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1 24. Oktober 2013 Michael Strebel Das kantonale politische System. Dargestellt am Beispiel des Kantons St. Gallen. Redaktion Matthias Bianchi, M.A. Tel. +49 (0) 203 / 379 - 4106 Fax +49 (0) 203 / 379 - 3179 [email protected] Wissenschaftliche Koordina- tion Kristina Weissenbach, M.A. Tel. +49 (0) 203 / 379 - 3742 Fax +49 (0) 203 / 379 - 3179 [email protected] Sekretariat Anita Weber Tel. +49 (0) 203 / 379 - 2045 Fax +49 (0) 203 / 379 - 3179 [email protected] Herausgeber (V.i.S.d.P.) Univ.-Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte Redaktionsanschrift Redaktion Regierungsforschung.de NRW School of Governance Institut für Politikwissenschaft Lotharstraße 53 47057 Duisburg Tel. +49 (0) 203 / 379 - 2706 Fax +49 (0) 203 / 379 3179 [email protected] www.nrwschool.de www.forschungsgruppe-regieren.de www.politik.uni-duisburg-essen.de

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24. Oktober 2013

Michael Strebel

Das kantonale politische System. Dargestellt am Beispiel des Kantons St. Gallen.

Redaktion

Matthias Bianchi, M.A.

Tel. +49 (0) 203 / 379 - 4106 Fax +49 (0) 203 / 379 - 3179

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Das kantonale politische System in der Schweiz.

Dargestellt am Beispiel des Kantons St. Gallen.

Von Michael Strebel1

Das kantonale politische System der Schweiz unterscheidet sich erheblich vom deutschen politi-

schen System auf Länderebene. Im Folgenden wird das politische System des Kantons St. Gallen2

– exemplarisch für die ganze Schweiz – dargelegt. Im Zentrum der Ausführungen stehen die bei-

den staatlichen Ebenen, die Legislative und die Exekutive, unter Berücksichtigung der direktde-

mokratischen Volksrechte.

Gliedstaaten im Schweizer Bundestaat: Große Autonomie und beachtliche Kompetenzen.

Bevor auf das politische System im schweizerischen Bundesstaat näher eingegangen wird, gilt es

die Stellung der 26 Gliedstaaten, also der Kantone, zu klären. Die Bundesverfassung (BV) hält

diesbezüglich fest: „Die Kantone sind souverän […]. Sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund

übertragen sind“ (Art. 3). Den Kantonen wird eine weitreichende Autonomie zugestanden, in-

dem diese nicht nur berechtigt sind, Bundesrecht umzusetzen – man nennt dies Vollzugsfödera-

lismus –, sondern dabei auch über eine relativ hohe Gestaltungsfreiheit verfügen. Die Autonomie

der Kantone, das „Kernstück des Bundesstaates“ (Häfelin / Haller / Keller: S. 311), weist folgen-

de Charakteristika auf:3

– Verfassungsautonomie: Die Kantone haben das Recht, eine eigene Kantonsverfassung zu

erlassen, und entscheiden eigenständig über deren Organisation bezüglich Exekutive, Legis-

lative, Judikative, politische Rechte des Souveräns, Gemeindeautonomie usw.

– Gesetzgebungsautonomie: Viele Politikfelder – darunter auch Bildung, Gesundheit, Kultur

und Steuern – werden durch den kantonalen Gesetzgeber in eigener Kompetenz geregelt.4

Die Autonomie der Kantone wurde durch die im Jahr 2008 in Kraft getretene Neugestaltung des

Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) gestärkt. Diese Föderalismusreform untermau-

1 Michael Strebel ist Politologe und arbeitet im Kantonsparlament des Kantons St. Gallen. Seine Dissertation, in der er untersucht, ob sich die Schweiz auf dem Weg zu einem Exekutivföderalismus befindet, steht kurz vor dem Abschluss.

2 Statistische Angaben zum Kanton St. Gallen: Wohnbevölkerung (2012): 487.060 (viertgrößter Kanton); Gesamtflä-che: 1951 km2; grenzt indirekt – über den Bodensee – an Baden-Württemberg und Bayern. Arbeitslosenquote (Stand August 2013): 2.3 Prozent (bei einem schweizerischen Durchschnitt von 3 Prozent); Bruttoinlandprodukt je Einwoh-ner (2011): rund Fr. 66 000. Im Jahr 2008 waren auf St. Galler Kantonsgebiet im sekundären und tertiären Sektor gut 23.000 Betriebe aktiv, die insgesamt ein Beschäftigungsvolumen von 204'000 rechnerischen Vollzeitstellen (Vollzeit-äquivalente) erreichten; Quellen statistik.sg.ch. 3 Vgl. Häfelin, Ulrich / Haller, Walter / Keller, Helen 2012: 311. 4 Ebd.

