Dieses phänomenale
Geschehen des Sinnkontextes macht eben das Wahrheitsgeschehen im Kunstwerk
aus.360
358 Heidegger, GA 5, S. 23. 359 Ebd., S. 28. 360 Es muss darauf hingewiesen werden, dass ein paar Begriffe in der Erläuterung, wie Erschlossenheit, Sinnkontext, Sinnvollzug, Sinngeschehnis usw. untereinander Ersatzbegriffe sind und das Selbe meinen, nämlich die rätselhafte (unbewusst erlebte) Sinnoffenheit in der Dynamik als das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen (in 1930er Jahre).
137
In seiner Kunstauffassung zeigt Heidegger die Möglichkeit auf, die rätselhafte
Sinnoffenheit als den Sinnkontext des Kunstwerkes phänomenal zu erfahren.
Aufgrund dieser Kunstauffassung erkennt Gadamer die Möglichkeit einer Explikation
der Sinnoffenheit. Dies ist die Hermeneutik des Kunstwerkes. Heidegger nimmt
jedoch den hermeneutischen Zugang zur Sinnoffenheit nicht in Kauf. Er sucht nach
einer anderen Möglichkeit, um die Sinnoffenheit noch unmittelbarer sichtbar zu
machen. Durch seine Untersuchungen zur Kunsterfahrung etabliert Heidegger aber
auch einige Einsichten in das Kunstverständnis, die in der gegenwärtigen
Kunstphilosophie aufgegriffen werden. Von der bisherigen Darstellung her lässt sich
eine erste Einsicht aus dem Kunstverständnis Heideggers hervorheben: Das
Kunstwerk lässt etwas sehen, was sonst unsichtbar und unbewusst bliebe. Was im
Kunstwerk sichtbar wird, ist nicht nur die sinnliche Darstellung, sondern vielmehr das
über das Kunstwerk hinausgehende Geschehen des Sinnkontextes des Kunstwerkes,
in dem wir das Ding erfahren und verstehen. Insofern ist ein Kunstwerk primär als
Sinn zu verstehen (1). Von daher behauptet Heidegger, dass es in der Kunst nicht um
die Schönheitsästhetik gehe. Es gehe in der Kunst nicht um die Schönheitsästhetik,
sondern um die Möglichkeiten des menschlichen Lebens, die sich im nicht
erscheinenden Sinnkontext geschichtlich vollziehen und zu Ausdruck zu bringen sind.
Mit der Kunst, wie Günter Figal zusammenfasst, werden „in der innigen
Gegenwendung zum Verborgenen, Undurchdringlichen wesentliche Möglichkeiten
geschichtlichen Lebens ins Offene gestellt.“361
5.3.2 Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes – die anti–subjektive
Kunstverfassung
Für einige Interpreten ist Heideggers Auslegung der im Kunstwerk erlebten Wahrheit
problematisch, sofern sie nicht von der subjektiven Projektion eines Individuum zu
trennen sei.362 Heidegger selbst behauptet aber, dass die Wahrheit in der Kunst keine
361 GünterFigal,Kunst,2012,S.160-161. 362 In seinem Vorwurf an Heideggers Kunstverfassung hält der Kunsthistoriker Meyer Schapiro die
138
subjektive Projektion sei.363 Daher stellt sich die Frage, in welchem Sinne sie keine
subjektive Projektion sei. Der nicht-subjektive Charakter der Wahrheit gründet im
Begriff der Erde.
Das phänomenale Geschehnis des Sinnkontextes erfasst sich bei Heidegger als Welt,
die innig mit der Erde zusammenhänge. Beides bezieht sich auf die
Entbergung-Verbergung-Dynamik des Wahrheitsgeschehens. Dabei merkt Heidegger
an, dass die Erde ursprünglicher als die Welt sei. „Die Welt gründet sich auf die Erde,
und Erde durchragt Welt.“364 Welt stehe uns offen, während die ursprünglichere Erde
uns aber verschlossen sei. Der Begriff der Erde mutet daher etwas mythisch und
gnostisch an. Worin besteht dann aber das Existenzrecht dieses Begriffs? Nach
Gadamer ist „die wichtige Einsicht, die Heideggers Kunstwerkaufsatz über den
Ursprung des Kunstwerks eröffnet, dass ‚Erde’ eine notwendige Seinsbestimmung
des Kunstwerks ist.“365 Der gleichen Ansicht ist auch Otto Pöggeler: „In diesem
Begriff der Erde verbirgt sich der entscheidende Schritt, den Heidegger auf seinem
Denkweg tat, als er sich auf die Kunst besann.“366
Erde ist der Begriff für die Verbergung und Verborgenheit des Seienden im Ganzen.
