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DAS ARSENAL

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DAS ARSENAL

Deutsche ErstveröffentlichungTitel der Originalausgabe: THE ARMORY Copyright © 2007 by Walter Diociaiuti Published by arrangement with the authorCopyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2015 by Voodoo Press

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit leben-den oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht be-absichtigt.

Titelbild: Copyright © Max Pedro Petrongari

ISBN: 978-3-902802-96-5 eISBN: 978-3-902802-67-5 www.voodoo-press.com

Für Christel Weichlein

VPVOODOOPRESS

DAS ARSENAL

Walter Diociaiuti

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Einführungvon T.M. Wright

Gute Geschichten sollten uns überraschen. Sie sollten uns nicht nur zum Lesen verleiten, weil sie einzigartig sind, sondern weil sie für unsere Phantasie Länder erschaffen, zu denen wir fliegen können und unserer Vorstellungs-kraft erlauben, dort ein lebendiger Teil der Phantasie des Autors zu werden.

Gute Geschichten bringen uns mit Figuren zusammen, die wir berühren können, hören und riechen, und mit de-nen wir – auf unsere Weise – interagieren; gute Geschich-ten schenken uns Menschen, die wir langsam kennen ler-nen können und lieben oder hassen, oder von denen wir vielleicht nicht wissen, wie wir sie einzuordnen haben – Menschen, die uns ebenso wie die Geschichten, die sie beleben, bewegen.

Gute Horrorgeschichten (und ich überlasse die Defi-nition von »Horror« Ihnen) sollten uns nicht nur einfach überraschen und berühren, sie sollten außerdem ihre äu-ßerst realen Menschen in eine sehr surreale und beängs-tigende Umgebung versetzen und uns dann zeigen, wie diese realen Menschen an diesem Ort reagieren.

Und gute Horrorgeschichten sollten weitaus länger un-sere Phantasie beschäftigen, als es dauert, die letzten Worte zu lesen und mit dem Leben weiterzumachen. Denn Hor-rorgeschichten tragen unsere Alpträume, unsere Ängste und unsere Sterblichkeit in weit größerem Maße in sich, als jede andere Form von Literatur.

Mit »Das Arsenal« hat Walter Diociaiuti nicht nur ein-fach eine gute, sondern eine ausgezeichnete Horrorge-schichte geschrieben. Die Menschen in ihr sind Leute, mit denen wir schnell bekannt werden und, egal was wir über sie denken und empfinden, wir fühlen etwas. Sie rei-zen unsere Neugier, sprechen zu uns, flehen uns an, ge-

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hen uns unter die Haut, und, sobald sie einmal dort sind, besitzen uns. Ein Beispiel:

Seine Gedanken glitten im Bett seines geistigen Flus-ses dahin, als ob ein friedvoller Strom sie tragen würde, der ein Gefühl von ekstatischer Leichtigkeit in dem jun-gen Soldaten weckte. Er hatte immer wieder das Gefühl, in einem Kanu zu liegen, einen geraden und besinnlichen Fluss entlang zu treiben. Er konnte sogar das sanfte Plät-schern des Wassers unter sich spüren.

Wir sind dort, an diesem friedlichen Ort, gemeinsam mit dieser Person: Aber wir können auch fühlen (vielleicht, weil er so friedlich ist), dass noch viel mehr als nur Frie-den in diesem »geistigen Fluss« liegt.

Dies ist eine von Walter Diociaiutis vielen Talenten als Autor: Das unheimliche Talent, etwas anzudeuten, zu flüs-tern, und Frieden gemischt mit Chaos und Alptraum zu schenken, alles nur angedeutet, aber es ist so real.

Und seine Figuren: Was zum Teufel geht hier vor? Eine Epidemie? Wind-

pocken? Das kann nicht die Ursache sein: Diese Krank-heiten werden durch die Luft übertragen. Vielleicht gab es eine Art Überfall auf das Depot und sie wollen uns nicht beunruhigen? Nun, das wäre verrückt. Sie hätten uns bes-ser alarmiert! Allerdings, so etwas ist hier noch nie ge-schehen. Was habe ich mir da nur gedacht? Aber es muss etwas dahinterstecken: Etwas Schlimmes muss gesche-hen sein. Wenn ich nur ein paar Worte mit einem der Sol-daten von Guen wechseln könnte …

Wir kennen diesen Charakter so gut, sogar in diesem zusammenhanglosen Abschnitt, diesem Bewusstseins-strom: Wir kennen seine Ängste, seine Zweifel, seine Ge-dankenmuster. Er ist wirklich einer von uns, und wir sind er. Das ist das Kennzeichnen guter Charakterisierung, von gutem Schreiben – in jedem Genre.