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erte das Prinzip der Subsidiarität: Die Aufgaben und Kompetenzen inklusive der Finanzströme

zwischen den beiden Staatsebenen Bund und Kantone wurden entflochten, mit dem Ziel, die

staats- und finanzpolitische Handlungsfähigkeit der Kantone und des Bundes zu erleichtern.5

Neben den bereits genannten Kompetenzen verfügen die Kantone auch über erhebliche Mitwir-

kungsrechte bei der Willensbildung des Bundes.6 Im Gegensatz zur Situation in Deutschland sind

die Mitglieder der kantonalen Exekutiven jedoch nicht in der zweiten Kammer des Bundes ver-

treten. Kurz: Dank ihrer beachtlichen Autonomie, ihren weitreichenden Kompetenzen in vielen

Politikfeldern und ihren Mitwirkungsrechten auf Bundesebene kommt den Kantonen eine starke

Stellung im Staatsgefüge zu.7

Legislative: Wahl und Organisation

Im Kanton St. Gallen zählt die Legislative 120 Mitglieder bzw. Kantonsräte8 und wird für eine

vierjährige Legislaturperiode in acht Wahlkreisen fest nach Proporz9 gewählt. Ein Auflösungs-

recht des Kantonsrates besteht nicht. Tabelle 1 zeigt das Ergebnis der letzten Kantonsratswah-

len vom 11. März 2012, bei denen die Wahlbeteiligung 37,6 Prozent betrug. Auffallend ist die

Heterogenität der Parteien; denn eine – wie in Deutschland praktizierte – zahlenmäßige Hürde

bzw. Sperrklausel besteht hier nicht (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Übersicht über die Stärke der Parteien im Kanton St. Gallen: Wahlen vom 11. März 2012

Partei Wähleranteil

(Prozent) Sitze

Bürgerlich-Demokratische Partei (BDP) 2.8 2

Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) 19.4 29

Evangelische Volkspartei (EVP) 1.8 2

Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) 17.8 22

Grünliberale (GLP) 5.3 5

Grüne (Grüne) 6.5 5

Sozialdemokratische Partei (SP) 16.5 20

Schweizerische Volkspartei (SVP) 24.1 35

Übrige 5.8 0

Total 100 120

Quelle: www.statistik.sg.ch/home/themen/b17/KR.html; eigene Darstellung.

5 Zur Föderalismusreform vgl. beispielsweise: Eidg. Finanzdepartement: NFA: Informationsbroschüre. 6 Siehe Buser zu den Mitwirkungsrechten der Kantone beim Bund. 7 Die Vor- und Nachteile der schweizerischen Ausprägung des Föderalismus können an dieser Stelle nicht vertieft betrachtet werden. 8 Aus Gründen der leichteten Lesbarkeit wird ausschließlich die männliche Form benutzt. Selbstverständlich ist das weibliche Geschlecht darin immer mit einbezogen. 9 Wahlverfahren, bei dem die Sitze auf die Parteien verteilt werden, und zwar annähernd im Verhältnis zu den erziel-

ten Parteistimmen.

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Betrachtet man die Wahlchancen der Kandidierenden nach soziodemographischen Merkmale, so

zeigt sich, dass bisherige Kantonsräte eine sehr hohe Chance haben, wiedergewählt zu werden

(Wahlchancen 92.3 Prozent), obwohl es grundsätzlich keine “sicheren“ Listenplätze mit Gewähr

für die Wiederwahl gibt. Bevorzugt werden ansonsten männliche Kandidaten (Wahlchancen

16.5 Prozent), über 60-Jährige (32.1 Prozent) sowie Personen, die beruflich in den Gebieten Ma-

nagement, Administration, Banken, Versicherungen und Rechtswesen beheimatet sind (22.9

Prozent). Der Frauenanteil im jetzigen Parlament liegt bei 22,5 Prozent.

Tabelle 2: Wahlchancen der Kandidierenden nach soziodemographischen Merkmalen

Kandidaten

Indikatoren gewählt nicht ge-

wählt Total

Wahl-chancen

(Prozent)

Männlich 93 470 563 16.5

Weiblich 27 207 234 11.5

Neu kandidierend 24 669 693 3.5

Bisherige Kantonsräte 96 8 104 92.3

18 bis 39 Jahre 18 281 299 6

40 bis 59 Jahre 85 360 445 19.1

60 Jahre plus 17 36 53 32.1

Land- und Forstwirtschaft 5 27 32 15.6

Industrie und Gewerbe (ohne Bau) 5 30 35 14.3

Technik und Informatik 8 53 61 13.1

Bau, Ausbau, Bergbau 6 9 15 40

Handel und Verkehr 5 46 51 9.8

Gastgewerbe und persönliche Dienstleistungen 1 6 7 14.3

Management, Administration, Banken, Versicherun-gen, Rechtswesen

55 185 240 22.9

Gesundheit, Soziales, Erziehung, Kultur, Wissenschaft 35 209 244 14.3

Hausfrauen / Hausmänner – 18 18 –

In Ausbildung – 94 94 –

Quelle: www.statistik.sg.ch/home/themen/b17/KR.html; leicht angepasste Darstellung.

Die konstituierende Sitzung der Legislative findet jeweils im Juni nach den Parlamentswahlen

statt. Der Kantonsrat tagt viermal im Jahr, wobei die Sessionen jeweils maximal drei Tage dau-

ern. Die Einberufung einer außerordentlichen Session ist möglich; aus Spargründen wurde im

Jahr 2011 eine Session gestrichen. Für die Vorbereitung und Durchführung von Parlamentssit-

zungen ist das Präsidium verantwortlich, bestehend aus dem Präsidenten – er wird jeweils auf

ein Jahr gewählt und eine anschließende Wiederwahl ist ausgeschlossen –, dem Vizepräsidenten,

drei Stimmenzählern10 sowie den Fraktionspräsidenten. Die Parlamentarier üben ihr Amt ne-

10 Sie führen die Anwesenheitskontrolle, ermitteln die Abstimmungs- und Wahlergebnisse und beobachten die Bera-tungsfähigkeit des Kantonsrates.