Wie zuvor aufgezeigt wurde, sei die Verborgenheit das Ursprünglichste, und der
Ursprung der Dynamik des Wahrheitsgeschehens. Gadamer interpretiert Erde als die
Verborgenheit auf die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes, und die „Wahrheit erlebte Welt, die in Heideggers Darstellung als die Wahrheit des im Kunstwerk dargestellten angesehen wird, eben für eine subjektive Projektion Heideggers. So sind etwa die Schuhe im Gemälde Van Goghs, die Heidegger als Bäuerinnenschuhe interpretiert wissen will, sind von Schapiro als Abbildung von Van Goghs eigenen Schuhen ausgewiesen. Vgl. Meyer Schapiro, The Still Life as a Personal Object - A Note on Heidegger and Van Gogh, in: Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society, 1994, S. 138. Jacques Derrida weist darauf hin, dass Schapiro vom Standpunkt der traditionellen Übereinstimmungswahrheitslehre ausgehend Heideggers Wahrheitskonzeption missversteht. Die Wahrheit im Kunstwerk sei vielmehr als enthüllte Präsenz im Gegensatz zur Übereinstimmung vom Bild und Abgebildeten zu verstehen. Derrida klärt jedoch nicht auf, inwiefern die erlebte Wahrheit keine subjektive sei. Vgl. Jacques Derrida, Die Wahrheit in der Malerei, Wien, S. 372. 363 Vgl. Heidegger, GA 5. S. 21. 364 Vgl. Ebd. S. 35. 365 Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Reclam Ausgabe, S. 106. 366 Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 207. Jedoch bleibt Pöggelers Einsicht der entscheidenden Rolle der Erde bei der Einführung der Verborgenheit oder Unwahrheit in Heideggers Wahrheitslehre und geht nicht in Heideggers Kunstverständnis an sich hinein.
139
(des Kunstwerkes) ist nicht das plane Offenliegenen von Sinn, sondern vielmehr die
Unergründlichkeit und Tiefe seines Sinnes.“367 Mit der Einführung des Begriffs der
Erde in der Darstellung der Wahrheit des Kunstwerkes erkennt er Heideggers
„Bestreben, die ontologische Struktur des Werkes unabhängig von der Subjektivität
seines Schöpfers und Betrachters zu verstehen“. 368 Das heißt die erlebte Wahrheit im
Kunstwerk ist nichts Subjektives, sondern entspringt als der geschehende Sinnkontext
in der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes, der unabhängig von Subjektivität ist.
Mit dem Einsatz des Begriffs der Erde, so Gadamer, vermeide Heidegger „jeden
Rückgriff auf den Geniebegriff der klassischen Ästhetik“369.
Erde als die Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes ist nicht nur der Grund für den
nicht-subjektiven Charakter der Wahrheit, sondern sie fungiert auch als Quelle
künstlerischen Schaffens. Aus der Tiefe des Sinnes geht etwas Neues als Wahres
hervor.370 Das heißt, in der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes entspringt die
schöpferische Kraft der Kunst. In der Vorlesung vom Sommersemester 1935,
Einführung in die Metaphysik, bezeichnet Heidegger in einer metaphorischen Sprache
das Schaffen als das „Gewalttätige“, das „das Ungeschehene erzwingt und das
Ungeschaute erscheinen macht“371. Das Schaffen ist für Heidegger keine subjektive
Aktivität des Schöpfers, sondern das Erscheinen-machen des Sinnkontextes aus der
Tiefe des Sinnes, das universal, sowohl vom Schöpfer als auch vom Betrachter,
erfahren werden kann.
An dieser Stelle lässt sich Heideggers zweite Einsicht über das Kunstverständnis
abheben: Was wir im Kunstwerk erfahren ist nicht das Ergebnis einer subjektiven
Aktivität, sondern ist universal, da es sich aus der Tiefe des Sinnes als der
367 Hans-Georg Gadamer, Zur Einführung, in: Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, Reclam Ausgabe, S. 115. Ersichtlich ist, dass Gadamer die Konzeption der Unergründlichkeit und Tiefe des Sinnes von Dilthey übernimmt und ihre Umsetzung in Heideggers Denken sieht. 368 Ebd., S. 111. 369 Ebd. 370 Vgl. Ebd., S. 117-118. 371 Heidgger, GA 40, S. 170. Vgl., S. 162.
140
geschehende Sinnkontext in seinen Möglichkeiten speist. Das Hervorkommen des
Sinnkontextes aus der Tiefe des Sinnes manifestiert sich als künstlerisches Schaffen,
das im Kunstwerk zur Erscheinung oder Darstellung kommt. (2)
5.3.3 Die Verkörperung der Erde – Der Zusammenhang von Raum, Sinn und
Material
Die dritte Einsicht im Rahmen der Kunstauffassung Heideggers bezieht sich auf die
Verkörperung der Erde, in der Heidegger entscheidende Möglichkeit erkennt, das
Zum-Ausdruck-Bringen der rätselhaften Sinnoffenheit zu vollziehen. Heidegger
untersucht den Zusammenhang zwischen Kunstwerk und Material am Beispiel des
griechischen Tempels, und er zeigt auf, dass der Stoff des Zeuges bei seinem
Herstellen „gebraucht und verbraucht“ wird und in der Dienlichkeit verschwindet372,
während das Kunstwerk den Werkstoff nicht verschwinden, sondern gerade
hervorkommen lässt.
Das Tempel–Werk dagegen lässt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen und zwar im Offenen der Welt des Werkes: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. All dieses kommt hervor, indem das Werk sich zurückstellt in das Massige und Schwere des Steins, in das Feste und Biegsame des Holzes, in die Härte und den Glanz des Erzes, in das Leuchten und Dunkeln der Farbe, in den Klang des Tones und in die Nennkraft des Wortes. Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Sichzurückstellen hervorkommen lässt, nannten wir die Erde. Sie ist das Hervorkommend-Bergende.373
In Vergleich zum alltäglichen Gebrauchszeug, dessen Material in der Dienlichkeit
verschwindet, zeichne sich das Kunstwerk in seinem Werksein dadurch aus, dass alle
seine sinnlichen Elemente eigens in Erscheinung treten, den geschehenden
Sinnkontext tragen, und zusammen mit diesem Sinnkontext das Erscheinungsmilieu,
also „die hervorkommende Erde“, konstituieren. Das Erscheinungsmilieu ist die
Verkörperung des Sinnkontextes, das heißt die Sinnoffenheit, und lässt sich nicht als 372 Heidegger, GA 5, S. 32. 373 Ebd.
