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COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden.
Deutschlandradio Kultur
Werkstatt Sonntag, 4. Februar 2007, 0 Uhr
Redaktion: Sigried Wesener
Träume sind Maulwürfe. Günter Eich und die Inventur der frühen Bundesrepublik
Von Helmut Böttiger
Zitator 1 (Eich)
Zitator 2
Zitator 3
O-Ton-Band
Musik aus Hörspielen von Günter Eich:
1) „Träume“: Track 1, 0:25-0:44, Track 5, 0:26-0:45
2)„Die Brandung vor Setúbal“:
22:48-23:19
27:47-28:07
44.45-45:58
59:45-60:00
3) Rebellion in der Goldstadt, A 5:53-5:60 und 9:35-9:42
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werden.
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Zitator 2:
Sagen Sie mal, was verzapfen Sie heute Abend wieder fürn Mist im Rundfunk? Es ist
zum Kotzen! Hängen Sie sich Ihre ganzen Hörspiele an’n Nagel, wissen Sie,
schweinemäßig ist das!
Zitator 3:
Also, das ist ja der Gipfel der Frechheit, abends im Radio solche Dinger zu bringen!
Ich werde morgen mal mit der Presse mich in Verbindung setzen und mal versuchen,
ob der Rundfunk nicht was anderes bringen kann, dass man sich abends mal freut,
wenn man nach des Tages Last und Hitze sich mal an’ Radioapparat setzt. Für
sowas bezahlen wir bestimmt nicht unsere letzten Groschen!
Zitator 2:
Das grenzt ja an Wahnsinn sowas! In den heutigen schweren Zeiten, wo jeder zu
kämpfen hat, bringen Sie, das einem... das... hochkommt geradezu. Ekelerregend ist
das ja! Das will Kultur sein? Scheint mir höchste Zeit, dass Sie das Hörspiel sofort
abbrechen.“
Regie: Musik (Zwischenspiel aus „Träume“)
O-Ton 1 Eich, Krogmann, 7:45-7:52
Es geschehen in meinen Stücken manchmal etwas merkwürdige Dinge, die also
nicht ohne weiteres akzeptabel sind.
Regie: Musik (Zwischenspiel aus „Träume“)
Autor:
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19. April 1951, abends zur besten Sendezeit. Der Nordwestdeutsche Rundfunk
strahlt Günter Eichs Hörspiel „Träume“ aus. Das Hörspiel ist damals die
publikumswirksamste Gattung, Fernsehen gibt es noch nicht. Zahlreiche Hörer rufen
wutentbrannt an, der Telefondienst des NWDR zeichnet die Beschwerden auf. Schon
der Beginn verstört, um 20 Uhr 50:
O-Ton 2 Träume, Track 1, 0:45-1:56
- Am 1. Juni 1949 wurde in Dortmund ein Kind mit zwei Köpfen und drei Armen
geboren. Bei diesem Anlass wurde die Behauptung aufgestellt, die Missgeburten bei
Menschen und Tieren hätten seit den Abwürfen von Atombomben auf Hiroshima und
Nagasaki und seit dem Atomversuch von Bikini zugenommen. Der zuständige
Standesbeamte hatte indessen lediglich die allerdings schwierige Frage zu
entscheiden, ob eine oder zwei Geburten zu registrieren waren.
- Der Atomversuch von Bikini fand am 1. Juli 1946 statt. Die Atombombe wurde unter
Wasser zur Explosion gebracht. Es war bei Beginn des Versuches nicht bekannt, wie
weit sich die Kettenreaktion fortpflanzen würde. Es wird in Zukunft die Aufgabe der
Wissenschaft sein, experimentell festzustellen, unter welchen Umständen jegliches
Leben auf der Erde unmöglich und damit die Wissenschaft überflüssig wird.
Autor:
Der Abend des 19. April 1951 gilt als die Geburtsstunde des modernen Hörspiels.
Man wird bald vom „Eich-Maß“ für diese Gattung sprechen. Bei der Erstausstrahlung
der „Träume“ herrscht jedoch vor allem Angst. Das Wochenmagazin „Der Spiegel“
schreibt in einem Vorbericht:
Zitator 3:
Der Sendebeginn liegt etwas später als gewöhnlich, weil man die Kinder schon in
den Betten wissen will. Besonders der zweite Traum ist so beschaffen, dass man
Kinderohren davor bewahren möchte.
O-Ton 3 Träume, Track 5, 3:36-4:29
Mann: Er ist nicht blutarm.
Herr: Wenn er blutarm ist, kann ich ihn nicht brauchen.
Mann: Ich garantiere Ihnen dafür, dass er nicht blutarm ist.
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Dame: Es kommt vor allem auf das Blut an.
Frau: Freilich, das wissen wir. Es war in der Annonce gesagt.
Dame: Das ist die neue Therapie, verstehen Sie.
Frau: Eine große Tat der Medizin, ein Segen für die Menschheit.
Dame: Aber ich weiß nicht, ob der kleine Tschang-du geeignet ist.
Mann: Meine Frau hat jedes Jahr ein Kind, manchmal Zwillinge. Sie sind alle für die
neue Therapie verwendet worden.
Frau: Sechs Jahre ist das beste Alter.
Mann: Wir liefern nur gesunde Kinder von erstklassiger Zucht.
Hier, ich habe Referenzen.
Dame: Zeigen Sie! Aha.
Frau: Zeig dem Herrn deinen Hals, Tschang-du!
Kind: Ja.
Herr: Hier ist die Schlagader, An-ling.
Dame: Ja. Aber diesmal kann es das Mädchen machen.
Autor:
1951 soll zum ersten Mal der „Hörspielpreis der Kriegsblinden“ verliehen werden, der
bedeutendste deutsche Hörspielpreis. Die Auszeichnung geht an Erwin Wickerts
„Darfst du die Stunde rufen“. Die Jury schreibt auch eine Begründung:
Zitator 2:
Ein Hörspiel von einer so glänzenden, bannenden formalen Kraft wie Günter Eichs
„Träume“ entzieht sich aller helfenden, weisenden Aussage. In quälenden Visionen
wird die Angst dargestellt, wie sie den Menschen von heute begleitet, ohne dass Eich
dazu ein Wort des Trostes oder des Auswegs sagt. So widersprach auch dieses
Hörspiel der eigentlichen Zielsetzung des Hörspielpreises und fand nicht die nötige
Zustimmung der Preisrichter.
Zitator 3:
dass da Kinder verkauft werden, um sie abschlachten zu lassen, sowas setzt man
doch den Leuten nicht zum Abendbrot vor!
Regie: Musik (Zwischenmusik aus „Träume“)
5
O-Ton 4 Eich CD Krogmann Track 1, 2:39-2:53:
Das sind freie Erfindungen. Es sind ja im eigentlichen Sinne auch keine Träume, also
Träume sehen ja ganz anders aus, es ist eine Stilbezeichnung, dieses Wort „Traum“.
