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Community Care als Antwort 09/10/03 1 Community Care als Antwort auf katastrophale Zustände in der Behindertenfürsorge in England als Anstoß von Veränderungsprozessen in Hamburg Ein Update der Diskussionen zum Thema Community Care im Rauhen Haus Michael Tüllmann, Oktober 03

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Community Care als Antwort auf katastrophale Zustände in der Behindertenfürsorge in England als Anstoß von Veränderungsprozessen in Hamburg Ein Update der Diskussionen zum Thema Community Care im Rauhen Haus Michael Tüllmann, Oktober 03

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Vorbemerkungen Seit Mitte der neunziger Jahre beschäftigt sich die Behindertenhilfe des Rauhen Hauses mit Betreuungsstrukturen in Skandinavien und England. In diesen Ländern gelang es in vorbildlicher Weise, Menschen mit Behinderungen den Status eines Bürgers zu erhalten . Die überdurchschnittliche Angewiesenheit auf Hilfe führte nicht zu minderwertigen Zuschreibungen. Für die 1990 entstandene Abteilung Behindertenhilfe im Rauhen Haus sind Modelle, die sich auf die Europapolitik auswirken, besonders interessant. Sie ermöglichen eine Konzeptentwicklung im Horizont europäischer Entwicklungen und entsprechen unseren christlichen Leitbildern. Schon 1996 führte die Abteilung Behindertenhilfe des Rauhen Hauses einen Modellversuch zur Individualisierung der Behindertenhilfe durch. In diesem Versuch sollte der Einzelne mit seinem ganz individuellen Unterstützungsbedarf im Mittelpunkt stehen. Fremdbestimmungen seiner Lebenswelt durch formalisierte Hilfemaßnahmen galt es, so weit wie möglich zu vermeiden. Das Verhältnis zwischen fürsorglicher Betreuung und Selbstständigkeit sowie Selbstbestimmung sollte vor dem Hintergrund der Kompetenzen der Hilfeempfänger neu definiert werden. Dieser Blick auf den Einzelnen steht noch heute im Mittelpunkt des Interesses des Rauhen Hauses. Dies ist deshalb so dringend notwendig, weil es keine homogene Gruppe der Behinderten gibt. Trotzdem existieren viele Diskussionen, wie man mit dieser nicht definierbaren Gruppe verfahren soll. Diese Diskussionen bestehen oft aus Zeit raubenden Auseinandersetzungen, in denen jeder Recht bzw. Unrecht hat. Blickt man aus der Position eines Menschen, der ausschließlich durch Lernschwierigkeiten eingeschränkt ist, auf das System der Behindertenhilfe, entdeckt man durchgehend Fremdbestimmung und Überbetretreuung. Wechselt man die Perspektive und blickt aus der Sicht einer Mutter eines 20-jährigen autistischen Sohnes mit einem sozialen Alter von 6 Jahren auf das gleiche System, vermisst man die ausreichende Fürsorge, erkennt die Risiken und Überforderungen moderner Hilfestrukturen. Dieselbe Parallelität findet man in den Diskursen zwischen Kostenträgern und Einrichtungsträgern: hier die kosteneinsparende Selbstbestimmung und der Abbau von Überversorgung, dort die Sorge um Unterversorgung und Schwächung des Hilfesystems. In dem europaweiten Vergleich von Konzepten erhofft sich die Behindertenhilfe des Rauhen Hauses auf Grund ihrer Erfahrungen in England und Schweden einen Ausweg aus diesem Parallelogramm und die Definition von gemeinsam getragenen Innovationen. Die Diskussionen über europäische Behindertenpolitik eröffnen ein weites Feld, von dem aus wir auf nationale Konzepte und Gesetze blicken können. Diese Gelegenheit beinhaltet auch die Möglichkeit, sich aus dem Parallelogramm deutscher Streitkultur zumindest auf Zeit zu befreien und nach gemeinsamen zentralen Aufgabenstellungen zu suchen, die in der Weise politikfähig sind, dass alle Parteien inkl. der Betroffenen an einer gemeinsamen Lösung interessiert sind. Der erste gesetzliche Schritt für die Einleitung eines Paradigmawechsels in der Behindertenpolitik von der wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge zum bürgerrechtlichen Schutz vor Diskriminierung erfolgte am 15.11.1994, indem die Verankerung des Verbotes der Benachteiligung von Menschen wegen ihrer Behinderung in Artikel 3 des Grundgesetzes erfolgte: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

