Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr...

19

Transcript of Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr...

Page 1: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon
Page 2: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

5

DDas Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen«

Das Baby weinte. Es war kein normales Säuglingsweinen vor

Hunger oder Angst, sondern eine lange, hoffnungslose Wehklage,

die andauerte, solange der Priester gewissenhaft seine Arbeit ver-

richtete.

Die Mutter des Babys sah von der anderen Seite des Raumes

zu und wiegte sich vor Kummer hin und her. Tränen rannen

über ihr Gesicht. Neben ihr schlief ihr zweites Kind erschöpft in

seinem Bett. Ihr Mann stand neben dem Priester, wie es Brauch

war, und sein verschlossenes Gesicht verbarg jedes Gefühl, das er

empfinden mochte.

Die anderen Dorfbewohner hatten sich in ihre Häuser zurück-

gezogen, damit sie nicht hören mussten, was geschah.

Danach würde das Ritual gefeiert, obwohl niemand mehr

richtig verstand, was dabei eigentlich gefeiert wurde.

Nyssa schob ihre Finger durch die Henkel von sechs leeren Krü-

gen und hob sie aus einer Bierpfütze auf dem Tisch. Sie stellte sie

geräuschvoll auf die Theke und nahm ein Tuch, um den Tisch

trocken zu wischen. Einer der Gäste hatte eine Handvoll Mün-

zen als Trinkgeld dagelassen. Sie schob sie in ihre Hand und ließ

sie in die Schürzentasche gleiten. Die Münzen waren nicht viel

wert, aber besser als nichts.

Page 3: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

6

Es war eine warme Nacht. Strähnen ihres braunen Haares

klebten an ihrer verschwitzten Stirn. Sie trug ihr Haar zu einem

dicken Zopf geflochten, der ihr bis über die Schultern reichte.

Früher am Abend war das Gasthaus voller gewesen, aber jetzt

wurde die Kundschaft spärlicher. Sie schob die Stühle unter den

Tisch und ging hinter die lange hölzerne Theke zurück, um die

Krüge zu spülen. Das Wasser im großen schwarzen Eisenkessel

war noch heiß, als sie es ins Spülbecken goss.

Sie spülte die Krüge einen nach dem anderen aus, trocknete sie

oberflächlich ab und stellte sie auf das Regal über den dickbau-

chigen Bierfässern und den kleineren Brandyfässchen. William

schlug ein neues Fass an; das warme Wetter ließ die Leute mehr

trinken als sonst.

»Kann ich ein paar Minuten rausgehen?«, fragte sie ihn. »Nur

um mich ein bisschen abzukühlen.«

Er lächelte sie an, sein rotes Gesicht glänzte vor Schweiß. »Geh

schon. Zehn Minuten können wir dich entbehren. Aber nicht

länger!«

Für die kurze Pause dankbar, drängte sich Nyssa an den Gästen

vorbei zum Eingang und ging hinaus. Draußen war es nicht viel

kühler. Nicht ein Lüftchen wehte ihr die Haare aus der Stirn, als

sie sich das Gesicht mit einem Zipfel ihrer Schürze abwischte.

Die Sonne war längst untergegangen und die Stadt wurde von

Lampen, Fackeln und Mondlicht erhellt. Langsam ging Nyssa

über die schmale Straße, fort vom Stadtzentrum, und grüßte die

wenigen Leute, die an ihr vorbeischlenderten. Die Luft roch

nach Fisch und Salz, warmen Ziegelsteinen und Kräutern. Die

Page 4: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

7

Straße führte den Hügel hinunter zum Hafen, aber sie wollte auf

keinen Fall den langen Aufstieg zurück bewältigen müssen, also

ging sie nicht weiter, sondern lehnte sich an eine niedrige Mauer

und schaute einfach nur hinunter. Sie stützte die Hände auf die

warmen Steine und lehnte sich darüber, um wenigstens einen

Lufthauch zu spüren, aber sogar hier war es windstill.