Autor:
Günter Eich ist zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und im Zweiten Weltkrieg Fahrer
und Funker gewesen, ab 1944 in der Luftverteidigung, dann ein paar Monate in
amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Das ist bei der Ausstrahlung der „Träume“
alles noch präsent, aber es scheint einer anderen Epoche anzugehören. Das
bundesdeutsche „Wirtschaftswunder“ hat gerade begonnen. Die Deutschen arbeiten
mit einem ungeheueren Energieaufwand an der Verdrängung der unmittelbaren
Vergangenheit. Die „Träume“ stoßen sie äußerst schmerzhaft auf ihr Unbewusstes.
Fast magisch wirken die Verse, die Eich für eine spätere Neuproduktion im
Südwestfunk 1954 schreibt und an den Schluss stellt:
Zitator 1 (Eich):
Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.
Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt in den Stätten, wo Blut vergossen
wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiss.
Regie: Musik (Zwischenmusik aus „Träume“)
Zitator 1 (Eich):
Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen
gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet!
6
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!
Regie: Musik
Autor:
Günter Eich wird am 1. Februar 1907 in Lebus an der Oder geboren, sein Vater ist
Rechnungsführer und Landwirt, es gibt viele Umzüge. Über seine Biografie wird Eich
nie viel sprechen, man weiß vor allem über die frühen Jahre fast nichts. Für das
Studium wählt er die Fächer Volkwirtschaft und Sinologie. 1927, als Zwanzigjähriger,
veröffentlicht er in einer „Anthologie jüngster Lyrik“ erste Gedichte. In einem kurzen
Lebenslauf, den Eich nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst, beschreibt er eine
entscheidende Zäsur um die Jahre 1928 und 1929:
Zitator 1 (Eich):
Ein Jahr in Paris nährte einen Hang zur Welt der Kunst und verdarb den Sinn für
bürgerliche Sicherung.
Autor:
1930 erscheint im Wolfgang Jess Verlag in Dresden ein Band von Günter Eich, der
einfach „Gedichte“ heißt. 1932 gibt er endgültig das Studium auf und bezeichnet sich
als „freier Schriftsteller“. Sein Umfeld besteht in einer „Zeitschrift für Dichtung“, die
ebenfalls bei Wolfgang Jess verlegt wird und sich „Die Kolonne“ nennt.
O-Ton 5 Eich, CD Schwedhelm, Track 3, 1:09-1:25
Das war ein sehr loser Zusammenschluss und existierte eigentlich nur theoretisch
durch die Zeitschrift „Die Kolonne“, die damals von Martin Raschke und Kuhnert
herausgegeben wurde.
Autor:
Das einzige Zeugnis für Eichs Selbstverständnis in dieser Zeit findet sich in einem
Beitrag für die „Kolonne“, der 1932 erscheint. Man widmet sich in dieser Zeitschrift,
während sich ringsumher die politischen Verhältnisse zuspitzen, programmatisch der
Naturlyrik. Eich verortet sich hier.
7
Zitator 1 (Eich):
Eine Entscheidung für die Zeit, d.h. also für eine Teilerscheinung der Zeit, interessiert
den Lyriker als Lyriker überhaupt nicht. (Was nicht ausschließt, dass er als
Privatmann sich z.B. zu einer politischen Partei bekennt.) Der Lyriker entscheidet
sich für nichts, ihn interessiert nur sein Ich, er schafft keine Du- und Er-Welt wie der
Epiker und der Dramatiker, für ihn existiert nur das gemeinschaftslose vereinzelte
Ich. Und gerade weil er sich für nichts entscheidet, fängt er die Zeit als Ganzes in
sich auf und lässt sie im ungetrübten Spiegel seines Ichs wieder sichtbar werden.
Denn die Wandlungen des Ichs sind das Wesentliche einer Zeit. Zwar können sie
nicht abgelesen werden wie aus einer Zeitung, aber wer Gedichte zu lesen versteht
(was kaum zu erlernen ist), der wird auch das in ihnen spüren. So wie wir heute
Eichendorff oder Mörike als Ausdruck ihrer Zeit empfinden (ohne dass sie die jeweils
neuesten Zeitvokabeln benutzten), ebenso kann sich in einem heutigen, ganz
privaten Gedicht für Spätere unsere Zeit unverkennbar ausdrücken.
Autor:
Eichs Gedichte versuchen in dieser Phase, sich vom alles überschattenden Vorbild
Georg Trakl wegzuschreiben und zu einfacheren Formen zu gelangen.
O-Ton 6 Eich, CD Schwedhelm, Track 3, 16:15-16:28
In den alten Wäldern waren
Augenblick und Ewigkeit.
Ring um Ring wuchs in den Jahren,
doch wie wenig ist die Zeit!
Autor:
Aber gleichzeitig kommt Eich mit einem Medium in Berührung, das völlig andere
Perspektiven mit sich bringt; es ist aber für einen freien Schriftsteller die beste
Möglichkeit, finanziell über die Runden zu kommen: der Rundfunk. Zusammen mit
Martin Raschke, dem Freund aus der „Kolonne“, schreibt Eich sein erstes Hörspiel:
„Das Leben und Sterben des Sängers Caruso“. Es wird am 9. April 1931 in der Funk-
Stunde Berlin ausgestrahlt.
O-Ton 7 Eich, CD Krogmann, Track 1, 4:34-4:48:
8
Ja, zunächst ganz zufällig, weil man, wenn man sich dazu entschließt, von der
Schriftstellerei zu leben, natürlich alle möglichen Einnahmequellen anvisiert, so bin
ich also auch eines Tages zum Rundfunk gekommen.
Regie: Musik
Autor:
Was Eich hier im Jahre 1964 rückblickend sagt, entspricht seiner ästhetischen und
existenziellen Haltung: Spuren möglichst zu verwischen. Er schafft es, durch eine
schnell anwachsende radiophone Produktion seine Existenz als freier Schriftsteller
zu sichern – und das geht scheinbar unmerklich über in die Zeit des
Nationalsozialismus. Parallel dazu stockt sein lyrisches Schaffen. Seine Gedichte
werden nach der Veröffentlichung des Gedichtbandes im Jahr 1930 lakonischer, die
großangelegte Hölderlinsche oder Traklsche Strophe geht über in fast volksliedhafte
Vierzeiler. Das letzte Gedicht Eichs aus dieser Zeit, „Weg durch die Dünen“, ist
spätestens 1935 entstanden. Erst zehn Jahre später, am Ende des Krieges in der
amerikanischen Gefangenschaft, wird Eich wieder Gedichte schreiben. Die Texte
fürs Radio dagegen nehmen ab 1932/1933 sprunghaft zu. Am 26. Januar 1933, vier
Tage vor Hitlers Machtergreifung, sendet die Funk-Stunde Berlin in ihrem
Jugendprogramm Günter Eichs Text „Ich lerne Chinesisch“:
Zitator 1 (Eich):
Nun will ich euch erzählen, wie es kam, dass ich mich mit dieser seltsamen und
fernliegenden Sprache beschäftigte, und was ich dabei alles Interessantes erfuhr. Es
war eigentlich alles nur ein Zufall und es begann damit, dass ich eines Tages in ein
chinesisches Restaurant in Berlin kam und dort versuchte, auf chinesische Weise mit
den Ess-Stäbchen zu essen. Wie das gemacht wird, davon hatte ich keine Ahnung.