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Dieser Schritt gewinnt an Bedeutung für alle Bürger unabhängig von ihrer Behinderung durch die am 1. Januar 1992 erfolgte Einführung des Betreuungsgesetzes und der damit einhergehenden Abschaffung der Entmündigung geistig behinderter Menschen, durch die sie im zivilrechtlichen Sinn rechtlos gestellt waren. Weitere gesetzliche Regelungen finden sich im Schwerbehindertengesetz, das seit 1.08.1996 in dem § 54c regelt, dass die Rechtsstellung der Menschen mit Behinderungen in Werkstätten für Behinderte durch einen arbeitnehmerähnlichen Status auf der Grundlage eines Werkstattvertrages verbessert wurde. Der §1905 BGB verbietet die Zwangssterilisation von Menschen mit geistiger Behinderung. Paradigmawechsel in England Bis Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre lebten geistig behinderte Menschen in England noch in Bettensälen großer Kliniken unter menschenunwürdigen Verhältnissen. Bürgerrechtsbewegungen, hauptsächlich bestehend aus den Angehörigen einiger Menschen mit Behinderungen, forderten eine totale Veränderung dieser Situation. Diese Bewegung orientierte sich an skandinavischen Modellen, deren Wurzeln bis in die 50er Jahre zurückgreifen und in denen schon in den 70er Jahren die Heime abgeschafft wurden. Die Politik in England nahm den Protest auf und strebte Veränderungen an, die sowohl die Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen verbessern als auch die hohen Kosten der Großeinrichtungen senken sollten. Mit der Schließung der Einrichtungen bei gleichzeitigem Aufbau der Gemeindedienste sollten diese Ziele erreicht werden. In einem White Paper, einer Regierungserklärung für die Behindertenpolitik, definierte die Regierung das Procedere der Veränderung. Hinter dieser Regierungserklärung stand die gesamte Reformbewegung in England. Sowohl Kostenträger als auch die Einrichtungsleitungen fühlten sich den Inhalten dieser Erklärung verpflichtet. Ohne dieses allgemein geteilte „Commitment“ hätte die bürgerrechtliche Bewegung keine Chance gehabt. Eine wesentliche Voraussetzung hierfür waren die regionalen Budgets, aus denen man das beste Preis- Leistungsverhältnis finanzieren wollte. Einen Leistungsanspruch jenseits dieses Budgets haben Hilfeempfänger in England nicht. Dort gibt es kein Bedarfsdeckungsprinzip mit entsprechenden Rechtsansprüchen. Diese schlechtere rechtliche Position des Hilfeempfängers hat aber zur Folge, dass das Verhältnis zwischen Kostenträgern und Einrichtungsträgern nicht ständig durch die Abwehr von Ansprüchen gegenüber dem Sozialhilfeträger strapaziert wird. Neben diesem zweifelhaften Vorteil liegt eine weitere Vereinfachung in der landesweiten Gesetzgebung in England. Durch diese einfacheren Kooperationsvoraussetzungen für die in der Behindertenhilfe Verantwortlichen gelang eine gemeinsam getragene Konzeptionsentwicklung. Das „hospital closure programme“ war die Voraussetzung der grundlegenden konzeptionellen Veränderungen.

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Bis zu einem gesetzten Zeitpunkt mussten sämtliche Großeinrichtungen schließen und die gemeindenahe Versorgung umgesetzt werden. Dieser Prozess zog sich bis Ende der 80er Jahre hin. Das White Paper verfolgt vier Hauptziele:

1. Verbot von Unterbringung von Menschen mit Behinderungen in Großeinrichtungen

2. Umlenken der Finanzen auf die kommunale Ebene bei gleichzeitiger Verlagerung der Verantwortung für die Planung, Finanzierung und Durchführung der Hilfen auf diese Ebene

3. Rückführungsprogramme (Bringing people back home) aus Großeinrichtungen in die Kommunen und Realisierung der Versorgungsverpflichtung der Kommune

4. Aufwertung des bürgerrechtlichen Status’ der Menschen mit Behinderungen (Valuing People).

Während die ersten drei Ziele in einer bestimmten Zeit weitgehend erreicht werden konnten, ist das vierte Ziel auf Dauer angelegt und muss im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung neu definiert werden. Das hinter diesem Ziel liegende Leitbild drückt sich in den 7 Prinzipien des „The Same as You“ aus:

• People with learning disabilities should be valued. They should be asked and encouraged to contribute to the community they live in. They should not be picked on or treated differently from others.