Ohne jeden Zweifel, »Das Arsenal«, Walter Diociaiu-

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tis Figuren und ihre surreale, albtraumhafte Situation in ihrer surrealen und albtraumhaften Welt wird Sie mitrei-ßen wie ein Schlitten auf dem Eis. Was für ein wilder und erinnerungswürdiger Tripp von einem Autor, dessen Vor-stellungskraft etwas ganz besonderes ist!

– T.M. Wright, 7. Mai 2005, Honeoye, NY

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DAS ARSENAL»Komm schon, Dominique, worauf wartest du, wann schießt du endlich mal ein Tor? Deine verdammten Stür-mer schlafen! Lass mich vorne spielen, und ich werde es dir zeigen!«, forderte Didier, während er wütend auf seinen Kameraden starrte, der nicht wirklich erfolgreich mit der Sturmformation ihres Tischfußballteams agierte.

Die gesamte Mannschaft der Kaserne, einschließ-lich mehrerer Offiziere, hatte sich in die Kantine der Kaserne »De Grulle« der französischen Stadt Nantua versammelt. Sie drängten sich um den Kickertisch und beobachteten das Endspiel zwischen den Soldaten Do-minique Perez und Didier Ceville, die kurz vor der Ent-lassung nach ihrem Jahr Militärdienst standen, und dem Team von Oberst Laurent Gourmet und Hauptmann Se-bastien Cless.

Das Spiel hatte eine schlechte Wende für Dominique und Didier genommen, die Offiziere führten 6-2. Ein Er-gebnis von 10 Punkten bedeutete den Sieg.

Die beiden Offiziere hatten seit dem Beginn ihrer mi-litärischen Karriere zusammen gespielt, und es war ein seltenes, wenn nicht sogar ein noch nie geschehenes Er-eignis, sie am Ende eines Tischfussballmatches besiegt zu sehen. Sie hatten die Kasernenmeisterschaften sieben Mal in Folge in den letzten sieben Jahren gewonnen!

Aber am Ende einer hart umkämpften Schlacht er-reichten Dominique und Didier ihr Ziel, dank einer stür-mischen Schlussattacke, und schnappten den unschlag-baren Offizieren den Sieg vor der Nase weg, mit einem Punktestand von 10:9.

Sebastien Cless, der Hauptmann von Dominiques und Didiers Kompanie – allergisch auf Niederlagen, arrogant und alles andere als ein fairer Sportsmann –

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nahm es nicht gut auf; es war ein unerwartetes und nie-derschmetterndes Debakel für ihn.

Jeder, der den üblen Ausdruck auf seinem Gesicht sah und das aufregende Duell beobachtet hatte, war sicher, dass er Dominique und Didier teuer für ihre Unverschämt-heit zahlen lassen würde; unter den vielen Fehlern des Hauptmanns stand Rachsucht ganz oben auf der Liste.

Darüber hinaus würde er an genau diesem Abend die Liste mit den Namen derjenigen erstellen, die beim nächs-ten Mal zum Wachdienst in der Waffenfabrik der Stadt Gerk eingeteilt wurden.

Wie erwartet lauteten die beiden ersten Namen auf der Liste Didier und Dominique, deren Verbrechen es gewesen war, das Spiel gegen die beiden Offiziere zu gewinnen, sie zum allerersten Mal in einem Wettkampf zu bezwingen.

*** »Ich wusste, dieser gottverdammte fette Bastard würde uns schwer dafür büßen lassen! Ich wusste es! Scheiße! Dieses Schwein hat Rache in seinen Genen!«, kommentierte Di-dier enttäuscht, nachdem er die Liste für Gerk gelesen hatte.

»Schlägt dir die Idee, eine Woche Urlaub in Gerk zu verbringen, aufs Gemüt, mein Freund?«, erwiderte Domi-nique mit einem schicksalsergebenen Lächeln, das sehr ironisch wirkte.

»Eine Woche Urlaub? Was für ’ne Scheiße! Alles, was da drüben auf uns wartet, sind schlaflose Nächte«, machte der blonde Didier seinem Unmut Luft.