Lichter blinkten in den Häusern auf dem Hügel, und der

Mond warf eine silberne Bahn über die glatte Oberfläche des

Meeres. Ein paar Lichter bewegten sich in einiger Entfernung

vom Ufer auf dem Meer: Fischerboote, die Tintenfische mit

Lampen dicht über dem Wasser anlockten. Die armen Tiere

taten ihr immer leid – aufgespießt und niedergeknüppelt, nur

weil sie neugierig waren. Aber sie taten ihr doch nicht so leid,

dass sie sie nicht gegessen hätte, das nicht. Sie gehörten zu ihren

Lieblingsspeisen.

Ihre Pause war fast vorbei; lieber nicht zu spät kommen.

Sie machte sich auf den Weg zurück zu Lärm und Licht und

Hitze ins Drowned Boy Inn, das Gasthaus Zum Ertrunkenen Jungen.

William hatte ihr erzählt, dass das Gasthaus nach seinem Groß-

vater benannt war. Er war eines Tages im Alter von ungefähr

sechs Jahren scheinbar tot auf den Strand gespült worden, wo der

Hund eines Fischers ihn ins Leben zurück geleckt hatte.

Er hatte sich nicht erinnern können, so erzählte William, wer

er war oder woher er kam. Ein kinderloses Paar in der Stadt

nahm ihn auf und zog ihn als ihren Sohn groß, und als sie das

Lokal übernahmen, benannten sie es nach diesem seltsamen Er-

eignis.

Page 5: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

8

Die verblasste Farbe des Schildes hatte im Laufe der Jahre

in der Sonne Blasen geworfen, und wenn Nyssa nicht gewusst

hätte, dass es einen Hund zeigte, der an der Hand eines Jungen

leckte, hätte sie es kaum erkannt.

»Fast eine Familientradition, Findelkinder aufzunehmen«, sagte

William von Zeit zu Zeit, wenn er die Geschichte einem neuen

Gast erzählte, und warf Nyssa einen Blick zu. Sie lächelte zurück,

weil sie wusste, was für ein Glück sie gehabt hatte.

William und Oonagh, seine Frau, hatten sie entdeckt, als sie

eines Tages draußen vor dem Lokal im Sand spielte. Niemand

wusste, wer sie war oder woher sie kam. Zuerst sagten die beiden

sich und anderen, dass sie sich nur um das Mädchen kümmern

würden, bis seine Eltern gefunden waren. Aber sie hätte ebenso

gut vom Himmel gefallen sein können, so wenig bekam man

über sie heraus. Alles, was das Kind besaß, waren die Kleider, die

es trug, und eine zerbrochene Bambusflöte, die es umklammert

hielt. Noch heute nahm sie die Flöte oft aus der Holzkiste in ih-

rem kleinen Zimmer und betrachtete sie, als ob sie ihr erzählen

könnte, wer sie wirklich war.

Also war sie im Gasthaus geblieben, wo gut für sie gesorgt

wurde. Nicht ganz so gut, als wäre sie wirklich die Tochter, aber

gut genug. Oonagh war vor drei Jahren gestorben, und Nyssa

hatte gedacht, William würde sie vielleicht wegschicken, damit

sie sich anderswo Arbeit suchte, aber er hatte sich nur noch mehr

auf sie verlassen.

Sie wollte gerade die Tür aufdrücken, als sie hörte, wie ihr

Name leise geflüstert wurde. Sie spähte in die Dunkelheit und

Page 6: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

9

glaubte, das Gesicht eines Mädchens zu erkennen, das gegenüber

im Schatten des Hauses stand.

»Cidryn?«

»Ich hab gehört, dass du Kaninchenpastete gemacht hast«,

sagte das Mädchen.

Nyssa lachte. »Ja. Komm in fünf Minuten an die Küchentür.«

Die andere nickte und ging fort.