• People with learning disabilities are individual people. • People with learning disabilities should be asked about the services they need

and be involved in making choices about what they want. • People with learning disabilities should be helped and supported to do

everything they are able to do. • People with learning disabilities should be able to use the same local services

as everyone else, wherever possible. • People with learning disabilities should benefit from specialist social, health

and educational services. • People with learning disabilities should have services which take account of

their age, abilities and other needs. (Tizard Review 2003/I)

Während sich die fünf ersten Punkte auf Gleichstellung beziehen, heben der siebte und der achte Punkt die besonderen Dienste für Menschen mit Behinderungen hervor. Mit Gleichstellung wird somit nicht gegen notwendige „Sonderbehandlungen“ argumentiert. Behinderungen müssen mit allen vorhandenen Therapieformen in ihren Auswirkungen minimiert werden. Dies schließt sonderpädagogische, psychotherapeutische und neurologische Behandlungen mit ein. In diesen Feldern wird in England rege geforscht. Die folgende Darstellung zeigt die Paradigmaverschiebungen, die das Programm Valuing People nach sich zieht

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Matrix der paradigmatischen Verschiebungen in der Reha-Landschaft (M:Langhanky ISP)

Pfleger/ Therapeut

Betreuer Hermeneut. Deuter/ Assistent

GeschäftsunfähigVerhandlungsunfhig

GeschäftsunfähigVerhandlungs-fähig bzgl. Binnenstruktur

Entstehen natürl. Geschäftsfähigkeit

Volle Geschäftsfähigkeit

Patient Betreuter Bewohner Bürger

System-logik

Klinik/ Anstalt Heim

Betr. WohnungIntens. Bereitschaftsdienst

Wohnung mit Rufbereitschaft

Wohnhaus mit unterschied-lichenWohnformen

Wohnen im gestalteten Gemeinwesen

Wohnen mit Nicht-beh.

Einzelwohnen

Mediz. Diagnostik Assessment Autonomie im soz. Netzwerk

Totalität d.3. Netzwerks 3. NW + 1. NW 3+1+2.NW 1-3. Netzwerk 3. NW durch 2. Minimalisiert

HäuslichkeitInstitution Privatheit

Die Bewegung von der System- zur Subjektlogik fordert Veränderungen in den Berufsrollen und den Unterstützungssystemen heraus. Auch wenn die Anstalt als totale Institution abgeschafft wurde, sind ständig neue Reformen in Richtung auf Fremdbestimmung vermeidende Formen der Begleitung notwendig. Der Gefahr, bei diesem Modernisierungsprozess die Schwierigsten zu vergessen, entgeht man, wenn jede Reform bei deren Lebenssituation beginnt (Dörner). Wirkliche Veränderungen beziehen die betriebswirtschaftliche Ebene mit ein. Ein Tagessatz als Verrechnungsmedium drückt immer eine pauschale Leistung aus, während unterschiedliche Fachleistungsstunden für ein flexibles, modularisiertes Angebot stehen, aus dem der Hilfeempfänger sich Bestandteile wählen kann. Keine bürgerrechtliche Reformbewegung wird nennenswerte Erfolge haben, wenn durch sie der Hilfeempfänger nicht vom Objekt der Hilfeleistung zum Gegenüber des Hilfeanbieters wird. Dabei spielt die Frage nach der Assistenz, die er für diesen Status benötigt, keine Rolle. Die Einbeziehung des ersten und zweiten Netzwerkes ist Voraussetzung für die Teilhabe am Leben und der Einnahme von wichtigen Rollen in bedeutsamen Beziehungen. Die folgende Darstellung fasst die unumgänglichen paradigmatischen Veränderungen noch einmal auf einem Blick zusammen.