Ich nahm also die beiden Stäbchen, jedes in eine Hand, und versuchte nun
vergeblich, damit einen Bissen zum Mund zu bringen. Ich hätte wahrscheinlich
stundenlang so herumhantiert, ohne satt zu werden, wenn mir nicht mein Nachbar,
ein junger Chinese, zu Hilfe gekommen wäre. Er erzählte mir vielerlei von China und
schließlich kamen wir auch auf die chinesische Sprache zu sprechen. Und das, was
er mir darüber sagte, war so interessant, dass ich Lust bekam, mich näher damit zu
befassen.
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Regie: Musik (etwas Chinesisches, leichte, spielerische Klingelmusik)
Autor:
Das klingt alles ziemlich unpolitisch, was umso mehr auffällt, da Hitler bereits von der
„gelben Gefahr“ zu sprechen beginnt. Eichs Funkproduktion steigert sich, die Zäsur
durch den Beginn des Nazi-Regimes überspringend, nun immens. Seine Sendungen
lauten zum Beispiel:
Zitator 2:
Aus dem Leben des Abenteurers Münchhausen. Funk-Stunde Berlin, 26. Februar
1933. Till Eulenspiegel, Funk-Stunde Berlin, 10. April 1933. Die Glücksritter. Lustspiel
nach Eichendorff in fünf Bildern. Deutschlandsender Berlin, 25. Mai 1933.
Dinkelmann und sein Glück. Deutschlandsender Berlin, 31. Mai 1933. In Staub mit
allen Feinden Brandenburgs. Das Werk des Großen Kurfürsten. Funk-Stunde Berlin,
22. September 1933. Museum für schwarze Kunst und Zauberei. Funk-Stunde Berlin,
7. September 1933.
Autor:
Das Wichtigste jedoch ist eine monatliche Szenenfolge, die Eich gemeinsam mit
seinem Freund Martin Raschke bestreitet: Sie heißt „Ein Monatsbild vom
Königswusterhäuser Landboten“. Vom 4. Oktober 1933 bis zum 9. Mai 1940 werden
diese Sendungen, mit dem Landboten als Hauptfigur, regelmäßig im
Deutschlandsender ausgestrahlt. Es ist daraus fast nichts mehr erhalten – aber der
Duktus wird in einem Fragment aus dem Jahr 1936 deutlich. Es heißt „Vorrede des
Landboten zu einer kleinen Serenade für die Sterne“:
Regie: Radio-Atmo 30er Jahre
Zitator 1 (Eich):
Da stehe ich nun an dem alten Fenster. Ich sehe das Land in der Dunkelheit wieder
und es ist mir vertraut. Die Büsche und das kahle Gezweig im Garten rauschen wie
aus der Vergangenheit. Ach, wer ein altes Herz hat, glaubt nicht, dass es noch
Jugend gibt, dass noch die Nacht die Heimlichkeiten der Liebenden bewahrt und
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noch immer manches Herz schwer macht und manches Auge um den Schlaf bringt.
O Dezember, Monat des kühlen Alters, in deinen Nächten ist das Land leer und klar
und ohne Verwirrung für mich!
Autor:
Eich schreibt zwar keine Gedichte mehr, aber das poetische Empfinden ist
offenkundig in seine Brotarbeit für den Rundfunk übergegangen. Verbürgt ist in den
dreißiger Jahren ein Freundeskreis, zu dem hauptsächlich Naturlyriker wie er
gehören: Jürgen Eggebrecht, Peter Huchel, Horst Lange, Hermann Kassack, Oda
Schaefer. Eich besitzt ein Sommerhaus in Poberow, im Kreis Cammin in Pommern.
Am 22. Juni 1940 wird er heiraten. Kann das alles gutgehen? Am 10. August 1939
erhält Eich den Einberufungsbefehl zur Luftwaffe. In Briefen an seinen Freund Adolf
Artur Kuhnert beklagt er sich über die Eintönigkeit und Sinnlosigkeit des kasernierten
Daseins:
Zitator 1 (Eich):
Sprechen wir lieber von angenehmen Dingen. Wie gerät z.B. dies Jahr der Wein?
Oder ist der auch schlecht? Gut oder schlecht, jedenfalls solltest Du doch an den
Weinroman denken! Es ist, glaube ich, doch ein richtiges Thema für Dich. Und – Du
wirst lachen – es ist gut, grade in einer Zeit wie dieser an eine solche Aufgabe zu
gehen. Da sich die Gegenwart nicht dafür interessiert, ist die Gefahr der
Rücksichtnahme auf den Leser am geringsten. Du hättest Dich nur noch vor dem
Weinstock zu verantworten.
Regie: Musik
Autor:
Eich versucht, über den Rundfunk einen Arbeitsurlaub zu bekommen, um dem
Armeedienst eine Zeitlang zu entwischen. Dazu braucht er einen Auftrag und ein
Thema für ein Hörstück. Doch die Zeiten haben sich radikalisiert. Der Zweite
Weltkrieg ist längst von den Deutschen ausgelöst worden. Das Radio ist nun ein
direktes militärisches Propagandainstrument. Am 13. März 1940 schreibt Eich an
Kuhnert aus Berlin:
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Zitator 1 (Eich):
Leider weiß ich nicht, wie ich mit meinem Hörspiel fertig werden soll. Die Lady
Hamilton, auf die ich ein Auge geworfen hatte, war inzwischen schon in Hamburg
aufgetaucht, und nun musste in aller Eile ein neuer Stoff gesucht werden. Von der
ganzen schönen Liste, die Ihr in Berlin ausgearbeitet hattet, soll indessen kein
einziges mehr bearbeitet werden. Und auf die Ressourcen des eigenen Genius und
auf die geschlossenen Bibliotheken angewiesen, brauchte ich, trotz aller Hilfe der
Funkleute, eine Woche, ehe ein Stoff gefunden war, der vor allem an sämtlichen
Stellen keine Bedenken erregte. Nun ist es der Streik der Goldminenarbeiter 1922 in
Johannesburg, ein Thema, das ich mit entsetzt gerungenen Händen ablehnte, wäre
ich Propagandaministerium. Ich nehme auch an, dass es nie gesendet wird, was
zwar schade wäre wegen meiner Pleite, aber Urlaub werde ich gehabt haben, und
was das bedeutet, weiß nur der, der jeden Abend um neun, bei abgedrehtem Licht
im Bett liegen muss.