Wieder im Gasthaus, traf Nyssa auf einen lauten Chor von

heiseren Sängern. Einer der Männer wollte am nächsten Tag hei-

raten, und seine Freunde waren wild entschlossen, ihn mit einem

gehörigen Kater ins Eheleben zu entlassen.

Sie kannte die meisten, aber ein paar waren Fremde, wahr-

scheinlich gehörten sie zur Familie der Braut und kamen aus

einer anderen Stadt. Einer von ihnen streckte einen Arm aus, als

sie vorbeiging, und legte ihn um ihre Taille. Er zog sie an sich

und versuchte sie zu küssen.

Sie wand sich wie ein Aal, glitt aus seinem Griff und stellte

gleichzeitig einen Fuß so auf, dass sie mit dem Holzabsatz an sei-

nem Schienbein entlangschürfte. Er schrie und ließ sie los. Sie

brachte sich schnell in Sicherheit.

»Tut mir leid, Nyssa«, brüllte der Bräutigam, um das Lachen

der anderen zu übertönen. »Er ist nicht von hier. Er macht den

Fehler bestimmt nicht noch mal.«

Sie schlüpfte zurück hinter die Theke. William zog eine Au-

genbraue hoch. »Alles klar?«

»Natürlich. Du weißt, dass ich auf mich aufpassen kann.«

»O ja, das weiß ich!«, lachte er.

Page 7: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

10

Mit den Jahren war sie sehr geschickt darin geworden, un-

erwünschte Annäherungsversuche abzuwimmeln. Als sie noch

ein kleines Mädchen war, hatten ihr die Leute nur gesagt, wie

hübsch sie sei, und sie hatte ihnen leidgetan, weil sie ein Findel-

kind war. Aber seit sie die Kindheit hinter sich gelassen hatte,

musste sie sich mit einer anderen Art von Aufmerksamkeit he-

rumschlagen. Es schien immer irgendeinen Burschen zu geben,

der stammelte, sie solle ihn später treffen, oder einen Betrunke-

nen, der sie küssen wollte. Meistens konnte sie leicht mit ihnen

fertig werden, und William und die Stammgäste passten auf sie

auf.

Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen

Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er

war schon so lange Stammgast, wie sie denken konnte, und hatte

ihr immer großzügig Trinkgeld gegeben, aber sie mochte ihn

nicht nur deswegen.

Marius stand auf und warf eine Münze auf den Tisch, nahm

seine Jacke und fuhr sich mit der Hand durch sein struppiges

schwarzes Haar.

Als er an den Feiernden vorbeiging, verlor der Mann, der sie

gepackt hatte, plötzlich die Balance und landete mit Bier über-

gossen im Stroh auf dem Boden.

Nyssa verbarg ihr Lächeln hinter ihrer Hand. Wie hatte er das

gemacht? Sie war sicher, dass Marius dahintersteckte.

Später, als der Bräutigam und seine Freunde endlich gegangen

waren und sie abschließen konnten, sagte William: »Du bist

schon wieder gewachsen. Du brauchst was Neues zum Anzie-

Page 8: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

11

hen. Sieh dir das Kleid an! Die Ärmel reichen kaum bis zu dei-

nen Ellbogen.«

Sie streckte die Arme aus und überlegte. »So viel bin ich nicht

gewachsen. Das Kleid ist eingelaufen. Aber du hast Recht, ich

brauche ein paar neue Sachen. Tut mir leid.«

»Das ist schon in Ordnung, Mädel. Das hast du dir verdient.«

Oben in ihrem Dachzimmer betrachtete sie das Kleid genauer.

Die Ärmel waren tatsächlich viel zu kurz. Sie verdeckten kaum

das kleine Vogel-Tattoo direkt über ihrem linken Ellbogen. Sie

hatte sich oft gefragt, was es bedeutete. Fast jeder auf der Insel

hatte irgendein Tattoo oder sogar mehrere, und niemand beach-

tete sie eigentlich mehr. Sie waren Symbole für die Herkunft

oder das Geburtsjahr, Clanzeichen, Glücksbringer oder einfach

nur Familientradition, aber sie hatte noch nie so eines wie ihres

gesehen. Es stellte einen langbeinigen Vogel dar, vielleicht einen

Reiher, und er hob sich dort, wo die Sonnenbräune aufhörte,

schwarz von ihrer weißen Haut ab. Vielleicht hatte er irgend-

etwas mit der Familie zu tun, die sie nicht kannte.