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benberuflich aus (Milizparlament), was sich nicht zuletzt auch in der Entschädigung widerspie-

gelt (vgl. Tabelle 3). Jede Sitzung wird nämlich individuell vergütet. Für die Beschäftigung von

Mitarbeitern zwecks Unterstützung bzw. zur Erledigung ihrer parlamentarischen Arbeit werden

die Parlamentarier nicht finanziell entschädigt. Den Parteien fließen keine staatlichen Mittel zu,

und zwar weder für die Parteifinanzierung noch für die Wahl- und Abstimmungskämpfe. Über-

dies ist die Finanzierung der Parteien eine intransparente Angelegenheit.

Tabelle 3: Entschädigung der Parlamentarier und der Fraktionen

Empfänger der Entschädigung

Art der Entschädigung Ansatz

(Fr.) Kommentar bzw. Bemerkungen

Parlamentarier

Taggeld für Sitzungen des Kantonsrates

250.– Die Ratsmitglieder erhalten für jede Sitzung des Kantonsrates oder einer seiner Kommissionen, an denen sie teilnehmen, ein Taggeld.

Taggeld für Sitzungen der Kommissionen

250.–

Taggeld für Besichtigungen und Besprechungen im Auftrag der Kommissionen

250.– Kommissionsmitglieder, die im Auftrag der Kommission Be-sichtigungen und Besprechungen durchführen, erhalten Tag-geld und Entfernungszuschlag im gleichen Rahmen wie für die Sitzungen.

Taggeld für Fraktionssit-zungen

250.– Die Mitglieder des Kantonsrates werden für je eine Fraktions-sitzung außerhalb der Sitzungstage des Kantonsrates und an einem Sitzungstag des Kantonsrates entschädigt.

Erhöhtes Taggeld 350.– Für zwei Sitzungen am gleichen Tag wird ein erhöhtes Taggeld ausgerichtet, wenn jede Sitzung mindestens zwei Stunden dauert.

Entfernungszuschlag je km –.70 Mitglieder, die außerhalb des Sitzungsortes wohnen, erhalten je Sitzungstag und Straßenkilometer für die Hin- und Rückfahrt von und zu ihrem Wohnort einen Entfernungszuschlag.

Entfernungszuschlag je km bei Besichtigungen und Besprechungen im Auftrag der Kommissionen

–.70 Kommissionsmitglieder, die im Auftrag der Kommission Be-sichtigungen und Besprechungen durchführen, erhalten dafür Taggelder und Entfernungszuschläge in der gleichen Höhe wie für die Sitzungen. Mitglieder des Präsidiums, die den Kantons-rat an einem Anlass vertreten, erhalten ebenfalls entsprechen-de Taggelder und Entfernungszuschläge.

Infrastrukturbeitrag je Jahr 1000.– Den Ratsmitgliedern wird ein Infrastrukturbeitrag je Jahr zuge-sprochen.

Vergütung je Jahr an Rats-mitglied ohne Fraktionszu-gehörigkeit

2 400.– Mitgliedern des Kantonsrates, die keiner Fraktion angehören, steht eine jährliche Vergütung in der Höhe des Zuschlags für jedes Fraktionsmitglied zu.

Präsident des Kantonsrates

Doppeltes Taggeld 500.– Der Präsident des Kantonsrates bezieht für die von ihm geleite-ten Sitzungen das doppelte Taggeld.

Aufwandentschädigung je Jahr

9 000.– Dem Präsidenten des Kantonsrates kommt eine jährliche Funk-tionsentschädigung zu, die vom Präsidium des Kantonsrates festgesetzt wird.

Vizepräsident Aufwandentschädigung je Jahr

4 500.– Siehe Präsident.

Kommissions-präsident

Doppeltes Taggeld 500.– Den Kommissionspräsidenten wird für die von ihnen geleiteten Sitzungen das doppelte Taggeld.

Aufwandentschädigung je Jahr

3 000.– Den Präsidenten der ständigen Kommissionen kommt eine jährliche Aufwandentschädigung zu, die vom Präsidium des Kantonsrates festgesetzt wird.

Fraktions-präsident

Doppeltes Taggeld 500.– Die Fraktionspräsidenten beziehen für die von ihnen geleiteten Fraktionssitzungen das doppelte Taggeld.

Aufwandentschädigung je Jahr

3 000.– Die Fraktionspräsidenten erhalten eine Aufwandentschädigung je Jahr.

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Fraktion

Grundbetrag je Jahr 30 200.– An die Fraktionen entrichtet der Staat je eine jährliche Vergü-tung für die Vorbereitung der Ratsgeschäfte.

Zuschlag je Fraktionsmit-glied

2 400 .– Die Fraktionsvergütung setzt sich zusammen aus einem Grundbetrag und einem Zuschlag für jedes Fraktionsmitglied.

Quelle: GeschKR und Tätigkeit des Parlamentes 2006 bis 2010: 59; angepasste inhaltliche Darstellung.

Das Parlament gliedert sich in Fraktionen, wobei eine Fraktion mindestens sieben Mitglieder

aufweisen muss. In der laufenden Legislaturperiode besteht das Kantonsparlament aus fünf

Fraktionen (vgl. Tabelle 4); ein Mitglied ist fraktionslos.

Tabelle 4: Fraktionen im Kantonsrat

Partei Sitze Anteil (Prozent)

SVP 35 29.1

GLP/BDP 7 5.8

CVP-EVP 31 25.8

FDP 22 18.3

SP-GRÜNE 24 20.0

Fraktionslos (Grüne) 1 0.8

Total 120 100 1)

1) gerundet; Eigene Darstellung.