141
festbestimmte Substanz verstehen, sondern bleibt als Verkörperung der Sinnoffenheit
immer offen im dynamischen Sinnvollzug.
Das Erscheinungsmilieu charakterisiert auch die spezifisch räumliche Natur des
Kunstwerkes. Die konstitutiven materialen Elemente des Kunstwerkes, sowohl des
zweidimensionalen als auch des plastischen Kunstwerkes, die sich als Unterbau des
Sinngeschehens in der Kunsterfahrung herausbilden, erscheinen nicht in irgendeinem
gegebenen Raum, sondern machen selbst den Raum ihres Erscheinens aus. Wie Ilya
Inishev in ihrer Interpretation darlegt, gestattet die Zusammengehörigkeit von
sinnlichen Elementen und des sinnhaft Erfahrenen im Kunstwerk „es nicht mehr,
zwischen dem Erscheinungsraum und Erscheinungsobjekt zu unterscheiden, oder das
Bildliche von der es verkörpernden Materialität zu separieren.“374 Obwohl Ilya
Inishev die Kunstverfassung bei Heidegger vor allem am Beispiel des
zweidimensionalen Bildes interpretiert, wird durch das Beispiel des griechischen
Tempels doch klar, dass seine eigentümliche Kunstverfassung auch auf
dreidimensionale Kunstformen zu übertragen ist.
So ergibt sich Heideggers dritte Einsicht in die Kunstverfassung: Das, was wir primär
im Kunstwerk erfahren, nämlich der geschehene Sinnkontext, kommt mit dem
sinnlichen Material des Kunstwerkes in Erscheinung und konstituiert sich mit ihm
zum Erscheinungsmilieu, das auch den Raum des Kunstwerkes ausmacht. (3) In
dieser Einsicht erkennt Heidegger die ausgezeichnete Möglichkeit, die rätselhafte
Sinnoffenheit zum Ausdruck zu, mit anderen Worten, diese zum Sehen zu bringen.
Das Zum-Ausdruck-bringen ist keine begriffliche Explikation, sondern das direkte
Sichtbar-machen der Sinnoffenheit mittels der Materialität des Kunstwerkes. Es ist
die Verkörperung der Sinnoffenheit.
374 Ilya Inishev, Heideggers Philosophie der Kunst im Lichte gegenwärtiger Ästhetik und Bildtheorie, in: Phainomena, Journal of Phenomenology and Hermeneutics. 2013. Vol. 22. No. 84-85. S. 212.
142
Bemerkenswert ist jedoch, dass das Sichtbar-machen der Sinnoffenheit in der
Verkörperung des Kunstwerkes keine begriffliche Explikation durch irgendeine
Methode, sondern selbst schon die Kunsterfahrung an sich ist. Insofern stellt sich die
Frage, wie man die die Sinnoffenheit verkörpernde Kunsterfahrung explizieren kann,
ohne sich an die Hermeneutik zu wenden, und ob es überhaupt möglich ist, die
Sinnoffenheit begrifflich zu vermitteln. Diese Fragen verweisen aber auf die
Untersuchungen des Ereignisses beim späten Heidegger. Darauf wird in dieser Arbeit
nicht mehr einzugehen sein.
In Heideggers Überlegungen zum Wesen der Kunst, die er in der ersten Mitte der
1930er Jahren mit dem Kunstwerkaufsatz entfaltet, lassen sich seine Bemühungen
entdecken, in der Kunsterfahrung die Möglichkeit des Zum-Ausdruck-Bringens der
Sinnoffenheit freizulegen. Obwohl am Ende immer noch offen bleibt, wie die
Sinnoffenheit zur begrifflichen Explikation gebracht werden kann, eröffnen
Heideggers Kunstauffassungen doch neue Perspektiven, um Kunst zu verstehen.
Diese Perspektiven sind in der gegenwärtigen Kunstphilosophie bereits präsent und
können weiter fruchtbar gemacht werden.
5.3.4 Präsenz von Heideggers Kunstverfassung in der gegenwärtigen
Kunstphilosophie
Da es unmöglich ist, in dieser Arbeit eine umfangreiche Darstellung der
gegenwärtigen Ästhetik und Kunsttheorie vorzulegen, hat die folgende Erläuterung
nur die Aufgabe, einen kurzen Blick auf die der Kunstauffassung Heideggers
entsprechenden Kunstdefinitionen in der gegenwärtigen Kunstphilosophie zu werfen.
Dabei wird vor allem die Philosophie von Arthur C. Danto und Dennis J. Schmidt
näher betrachtet.