Auch sie war in letzter Zeit langbeinig geworden. Ihre Schien-

beine schauten unter dem Rocksaum hervor, obwohl sie ihn so

weit wie möglich herausgelassen hatte.

Sie zog sich aus und ein Nachthemd an, bürstete und flocht ihr

Haar neu, damit es beim Schlafen nicht verfilzte, und benetzte

sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser.

Sie erinnerte sich an die Münzen, die sie am Abend einge-

steckt hatte, holte sie aus ihrer Schürzentasche und legte sie zu

Page 9: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

12

den wenigen Ersparnissen, die sie in der kleinen Holzkiste ganz

oben in ihrer Kleidertruhe aufbewahrte.

Auch die zerbrochene Flöte war darin. Das Mundstück gab es

noch, und auch ein paar Grifflöcher, aber sie musste vor langer

Zeit entzweigebrochen sein, obwohl sie sich nicht daran erin-

nern konnte.

Wie in den meisten Nächten nahm sie sie heraus und drehte

sie zwischen ihren Fingern, aber welche Geheimnisse die Flöte

auch barg, sie behielt sie wie immer für sich.

In manchen Nächten träumte sie, und es war, als lebte sie das

Leben eines anderen oder bekäme es wenigstens flüchtig zu

sehen.

Diese Träume kamen einmal alle paar Wochen. Soweit sie es

wusste, war das schon immer so gewesen. Sie hatte nie versucht,

sie jemandem zu erzählen. Sie befürchtete, man könnte sie für

verrückt halten, weil sie so wenig Sinn ergaben.

Mit den Jahren hatte sie gemerkt, dass die Träume sich immer

in der gleichen Stadt abspielten, aber nicht in der, wo sie wohnte.

Die Stadt lag an einem Strand – nein, sie war der Strand. Land

und Meer schienen ineinander zu verschmelzen, und der Stadt-

rand verlor sich in halb überschwemmten, verrottenden Gebäu-

den und schräg aus dem Wasser ragenden roten Dächern.

Nie gab es ein Geräusch. Nicht vom Meer oder von Men-

schen oder Tieren, obwohl einige der Szenen, die sie sah, sich auf

Marktplätzen oder in überfüllten Räumen abspielten.

Manchmal war da ein Mann in ihrem Traum, aus dem alle

Page 10: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

13

Farbe gewichen zu sein schien. Seine Haut war milchig weiß,

seine Augen waren von einem so hellen Blau, dass man es kaum

eine Farbe nennen konnte, sein Haar war weiß. Seine Kleidung

im Gegensatz dazu immer schwarz.

Oft sah er sie direkt an, manchmal mit einem Ausdruck, der sie

angstvoll erwachen ließ. Manchmal lachte er sie aus. Manchmal

sprach er, aber sie konnte nie hören, was er sagte.

Es waren keine angenehmen Träume.

In dieser Nacht stand sie auf einer Rampe aus behauenen Steinblö-

cken, über die Schiffe zu Wasser gelassen werden konnten. Wellen kräu-

selten sich um ihre Füße. Sie blickte über das Meer und hielt nach etwas

Ausschau, aber nach was? Schließlich drehte sie sich um und stapfte aus

dem Wasser und die Rampe hinauf. Als sie über den Rand ins Wasser

schaute, starrte eine versunkene Statue sie aus leeren, von Tang umsäum-

ten Augen an.

Sie ging weiter eine schmale Straße hinauf zum Marktplatz, wo sie

schon oft gewesen war. Obwohl viel los war, sprach niemand mit ihr oder

blickte sie an. Sie hätte genauso gut unsichtbar sein können.