Regie: Atmo Wochenschau 30/40er Jahre, durchaus aus schon Kriegspropaganda
Autor (auf Atmo):
Mit dem „Propagandaministerium“ täuscht sich Eich gewaltig. Das Stück über den
Johannesburger Aufstand 1922, das er soeben ausarbeitet, entspricht genau dem,
was die nationalsozialistische Politik gerade im Sinn hat – entweder interessiert Eich
das nicht, oder er schätzt es falsch ein. Bei diesem Stoff geht es unverkennbar
darum, antienglische Affekte zu schüren – die Westoffensive der deutschen
Wehrmacht steht kurz bevor. Der Streik der weißen Goldminenarbeiter in Südafrika
1922 richtete sich gegen die englischen Kapitalisten, die die Löhne der weißen
Minenarbeiter denen der schwarzen angleichen wollten. Am 8. Mai 1940 wird
„Rebellion in der Goldstadt“ vom Deutschlandsender ausgestrahlt. Es ist das letzte
Hörspiel Eichs während der Zeit des Nationalsozialismus. Lange Zeit gilt es als
unauffindbar verschollen. Umso größer ist die Sensation, als 1993 in einem
ehemaligen Kloster bei Prag ein Matrizensatz dieses Hörspiels entdeckt wird:
Vierzehn kiloschwere und mehrere Zentimeter dicke Wachsplatten mit einer
Spieldauer von jeweils maximal vier bis fünf Minuten. Der Mitschnitt auf solchen
Wachsplatten war damals das gängige Aufnahmeverfahren. Für die eigentliche
Ausstrahlung wurden sie später auf abspielbare Schellackplatten gepresst.
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O-Ton 8 Kassette Goldstadt, A 5:53-6:58
Dick: Tanzen wir, Lilian?
Lilian: Ich wünsche eine Pause. Mein Bedarf an Lustbarkeiten ist für den Augenblick
wirklich gedeckt. Denk doch daran, dass der Mensch nicht nur ein animalisches
Wesen ist.
Dick: Ach, du predigst wieder, Lilian. Vergeblich sind meine Erziehungsversuche.
Wenn ich nicht bestimmt wüsste, dass es wieder einmal ein neuer Spleen von dir ist,
dann würde ich sagen, du hättest doch Missionarin werden sollen, bei den armen
Negern in Johannesburg, die so schwer für deinen armen Vater schuften müssen.
Lilian: Ich glaube, es ist Gottes Wille, dass ich hier in London bleibe und mich zuerst
einmal der Arbeiter hier annehme.
Dick: Ist der Nachtclub der geeignete Ort, um den lieben Gott zu zitieren?
Lilian: Aber Dickie! Gott ist doch überall!
Dick: Ich habe ihn im Nachtclub noch nicht gesehen, aber man kann natürlich nicht
wissen... Vielleicht sitzt er in der Jazzband und bläst Saxophon.
Lilian: Pfui, Dickie, du bist wirklich ein Atheist.
Autor:
Auf die endgültige Fassung hat Eich vermutlich keinen Einfluss: die ersten Szenen
werden, nachdem das Hörspiel schon fertig produziert ist und Eich seinen
Arbeitsurlaub beendet hat, noch einmal neu aufgenommen. Außerdem ist in dem
zusammen mit den Wachsmatrizen aufgefundenen Produktionsblatt eine
nachträglich hinzugefügte Szene mit der Nummer 1a verzeichnet, von der Eich
höchstwahrscheinlich gar nichts weiss. Es ist die schlimmste Propagandaszene in
diesem Hörspiel, ein Genrebild mit englischen Großkapitalisten. Manches spricht
dafür, dass er sich der fatal politischen, der unmittelbar kriegstauglichen Dimension
des Stoffs nicht vollständig bewusst ist. Dennoch: die „Rebellion in der Goldstadt“ ist
ein Beleg dafür, wie er unschuldig schuldig wird, wie er sich als vermeintlich
Unpolitischer im Nationalsozialismus verheddert. Kurz danach ist auch sein Dienst in
der Luftwaffe nicht mehr so wie vorher. Für die Jahre des Krieges verstummt er.
Regie: Musik (Atmo Wochenschau, verbunden mit Weill oder Eissler)
13
Autor:
Fünf Jahre später, Mitte 1945, in amerikanischer Kriegsgefangenenschaft, schreibt
Eich plötzlich wieder Gedichte.
Zitator 1 (Eich):
Inventur
Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier ist mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt.
Geritzt hier mit diesem
kostbaren Nagel,
den vor begehrlichen
Augen ich berge.
Im Brotbeutel sind
ein Paar wollene Socken
und einiges, was ich
niemand verrate,
so dient es als Kissen
nachts meinem Kopf.
Die Pappe hier liegt
zwischen mir und der Erde.
Die Bleistiftmine
lieb ich am meisten:
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Tags schreibt sie mir Verse,
die nachts ich erdacht.
Dies ist mein Notizbuch,
dies ist meine Zeltbahn,
dies ist mein Handtuch,
dies ist mein Zwirn.
Autor:
Dieses Gedicht steht in allen Lesebüchern. Man datiert mit ihm den Beginn der
deutschen Nachkriegsliteratur. Es gilt als Beleg für die „Stunde Null“, als Manifest der
Literatur des „Kahlschlags“, die jetzt gefordert wurde. Doch man merkt in jedem Wort,
in jeder Zeile, dass die Vergangenheit groß auf ihnen lastet – wie ein schwarzes
Loch, eine ungeheuere Energie. Die Gegenstände in unmittelbarer Nähe sind das
Einzige, was geblieben ist, ihnen gilt eine Selbstvergewisserung.
Regie: Musik (karg, sperrig, Weill oder Eissler)
Autor (auf Musik):
Dies ist kein unbekümmerter Neuanfang, dies geschieht nicht im Zustand der
Unschuld. Es liegt etwas Zögerndes, Vorsichtiges in der Benennung der
Gegenstände. Das Gedicht „Inventur“ unterscheidet sich allerdings grundsätzlich von
den Gedichten, die Günter Eich zehn, zwölf Jahre vorher geschrieben hat. Hier gibt
es kein lyrisches Sehnen mehr, keine Traumkonfigurationen, es gibt nicht einmal
mehr Natur. Es herrschen Desillusionierung und Nüchternheit. Der Alltag, die
krudesten Bedingungen des Menschseins werden zentral. Dies ist kein Moment für
poetische Entrückung. Im zweiten berühmten Gedicht Eichs aus dieser Phase,
„Latrine“, reimt sich „Hölderlin“ gar auf „Urin“ – so etwas wäre ein paar Jahre vorher
noch undenkbar gewesen:
Zitator 1 (Eich):
Irr mir im Ohre schallen
Verse von Hölderlin.
In schneeiger Reinheit spiegeln
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Wolken sich im Urin.
Regie: Musik
Autor:
Die Gedichte „Inventur“ und „Latrine“ sind zwar die bekanntesten Gedichte Eichs aus
der ersten Zeit nach 1945 – aber sie sind untypisch für ihn. Bald knüpft er wieder an
den Duktus seiner Vierzeiler von früher an, versucht, in der Natur die Bedingungen
der menschlichen Existenz zu spiegeln. „Inventur“: das war ein herausgehobener,
unwiederholbarer Augenblick, ein Moment, in dem er von nichts anderem sprechen
konnte als von sich selbst, als von einer radikal auf sich selbst zurückgeworfenen
Existenz. Im Lyrikband „Abgelegene Gehöfte“, mit dem Eich 1948 berühmt wurde,
stehen diese nackten, bloßen Verse aus der Kriegsgefangenenschaft neben älteren
Gedichten, die bereits Anfang der dreißiger Jahre entstanden sind, und neuen
Texten, die solch eine „Inventur“ bereits hinter sich gelassen haben. 1949 liest Eich
dann für den Süddeutschen Rundfunk zahlreiche Gedichte, und es fällt auf, dass
weder „Inventur“ noch „Latrine“ darunter sind. Sie scheinen ihm zu diesem Zeitpunkt
schon nicht mehr wichtig zu sein. Er liest stattdessen sogar einige der älteren Verse,
die Zeit scheint zwischen den frühen dreißiger und den späten vierziger Jahren zu
verschwimmen.