Die Fraktionen wirken meinungsbildend und prägen somit das Bild der Fraktionen bzw. Parteien

wie auch der Legislative insgesamt nach „außen“. Nach „innen“ sind sie für das Funktionieren

eines Parlamentes unerlässlich, denn sie bereiten einerseits die parlamentarischen Geschäfte

und anderseits die personellen Wahlen vor. Für die einzelnen Parlamentarier ist die Fraktions-

zugehörigkeit zudem insofern wichtig, als sie für die Mitwirkung in einer Kommission vorausge-

setzt wird.

Kommissionen der Legislative und Diskussion über das „richtige“ Kommissionssystem

Beim Kantonsrat handelt es sich um ein Arbeitsparlament; entsprechend bedeutungsvoll ist die

Arbeit in den Kommissionen – gemäß der deutschen Terminologie „Ausschüsse“ genannt. Die

ständigen Kommissionen bestehen über eine ganze Legislaturperiode (vgl. Tabelle 5), während

die Ad hoc Kommissionen zeitlich befristet eingesetzt werden. Erstere sind primär Aufsichts-

kommissionen,11 und kontrollieren die Exekutive sowie die ihr unterstellten Verwaltungs-, Straf-

untersuchungs- und Vollzugsbehörden, ferner die Gerichte und die selbstständigen öffentlich-

rechtlichen Anstalten. Letztere hingegen – die Ad hoc oder so genannten vorberatenden Kom-

missionen – werden zur Beratung von Gesetzesvorlagen einberufen und danach wieder aufge-

löst.

11

Mit Ausnahme der Redaktionskommission.

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Tabelle 5: Ständige Kommissionen des Kantonsrates

Kommission Mitglieder Aufgabenbereich

Kommission für Außenbeziehungen 15

Lässt sich von der Exekutive über die Entwicklung der Außenbeziehungen informieren, insbesondere über laufende Verhandlungen betreffend interfö-derale Verträge.

Finanzkommission 15 Ist der „Haushaltsausschuss“; sie berät die Finanz-vorlagen und prüft durch eigene Kontrollen den gesamten Finanzhaushalt.

Staatswirtschaftliche Kommission 15

Prüft aufgrund der Berichte (der Regierung bzw. der Verwaltung) und durch eigene Kontrollen die Amtsführung der Regierung sowie der ihr unter-stellten Verwaltung und der selbstständigen öf-fentlich rechtlichen Anstalten.

Rechtspflegekommission 15

Hat die Aufsicht über die Strafuntersuchungs- und Vollzugsbehörden, das Konkursamt sowie über die Gerichte und die ihnen unterstellten Behörden, Beamten und Angestellten inne. Prüft die Gültig-keit der Wahl des Parlamentes und allfällige Kas-sationsbeschwerden. Berät die Vorschläge der Fraktionen für die Wahl der Richter.

Redaktionskommission 7 Prüft Gesetze hinsichtlich ihrer Sprache und ihrer Übereinstimmung mit der übrigen Gesetzgebung.

Quelle: Geschäftsreglement des Kantonsrates (GeschKR); eigene Darstellung.

In der Wissenschaft wie auch in Fachkreisen geben die kantonalen Kommissionssysteme immer

wieder Anlass zu Diskussionen.12 Einige Kantonsparlamente verfügen in jedem Politikbereich

über ständige Kommissionen, andere wiederum teils über ständige und teils über nichtständige

Kommissionen. Laut Befürwortern von ständigen Kommissionen für jedes Politikfeld bietet die-

ses System Gewähr dafür, dass einer starken Regierung auch ein starkes Parlament gegenüber-

steht. Denn ständige Kommissionen ermöglichen es ihren Mitgliedern, politische Themen und

Sachfragen kontinuierlich und über eine längere Zeit zu begleiten, aktiv zu bearbeiten und sich

dadurch ein beachtliches Sachwissen anzueignen – was mit Ad hoc Kommissionen kaum zu er-

reichen ist. In diesem Sinne führte der St. Galler Kantonsrat im Jahr 2008 die Kommission für

Außenbeziehungen (KfA) neu ein, um den Einfluss des Parlamentes im Bereich der interkantona-

len exekutiven Zusammenarbeit – der horizontalen Politikverflechtung – zu stärken. Die Anzahl

der interkantonalen Exekutivgremien wie auch der interkantonalen Vereinbarungen – also der

interföderalen Verträge zwischen den Kantonen in allen Politikfeldern – ist beträchtlich. Die

Exekutive schließt interkantonale Vereinbarungen ab. Somit ist es Aufgabe der Regierung, die

KfA über die Entwicklung der Außenbeziehungen und über wichtige Fragen zu informieren, ins-

besondere was die laufenden Verhandlungen zu interkantonalen Vereinbarungen betrifft. Ent-

scheidend ist, dass die Regierung angehalten ist, die KfA im Hinblick auf den Abschluss oder die

Änderung einer interkantonalen Vereinbarung zu konsultieren. Diese Konsultation im Prozess

der Aushandlung der interkantonalen Vereinbarung ist deshalb wichtig, weil das Parlament 12

Vgl. beispielsweise das Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen (03/05) über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Systeme.

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nach der Ausarbeitung einer Vereinbarung vor ein «Fait accompli», also vor eine vollendete Tat-

sache gestellt wird: Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens kann nämlich lediglich „Ja“

oder „Nein“ dazu gesagt werden.13 Gerade in diesem Politikbereich wäre eine Ad hoc Kommissi-

on nicht zweckmäßig, da sich die zuständige Kommission über einen längeren Prozess, nämlich

während der Aushandlung der Vereinbarung, Geltung verschaffen muss.