Sie betrat die Werkstatt eines Glasbläsers, und der Mann dort packte

einen Kelch aus blauem Glas ein und reichte ihn ihr lächelnd. Sie bahnte

sich einen Weg zurück durch die überfüllten Straßen und hielt ihn dabei

vorsichtig vor ihre Brust.

Und dann geschah das Unglück: Ein Mann, ein zappelndes Huhn in

den Armen, stieß sie an, und das Päckchen rutschte ihr aus den Händen

und zerbrach zu ihren Füßen in tausend Stücke.

Sie wachte schweißgebadet auf und wusste, sie würde dafür

Schläge oder Schlimmeres erdulden müssen. Es dauerte ein paar

Page 11: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

14

Minuten, bis sie fähig war, aus dem Traum aufzutauchen. Es gab

keinen Kelch, es würde keine Strafe geben.

Sie setzte sich schaudernd im Bett auf und nahm nur allmäh-

lich ihr vertrautes Zimmer wahr. Nach ein paar Minuten legte sie

sich wieder hin und schloss die Augen, aber sie konnte nicht ein-

schlafen, bis die Hähne anfingen zu krähen.

Das Mädchen duckte sich zwischen die Blumen. Ein gutes Ver-

steck! Ganz in der Nähe tat ihre Mutter so, als könnte sie das

blaue Kleid ihrer Tochter zwischen all den grünen Blättern nicht

sehen.

»Wo bist du?«, rief sie. »Komm raus, ich gebe auf.«

Das kleine Mädchen legte eine Hand auf den Mund, um ein

Kichern zu unterdrücken, als ihre Mutter sich aufrichtete, in

Richtung des Dorfes blinzelte und dann ihre Hand über die Au-

gen hielt, damit sie besser sehen konnte.

Sie kroch zwischen den Blumen hervor und trat auf Zehen-

spitzen hinter ihre Mutter. »Buh!«

Sie rief, so laut sie konnte, aber ihre Mutter reagierte nicht. Sie

schaute immer noch dahin, wo eine Rauchfahne aus dem Dorf

aufstieg.

»Mama! Hier bin ich! Mama?« Sie zog am Rock ihrer Mutter.

»Kann ich mich noch mal verstecken? Spiel mir ein Lied!« Sie

zog an der Bambusflöte, die ihre Mutter geistesabwesend in der

Hand hielt.

Ihre Mutter drehte sich mit einem seltsamen Lächeln zu ihr

um. »Keine Lieder jetzt, Liebes. Du wirst dich wieder verste-

Page 12: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

15

cken.« Sie ergriff die Hand ihrer Tochter und ging mit eiligen

Schritten fort vom Dorf. »Du rollst dich ganz klein zusam-

men …«

»Wie das Baby?« Das Mädchen klopfte auf den gerundeten

Bauch ihrer Mutter.

»Wie das Baby. Sei still und roll dich ganz klein zusammen und

bleib in deinem Versteck. Was glaubst du, wie lange du leise sein

kannst?« Sie zog das kleine Mädchen hinter sich her.

»Ganz, ganz lang.«

»Bis es dunkel wird?«

»Vielleicht.« Sie hörte sich nicht mehr so sicher an.

»Wir wollen sehen, ob du das kannst. Schau, da ist ein guter

Platz.«

Es war eigentlich kein sehr gutes Versteck, nur ein kleiner

Hohlraum unter ein paar Steinen, verdeckt von hohen Gräsern.

Das Kind krabbelte gehorsam hinein.

»So, Mama?«

»Genau so. Und jetzt denk daran, bleib hier, bis es dunkel ist.«

»Warum weinst du?«

»Ich weine nicht. Ich hab was im Auge. Wiedersehen, Nyssa,

Liebes.«

»Wiedersehen, Mama.«

Nyssa ging mit ihren Schuhen in der Hand am schmalen Strand

entlang. Sie hätte am Hafen sein sollen, um für das Gasthaus

Fische zu kaufen, aber der Fang war noch nicht entladen, und sie

wollte sicher sein, die besten zu bekommen.