O-Ton 9 Eich, CD Sampler, Track 13, 0-0:59
Gegenwart
Was ich alles schon vergangen wähne,
jener Sommer, jenes Angesicht,
jener laue Wind und jene Träne,
sie vergehen nicht.
Stimmen mehr und mehr in allen Lüften.
Kein Erinnern reicht so weit,
bis hinunter zu den Aschengrüften,
in die Nacht der Troglodytenzeit.
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Und ich nahm sie alle auf, die Schatten,
und sie gehen nicht mehr fort,
alle bannt sie hin in mein Ermatten
noch dasselbe unbedachte Wort,
als ich sah den großen Drachen schweben
und ich bat und rief: Halbpart! –
Und ich nahm ihr halbes Leben
mit in meine Gegenwart.
Autor:
Eich versucht seine alte lyrische Sprache mit den neuen Erfahrungen
zusammenzubringen. Er laviert zwischen der Lyrik der Natur, der er immer noch
metaphysische Dimensionen abgewinnen kann, und einer niederen Sprache, die in
manchem an die gleichzeitig entstehenden neuen Gedichte Gottfried Benns erinnert.
Dennoch – etwas ist bei Eich ganz neu in diesen Tagen. Er, der sich immer als
Unpolitischer verstanden hatte, sieht sich nun gefordert, die Aufgabe der Literatur zu
präzisieren. 1949 schreibt er in einem Zeitungsartikel:
Zitator 1 (Eich):
Der Schriftsteller, der nicht zerstreuen, sondern wirken will, muss den Mut
aufbringen, auch gegen den Leser zu schreiben. Stil ist kein Schlafpulver, sondern
ein Explosivstoff.
Regie: Musik (Zwischenspiel aus „Träume“)
Autor:
Das ist ein ganz anderer, ein neuer Ton. Hier kündigt sich der Günter Eich des
Hörspiels „Träume“ an, einer, der keine Konzessionen an den Publikumsgeschmack
macht, an die Gesetze des Mediums. Er reagiert allergisch auf die Forderungen des
Tages, „verständlich“ zu sein. Und es wird überraschend deutlich, woher diese
Allergie kommt – er benennt es, im Gegensatz zu der bereits rasant fortschreitenden
Verdrängung, ganz konkret:
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Zitator 1 (Eich):
Ist alles Nonsens, was nicht auf Anhieb verständlich ist? Zweifellos ist es kein
Nachteil für den Schriftsteller, durch die Schule des Journalismus gegangen zu sein.
Doch betrachten wir die so oft als Kronzeugen zitierten Amerikaner. Wolfe und
Faulkner sind schon keineswegs jedem zugänglich. Und was soll der einfache Leser
mit „Fiesta“ oder dem „Großen doppelherzigen Strom“ anfangen? – Es sollte zu
bedenken geben, dass auch im Dritten Reich ähnliche Forderungen erhoben wurden.
Sie führten zu dem Begriff der „Entarteten Kunst“. Der Zusammenhang zwischen
ihnen und der Massenbeherrschung totalitärer Systeme scheint mir deutlich zu sein.
„Circenses“ lullen ein, Form beunruhigt. Die großen Leistungen einer realistisch
orientierten Literatur in Ehren – einen Totalitätsanspruch daraus herzuleiten, wäre ein
Armutszeugnis, das wir uns nicht ausstellen wollen.
Regie: Musik (aus „Goldstadt“, Kassette A 9:35-9:42)
Autor:
Dass er sich während der Zeit des Nationalsozialismus von der Macht
instrumentalisieren ließ, treibt Eich offenkundig um. Er ist gewillt, die Konsequenzen
daraus zu ziehen. Früh gerät er mit den Autoren in Verbindung, die später als
„Gruppe 47“ Furore machen werden. Hans Werner Richter, der Gründer dieser
Gruppe, versucht, den um einiges älteren Eich in seine Initiativen mit einzubinden.
Eich meint es ernst mit seinen hohen ethischen Maßstäben an die Literatur und an
sich selbst. Das wird deutlich, als er Ende 1947 einen Brief von Willi Fehse erhält.
Dieser arbeitet an einem Aufsatz, der „Das heimliche Deutschland“ heißen soll –
Fehse will darin den Widerstand unter Hitler dokumentieren und die
Aufbruchstimmung jener deutschen Kräfte, die überzeugt davon sind, auf der
richtigen Seite zu stehen. Eichs Antwort verblüfft. Kaum ein deutscher Autor des
zwanzigsten Jahrhunderts hat nach dem Ende einer Diktatur so reagiert wie er:
Zitator 1 (Eich):
Lieber Willi! Dank für Deinen Brief. In den Aufsatz „Das heimliche Deutschland“
passe ich nicht recht herein. Ich habe dem Nationalsozialismus keinen aktiven
Widerstand entgegengesetzt. Jetzt so zu tun als ob, liegt mir nicht.
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Regie: Musik
Autor:
Das Aufbegehren gegen die „Macht“ wird für Eich zu einem Leitmotiv in den fünfziger
Jahren, vehement wendet er sich gegen jede Form von „Einverständnis“. Dies ist
weniger eine konkrete Kritik an der frühen Bundesrepublik unter Konrad Adenauer,
das auch – aber es ist vor allem die Lehre, die Eich aus seinen Erfahrungen im
Hitlerregime zieht. Schnell knüpft er wieder an seine Arbeit als Hörfunkautor an.
O-Ton 10 Eich, CD Krogmann, Track 1, 11:58-12:35:
Wie vermeide ich es aber, dass das Hörspiel sozusagen ein uferloses Geschwätz
wird, was angedreht wird, und dann läuft das ununterbrochen weiter, und
ununterbrochen wird geredet. Wie vermeide ich es, dass das Hörspiel zu einem, ja
sagen wir ruhig, zu einem Geschwätz wird? Das ist für mich eigentlich das Problem
und das, was mich beim Hörspielschreiben interessiert, wenn ich darüber
nachdenke. Wie bringe ich gewissermaßen die Pause, das Schweigen, in das
Sprechen hinein?