»Komm schon, wir werden nicht mehr als zwei Tage in der ganzen Woche Wache stehen müssen: Du weißt, dass es spezielle Regeln für Soldaten gibt, die kurz vor der Ent-lassung stehen. Und wir werden den Rest der Zeit damit verbringen, diese hochkulturellen Filme zu sehen. Wovor hast du Angst? Fürchtest du dich davor, lange Nächte da-

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mit zu verbringen, dir einen runterzuholen?«, grinste Do-minique spöttisch.

»Bon, du kannst deine Witzchen reißen, wenn du willst, aber sei vorsichtig, ich bin nicht in Stimmung für deinen Blödsinn, also halt dich zurück!«

»Versuch die positive Seite an der Sache zu sehen: Du musst eine ganze Woche lang Hauptmann Fattys Schreie nicht hören. Das ist doch immerhin etwas, oder?«

»Das Problem ist, ich werde ebenso wenig Cathys süße Stimme hören oder ihren geschmeidigen Leib bewundern können«, antwortete Didier noch niedergeschlagener.

»Tja, du wirst das Beste aus den wohlgeformten Hoch-glanzschönheiten wie Vanessa Del Rio machen müssen: Die hat ein Paar Mordsdinger! Du kannst sie zwar nicht berühren, aber immerhin ansehen. Ich weiß, das ist unfair, mein Lieber. Aber was willst du machen? C’est la vie!«

»Du bist die schlimmste Nervensäge, die ich je getrof-fen habe, Dominique! Du kannst einfach nicht aufhören, mir auf die Eier zu gehen, nicht wahr? Ich habe dich ge-warnt.« Er konnte seinen Satz nicht beenden.

»Reg dich ab, Kumpel, ich geh schon! Oh, ich vergaß: Wenn ich du wäre, würde ich einen schönen Keuschheits-gürtel für deine liebliche Cathy kaufen. Man weiß ja nie …« Dominique, der in Gelächter ausbrach, konnte seinen Satz nicht beenden. Didier lief rot an.

»Okay, so wie es aussieht, bist du auf der Suche nach Ärger.« Didier ballte seine Fäuste, bereit, seinen Freund zu schlagen.

»Es ist unmöglich, einfach nur ein bisschen Spaß mit dir zu haben. Hände weg! Spiel nicht mit dem Feuer, du könntest dir die Finger verbrennen!«, schrie Dominique, wich blitzschnell dem Hieb seines Freundes aus und über-wältigte ihn.

***

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Am nächsten Morgen saßen sie nebeneinander in dem al-ten Armeelaster. Sie schwiegen. Sogar Dominique, sonst von Natur aus ein Spaßvogel, war ein wenig verärgert und enttäuscht.

Versuch deinen Optimismus wieder zu finden, Domi-nique. Auf Regen folgt immer Sonnenschein. Die Frage ist, wann folgt er in diesem Fall? Was ist das Gute daran, auf Wache zu sein? Nun, ich werde den Hauptmann und all die anderen Arschlöcher mit Streifen auf der Schul-ter nicht sehen … Und was noch? Das ist alles … nun, nicht ganz: Ich werde so viel schlafen können, wie ich will! Ich bin ein »Opa«1, werde also nur an zwei Tagen Wache stehen müssen. Den Rest der Zeit … nur ein paar Mal auf Patrouille, ansonsten tief schlafen und … »Deep Throat« und andere Kulturfilme dieser Art … nun, wich-sen, bis ich umfalle.

Didier dagegen konnte nicht reden. Er war außer sich, gefangen von Zweifeln und Ängsten. Das war Dominiques Schuld. Cathy … das letzte Mal, als er sie für länger als drei Tage allein gelassen hatte … Zur Hölle mit ihr! Sie war einfach unfähig, treu zu bleiben.

Eine genetische Besonderheit bei ihr – eine dominante. Aber was für ein phantastisches Mädchen! Solch ein wun-derschöner Körper. Dies war vielleicht der einzige Grund, warum Didier seit den ersten Tagen seines Militärdiens-tes an ihrer Seite war. Die alte Frau, der die Bar vor der Kaserne gehörte, hatte sie einander vorgestellt, und Cathy hatte ihn sofort verblüfft und verzaubert mit ihrem voll-kommenen Körper und ihrer starken Persönlichkeit. Sie hatte ihn verhext. Er war ein Sklave ihres Fleisches ge-worden, und ihres lasziven Verstandes.

Er kannte diese unersättliche sexuelle Gier, die in ihr lauerte, sehr genau … und ihre Verdorbenheit. Er war si-cher, dass er nicht der einzige Mann war, mit dem sie 1»Der Opa« ist ein Soldat, der bald aus dem Dienst entlassen wird.