Zurzeit wird im Kantonsrat erörtert, ob für die Politikbereiche Gesundheit, Bau, Verkehr, Ener-

gie, Sicherheit und Bildung zusätzliche ständige Kommissionen eingesetzt werden sollten.14 Zur-

zeit ist das Ergebnis der Diskussionen noch offen.

Die ständigen Kommissionen werden bei der Vor- und Nachbereitung der Sitzungen, den Abklä-

rungen, der Beratung usw. durch den parlamentarischen Kommissionsdienst unterstützt.15 Dieser

ist administrativ der Staatskanzlei – so lautet die Bezeichnung der Stabstelle von Regierung und

Parlament – zugeordnet, steht jedoch unter Weisung und Aufsicht des jeweiligen Kommissions-

präsidenten. Insgesamt ist die Parlamentsverwaltung mit geringen Ressourcen ausgestattet und

lässt sich diesbezüglich keineswegs mit den Möglichkeiten einer Landtagsverwaltung, bei-

spielsweise der von Nordrhein-Westfalen, vergleichen.

Aufgaben der Legislative: Kontrollfunktion und Gesetzgebung

Die beiden wichtigsten Funktionen des Kantonsrates bestehen in der Kontrollfunktion und der

Gesetzgebung. Die Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive und der Verwaltung wird in erster

Linie von den oben genannten Kommissionen wahrgenommen. Des Weiteren stehen den Parla-

mentariern folgende Kontrollinstrumente zur Verfügung:

– Die Interpellation, also die Möglichkeit, zu einem Gegenstand der Staatstätigkeit Fragen zu

stellen. Die Exekutive antwortet schriftlich darauf, dem Interpellanten wird jedoch die Mög-

lichkeit eingeräumt, zu den Ausführungen der Exekutive mündlich Stellung zu nehmen.

– Die Einfache Anfrage hinsichtlich eines Gegenstands der Staatstätigkeit; diese wird lediglich

schriftlich beantwortet, eine Diskussionsmöglichkeit wie bei der Interpellation besteht hier

also nicht.

Zusätzliche parlamentarische Kontrollinstrumente – etwa eine Fragestunde, eine aktuelle Stunde

oder eine Regierungsbefragung – sind nicht vorgesehen. Parlamentarische Vorstöße in Form

von Motionen oder Postulaten sind zwar möglich, allerdings sind diese nicht unter den Begriff

Kontrollinstrumente zu subsumieren. Ein Postulat ist ein Auftrag an die Adresse der Regierung,

13

Vgl. Bericht 2013 der Kommission für Außenbeziehungen: 4.

14

Siehe https://www.ratsinfo.sg.ch/home/geschaeftssuche.sendCQForm.html. 15

Ausgenommen die Finanzkommission. Diese wird durch das Finanzdepartement (Exekutive) unterstützt.

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einen Bericht über eine politische Frage vorzulegen. Eine Motion richtet sich ebenfalls an die

Regierung und verlangt, dass ein Entwurf zu einer Verfassungsbestimmung oder einem Gesetz

ausgearbeitet wird.

Die Entstehung eines Gesetzes unter Berücksichtig der Volksrechte ist in Abbildung 1 darge-

stellt. Was die Volksrechte betrifft, wirf auf folgende speziellen Aspekte hingewiesen:16

Mindestens 8000 Stimmberechtigte können mittels einer Verfassungsinitiative eine Gesamt-

bzw. eine Teilrevision der Kantonsverfassung verlangen.

Mindestens 6000 Stimmberechtigte sind imstande, einen Erlass eine Änderung oder die Auf-

hebung eines Gesetzes zu verlangen. Beim Erlass ist ein ausformulierter Entwurf vorzulegen.

Mindestens 4000 Stimmberechtigte sind befugt, dem Kantonsrat mittels einer Einheitsinitia-

tive einen Rechtsetzungsauftrag in Form einer allgemeinen Anregung zu erteilen.

Die Regierung muss dem Kantonsrat Bericht und Antrag zum Inhalt der Initiative vorlegen. Dem

Kantonsrat steht es frei, das Begehren umzusetzen oder auch nicht. Lehnt er es ab, kommt es

allerdings zu einer Volksabstimmung, wobei der Kantonsrat befugt ist, dem Begehren einen Ge-

genvorschlag gegenüberzustellen.

Im Folgenden werden die einzelnen Schritte in der parlamentarischen Phase eines Gesetzes auf-

gezeigt:

Die Vorlage wird von der zuständigen Kommission zuhanden des Kantonsrates vorberaten;

die Kommissionsmitglieder können zuhanden des Plenums Änderungsvorschläge unterbrei-

ten, und die Regierung kann zu den Vorschlägen Stellung nehmen.

Im Plenum erfolgt als Erstes die Eintretensdebatte; d.h. der Kantonsrat muss beschließen, ob

er das Geschäft behandeln will oder nicht. Tritt er nicht auf eine Vorlage ein, so gilt das Ge-

schäft als erledigt und wird somit nicht weiterbehandelt.

Tritt der Kantonsrat hingegen auf die Vorlage ein, kommt es zu einer Spezialdiskussion. So-

wohl die Mitglieder der vorberatenden Kommission als auch des Plenums können Ände-

rungsvorschläge beantragen. Damit ein Antrag angenommen wird, ist eine einfache Mehrheit

erforderlich. Der Präsident erkundigt sich am Ende der Spezialdiskussion, ob Rückkommens-

anträge gestellt werden.

Das Plenum hat die Befugnis, den ganzen Entwurf oder einzelne Abschnitte bzw. Bestim-

mungen daraus zwecks einer grundsätzlichen Überarbeitung an die Regierung zurückzuwei-

sen.