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Heim Häuslichkeit

Heimleiter

Ressourcen- u. Projektmanager für flexible Betreuungssettings

Heimbewohner

Mieter mit ggf. rechtlicher Unterstützung

Caritativer Erzieher

Advokatorischer Begleiter und hermeneutischer Deuter

Medizinisch therapeutische Diagnostik

Gemeinsame Einschätzung des Hilfebedarfs (Assessment)

Zentrale Bedeutung des tertiären Netzwerkes

Ausbau und Erhalt des primären und sekundären Netzwerkes

Tagespflegesatz

Preis-leistungsgerechte Finanzierung z.B. Fachleistungsstunde

Unterstellen von Geschäfts- und Verhandlungsunfähigkeit

Unterstellen von Verhandlungs- und Geschäftsfähigkeit mit Hilfe von Selbstbestimmungsgruppen, advokatorischer Begleitung, Beratungsstellen für Nutzer sozialer Dienstleistung

Heiminterne Teamentscheidung

Demokratische Aushandlung eines Hilfeplanes in einer Reha-Konferenz unter Beteilung des Betroffenen, seines pflegenden Umfeldes und aller an der Reha beteiligten dienstleistenden Betriebe

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Die paradigmatischen Verschiebungen und daraus resultierende Konzepte entstanden mehr auf der Basis einer Bürgerrechtsbewegung als auf der eines pädagogischen Innovationsprozesses. Dabei muss man bedenken, dass die Mitarbeiter in den Großeinrichtungen Pfleger mit Zusatzausbildung im Umgang mit Behinderungen waren. Eine heilpädagogische Bewegung wie bei uns in Deutschland gab es weder in England noch in Skandinavien. Diese heilpädagogische Bewegung führte zwar von einem medizinischen Paradigma weg, hat aber als Kehrseite der Medaille eine Pädagogisierung der Lebenswelten behinderter Menschen herbeigeführt. Sie muss sich mit dem Vorwurf der Kolonisierung der Lebenswelten behinderter Menschen auseinander setzen. Bürgerrechtlich initiierte Veränderungen messen Konzepte an der Umsetzung folgender Rechte, die sie für den sozialen Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen reklamieren (aus: „Leitbild der Behindertenhilfe des Rauhen Hauses“, entstanden in Anlehnung an das White Paper): Wahlfreiheit Die Sicherung der Wahlfreiheit bedeutet die Möglichkeit, unbeeinflusst aus einer Reihe von Alternativen wählen zu können in persönlichen Angelegenheiten, bei der Pflege oder in der Freizeitgestaltung.

Ein nach diesem Prinzip gutes Hilfsangebot lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass Bewohnerinnen in Einrichtungen ihre eigene Kleidung wählen können, daran, ob Badetermine festgelegt sind oder frei bestimmt werden können, ob Haustiere, Möbel, persönliche Gegenstände mitgebracht werden dürfen, ob eine Wahl zwischen Ruhe und Gesellschaft besteht. Beschränkungen von Wahlmöglichkeiten sind die Ausnahme, was nach sich zieht, dass sie begründet und die Notwendigkeit ihres Fortbestehens durch ein funktionierendes Verfahren kontinuierlich kontrolliert werden. Im Bereich Arbeit und Beschäftigung müssen die Betroffenen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wählen können und dürfen nicht ausschließlich auf eine Werkstatt für Behinderte angewiesen sein.

Rechtssicherheit heißt, dass alle Bürgerrechte garantiert sein müssen.

Im Alltag bedeutet dies den Schutz vor diskriminierender, inhumaner physischer und psychischer Behandlung, den Schutz religiöser, politischer und kultureller Einstellungen, den Schutz der Privatsphäre, der Freiheit von persönlichen Beziehungen und der Mobilität innerhalb und außerhalb des Wohnbereiches. Im Alltag muss sich daran beispielsweise zeigen, ob die Betroffenen ihre Rechte kennen, ob sie sich frei fühlen, ihre Meinung zu äußern, ob sie ihre Rechte einfordern können und vieles mehr. Die Verfahren der Mitbestimmung und Beteiligung in einer Einrichtung drücken aus, wie dieses Recht umgesetzt wird.

Selbstverwirklichung meint die Chance, dass persönliche Wünsche und Fähigkeiten in allen Bereichen des täglichen Lebens zum Tragen kommen können.