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ihre schmutzigen Spiele trieb. Doch er konnte nicht an-ders, er vergab seiner hübschen, untreuen Freundin alles, was sie ihm antat.

Seine Kameraden hatten von all dem keine Ahnung. Cathy vögelte nicht mit Soldaten herum – sie hatte eine Schwäche für ältere Männer, solche mit einem riesigen … Portemonnaie. Und riesig waren nicht nur ihre Geld-börse – wie er sich persönlich überzeugt hatte an dem Tag, als er beschlossen hatte, ihr zu folgen, um ihre Ge-heimnisse auszuspionieren – sondern auch …

Dominique, nun, er hatte letzte Nacht einfach nur he-rumgeschwafelt. Sein Scherz hatte keinen verborgenen Sinn gehabt. Er hatte Cathy lediglich ein paar Mal ge-sehen, sie hatten nur wenige Worte gewechselt. Wie die Anderen hatte er keine Ahnung, wie sie wirklich war. Aber wie recht er mit seinen Worten über sie gehabt hatte. Ah, ich vergaß: Wenn ich du wäre, würde ich ei-nen hübschen Keuschheitsgürtel für deine liebliche Ca-thy kaufen … Man weiß ja nie … Es schien, als würde er sie eine Ewigkeit kennen; in den Tiefen seines Un-terbewusstseins hatte er den klassischen Zusammenhang vorausgesetzt: Wunderschön und verrucht. Er wollte nur sticheln. Trotzdem hatte er sofort ins Schwarze getrof-fen. Und nun hatte Cathy eine ganze Woche frei, um ihn noch mehr denn je zu betrügen. Didier hingegen würde sich mit Vanessa Del Rio begnügen müssen, der Hoch-glanzschönheit.

Ich steh das nicht durch. Ich spüre es. Ich bin Cathys Opfer, Sklave ihrer Lüsternheit. Ich hätte ihr niemals be-gegnen dürfen. Niemals. Andererseits weiß ich, sie hat mir geholfen weiterzumachen. Ohne sie hätte ich die-sen Scheißladen hier nie im Leben so weit durchgestan-den, bis kurz vor der Entlassung. Ein Ende des Leidens. In drei Wochen werde ich zurück sein, Zuhause. Paris. Home sweet home. 300 Kilometer weit weg von Nantua.

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Wie soll ich sie dann treffen? Ich weiß, ohne sie werde ich den Verstand verlieren. Meine Cathy … ich könnte sie heiraten. ›Die Frau mit den 100 Kerlen‹ heiraten? Ich muss verrückt geworden sein! Verdammt. Ich bin noch nicht Zuhause und fang’ schon an durchzudrehen. Noch zehn Kilometer bis Gerk. Wenn wir uns auf den Rück-weg machen, könnte ich völlig von der Rolle sein.

Didiers Gedanken wurden plötzlich von einem Schwindelgefühl unterbrochen, das alle Soldaten, die auf der rechten Seite des Militärfahrzeuges saßen, mit ihm teilten – die Seite, auf der der steile Abhang lag, den sie gerade entlangfuhren. Vor ihnen war keine Straße mehr, nur Leere direkt unter den vier Soldaten, die sich jetzt verzweifelt am Gestänge des Armeefahrzeuges fest-klammerten. Die Gefahr, dass sie aus dem Fahrzeug flo-gen, in den Abgrund hineinfielen, in dieses luftige Loch, das sie einlud abzustürzen, war tatsächlich vorhanden. Eine bodenlose Tiefe. Es war schwer, einen Blick auf den Grund zu erhaschen. Eine weiße Kluft voll dich-ter Nebelschleier. Didier hörte auf, an Cathy zu denken. Er fürchtete schlicht um sein Leben. Es war in Gefahr.

Und doch, wenn ich mich fallen ließe, wären all meine inneren Qualen beendet.

Dominique, der an Höhenangst litt, hielt seine Augen ge-schlossen. Er hatte sein Gewehr unter den Holzsitz fallen lassen, hielt sich mit beiden Händen fest. In Momenten wie diesen war sein Verstand leer und still, unbeweglich wie seine Arme, die sich an den zylindrischen Metallbal-ken festklammerten.

Seine Augenlider schienen verschweißt zu sein, fest zusammengepresst.

Erst, als das Summen der Unterhaltung seiner Freunde lauter wurde, wagte er es, seine Augen wieder zu öffnen.