Page 13: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

16

Es war Ebbe, aber die Flut kam schon zurück. Sie ging über

den weißen Sand und beobachtete, wie die Seeschwalben immer

wieder in die Brandung tauchten und mit ihren Schnäbeln in die

Wellen stachen, um Sandaale zu fangen.

Zum ersten Mal seit Tagen war es kühler und endlich wehte

wieder eine Brise. Vom Strand aus konnte sie den Hafen über-

blicken. Es sah so aus, als wären die Boote endlich entladen.

Sie machte sich auf den Weg, um genug Fische zu kaufen, dass

die Gäste des Drowned Boy Inn am Abend bei Laune gehalten

würden.

Trotz der Brise wurde ihr warm, als sie mit den beiden Segel-

tuchbeuteln voll glitschiger Fische den Pfad zur Stadt hinaufging.

Manche hatten noch nach Luft geschnappt, als sie sie kaufte, aber

jetzt bewegten sie sich nicht mehr. Sie stellte die Beutel einen

Augenblick auf den Boden, blickte zurück zum Hafen und

kratzte geistesabwesend einen Mückenstich an ihrer Ferse.

Ein Schiff, das sie nicht kannte, wurde durch die schmale Ha-

feneinfahrt gerudert. Es war viel zu elegant und schnittig für ein

Fischerboot und nicht groß genug für eine der regelmäßig an-

kommenden Fähren. Aus der Entfernung war die Mannschaft

nicht zu erkennen, aber sie konnte sehen, dass das geschäftige

Treiben im Hafen aufgehört hatte und jedermann beobachtete,

wie das Schiff anlegte. Es reizte sie, darauf zu warten, wer an

Land gehen würde, aber das Gewicht der Fische erinnerte sie da-

ran, was sie zu tun hatte. Nun gut, wenn es irgendetwas Interes-

santes gab, dann würden die Neuigkeiten bald im Drowned Boy

ankommen. So war es immer.

Page 14: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

17

Sie ging weiter und kaufte noch mehr Zutaten, die sie zum

Kochen brauchte. Beim Schneider blieb sie stehen, um sich die

Stoffballen anzusehen.

»Nyssa!«, sagte ein Mädchen. Sie wartete auf etwas, das gerade

eingepackt wurde.

»Cidryn, hallo. Ich hab dich gestern gar nicht danach fragen

können. Hast du was von Aria gehört?«

»Vor ein paar Wochen ist ein Brief von ihr im Haus angekom-

men. Sie hat sich eingelebt. Es ist ein guter Ort, sagt sie. Sie be-

handeln sie anständig. Es gibt viele Kunden. Wenn man das gut

nennen kann.« Sie zog eine Grimasse. »Sie wird jedenfalls viel auf

die Seite legen können.«

Eine Frau, der Mund schmal wie ein Strich, trat mit einem

eingewickelten Päckchen aus dem hinteren Raum des Ladens.

Sie legte es auf die Theke, statt es dem Mädchen in die Hand zu

geben.

Cidryn nahm es ohne eine Bemerkung an sich. Sie sah Nyssa

an und zog die Augenbrauen hoch, als sie sich zum Gehen

wandte. Die Frau schenkte Nyssa ihre ganze Aufmerksamkeit,

noch bevor Cidryn aus der Tür war.

Es dauerte eine Weile, bis Nyssa ihre Wahl getroffen hatte. Sie

war hin- und hergerissen zwischen etwas Zweckmäßigem und

etwas Frechem, dem Wissen, dass sie nicht zu viel von Williams

Geld ausgeben durfte, und dem Gedanken daran, dass die Beutel

mit den Fischen draußen in der Sonne standen. Schließlich hatte

sie sich jedoch entschieden und machte sich auf den Weg zum

Gasthaus.