Arthur C. Danto, einer der bekanntesten amerikanischen Kunstphilosophen und
Kunsthistoriker, legt in seinem Buch Was Kunst ist eine sorgfältige Untersuchung der
143
modernen Kunstentwicklung vor, insbesondere im Bereich der Malerei, und er
versucht darin, den Begriff der Kunst erneut zu definieren, da er feststellt, dass die
Kunst und das Kunstverstehen seit dem späten 19. Jahrhundert eine grundlegende
Transformation erlebt hat, und uns heute vermehrt mit der Frage konfrontiert: Ist das
Ding vor meinen Augen wirklich ein Kunstwerk? Vor diesem Hintergrund bestimmt
Danto sein Projekt, eine neue Definition der Kunst auszuarbeiten, als eine Ontologie
der Kunst in Abgrenzung von einer Epistemologie der Kunst. Die Kunstontologie
behandle die Fragestellung, was Kunst ist, während es in der Kunstepistemologie um
die Frage gehe, wie man ein Kunstwerk erkennt. Die epistemologische Fragestellung
abstrahiert also gerade von der Frage, mit der wir uns immer wieder konfrontiert
sehen, ob das Ding vor meinen Augen wirklich ein Kunstwerk sei. Danto meint, dass
das, was sich hinter dieser Frage verbirgt, unsere Verwirrung über das Kunstsein sei.
Eine Verwirrung, die sich ergibt, wenn unsere Kunstauffassung sich unbewaffnet, das
heißt ohne über eine der Kunst der Moderne375 angepassten Kunstontologie zu
verfügen, den Herausforderungen der künstlerischen Entwicklung seit dem späten 19.
Jahrhundert ausgesetzt sieht. Daher müssen wir die Kunst, strenger genommen, das
Kunstsein, erneut in den Blick nehmen, und eine neue Kunstontologie in
Entsprechung der Kunst der Moderne erarbeiten. Dantos entwirft jene neue
Kunstontologie jedoch nicht nur umwillen einer Anpassung an die moderne Kunst,
sondern vielmehr auch, um ein neues Verstehen des Kunstseins an sich zu entfalten.
Zu Beginn seines Buches stellt Danto das Gedicht „Der Man mit blauer Gitarre“ von
Wallace Stevens vor und deutet an, dass Kunst etwas ist, das über uns hinausgeht,
jedoch noch unser selbst ist und davon motiviert ist, das Ding, wie es selbst ist, zu
zeigen.376 Danto führt in seinem Buch drei Kriterien für das Kunstsein der modernen
375 In der vorliegenden Erläuterung wird der Begriff der “Kunst der Moderne” in Abgrenzung von der “modernen Kunst”, die meistens die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts bezeichnet, verwendet. Die Kunst der Moderne ist eher der Oberbegriff für alle künstlerischen Entwicklungen seit zirka 1870. 376 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, New Haven/London, 2013. S. 10. Der Volltext des Gedichtes: „ ‚You have a blue guitar, You do not play things as they are.’ The man replied, ‚Things as they are, are changed upon the blue guitar.’ And they said then, ‚But play, you must, a tune beyond us, yet ourselves, a tune upon the blue guitar of things exactly as they are.’ “
144
Kunst ein: das erste ist der Sinn (meaning), der „über uns hinausgeht, jedoch noch
unser selbst ist“; das zweite ist die Verkörperung (Embodiment), die den Sinn mit
dem materialen Kunstwerk verbindet und ihn damit erscheinen lässt; die dritte ist,
etwas poetisch ausgedrückt, „der wache Traum“, „das schöpferische Prinzip“377, das
unabhängig von der individuellen Subjektivität das künstlerische Schaffen ins
Kunstwerk bringt.378 Hier lässt sich sogleich die zuvor erläuterte zweite Einsicht aus
der Kunstauffassung Heideggers Kriterium Dantos wieder auffinden. Wegen seiner
Unklarheit und wegen der Nähe zu Hegels erhabener Ästhetik ist die Erklärungskraft
dieses dritten Kriteriums für die Kunst der Moderne weithin umstritten. Daher
beschränken wir uns im Folgenden auf die ersten zwei Kriterien des Kunstseins: Der
Sinn und die Verkörperung, die heutzutage weithin akzeptiert sind.
Danto bemerkt, dass der Sinn und die Verkörperung als Kriterien des Kunstseins
untrennbar verknüpft sind. Daher spricht er auch immer wieder vom „verkörperten
Sinn“. „Die Verkörperung der Ideen oder, ich werde eher sagen, des Sinns ist wohl
alles was wir als philosophische Theorie darüber, was Kunst ist, benötigen.“379 Um
seinen Standpunkt zu verstärken, zitiert er Kirk Varnedoe, „Wir sind Sinnmacher,
nicht nur Bildmacher. Es ist nicht nur, dass wir die Bilder erkennen ... es ist
(vielmehr), dass wir so eingerichtet sind, aus den Dingen den Sinn herauszuholen, und
wir lernen voneinander, wie das geht.“380 Mit dem Kriterium des Kunstseins als des
verkörperten Sinns schlägt Danto vor, unseren Fokus von dem im Kunstwerk bloß
sinnlich Dargestellten auf den verkörperten Sinn des Kunstwerkes, sowie auf seine 377 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, S. 15. 378 Micheal Kelly verweist, bezugnehmend auf das von Danto zitierte Gedicht von Wallance Stevens, in seiner Rezension darauf, dass „der wache Traum“ als „das schöpferische Prinzip“ verstanden werden solle, das der „blauen Gitarre“ die Kraft verleiht, den universal kommunizierten Sinn, der „über uns hinaus, jedoch uns selbst“ ist, hervorzubringen und ihm die Form und Verkörperung gibt, somit die Kunst ermächtigt, „das Ding wie es selbst ist“, zu zeigen. Vgl. Micheal Kelly, Book Review of Was Art is, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 72:2, 2014, S. 201. 379 Arthur C. Danto, What art is, S. 128. Danto schreibt: “The embodiment of ideas or, I would say, of meanings is perhaps all we require as a philosophical theory of what art is. But doing the criticism that consists in finding the way the idea is embodied varies from work to work.” An dieser Stelle impliziert Danto die Offenheit des verkörperten Sinnes, die den Spielraum für Interpretationen öffnet. 380 Ebd., S. 129. Danto gibt an, dass Kirk Varnedoe, der einflussreiche amerikanische Kunsthistoriker, in seiner Vorlesung Bild des Nichts für die Verteidigung der abstrakten Kunst diese Behauptung macht, aber die Quelle des zitierten Satzes von Kirk Varnedoe ist unbekannt und wird nicht bei Danto angegeben.