Er hatte das seltsame Empfinden, durch eine dichte

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Nebelbank zu blicken. Es war nur ein Wimpernschlag. Er schloss die Augen erneut.

Sie waren kurz davor, das Arsenal – eine berühmte fran-zösische Waffenfabrik und Munitionsdepot – zu erreichen.

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Dominique war ziemlich sicher, dass sie bereits in der wun-dervollen kleine Stadt Gerk angekommen waren, tatsächlich glaubte er, er hätte eine der typisch vulgären Bemerkungen von Soldaten gehört, an Mädchen auf den Gehwegen ge-richtet. Alles schien aus weiter Ferne zu kommen.

Verdammt! Ich muss eingeschlafen sein … Oder bin ich tot? Bin ich in die Leere gefallen?

In weniger als fünf Minuten waren sie vor dem Ein-fahrtstor des Depots. Eine Hupe unterbrach Dominiques wirre Gedanken.

Wir sind da.

***

Die Soldaten von Guen, mit denen sie sich wöchentlich ab-wechselten, waren in zackiger Reihe vollständig auf dem Hof angetreten.

»Warum zur Hölle stellen sie sich formell für den Wach-wechsel auf? Sind die bescheuert? Das hat’s noch nie ge-geben«, kommentierte Dominique verblüfft.

»Da muss ein hohes Tier in der Nähe sein, vielleicht der verdammte Oberst Dumas: Er ist absolut unerträglich, ein echtes Arschloch!«, antwortete Didier.

»Könnte sein. Warum sonst sollten alle plötzlich so re-gelkonform sein?«

Dies war nicht das einzige, das in Dominiques Augen seltsam war. Der Hauptmann der Wachposten aus Guen gab den absurden und scheinbar sinnlosen Befehl, dass die Soldaten der beiden Kasernen keinerlei Kontakt miteinan-der haben durften.

Oberleutnant Busacqs Gesicht trug ebenfalls einen un-gläubigen Ausdruck, aber er musste dem Ranghöheren ge-horchen und den Befehl ausführen.

Nantuas Soldaten stellten sich in einer Reihe vor denen aus Guen auf. Alles fand in unheilvoller Stille statt. Dann

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durften sie wegtreten, und die Soldaten aus Guen kletter-ten in ihre Fahrzeuge, die ordnungsgemäß in den Hof vor der Wachstube gefahren worden waren. Sie waren beinahe bereit zur Abfahrt.

Nun befahl Oberleutnant Busacq seine Soldaten in die Wachstube hinein. Es war ihnen bis auf Weiteres nicht er-laubt, hinaus zu gehen. Unglaublich, aber wahr.

Dominique konnte das Militärleben nicht mehr ertra-gen, noch viel weniger die absurden Befehle, das irratio-nale Verhalten der Vorgesetzten, all die Waffen, und mehr als alles andere diese verschwendeten zwölf Monate. Er war von Natur aus ein Rebell, der Mann ohne Regeln par excellence.

Was zum Teufel geht hier vor? Eine Epidemie? Windpo-cken? Das kann nicht die Ursache sein: Diese Krankheiten werden durch die Luft übertragen. Vielleicht gab es eine Art Überfall auf das Depot, und sie wollen es uns verschwei-gen, damit wir nicht nervös werden? Nun, das wäre ver-rückt. Sie hätten uns besser alarmiert! Allerdings, so etwas ist hier noch nie geschehen. Was habe ich mir da nur ge-dacht? Aber es muss etwas dahinterstecken: Etwas Schlim-mes muss geschehen sein. Wenn ich doch nur ein paar Worte mit einem der Soldaten aus Guen wechseln könnte …

Mit seinem angeborenen Mangel an Disziplin missach-tete Dominique die Befehle seiner Vorgesetzten und steckte heimlich den Kopf aus einem der Schlafsaalfenster.

Er bemerkte sofort einen Soldaten, der zu der anderen Kaserne gehörte; er trug eine Matratze hinüber zu einem der Lastwagen. Dominique versuchte seine Aufmerksam-keit zu erlangen. Der andere war ein erfahrener Soldat, der sich wie er selbst der Entlassung näherte. Er konnte es an der Baskenmütze erkennen, die von dem Schulterstück der Tarnuniform hing.