Erlasse, die dem Referendum zu unterstellen sind, werden in zwei Lesungen beraten. Die

zweite Lesung findet in der Regel frühestens vier Wochen nach der ersten statt. Das Plenum

16

Siehe dazu Verfassung des Kantons St. Gallen (KV) und GeschKR.

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ist jedoch befugt, Ausnahmen zu beschließen, allerdings darf es die zweite Lesung nicht am

gleichen Tag wie die erste durchführen.

Nach der zweiten Lesung überprüft die Redaktionskommission, ob die Vorlage mit der

sanktgallischen Gesetzessammlung kongruent bzw. mit den Regeln der Gesetzestechnik kon-

form ist.

In der Schlussabstimmung entscheidet schließlich der Kantonsrat, ob er die Vorlage als Gan-

zes akzeptieren oder verwerfen will.

Abbildung 1: Entstehung eines Gesetzes unter Berücksichtigung der Volksrechte (Teil 1)

Eigene Darstellung.

Das repräsentativ-demokratische System wird durch die ausgebauten direktdemokratischen In-

strumente von Referenden ergänzt. Ist die parlamentarische Beratung abgeschlossen bzw. die

Schlussabstimmung erfolgt, so sind folgende Volksrechte17 vorgesehen (vgl. Abbildung 2):

Verfassungsänderungen unterstehen dem obligatorischen Referendum und müssen dem Souverän

zur Abstimmung vorgelegt werden.

17

Siehe dazu das Gesetz über Referendum und Initiative (RIG).

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– Dem obligatorischen Finanzreferendum unterstehen Gesetze und Beschlüsse des Kantonsra-

tes, die zulasten des Staates für den gleichen Gegenstand eine einmalige neue Ausgabe von

mehr als Fr. 15.000.000.– oder eine während mindestens zehn Jahren wiederkehrende,

neue Jahresausgabe von mehr als Fr. 1.500.000.– zur Folge haben.

– Dem fakultativen Finanzreferendum unterstehen die Beschlüsse des Kantonsrates, die zulas-

ten des Staates für den gleichen Gegenstand eine einmalige neue Ausgabe von

Fr. 3.000.000.- bis Fr. 15.000,000.- oder eine während mindestens zehn Jahren wiederkeh-

rende, neue Jahresausgabe von Fr. 300.000.- bis Fr. 1.500.000.- zur Folge haben.

– Referendumsbegehren aus der Mitte der Bevölkerung: Mindestens 4000 Stimmberechtigte

können eine Volksabstimmung, über einen dem fakultativen Referendum unterstellten Er-

lass verlangen.

– Referendumsbegehren aus der Mitte des Kantonsrates: Mindestens ein Drittel der Kantonsrä-

te kann eine Volksabstimmung, über einen dem fakultativen Referendum unterstellten Er-

lass verlangen.

Hat eine Vorlage bei einer Volksabstimmung die Mehrheit der gültigen Stimmen erhalten, so

gilt sie als angenommen; somit sind keine weiteren Quoren erforderlich.

Abbildung 2: Entstehung eines Gesetzes unter Berücksichtigung der Volksrechte (Teil 2)

Eigene Darstellung.

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Regierung: Wahl und Organisation

Die sieben Mitglieder der Exekutive, also des Regierungsrats werden nach dem Majorzsystem18

direkt durch den Souverän für vier Jahre gewählt. Der Kanton bildet insgesamt nur einen Wahl-

kreis. Gewählt ist, wer das absolute Mehr erreicht – in einem zweiten Wahlgang reicht die einfa-

che Mehrheit. Tritt ein Regierungsmitglied innerhalb der Legislaturperiode zurück, kommt es zu

Ersatzwahlen. Die Wahlen sind konstitutiv: Regierungs- und Koalitionsverhandlungen sind obso-

let, und die Regierung wird nicht durch die Legislative gewählt bzw. bestätigt. Die Zusammen-

setzung der Regierung (vgl. Tabelle 6) entspricht nicht den Mehrheitsverhältnissen im Kantons-

rat (vgl. Tabelle 1). So hat die stärkste Fraktion in der Legislative, die Schweizerische Volkspartei

(SVP), in der Regierung lediglich einen Sitz inne. Dieses Faktum, die unterschiedlichen Mehr-

heitsverhältnisse in der Legislative und in der Exekutive, ist auf kantonaler Ebene keine Selten-

heit. Bei den Regierungswahlen steht oftmals eine bestimmte Persönlichkeit im Vordergrund,

während deren Zugehörigkeit zu einer Partei zweitrangig ist. Dieses Phänomen ist insbesondere

bei der SVP in manchen Kantonen zu konstatieren.

Tabelle 6: Zusammensetzung der Exekutive im Kanton St. Gallen: Wahlen vom 11. März 2012 und 19. April 2012 (zweiter Wahlgang)

Partei Sitze

Freisinnig-Demokratische Partei (FDP) 2

Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) 2

Sozialdemokratische Partei (SP) 2

Schweizerische Volkspartei (SVP) 1

Total 7

Quelle: www.statistik.sg.ch/home/themen/b17/KR.html; eigene Darstellung.

Gemäß dem Departementalprinzip steht jedes Mitglied der Regierung einem Departement – die

schweizerische Bezeichnung für Ministerium – vor. Die Zuleitung der Departemente erfolgt, ei-

nem ungeschriebenen Gesetz entsprechend, nach der Anciennitätsregel und hinter verschlosse-

nen Türen. Die Mitglieder der Regierung dürfen in Reihenfolge ihrer Amtsdauer vorbringen,

welchem Departement sie vorstehen möchten.