Zitator 1 (Eich):
Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Regie: Musik
Autor:
Eichs erstes Hörspiel der Nachkriegszeit ist „Die gekaufte Prüfung“. Ein Schüler
bietet seinem Lehrer an, ihn mit ansonsten schwer zu beschaffenden Naturalien zu
versorgen, wenn er ihm die Prüfungsaufgaben verrät. Der Lehrer kann dies nicht mit
seinem Gewissen vereinbaren, seine Frau setzt ihn aber angesichts der Not der
Familie unter Druck. Man kann den individuellen Konflikt dieses Hörspiels leicht vor
dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit lesen: was passiert,
wenn sich Gewissen und Überlebenstrieb widersprechen? Eich will das Hörspiel in
den fünfziger Jahren offensiv vom Ruch der Unterhaltung, der bloßen Zerstreuung
befreien, kurz: aus den Fesseln der Nazikultur. Den herausragenden „Hörspielpreis
der Kriegsblinden“ erhält er dann relativ schnell – zwar nicht für seine verstörenden
19
„Träume“, aber schon ein Jahr später für „Die Andere und ich“ von 1952. In seiner
Dankesrede kommt Eich zwangsläufig auf die prekäre Rolle des Massenmediums
Rundfunk zu sprechen:
O-Ton 11: Eich, CD Schwedhelm, Track 2, 13:24-14:12
Zudem stehen wir Autoren, die wir für den Rundfunk arbeiten, unter den Gesetzen
einer Apparatur, die wir immer mit wachsamem Misstrauen beobachten sollen, auch
wo wir uns ihrer bedienen. Wir sind gefährdeter als die Lyriker. Da, wo wir nicht
aufmerksam sind, dienen wir der Mechanisierung der Welt, da, wo wir lieben – ich
glaube, so darf man es auch sagen -, da helfen wir mit, jene Kräfte zu stärken, die
einmal das große KZ und den großen Friedhof Welt unmöglich machen werden.
Autor:
Im Hörspiel „Die Mädchen aus Viterbo“, das 1953 zum ersten Mal gesendet wird,
geht es um eine allegorisch zugespitzte Situation aus der NS-Zeit. Ein jüdischer
Großvater wird mit seiner 17-jährigen Tochter im Jahr 1943 von einer
alleinstehenden Frau in einem Berliner Mietshaus versteckt. In einer alten Illustrierten
entdecken sie eine Geschichte, wie eine Mädchengruppe aus Viterbo sich in den
weitverzweigten Katakomben in Rom verläuft und nie mehr gefunden wird, und sie
denken sich Möglichkeiten aus, wie diese Geschichte doch noch gut ausgehen
könnte. Dass am Ende jedoch die Nazichargen auch an ihre Tür klopfen werden,
scheint von Anfang aus unausweichlich zu sein.
O-Ton 12 Viterbo
Gabriele: Du bist, wo wir seit drei Jahren sind. Ich habe die Streifen in der Tapete
gezählt. Es sind 365. Soviel Streifen, wie das Jahr Tage hat. Was für ein alberner
Zufall! Oder ist es Absicht und hat irgendeine Bedeutung? Oder hat das Jahr gar
nicht 365 Tage, und ich bilde mir das nur ein, weil ich 365 Streifen an der Tapete
zähle?
Oldenburg: Ich glaube nicht, dass ich hier schon gewesen bin.
Gabriele: Du bist zu Hause, Großvater, in unserem selbstgewählten Gefängnis,
Berlin-Wilmersdorf, Prinzregentenstraße 96, in der Wohnung von Frau Winter. Das
Datum weiß ich nicht genau. Aber es ist Oktober und das Jahr 1943.
20
Autor:
Prinzregentenstraße 96: diese Adresse lässt aufhorchen. Es war die Adresse von
Günter Eich selbst, bis 1943, als das Haus nach einem Bombenangriff ausbrannte.
Er setzt die allgemeine, die große Geschichte also in einen direkten Zusammenhang
zu seiner eigenen, privaten Biografie – und zwar vor allem für sich selbst. Der
Öffentlichkeit war die Geschichte dieser Adresse ja unbekannt. Gelegentlich treibt
das eigene Leben in der NS-Zeit in Eichs Hörspielen solche Blüten: es arbeitet etwas
nach. Er arbeitet etwas durch. Und er tut das mit den suggestiven, manchmal
peinigenden Mitteln des Hörspiels, die die Wirklichkeit in Traumvisionen schärfer
umreißen, als sie auf den ersten Blick erscheint.
O-Ton 13 Eich, CD Sampler, Track 8, 0:15-0:37
Der Rundfunk hat hier Möglichkeiten, die dem Theater und dem Buch fehlen. Er hat
insbesondere die Fähigkeit, Unwirkliches eindringlich darzustellen, Gedanken und
Träume unmittelbar wirksam werden zu lassen. Die Möglichkeiten des Hörspiels sind
noch immer nur zu einem kleinen Teile ausgeschöpft.
O-Ton 14 Hörerreaktionen Träume, Karst-Kassette 1A 33:22-34:14
Hörer: Wir haben da eben Ihr Hörspiel gehört, von dem Eick – kann man den Mann
nicht einsperren?
Regisseur: Das müssten Sie beantragen, nicht?
Hörer: Das ist ja trostlos!
Regisseur: Ja, ja!
Hörer: Die Zeiten sind ja so, dass die Bevölkerung hier ja eigentlich nervös genug ist!
Regisseur: Es ist wie die Zeit!
Hörer: Dass man so einen Blödsinn bringt, das ist doch gar nicht vorstellbar! Ich kann
Ihnen sagen, wir sind sowas von entsetzt hier. Wir sind ja an sich von den
Sendungen aus Hamburg nicht sehr verwöhnt,
Regisseur: Eben!
Hörer: aber das schlägt wirklich dem Fass den Boden aus. Also glauben Sie, das ist
die Meinung von einem großen Kreis den wir heute Abend hier mal zusammen
haben. Es ist hanebüchen! Ich kann Ihnen sagen, wir werden entsprechende Schritte
unternehmen bei den Zeitungen, dass so ein Kram vorher zensiert wird! Das ist ja
nicht zu glauben, was Sie dem Publikum bieten!
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Regie: Musik (Setúbal, Cello)
Autor:
Innerhalb weniger Jahre, den Jahren, in denen das Hörspiel seinen Höhepunkt
erreicht, schreibt Eich die zentralen Stücke dieses Genres: Träume, Die Mädchen
aus Viterbo, Das Jahr Lazertis oder Die Brandung vor Setúbal. Manchmal scheinen
es überzeitlich angelegte Stoffe zu sein, in denen jedoch urplötzlich etwas
Unbewusstes ausbricht.
O-Ton 15 CD Setúbal, Track 1, 42:55-:43:53
Catarina: Was siehst du?
Rosita: Hühner, glaube ich. Warten Sie, bis sich meine Augen gewöhnt haben.
Catarina: Weiter.
Rosita: Hafersäcke.
Catarina: Das könnte stimmen. Hörst du?
Rosita: Es rührt sich im Verschlag. Vielleicht unsere Pferde?
Catarina: Oder Don Felipes Eselin. Natercia!
Rosita: Natercia!
Catarina: Natercia!
Rosita: Es poltert gegen den Verschlag.
Catarina: Natercia!
Der Esel stößt einen durchdringenden Schrei aus.
Catarina: Das genügt, Rosita. Komm!
Rosita: Mein Gott, wie mich das Tier erschreckt hat.
Catarina: Es war eine deutliche Antwort.