»Pssst! Hey! Der Opa ist müde! Komm her, bitte!«, sagte Dominique mit leiser Stimme, benutzte den fran-

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zösischen Militärslang, »der Opa ist müde« – die Ken-nung eines jeden Soldaten, der sich dem Ende der Dienst-zeit näherte, genau wie die Baskenmütze, die ein kleines Rechteck mit den Farben der Trikolore berührte, das Do-minique zeigte, um sich selbst kenntlich zu machen. Er war ebenfalls ein Opa.

Der andere bemerkte ihn und schlenderte näher heran, blickte sich überall um, aus Sorge, von seinen Vorgesetz-ten erwischt zu werden. Aber niemand sah zu ihm herüber.

»Lieber Opa«, sagte er sarkastisch, »wenn du müde bist, versuch schleunigst, wieder zu Kräften zu kommen, denn du wirst es schon bald mit verdammt ernster Scheiße zu tun haben.«

»Warum? Was ist los? Was ist passiert?«Dominique bekam keine Antwort. Die donnernde

Stimme des Hauptmanns rief seinen Gesprächspartner zum Appell, und er war gezwungen, sich unter das Fenster-brett zu ducken. Der andere Opa war ebenso eifrig wie Do-minique darauf bedacht, sich nicht von seinem Hauptmann erwischen zu lassen, und gab vor, sich seine Stiefel bin-den zu müssen. Der Hauptmann hatte nicht bemerkt, dass der Opa Befehle missachte, so dass der altgediente Soldat schnell den anderen in den Lastwagen folgen konnte. Sie waren fertig zur Abfahrt, alles war bereit. Die Kolonne der Militärfahrzeuge bewegte sich langsam nach draußen.

***

Als Oberleutnant Martin Busacq das Tor der Wagenauffahrt der Waffenfabrik schloss, seufzte er vor Erleichterung. Er genoss die Vorstellung, hier allein mit seinen Soldaten zu sein. Er hatte es endlich geschafft, diese Plage von Haupt-mann loszuwerden. Und nun hatte er das Heft in der Hand, wenn auch nur vorübergehend. Er war nicht der typische Offizier, der es genoss, seine Macht auszuüben, sondern

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ein echter Freund für all seine Soldaten. Gewöhnlich rief ihn jeder beim Namen, oder genauer gesagt, beim Vorna-men, wenn kein Vorgesetzter in der Nähe war. Mit einigen der Opas war er sogar per du.

Er hatte zwei Obergefreite unter seinem Kommando, deren Aufgabe es war, die Soldaten der Ablösung zu den Wachtürmen zu begleiten und die Wachstube zu beauf-sichtigen.

Der Rest der Truppe unter seinem Kommando waren einfache Soldaten, die abwechselnd in den Türmen und Wachhäuschen Wache stehen und innerhalb und außerhalb der verschiedenen Fabrikgebäude patrouillieren mussten.

Die Wachstube befand sich außerhalb des weitläufigen Fabrikgeländes. Man betrat es durch ein Eisentor, welches von einem der beiden Obergefreiten kontrolliert wurde. Der Wachdienst begann um 14:00 Uhr und endete um 8:00 Uhr am folgenden Tag, während der Patrouillendienst erst um 18.00 Uhr begann, wenn niemand mehr da war, denn Arbeiter und Angestellte durften sich nicht länger als bis zu diesem Zeitpunkt auf dem Gelände aufhalten.

Innerhalb des Fabrikgeländes standen zwei Wach-türme. Wachturm Nummer 1 war auf dem Scheitelpunkt der Süd- und Ostseite ausgerichtet, er erhob sich über den Ringwall. Nummer 2 war strategisch in einer westlichen Position direkt vor dem Gebäude errichtet, wo die schwe-ren Artillerieteile zusammengesetzt und aufbewahrt wur-den. Außerhalb des Fabrikgeländes und des Hofes, in dem die Wachstube lag, ragte ein dritter Wachturm über den Nordflügel des gesamten Komplexes. Man konnte ihn nur vom Hof aus und durch ein weiteres Eisentor erreichen. In der Nähe von Wachturm Nummer 3 erhob sich ein vier-ter Wachturm, der schon lange nicht mehr benutzt wurde. Die Offiziere rechtfertigten es mit der Tatsache, dass er sich in keiner strategischen Position befand. Aus diesem Grund war dann der Wachturm Nummer 3 gebaut worden.

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Innerhalb des Hauptgeländes, in dem alle Werkstätten, Lagerhallen und die Wachtürme 1 und 2 standen, konnte man vier Kontrollpunkte finden, an denen sich die Patrouil-len in Abständen von fünfzehn Minuten einfinden mussten.