Gemäß der Verfassung vertritt die Exekutive ihre Beschlüsse als Kollegium und wird daher als

Kollegialbehörde bezeichnet. Dies gilt als Ausdruck einer stark ausgeprägten Konsensdemokratie.

Hat die Exekutive einen Beschluss einmal gefasst, so muss dieser von jedem Mitglied nach außen

vertreten werden. Der Sinn dahinter ist, dass die Exekutive – getreu dem geltenden Kollegial-

prinzip – geschlossen auftreten und allfällige Meinungsverschiedenheiten intern ausdiskutieren

soll. Dadurch kommt es gelegentlich vor, dass ein Regierungsmitglied infolge seiner Doppelfunk-

tion als Zugehöriger der Kollegialbehörde einerseits und als Leiter eines Departementes ander- 18

Wahlverfahren, bei dem die Mehrheit entscheidet, wer gewählt ist, während die Minderheit nicht berücksichtigt wird.

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seits in ein Spannungsverhältnis gerät. In einem solchen Fall steht dem betreffenden Mitglied

der Exekutive die Möglichkeit offen, gegen einen Beschluss der Kollegialbehörde, den es aus

schwerwiegenden Gründen nicht mittragen kann, die sogenannte Verwahrung zu erklären. Die

Verwahrung ist bis Ende der Sitzung anzukündigen und spätestens binnen sieben Tagen zu er-

klären. Das Mitglied, das die Verwahrung erklärt hat, ist berechtigt, seine Meinung öffentlich

bekanntzugeben, soweit der Beschluss veröffentlicht wird. Die Verwahrung berechtigt jedoch

nicht, den Beschluss öffentlich zu bekämpfen. In der St. Galler Praxis kommt es allerdings höchst

selten zu einer Verwahrung. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Kollegialprinzip sich

grundsätzlich auf Beschlüsse bezieht, die im Regierungsgremium gefasst werden, und nicht auf

Sachgeschäfte, die nicht Gegenstand einer Sitzung der Exekutive waren.

Dem Kollegium steht der Regierungspräsident als primus inter pares vor. Er wird jeweils durch

die Legislative – nach der Anciennitätsregel – für ein Jahr gewählt. Der Regierungspräsident,

leitet die Sitzung, überwacht den Geschäftsgang und vertritt die Regierung nach außen, hat also

Repräsentationsaufgaben. Über weitere Befugnisse, beispielsweise über Richtlinienkompetenzen,

verfügt der Regierungspräsident allerdings nicht. Folglich kann mit Bezug auf die Schweiz bzw.

auf den Kanton St. Gallen nicht – wie in den deutschen Bundesländern – von einer Ministerpräsi-

dentendemokratie die Rede sein, insbesondere auch keine Fokussierung auf eine Person. Dies

schließt jedoch nicht aus, dass es auch hier starke Persönlichkeiten mit stärkerem Einfluss in-

nerhalb des Kollegiums gibt.

Regierungsaufgaben und Kompetenzen

Die Verfassung des Kantons St. Gallen führt die Regierungsaufgaben auf. Die Regierung:

bereitet in der Regel die Geschäfte des Kantonsrates vor;

setzt Verfassung, Gesetze, zwischenstaatliche (interkantonale) Vereinbarungen sowie Be-

schlüsse des Kantonsrates um;

berichtet dem Kantonsrat über ihre Tätigkeit;

unterbreitet dem Kantonsrat den Finanzhaushalt;

erstellt Vernehmlassungen zuhanden der Bundesbehörden;

stellt die Führung in ausserordentlichen Lagen sicher;

entscheidet in besonderen Rechtsstreitigkeiten;

entscheidet über Begnadigungsgesuche.

Ferner ist die Regierung für die horizontalen wie auch für die vertikalen Außenbeziehungen zu-

ständig: Sie leitet die staatliche Zusammenarbeit mit dem Bund, den anderen Kantonen und dem

Ausland. Im Rahmen ihrer Zuständigkeiten

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informiert sie den Kantonsrat über die Außenbeziehungen, insbesondere über laufende Ver-

handlungen zu wichtigen zwischenstaatlichen Vereinbarungen, und schließt diese ab;

bezeichnet sie Vertretungen des Staates in zwischenstaatlichen Einrichtungen.

Zusammenfassung und Typologisierung des politischen Systems

Obwohl sich die einzelnen Kantone in Detailfragen – beispielsweise was die Anzahl der Regie-

rungs- und Kantonsratsmitglieder, des Vorgehens bei Parlamentarischen Vorstößen, das Kom-

missionsystem und die Volksrechten betrifft – teils unterscheiden, ist das politische System des

Kantons St. Gallen beispielhaft für alle Kantone und somit geeignet für die Typologisierung des

kantonalen politischen Systems. Das politische System des Kantons St. Gallen weist – abgesehen

von gewissen Abweichungen – die Charakteristika des präsidentiellen Regierungssystems auf.

Die Legislative und die Exekutive werden jeweils am gleichen Wahlsonntag, jedoch getrennt, für

eine Amtsperiode von vier Jahren gewählt – der Kantonsrat im Proporz ohne Wahlhürde, die

Regierung hingegen im Majorz. Zwischen der Legislative und der Exekutive herrscht strikte Ge-

waltentrennung, d.h. Inkompatibilität. Dem Kantonsrat steht jeweils für die Dauer eines Jahres

ein Präsident vor. Die daraus resultierenden, häufigen Wechsel im Präsidium führen zu einer

Diskontinuität.