Autor:
Eich arbeitet mit vielen Mitteln. Aber eines ist klar: er spricht radikal gegen das
Einverständnis, gegen den Schulterschluss in der Adenauergesellschaft an –
eingedenk der Erinnerung an die jüngste Vergangenheit. In seiner Rede bei der
Entgegennahme des Büchner-Preises 1959 wird er am deutlichsten.
O-Ton 16 Eich, Karst-Kassette 2A 14:30-15:05
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Wir wissen, dass die Macht daran interessiert ist, dass alle Kunst die Grenze der
Harmlosigkeit nicht überschreitet. Macht widerstrebt der Qualität. Sprache, die über
die gelenkte, die von ihr genehmigte, hinausgeht, ist nicht erwünscht. Ihr bloßes
Vorhandensein stellt eine Kritik dar, etwas, was der Lenkung und damit der Macht
selber widerspricht. Weil da etwas entsteht, was nicht für die Macht einzusetzen ist.
Es sind nicht die Inhalte, es ist die Sprache, die gegen die Macht wirkt.
Autor:
Eichs Texte bestehen nicht aus politischen Parolen. Seine Literatur ist nicht eine des
Engagements im klassischen Sinne. Sie verstört dadurch, dass sie etwas zur
Sprache bringt, was unheimlich ist. Was man nicht wahrhaben will. Sie verstößt
gegen den Konsens. Am 1. Februar 1957 druckt die Frankfurter Allgemeine Zeitung
Eichs Gedicht „Nachhut“. Einige Tage später muss sie eine ganze Seite räumen, um
Leserbriefe zu diese Gedicht abzudrucken, die Kanaldeckel heben sich um einen
Spalt.
Zitator 1 (Eich):
Nachhut
Steh auf, steh auf!
Wir werden nicht angenommen,
die Botschaft kam mit dem Schatten der Sterne.
Es ist Zeit, zu gehen wie die andern.
Sie stellten ihre Straßen und leeren Häuser
unter den Schutz des Mondes. Er hat wenig Macht.
Unsere Worte werden von der Stille aufgezeichnet.
Die Kanaldeckel heben sich um einen Spalt.
Die Wegweiser haben sich gedreht.
Wenn wir uns erinnerten an die Wegmarken der Liebe,
ablesbar auf Wasserspiegeln und im Wehen des Schnees!
Komm, ehe wir blind sind!
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Zitator 2:
In jüngeren Jahren hatte ich für Entmündigung und Einweisung Geistesgestörter in
Irrenanstalten zu sorgen. Der Herr Eich gehört meines Erachtens zweifellos dorthin!
Es ist nur tief, tief traurig, dass ein Redakteur solch einen Mist annimmt.
Zitator 3:
Wo wäre denn der Mond noch silbern in der heutigen Dichtung und das
Einfamilienhaus traulich? Von Benn bis Böll, von Malaparte bis Hemingway (ganz zu
schweigen von Arno Schmidt) sind doch die Kanaldeckel nicht nur einen Spalt
geöffnet, sondern sämtliche Kloaken sind offen und duften ungehindert. Ist die Frage
nicht vielmehr zu stellen: Wie schließen wir den Spalt? Müssen wir nicht umdenken?
Ist nicht heute das Kranke das Gesunde in der Literatur? Starren wir nicht
hypnotisiert auf die offene Kanalisation, als ob von dort die Heilung kommen könnte?
O-Ton 17 Eich, Büchnerpreis, Sampler, Track 23, 0-1:33
Ich für mein Teil habe den Verdacht, dass die Ewigkeitswerte die Macht verewigen,
und die gedichtete Daseinsfreude erinnert mich an das dienstfreudige Gesicht, das
ich einmal machen musste. Diese Lebensbejahung in gelenkter Sprache, dieses
unaufhörliche Kraft-durch-Freude-Motiv und Seid-nett-zueinander! (Aber wehe, wenn
ihr nicht nett seid, und wehe, wenn ihr euch nicht freut!) Alles im Aufbau, alles positiv,
die Wirtschaft, die Helden und die Liebe, weshalb immer nur die dunklen Seiten des
Lebens, das Glück und die Freizeit nehmen zu, sorgt euch nicht, wir sorgen für euch.
Dieser ganze fatale Optimismus, so verdächtig erwünscht und so genau nach Maß.
Augen und Ohren fest geschlossen und ein strahlendes Lächeln auf allen
Gesichtern, ein Lied, drei, vier, so marschieren wir zukunftsgläubig in die
tausendundeine Art von Sklaverei. Es wird Ernst gemacht, die perfekt
funktionierende Gesellschaft herzustellen. Wir haben keine Zeit mehr, Ja zu sagen.
Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und
Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann
schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit
Geranien. Die Chance, in das Nichts der gelenkten Sprache ein Wort zu setzen, wäre
vertan.
24
Autor:
Eigentlich hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung Eichs Büchnerpreisrede schon für
den Abdruck eingekauft, aber dann will sie plötzlich nicht mehr. Eichs Rede wird acht
Jahre vor dem großen Aufbäumen der 68er-Bewegung gehalten, sie scheint sie in
gewisser Weise mit vorzubereiten. Aber Eich verhält sich auch hier antizyklisch. In
den fünfziger Jahren agierte er unmittelbar gesellschaftsbezogen, während die
Literatur um ihn herum noch allgemeine Leidenserfahrungen thematisierte, das
Unbehaustsein des modernen Menschen, das Ausgeliefertsein an das Schicksal.
Regie: Musik (leichter Jazz, fünfziger Jahre)
Autor (auf Musik):
In den sechziger Jahren jedoch, als die Politisierung der Literatur zum Hauptstrom
wurde, entzieht sich ihr Eich schon wieder. Seine Texte werden knapper, sie spielen
immer mehr ins Absurde hinüber. Die Zeit der Hörspiele ist schnell vorbei: Ende der
fünfziger Jahre ist Eich vor allem damit beschäftigt, seine großen Stücke noch einmal
zu überarbeiten, in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke gibt es deshalb immer
zwei Versionen. „Man bittet zu läuten“ aus dem Jahr 1964 ist ein vorläufiges
Schlusswort im Hörspielbereich, eine sich virtuos ins Sinnlose drehende Etüde über
einen pilzesammelnden Hausmeister.
O-Ton 18 Eich, CD Krogmann, Track 1, 20:20-21:05:
Ich hatte eigentlich, nachdem das Fernsehen sich etabliert hatte, das Gefühl, jetzt
wird das Hörspiel blühen und gedeihen, und das eigentlich Arge ist, dass die
wenigen Kritiken, die noch erscheinen, eigentlich immer darauf hindrängen, dass das
Allgemeinverständliche, das Durchschnittliche, eigentlich der Maßstab sein muss.
Das finde ich sehr arg, denn das haben wir ja nun überall und das müssen wir nicht
auch noch in diesem Fall besonders betonen. Als wenn einmal eine sprachlich etwas
ungewöhnlichere Sache erscheint, wird da Zeter und Mordio geschrien.
Autor:
Eichs Gedichte gehen mittlerweile so:
Zitator 1 (Eich):
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Zuversicht
In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.