145
narrative Struktur, zu verschieben. Er nimmt als Beispiel die Restaurierung der
Wandmalerei Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle (in den 1990er Jahren). Die
Anwesenden machten sich oft Sorgen, dass die Farbe des großen Werkes bei der
Restaurierung verändert würde. Danto deutet an, dass diese Sorge nur mit dem
Geschmack zu tun habe und die Restauration zu keinem Sinn-Verlust des großen
Werkes führe, sobald der Restaurateur versteht, was das Werk Michelangelos
bedeutet, das heißt welche Geschichte es mitteilt.381
Konfrontiert mit der Frage nach dem Kunstsein, die sich aus den Herausforderungen
der Entwicklung der modernen Kunst seit dem 19. Jahrhundert ergibt, kommt Danto
in seiner Ontologie der Kunst zu der Einsicht, dass die Definition der Kunst sich vom
traditionellen Kriterium der Schönheit abwenden muss. „Kunst kann überhaupt nicht
schön sein. Schönheit war ein Wert, der zum 18. Jahrhundert gehörte.“382 An dieser
Stelle bringt er seine Bewunderung Heideggers zum Ausdruck, und er weist darauf
hin, dass dieser es war, der als erster versuchte, die Ästhetik von der traditionellen
Verbindung mit der Schönheit zu befreien. Als Ersatz des Kriteriums der Schönheit
für das Kunstsein definiert Danto in Annäherung an Heideggers Kunstauffassung das
Kunstseins mittels der Kriterien des Sinns und der Verkörperung. Mit der Einführung
dieser beiden Kriterien von Sinn und Verkörperung in der Ontologie der Kunst, macht
sich Danto, wie er selbst behauptet, dafür stark, die Kunst mit dem Verstehen
zusammenzubringen, und zwar dem Verstehen dessen, was möglich und was
eigentlich ist. Mit dieser Behauptung verweist Danto auf den hermeneutischen
Zugang zum Kunstwerk und verteidigt die Kunst der Moderne, indem er aufzeigt,
dass diese, trotz des Fehlens von Schönheit, in sich die Kraft des Sinnes und die
Möglichkeit der Wahrheit hat, die durch die Interpretation ins Spiel gebracht wird.383
381 Vgl. Arthur C. Danto, What art is, S. 57-73. 382 Ebd., S. 155. 383 Vgl. Ebd., S. 154-155. Danto schreibt: “My sense, in bringing to art the double criteria of meaning and embodiment, ist to bring to art a connection with cognizance: to what is possible and, to the faithful, to the actual. [...] Much of contemporary art is hardly aesthetic at all, but it has in its stead the power of meaning and the possibility of truth, and depends upon the interpretation that brings these into play.“
146
An Dantos Einsatz für ein neues Verständnis des Kunstseins, das sich von der
traditionellen Kunstdefinition dadurch abgrenze, dass es das Wesen der Kunst als
Verkörperung des Sinnes bestimmt und den hermeneutischen Zugang zur im
Kunstwerk verkörperten Sinnoffenheit als den Zugang zum Kunstwerk ansetzt, knüpft
auch Dennis J. Schmidt teilweise an. In seinem Werk Between Word and Image
versucht Schmidt aus einem mehr philosophisch geprägten Blickwinkel die Richtung
der gegenwärtigen Kunstphilosophie in Anpassung an die moderne Kunstentwicklung
aufzuzeigen, und im Lichte von Heideggers und Gadamers Kunstauffassung die
Kunst mit unserem Lebensverständnis zusammenzubringen.
Dennis J. Schmidt verankert seine Erschließung der Kunstauffassung vor allem im
Bereich der Malerei, und er sieht, dass sich die Kunst der Moderne dem verweigert,
die objektive Realität zu imitieren und dem Kriterium der Schönheit zu folgen.
Gerade darin lasse sich Kunst erneut verstehen. Schmidts Suche nach einem neuen
Verständnis des Kunstseins entfaltet sich in seiner Untersuchung über Heideggers
Beschäftigung mit der Malerei von Paul Klee. Inspiriert von dessen Bemühen, die
Verkörperung des Sinnvollzugs des Lebens in der Kunst der Moderne vor allem in
Paul Klees Malerei aufzufinden, kommt Schmidt zu der Einsicht, dass das Kunstsein
nicht darin liege, die Welt und die Dinge in ästhetisch schöner Weise abzubilden,
sondern darin, das genetische Geschehen unseres Lebens in der Welt aufzuzeigen.384
Im Kunstwerk, womit hier die Malerei gemeint ist, sehe man „die Genesis selbst,
nicht das ‚Endergebnis’ der Genesis, nicht das Ding der Welt.“ Die Genesis sei „die
Bewegung des Lebens selbst“385. Bild ist „das Sein des Werden, der unendlichen
Genesis, [...] der Geburt“,386 und macht als die Verkörperung des Sinnvollzugs diese
Genesis sichtbar.