Ein nach diesem Prinzip geführter Dienst wird sich bemühen, die Kompetenzen und biografischen Erfahrungen jedes einzelnen behinderten Menschen so gut wie möglich kennen zu lernen, Interessen und Fähigkeiten zu stützen, eine zutrauende Haltung gegenüber den Nutzern einzunehmen, Dienste und Umgebung stimulierend und aktivierend zu gestalten und flexible Lebensbedingungen zu schaffen, die der Individualität Raum geben.

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Qualitätskriterium kann beispielsweise sein, ob die Betroffenen wissen, dass ihre Initiative und ihre Mitwirkung bei der Planung und Durchführung der Hilfen gewünscht und gefragt sind. Gibt es Verfahren, die Bedürfnisse der Nutzer zu erkunden, z.B. in Bezug auf das Essen, die Gesundheitsfürsorge, die Hygiene, die Kosmetik, die Freizeitgestaltung usw.? Werden sie ermuntert, den Haushalt nach eigenem Geschmack zu gestalten und Pflichten im Alltag zu übernehmen? Einrichtungen, die diesem Recht nachkommen, verfügen über Betreuungskonferenzen und Assessmentverfahren, an denen die Betreuten mitwirken.

Unabhängigkeit meint die Chance, gemäß der eigenen Individualität ohne Rechtfertigungszwang gegenüber einer anderen Person zu denken und zu handeln, einschließlich des Rechts, Risiken einzugehen.

Ein nach diesem Prinzip gut geführter Dienst im Bereich Wohnen wird versuchen, eine angemessene Balance zwischen Unabhängigkeit und Sicherheit herzustellen. Er wird die Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Fähigkeiten, unabhängig zu denken und zu handeln, fördern. Eine Ausprägung im Alltag findet dieses Prinzip etwa in der Frage, ob Bewohnerinnen und Bewohner einer Wohneinrichtung Schlüssel für Zimmer und Gebäude besitzen, ob ihnen der Zugang zu bestimmten Hausbereichen verwehrt wird, ob sie selber Mahlzeiten zubereiten dürfen, ob sie die Raumtemperatur oder -helligkeit regulieren können, ob sie in der näheren Umgebung des Wohnortes Banken, Einkaufsmöglichkeiten, Cafés oder Begegnungsstätten finden usw.. Für eventuelle Risiken besteht ein risikomindernder Sicherheitsplan, der den Zugang zu erweiterten Lebensräumen ermöglicht und nicht verhindert.

Privatheit meint das Recht, alleine, ungestört und unbeeinträchtigt zu sein sowie unbehelligt Beziehungen zu anderen Menschen pflegen zu können.

Eine nach diesen Kriterien orientierte Suche nach der geeigneten Wohnform wird erkunden, in welchem Umfang jeder Bewohner Kontakt mit anderen wünscht, und sicherstellen, dass Kontakte unbehelligt innerhalb des Wohnbereichs und nach außen stattfinden können. Diskretion und Vertraulichkeit werden hoch geachtet und eine Umwelt gestaltet, die Bewohnerinnen und Bewohner vor Neugierde und Bloßstellung schützt und die Sicherheit ihrer Daten gewährleistet. Eine Qualitäts-Checkliste hierzu könnte fragen, ob das Personal die Privatheit der Zimmer durch Anklopfen achtet, ob Besuchern Zimmer nur mit Erlaubnis der Bewohner gezeigt werden, und ob jeder Bewohner über ein eigenes Zimmer verfügt.

Integration in das normale Umfeld Die Personen nutzen die normalen Orte und Möglichkeiten, die zur Gemeinde gehören.

Ohne besondere Anstrengung für dieses Ziel werden Menschen mit gravierenden Behinderungen von den Alltagszusammenhängen ausgeschlossen und in getrennten Einrichtungen mit speziellen Aktivitäten und besonderen Tagesstrukturen betreut. Dienste, die das Recht auf Integration erfüllen, verfügen über Mitarbeiter, die vor dem Hintergrund von Risiko minimierenden Vorkehrungen ein gewisses "Restrisiko" bei der Gestaltung des Alltagslebens in Absprache mit der Leitung tragen. Dieser Dienst verfügt über konkrete Vereinbarungen mit öffentlichen und privaten Organisationen im Stadtteil zur Ermöglichung der Teilnahme auch schwerst behinderter Menschen.