Autor:
1967 tritt Eich mit etwas an die Öffentlichkeit, was er geradezu als eine neue Gattung
definieren möchte: eine geraffte, sich dem vordergründigen Sinn verweigernde Form
der Kurzprosa, die er „Maulwürfe“ nennt. Der Maulwurf ist ein Bild, das Eich schon
immer gefallen hat:
Regie: Musik (Cello aus „Setúbal“)
O-Ton 19 Eich, CD Sampler, Track 5, 0:45-0:57
Schrecklich gepresst, wie in Erstickens Angst,
mit Augen hervorquellend, so lallt es,
Sprache des Maulwurfs, der Elster Gekrächz.
O-Ton 20 Eich, Kassette Goldstadt, B 13:30-13:43
Pieter: Hier oben ist es schön luftig. Das tut gut, wenn man die ganzen Jahre als
Maulwurf gelebt hat. Ach, das Leben ist schön.
Mike: Ich kröch’ lieber wieder als Maulwurf in den Goldminen herum.
O-Ton 21 Eich, CD Sampler, Track 31, 0:12-0:18
Was alles kann geschehen sein, und deinen Maulwürfen entgehst du nicht.
Regie: Musik (Cello aus „Setúbal“)
Autor:
Der Maulwurf: das ist etwas Untergründiges, Abgründiges, Subversives, das an der
Oberfläche als schwer zu entzifferndes Zeichen sichtbar wird. „Maulwurf“ kann aber
auch eine lockere Rede sein, da ist der Mund einfach mal voll genommen worden.
26
Auf der letzten Tagung der Gruppe 47 – man weiß aber noch nicht, dass es die letzte
Tagung sein wird – in der abgelegenen fränkischen Pulvermühle liest Eich einige
Maulwürfe vor. Wir befinden uns im Jahr 1967. Einige vorwitzige Studenten vom
Erlanger SDS versuchen, die Tagung zu stören, mit Sprechchören wie „Die Gruppe
47 ist ein Papiertiger!“ In Berlin hat es die ersten Straßenschlachten gegeben,
militante Auseinandersetzungen von Studenten und der Polizei. Auch in der Gruppe
47 selbst gibt es ein Generationenproblem: es gibt einige Junge, die gern linksradikal
sein möchten und der Literatur den Krieg erklären. Eich liest.
O-Ton 22 Eich, CD Krogmann, Track 2, 34:32-36:28
Ich glaube, meine Sammlung historischer Gummiknüppel aus Ost und West war die
einzige ihrer Art. Jetzt habe ich sie an einen schwedischen Interessenten en bloc
abgestoßen, gerade noch rechtzeitig, wie ich glaube, vor den Notstandsgesetzen.
Man kann solche Gegenstände nicht immer im legalen Handel erwerben. Allmählich
wäre ich in Schwierigkeiten gekommen.
Meine Sammlung war nicht vollständig – wie sollte sie auch – hatte aber
Höhepunkte, hatte Stücke voller Poesie. Ihr kennt die Muscheln, in denen man das
Rauschen des Meeres hört. Mein Stück 77 München muss man allerdings etwas
höher ansetzen als am Ohr, aber die Wirkung einiger auch leichter Schläge ist ganz
ähnlich. Man hört noch heute ein Stück Schwabinger Bohème. Wasserwerfer,
Einsatz der Berittenen, die Oberstimme aus dem Funkwagen, und die Akklamation
nordmünchner Heimatdichter, - ein verspätetes Schwabinger Glück, woran doch
sonst die Vergänglichkeit nagt und einen mit Wehmut erfüllt. An einem andern
Modell, 67 Berlin, finden sich unter einem guten Fixativ Mädchenhaar und
Mädchenhaut, wie sie beide so oft besungen werden.
Manchen Abend habe ich sinnend inmitten meiner Sammlung verbracht, träumend
und mit schweifenden Gedanken zwischen Marquis de Sade und Paul Lincke.
Das freilich ist nun alles vorbei. Jetzt sammle ich Einwegflaschen und bin damit jeder
Änderung des Grundgesetzes gewachsen.
Autor:
Etwas irritiert spricht man von einem „neuen Eich“. Er scheint sich nur noch lustig zu
machen, der politisch-moralische Furor scheint in etwas anderes übergegangen zu
sein.
27
O-Ton 23 CD Poethen Track 1, 7:44-8:45
Poethen: Eine etwas allgemeinere Frage zum Schluss, die aber, man kann fast
sagen leider, immer noch aktuell ist: nach jahrelangen und zahlreichen Diskussionen
hierzulande teilt man die Literatur etwas sehr vereinfacht in solche die engagiert sei
und die andere die es nicht sei. Was ist Ihre Meinung, Herr Eich, gegenüber dieser ja
nicht sonderlich differenzierten Zweiteilung?
Eich: Ich kann mit dieser Zweiteilung nicht viel anfangen. Ich meine, im Grunde
genommen ist jede Literatur engagiert – oder auch politische Literatur könnte
unengagiert sein. Das sind ganz äußerliche Dinge. Ich persönlich würde sagen,
wenn man das bei mir nachlesen will, ich glaube, ich habe das was man engagierte
Literatur genannt hat und auch das was man nicht engagierte Literatur genannt hat.
Das ist für mich aber kein entscheidender Unterschied.
Autor:
Eich macht einfach nicht mehr mit. Er zieht auf seine Weise die Konsequenzen. Es
ist merkwürdig, wie der späte Eich mit dem ganz frühen korrespondiert: mit einem
emphatischen Begriff von Literatur, der sich abseits stellt, fern von allen Ansprüchen
der Zeit und des Gebrauchs. 1930 ist das jugendlicher Furor: der Eigensinn, sich
fernzuhalten vom Getümmel. Gegen Ende – Eich ist 1972 gestorben – ist es eine
unerhörte Form von Altersradikalität. Er ist, aus eigener Erfahrung, allergisch
dagegen, den Geschmack der Masse zu bedienen. Er lehnt die Quote ab. Dies ist
der wahre Kern seiner Büchnerpreisrede. Vielleicht wird sie im Nachhinein erst richtig
lesbar. Der Dichter entzieht sich den Ansprüchen der Gesellschaft. Er spielt
Versteck.
Regie: Musik (minimalistisch, z.B. Philip Glass, Einstein on the Beach)
Zitator 1 (Eich):
Huhu
Wo die Beleuchtung beginnt,
bleibe ich unsichtbar.
Aus Briefen kannst du mich nicht lesen
28
und in Gedichten verstecke ich mich.
Den letzten Schlag
gab ich euch allen.
Mich triffst du nicht mehr,
solang ich auch rufe.
: O-Ton 24 Eich, Büchner, Karst-Kassette 2A 17:00-17:30
Ich schließe alle ein, die sich nicht einordnen lassen, die Einzelgänger und
Außenseiter, die Ketzer in Politik und Religion, die Unzufriedenen, die Unweisen, die
Kämpfer auf verlorenem Posten, die Narren, die Untüchtigen, die glücklosen
Träumer, die Schwärmer, die Störenfriede, alle, die das Elend der Welt nicht
vergessen können, wenn sie glücklich sind.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Beifall