Der Kantonsrat, ein Einkammerparlament, ist letztlich ein Arbeitsparlament und kann während

der Legislaturperiode nicht aufgelöst werden. Aufgrund seiner verfassungsmäßigen Rechte

kommt diesem Gremium im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, in der Ge-

setzgebung sowie in der Kontrolle der Regierung und der Verwaltung eine bedeutende Rolle zu.

Allerdings stehen diesem stark professionalisierten und ausdifferenzierten politisch-

administrativen System Milizparlamentarier mit zeitlich begrenzten Möglichkeiten und einer

ressourcenschwachen Parlamentsverwaltung gegenüber. Dies bevorzugt und stärkt die Exekuti-

ve im Machtgefüge gegenüber der Legislative.

Die kantonale Exekutive ist eine Kollegialbehörde bzw. eine Direktorialbehörde, die keine Amts-

zeitbeschränkung kennt und sich aus gleichberechtigten Mitgliedern zusammensetzt. Der Regie-

rungspräsident, gewählt durch die Legislative, steht dem Kollegium für die Dauer eines Jahres als

primus inter pares vor. Andere Kantone haben die Präsidialperiode zugunsten der Kontinuität

verlängert.

Die Regierung kann zwar die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes widerspiegeln, dies ist aber

im schweizerischen kantonalen politischen System eher die Ausnahme. Die Praxis, dass die Wahl

der Regierung durch den Souverän erfolgt, verleiht der Regierung eine starke Legitimität. Eine

parlamentarische Mehrheit, damit jemand ins Amt kommt und infolgedessen für die Dauer einer

Legislaturperiode mitregieren kann, braucht es nicht; die Möglichkeiten eines (konstruktiven)

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Misstrauensvotums oder einer Amtsenthebung bestehen nicht. Koalitionsverhandlungen sind

nicht nötig und inhaltlich-materielle Präferenzen der gewählten Mitglieder der Regierung müs-

sen ebenfalls nicht festgelegt werden. Allerdings ist die St. Galler Regierung gesetzlich dazu ver-

pflichtet, bis Ende des ersten Jahres der Amtsdauer ihre Schwerpunktplanung sowie die strate-

gischen Ziele ihrer Staatstätigkeit während der nächsten vier Jahre zu veröffentlichen.19

Der übliche Dualismus des parlamentarischen Systems – mit der Regierungsmehrheit auf der

einen und der Opposition auf der anderen Seite– besteht im kantonalen politischen System des

Kantons St. Gallen bzw. der Schweiz in dieser Ausprägung nicht. Zwar können unterschiedliche

Sachfragen durchaus unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse erzeugen, was sich unter auf die

Fraktionsgeschlossenheit auswirkt. Opposition entsteht also von Fall zu Fall.

Das repräsentativ-demokratische System wird durch direktdemokratische Instrumente ergänzt.

Diese politischen Rechte ermöglichen es dem Souverän, auf den politischen Willensbildungspro-

zess, und damit auch auf die Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Die plebiszitären Elemente

bedingen hohe Anforderungen an die Politikvermittlung zwischen den politischen Akteuren und

dem Souverän. Abstimmungen sind ein dauernder Bestandteil dieses politischen Prozesses, bei

dem jeweils Sachfragen im Vordergrund stehen. Demzufolge haben Abstimmungen hierzulande

nicht den Charakter eines Plebiszits über die Regierung. Allerdings liegt die Wahl- und Abstim-

mungsbeteiligung i.d.R. deutlich unter 50 Prozent.

Abbildung 3 fasst die Ausführungen zusammen und stellt das politische System des Kantons St.

Gallen abschließend überblicksartig dar.

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Siehe die Schwerpunktplanung der Regierung 2013 bis 2017: http://www.sg.ch/k/reg.html.

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Abbildung 3: Das Politische System des Kanton St. Gallen

Eigene Darstellung.

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Quellenverzeichnis

Bericht 2013 der Kommission für Außenbeziehungen (KfA). 22. April 2013.

Buser, Denise (211). Kantonales Staatsrecht. Basel Helbling Lichtenhahn Verlag.

Eidgenössisches Finanzdepartement. Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben-

teilung zwischen Bund und Kantonen (NFA). Informationsbroschüre vom September 2007.

Geschäftsordnung der Regierung (GeschO). 142.2.

Geschäftsreglement des Kantonsrates (GeschKR). 131.11.

Gesetz über Referendum und Initiative (RIG). 125.1.

Häfelin, Ulrich / Haller, Walter / Keller, Helen (2012). Schweizerisches Bundesstaatsrecht.

Basel / Genf. Schulthess.

Kanton St.Gallen. Kopf und Zahl 2013.

Kantonsrat Postulat 43.12.08. Überprüfung der Organisation der ständigen Kommissionen.

https://www.ratsinfo.sg.ch/home/geschaeftssuche.sendCQForm.html.

Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen. Nr. 3. November

2005.

Schweizerische Bundesverfassung (BV). SR 101.

Schwerpunktplanung der Regierung 2013 bis 2017. http://www.sg.ch/k/reg.html.

Statistik für den Kanton St. Gallen. www.sg.ch; insbesondere

www.statistik.sg.ch/home/themen/b17/KR.html.

Tätigkeit des Parlamentes 2002 bis 2006. Bericht des Präsidiums vom 16. August 2006.

Tätigkeit des Parlamentes 2006 bis 2010. Bericht des Präsidiums vom 16. August 2010.

Verfassung des Kantons St. Gallen (KV). 111.1.