384 Vgl. Dennis J. Schmidt, Between Word and Image, Heidegger, Klee and Gadamer on Gesture and Genesis, Indiana University Press, 2013, S. 131. 385 Ebd., S. 92 386 Ebd.
147
Obwohl Heidegger seine Beschäftigung mit der westlichen Malerei bereits in den
1960er Jahren beendet, argumentiert Dennis J. Schmidt in der Folge von Gadamer,
dass die Möglichkeit des Sichtbarmachens der Genesis des Lebensverstehens immer
noch in der Malerei, in der sie verkörpert ist, zu finden ist, und zwar im
hermeneutischen Zugang.
Die Malerei ist bei Heidegger aber nicht die einzige Kunstform, die die genetische
Sinnoffenheit, also das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen verkörpert. 387 Auch
wendet sich der späte Heidegger nicht an die Hermeneutik für das
Zum-Ausdruck-Bringen der Sinnoffenheit, sondern beschäftigt sich mit der
Kunst-Raum-Thematik. Ein kurzer Einblick in seine Beschäftigung mit dieser
Thematik soll hier dem Ausblick auf die weitere Forschungsarbeit dienen.
5.4 Ausblick: Kunst, Raum und Ort Zu Heideggers Hinwendung zur Kunst-Raum-Thematik388 ist zunächst zu bemerken,
dass es sich hierbei nicht um traditionelle Vorstellungen des Raumes im Sinne einer
„dreidimensionalen Ausdehnung“ handelt, die bei „allen Unterschieden im
griechischen und neuzeitlichen Denken“ stets mit der Bedeutung von extensio und mit
der Vorstellung des Körpers verbunden ist.389 Heideggers Raum dagegen ist durch
das Geschehnis charakterisiert. Raum verweist hier auf das Räumen oder Einräumen.
„Indem ein Werk Werk ist, räumt es jene Geräumigkeit ein. Einräumen bedeutet hier
387 In der Tat hat Heidegger nach der Begegnung mit dem Japanischen Zen-Meister Hoseki Shin’ichi Hisamatsu im Jahr 1958 seine Beschäftigung mit der westlichen Malerei der Moderne beendet, da er unter dem Einfluss des Zen-Meisters festlegt, dass die westliche Malerei der Moderne einerseits sich noch nicht von metaphysischen Hypothesen (wie zum Beispiel der Verbindung an Form) befreit und andererseits auch zur Technologisierung der modernen Zeit gehört, daher nicht imstande ist, die reine freie Genesis des Sinnes sichtbar zu machen. 388 Zu Heideggers späten Schriften zur Kunst-Raum-Thematik gehören zum Beispiel: Die Kunst und der Raum (1969), Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum (1964), Bauen Wohnen Denken (1951). Heideggers Berührung der Raum-Thematik beginnt aber bereits in Sein und Zeit (§22-§24). 389 Heidegger, Bemerkungen zu Kunst-Plastik-Raum, 1996, S. 11. An dieser Stelle kritisiert Heidegger Kants Auffassung des Raums: „Diesen immer noch vom physikalischen Körper her gesehenen Raum deutet dann Kant als eine Weise, wie sich der Mensch - als das für sich seiende Subjekt – die ihm affizierenden Gegenstände im Vorhinein vorstellt. Der Raum wird zur reinen Form des Anschauens, die allen Vorstellungen von sinnlich gegebenen Gegenständen voraufgeht. Der Raum [...] ist eine subjektive Form des Anschauens der menschlichen Subjektivität“. Ebd.
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zumal: Freigeben das Freie des Offenen“.390 Im Kunstwerk erblickt Heidegger ein
ausgezeichnetes Beispiel für das Phänomen des Einräumens des geschehenden
Raumes.
Im Phänomen des geschehenden Raumes erkennt er eine ausgezeichnete Möglichkeit
der Verkörperung des Wahrheitsgeschehens, die sich als Erscheinungsmilieu des
genetischen Sinnkontextes unseres Verstehens im Einräumen vollzieht. In seiner
Schrift Die Kunst und der Raum (1969), die er Eduardo Chillida widmete,
unterstreicht Heidegger den dynamischen Geschehnischarakter des Raumes bzw. des
„künstlerischen Raumes“391 in Abgrenzung von den überlieferten Vorstellungen
eines statischen Raumes. „Im Räumen spricht und verbirgt sich zugleich ein
Geschehen“. 392 In Chillidas Kunst zeige sich in ausgezeichneter Weise die
Verkörperung des Wahrheitsgeschehens, mit anderen Worten: die Genesis des Sinnes
im Räumen der Skulpturen. Wie Wolfgang Ullrich darstellt, wird in Chillidas
plastischer Kunst das Phänomen des Räumens hervorgehoben, indem „die Skulpturen
die ‚Form’ der Räume zwischen ihren Elementen mit (berücksichtigen), ... von den
Zwischenräumen her aufgebaut (sind), die sich ihrerseits ineinander verschlingen oder
gegeneinander stellen können.“393 Gerade in den Zwischenräumen, den vermeintlich
unbedeutenden Zonen der Skulptur, den Leerstellen, erwächst „ein gestalterisches
Potenzial“, das sich als Räumen, als prozessuales Raumverstehen hervorbringt und
den künstlerischen Raum geschehen lässt, so Elisabeth Körfer. 394 Aber was
konstituiert sich in diesen Zwischenräumen, in den Leerstellen der Skulpturen?