Page 15: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

18

Sie bog in eine schmale Gasse mit Mietställen ein, war gerade

halb hindurchgegangen und dachte immer noch an den Schnei-

derladen, als es passierte.

Eine Hand presste sich auf ihren Mund und eine zweite um

ihre Taille. Bevor sie sich wehren konnte, wurde sie in einen en-

gen Eingang gezogen und die Tür hinter ihr zugetreten.

Instinktiv ließ sie die Beutel mit den Fischen fallen und stieß

mit aller Kraft die Ellbogen nach hinten, aber sie traf nicht genau

genug, um irgendetwas auszurichten. Der Mann, der sie festhielt,

sprach in ihr Ohr, aber sie hörte nicht zu. Sie trat hinter sich,

dorthin, wo sie sein Knie vermutete, dann biss sie fest in die

Hand über ihrem Mund und trat dabei weiter zu.

Plötzlich war sie frei.

Sie hörte ihren Angreifer unterdrückt fluchen, aber machte

sich nicht einmal die Mühe, zurückzuschauen, während sie zur

Tür rannte. Sie war fast dort, als er ihr ein Bein stellte und sie hart

auf dem staubigen Stroh aufschlug.

Jetzt hörte sie die Worte, die er in ihr Ohr zischte.

»Nyssa, sei still! Ich bin es, Marius. Da draußen sind Männer,

die uns töten wollen. Sei einfach still!«

Er stieß sie von sich, als ob er ihr zeigen wollte, dass er keine

Bedrohung darstellte. Jetzt konnte sie um Hilfe schreien.

Sie warf sich herum, setzte sich und schnappte nach Luft.

Staubwolken wirbelten auf. Sie funkelte ihn wütend an und öff-

nete den Mund, um zu schreien. Von draußen drang das Ge-

räusch von schweren Stiefeln auf der Straße zu ihnen herein. Da

war etwas an diesem Geräusch …

Page 16: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

19

Sie erstarrten beide.

Es schienen drei oder vier Männer zu sein.

Marius legte einen Finger auf die Lippen; er merkte offenbar

nicht, dass seine Hand blutete, wo sie ihn gebissen hatte. Ge-

räuschlos wie eine Katze kam er auf die Füße, und sie sah zum

ersten Mal, dass er ein Schwert trug. Er war nicht mehr der

sanfte, freundliche Mann aus dem Gasthaus. Es war ein Fremder,

der da bei der Tür stand, gespannt wie eine Feder, seine Hand am

Schwert.

Sie hörten, wie die Schritte lauter wurden und sich dann ver-

loren. Nyssa begann wieder zu atmen.

»Was in aller Welt …?«

»Warte!«

Er hob eine Hand, damit sie schwieg, und öffnete die Tür

einen Spaltbreit, um auf die Straße zu spähen. Zufrieden schloss

er sie wieder und drehte sich zu ihr um, wobei er seinen Griff um

das Schwert lockerte.

»Es tut mir leid, dass ich das getan habe«, sagte er. Er blickte

betrübt auf seine blutende Hand. »Aus mehreren Gründen.«

Nyssa sprang auf die Füße, nahm die Beutel mit den Fischen

und schob sich zur Tür, bereit, loszulaufen.

»Warte! Du bist noch nicht in Sicherheit. Lass es mich er-

klären!«

Sie warf die Handvoll Staub, die sie aufgehoben hatte, in sein

Gesicht, riss die Tür auf und rannte davon.

Page 17: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

20

Ihr Herz klopfte noch, als sie durch die Hintertür des Gasthauses

stürmte. Sie ließ die Beutel mit den Fischen fallen und rief nach

William. Er antwortete aus dem großen Schankraum und kam in

die Küche, während er sich die Hände trocken rieb.

»Was um Himmels willen ist los, Nyssa?«

»Marius! Er hat mich in einen der Ställe gezerrt. Er hat ge-

sagt, dass da Männer wären, die uns töten wollen. Und er hatte

ein Schwert. Ich dachte, ich würde ihn kennen. Ich weiß nicht,

warum er das getan hat.« Die Wörter sprudelten aus ihr heraus.