Chilida selbst bemerkt Petzet gegenüber: „Nicht die Form ist es, auf die es mir
ankommt, sondern die Beziehung der Formen untereinander – das Verhältnis, das
zwischen ihnen entsteht.“395 Die Verhältnisse zwischen Elementen der Skulpturen an
390 Heidegger, GA 5, S. 31. 391 Heidegger, Die Kunst und der Raum, in: GA 13, S. 204. 392 Ebd., S. 207. 393 Wolfgang Ullrich, Der Garten der Wildnis. Zu Martin Heideggers Ereignis-Denken, München, 1996, S. 230. 394 Vgl. Elisabeth Körfer, Abwesen entbirgt Anwesen, Bonn, 2008, S. 262.395 Heinrich Wiegand Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnung mit Martin Heidegger 1929 bis 1976, Frankfurt,1983, S. 165.
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den Leerstellen konstituieren sich im genetischen Sinnkontext der Skulpturen, der als
gestalterisches Potenzial oder schöpferische Kraft die Offenheit der Möglichkeit der
Gestaltung des Kunstwerkes öffnet und sich in der Gestaltung genetisch verkörpern
lässt. Dieses Verkörperungsgeschehnis lässt sich bei Heidegger eben als das
Phänomen des Räumens im Kunstwerk verstehen.396
Aus der Perspektive Heideggers weist Dieter Jähnig darauf hin, dass Chilidas
Raumerfassung sich von der klassischen und neuzeitlichen Raumvorstellung dadurch
unterscheide, dass sich sein Raum „nur im Sehen und Hören des Menschen ‚bildet’.
Der Raum der Kunst ist Topos, Ortschaft.“397 In dieser Zusammenfassung hebt
Jähnig einen wichtigen Aspekt in Heideggers Kunst-Raum-Thematik heraus, nämlich
das Mitmachen des Menschen im Räumen oder im Raumgeschehnis, strenger
genommen, die Räumlichkeit des Menschen. Nicht nur der Raum der Kunst ist Topos,
sondern der ursprüngliche Raum des Menschen ist ebenfalls Topos. Hier wird eine
weitere Perspektive einer Erforschung der Verkörperung oder des Sichtbarmachens
der Sinnoffenheit bei Heidegger sichtbar, nämlich die Topologie, deren zentraler
Begriff der „Ort“ ist.
Bereits in Sein und Zeit deutet Heidegger darauf hin, dass Dasein „in einem
ursprünglichen Sinne räumlich“398 sei. In der Schrift Die Kunst und der Raum stellt
Heidegger das Verhältnis von Raum und Ort nun so dar, dass das Räumen „in sein
Eigenes gedacht, Freigabe von Orten“ 399 sei. Im Kunstwerkaufsatz heißt es:
396 In einer Beschreibung Elisabeth Körfers über Chillidas Skulptur Autour du vide (1968) tritt das Phänomen des dynamischen Räumens des Kunstwerkes vivid vor Augen. „Die mehrfach miteinander verstrebten Quader scheinen um einen leeren Innerraum zu kreisen während die Räume bzw. die Gänge und Schächte zwischen den kubischen Formen sich selbst wiederum ineinander verschlingen und sich geradezu bedrohlich gegeneinander zu stellen. Da die schweren Eisenstücke jedoch nur mit ihren Ecken oder Kanten und nicht mit ihren breiten Flächen auf dem Untergrund, diesen kaum berührend, aufruhen, wirkt die Gesamtplastik doch leicht, schwebend, der Gravitation fast enthoben. Diesen Eindruck verstärkt noch das Lichtspiel auf den glatten Eisenoberflächen, in denen sich je nach Tageszeit die Lichtverhältnisse spiegeln und mit ihren Hell-Dunkel-Effekten die Dynamik des Werkes steigern. “Körfer, 2008, S. 263. 397 Dieter Jähnig, Die Kunst und der Raum, in: Erinnerung an Martin Heidegger, Pfullingen, 1977, S. 133. 398 Heidegger, GA 2, S.149. 399 Heidegger, GA 13, S. 206.
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„Einräumen bedeutet hier zumal: Freigeben das Freie des Offenen“.400 Der Vergleich
legt nahe, dass der Ort bei Heidegger das Offene bezeichnet. Was ist dieses Offene?
Es ist der sich in der Offenheit dynamisch vollziehende Sinnkontext, mit anderen
Worten: die genetische Sinnoffenheit, in dem das Ding ursprünglich verstanden wird.