Sie verschränkte die Arme, damit ihre Hände nicht mehr zitter-

ten. Es war noch keine Zeit gewesen, Angst zu haben, aber

jetzt … »Ich dachte, ich wäre wenigstens vor ihm sicher, aber er

hat mich gepackt und …«

Sie sah, dass William kreidebleich geworden war.

»Bist du verletzt? Wo ist Marius? Hat irgendjemand dich hier-

her zurückkommen sehen?«

»Nein, mir ist nichts passsiert. Ich bin vor Marius weggerannt.

Ich hab ihm Staub in die Augen geworfen. Was meinst du damit,

ob irgendjemand mich gesehen hat? Wer?«

Er schwieg.

»William?«

»Ich muss noch mal weg«, sagte er unvermittelt. »Ich schließe

ab. Bleib im Haus und versteck dich. Lass niemanden herein

außer mir.«

»William, was hast du? Was ist los?« Sie schrie ihn jetzt an.

»Schhhh. Ich erkläre es dir, wenn ich zurückkomme. Bitte ver-

trau mir und tu, was ich dir sage.« Er nahm ihre Hände und sah

Page 18: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

21

ihr direkt in die Augen. »Lass mich einfach auf dich aufpassen,

Mädchen.«

Er war fast drei Stunden fort.

Sie hatte angenommen, dass er Marius finden und zur Rede

stellen wollte, obwohl da etwas in der Art, wie er gesprochen

hatte, gewesen war, das sie daran zweifeln ließ.

Sie saß eine Weile in ihrem Zimmer, aber das Nichtstun wurde

unerträglich, also ging sie hinunter in die Küche und machte sich

daran, Fischsuppe für den Abend zu kochen. Geistesabwesend

nahm sie die Fische aus und wischte ihre Hände ab, bevor sie

Oonaghs Rezeptbuch vom Regal holte.

Eigentlich musste sie gar nicht hineinsehen, aber es war tröst-

lich –, als würde etwas von Oonagh immer noch in den Seiten

weiterleben. Eine der ersten Erinnerungen aus ihrem Leben

hier war, wie sie auf einem Stuhl in der Küche gestanden und

Oonagh beim Kochen zugeschaut hatte. Sie hatte mit diesem

handgeschriebenen Buch lesen gelernt. Es hatte schon Oonaghs

Mutter und Großmutter gehört, und jede Generation hatte Re-

zepte und Erklärungen hinzugefügt, so dass es genauso ein Buch

über Familiengeschichte wie über Essen war.

Sie hatte gedacht, dass es das einzige Buch auf der Welt wäre,

bis sie groß genug war, in den nach Hefe riechenden Brauraum

zu dürfen, und herausfand, dass William auch ein Buch mit Re-

zepten hatte, aber dass man mit seinen Bier braute.

Diese beiden und die Rechnungsbücher des Gasthauses, in die

sie die Einnahmen und Ausgaben einzutragen gelernt hatte, wa-

Page 19: Das Gasthaus »Zum Ertrunkenen Jungen« · Einer von ihnen war auch jetzt da: Marius. Er warf ihr einen Blick zu und blinzelte. Sie lächelte zurück. Sie mochte ihn. Er war schon

22

ren das Einzige, was sie als Kind zu lesen gehabt hatte. Aber was

brauchte sie mehr?

Sie fing an, Kräuter zu hacken.

Endlich klopfte es und sie hörte Williams Stimme. Erleichtert

beeilte sie sich, den Riegel von der Tür zu schieben und ihn he-

reinzulassen.

Marius war bei ihm.

»Was macht der hier?« Sie spuckte die Wörter aus.

William blickte von Nyssa zu Marius und zurück, dann holte

er tief Luft. »Du musst weg. Heute Nacht. Marius wird dich be-

gleiten.«