Das heißt, der Ort ist die in der Lebenswelt verkörperte Sinnoffenheit, die zum
Menschen gehört.401
„Der Ort öffnet jeweils eine Gegend, indem er die Dinge auf das Zusammengehören
in ihr versammelt.“402 Der Terminus Gegend ist in Sein und Zeit als das „Wohin des
möglichen zeughaften Hingehörens“ 403 von Seiendem, nämlich den Dingen,
ausgelegt und lässt sich von der Bewandtnisganzheit des Dinges, den weltmäßigen
Verhältnissen des Dinges her verstehen, die im Erschließungsvollzug, das heißt in der
Welterschlossenheit des Daseins gründen. Den Sinn der Welterschlossenheit trägt
gerade der Ort als die Sinnoffenheit. Aber im Unterschied zu Sein und Zeit versucht
Heidegger im Topologie-Denken die Erschlossenheit als den genetischen Sinnkontext
sichtbar zu machen, das heißt ihn zu verkörpern, statt ihn als transzendentale
Welterschlossenheit analytisch darzulegen.404
Die hier skizzierte Erläuterung ist keine vollständige Argumentation und hebt nur
einige wenige Aspekte der Kunst-Raum-Thematik sowie des Topologie-Denkens bei
Heidegger heraus. Sie hat einzig zur Aufgabe, einen kurzen Ausblick darauf zu geben,
wie diese beiden Momente beim späten Heidegger als Weiterentwicklung der
Thematik des Zum-Ausdruck-Bringens der Sinnoffenheit in den gegenwärtigen
philosophischen Forschungen sowie in der Kunsttheorie fruchtbar gemacht werden 400 Heidegger, GA 5, S. 31. 401 Heideggers Raum-Thematik hat ihre Basis in Sein und Zeit. Der Ort als der zentrale Begriff in der spät erfolgten Raum-Thematik oder Topologie wird in Sein und Zeit eher als der Raum dargestellt. Dort nimmt Heidegger den Raum als den Raum des Daseins an. “Der Raum ist vielmehr in der Welt, sofern das für das Dasein konstitutive In-der-Welt-sein Raum erschlossen hat.“ Heidegger, GA 2, S. 149. 402 Heidegger, GA 13, S. 207.403 Heidegger, GA 2, 137. 404 Mit dem Topologie-Denken ist die Möglichkeit wiedergewonnen, das ursprüngliche Wahrheitsgeschehen im menschlichen Umgang mit der Welt darzustellen, statt es nur in der Dichtung und Kunst zu suchen.
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können. Vorbilder dafür finden sich in den Untersuchungen von Andrew J. Mitchell
und Jeff Malpas, die beide gründlich auf Heideggers Kunst-Raum-Thematik und das
Topologie-Denken eingehen und das Potenzial aufzeigen, das in einer Interpretation
dieses Denkens umwillen der Entwicklung der gegenwärtigen Kunst- und
Architekturtheorie, sowie auch der philosophischen Forschung über die Menschen
und die Welt, verborgen ist.405
Fazit:
Die Aufgabe der Arbeit bestand darin, darzustellen, wie die Thematik des
Lebensvollzuges, die in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen sich zu formen
beginnt, sich im Verlauf vom KNS-Semester über Sein und Zeit und bis zu seinem
späten Denken kontinuierlich entwickelt. In den Freiburger Anfängen versucht
Heidegger noch, sich der Thematik durch die phänomenologische Destruktion auf den
rätselhaften Lebensvollzug, der als unbewusst erlebte Offenheit der
Verstehensmöglichkeit in der Vollzugsdynamik ausgelegt wird, anzunähern. Über die
Rekonstruktion von Sein und Zeit ließ sich feststellen, dass die Thematik des
Lebensvollzugs, trotz des programmatischen Wandels von einer
Ursprungswissenschaft der Freiburger Anfänge zum ontologischen Projekt der
Marburger Vorlesungen, noch immer einen zentrales Moment in Heideggers Denken
bleibt, sich aber auch nicht weiter zu entwickeln vermag, da die paradigmatische und
transzendentale Konstruktion die Erschließung der Sinnoffenheit verwehrt. In den
Jahren nach Sein und Zeit löst sich Heidegger vom
transzendental-phänomenologischen Standpunkt, und er sucht nun nach der
Möglichkeit des Zum-Ausdruck-Bringen der Sinnoffenheit in der Dichtung und der
Kunst. Das Kunstwerk impliziert nun für Heidegger die Verkörperung der sich
vollziehenden Sinnoffenheit, und sie bringt die rätselhafte Sinngenesis mittels der
405 Werke der beiden Autoren bezüglich Heidegger sind zum Beispiel, Andrew J. Mitchell, Heidegger Among the Sculptors, Standford, 2010; Jeff Malpas, Heidegger´s Topology, Cambridge, 2006; Jeff Malpas, Heidegger und the Thinking of Place, Cambridge, 2012.
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Materialität des Kunstwerkes zur Erscheinung, das heißt, sie macht die dynamische
und nicht objektivierbare Sinnoffenheit sichtbar. Jedoch bleibt die Frage noch offen,
wie die Verkörperung der Sinnoffenheit im Kunstwerk weiter, durch die
philosophische Auseinandersetzung, zur begrifflichen Explikation gebracht werden
kann.
In wieweit Heidegger mit dem Kunstthema auf eine neue Kunstphilosophie abzielt, ist
umstritten.406 Aber zweifelsohne vermag seine eigentümliche Kunstauffassung als
ein Vorbild für eine gegenwärtige Kunstphilosophie zu dienen, die sich von der
traditionellen Ästhetik zu trennen bemüht. Die späten Heideggerschen
Untersuchungen zur Verkörperung der Sinnoffenheit erweitern sich in der
Kunst-Raum-Thematik und im Topologie-Denken und eröffnen einen noch nicht
erschöpften Spielraum für die Entwicklung der Heidegger-Interpretationen, sowie der
Interaktion zwischen Heideggers Denken und der gegenwärtigen Kunsttheorie.
406 Joseph J. Kockelmans ist der Ansicht, dass Heidegger mit der Kunstuntersuchung auf eine neue Kunstphilosophie abziehlt. Vgl. Kockelmans, Heidegger on Art and Art Works, Dortrecht, 1985, S. 125-132. In Vergleich dazu meint Otto Pöggeler eher zurückhaltend, dass Heideggers Kunstuntersuchung zu seinem anständigen Kampf gegen die westliche Metaphysik seit Platons Ideenlehre gehört. Vgl. Otto Pöggeler, Bild und Technik, München, 2002, S. 73-93.
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