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Kompetenz Dem behinderten Menschen wird die Kompetenz unterstellt, dass er die Möglichkeiten hat, sich an für ihn bedeutungsvollen Aktivitäten und Entscheidungen zu beteiligen, unabhängig davon, welche Unterstützung er dafür braucht.

Einrichtungen, die nach diesem Grundsatz arbeiten, verfügen über Verfahren individueller Zukunftsplanung, Betreuungskonferenzen, subjektorientierte Formen der Beratung und Assistenz, einem Hilfezentrum bestehend aus unterschiedlichen Modulen anstelle von Pauschalangeboten. Erarbeitet werden Bildungsangebote, die die Betroffenen befähigen, ihre Kompetenz zu erweitern.

Respekt Der behinderte Mensch bekommt einen angesehenen Platz in dem Netzwerk der Menschen, die für ihn wichtig sind und kann eine anerkannte Rolle in dem Gemeinschaftsleben übernehmen.

Dieses Recht kann nur umgesetzt werden durch einen Dienst, der gemeindenah organisiert ist und in dem die Mitarbeiter sich als Vermittler von sozialen Kontakten verstehen und nicht als dauerhaften Ersatz für diese.

Teilnahme an Gemeinschaft Der behinderte Mensch hat einen festen Platz in einem ständig wachsenden sekundären Netzwerk, das persönliche Beziehungen und nahe Freunde einschließt.

Diesem Recht kann nur entsprochen werden, wenn die Hilfsdienste sich mit den bestehenden Angeboten und Orten des normalen Alltagslebens vernetzen bzw. in diesen Strukturen aufgehen. Beispiele hierfür sind Arbeitsbegleitung in normalen Betrieben, Wohnen in der Nachbarschaft eines normalen Wohngebietes, selbstbestimmte Angebote in Kulturtreffs, abgesicherte Kooperationsformen mit Menschen aus dem primären und sekundären Netzwerk bei der Hilfe zur Gestaltung des Alltagslebens.

Individuelle Hilfeplanung bedeutet, dass institutionelle Hilfen auf die Bedarfe des Einzelnen abgestimmt werden und dass diese von einem Betreuer der eigenen Wahl und des Vertrauens geplant werden.

Betreuungskonferenzen, Zuordnung von Vertrauenspersonen, individuelle Hilfe, Planverfahren und Beteiligungsformen sichern dieses Recht. Strukturelle Voraussetzung so eines Hilfsangebotes ist, dass die Bausteine des Hilfeplans individuell zusammengesetzt und verändert werden können.

Hilfe bei festgefahrenen Verhaltensmustern bedeutet, dass Alternativen zu herausforderndem Verhalten, das den Ausschluss von der Teilhabe an der Gesellschaft zur Folge hat, aufgezeigt und eingeübt werden.

Gut ausgebildete Mitarbeiter auf allen Ebenen der Organisation verfügen über tragfähige Kooperationen zu Psychiatrien, ambulanten Psychiatern und Therapeuten. Sie entwickeln Kompetenz, scheinbar unerklärliches Verhalten zu beobachten, Auslöser zu erkennen und die Funktionen dieses Verhaltens als eine Form der Kommunikation zu entdecken (Funktionsanalyse). Sie konzipieren individuelle Betreuungs-Settings und Strategien gegen Ausgrenzungen.

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Mit diesen Rechten verbinden sich in gleicher Weise Pflichten, denn sie gelten für alle Bürger. Keiner sollte sich so verhalten, dass diese Rechte für jemand anderen eingeschränkt werden. Für dieses Verhalten benötigen einige Menschen mit geistiger Behinderung Unterstützung. Die Teilhabe am Leben ist das generelle Recht unter all den einzeln aufgeführten Rechten. Dieser generelle Anspruch lässt auch eine indifferente bis zynische Auslegung der Rechte nicht zu. Es gibt also kein Recht auf Verwahrlosung, Isolation und Selbstschädigung. Spätestens, wenn diese Erscheinungen sich manifestieren, ist die Fürsorge der Gemeinschaft im eigentlichen Sinn notwendig, mindestens so lange bis der Betroffene wieder selbst für sich sorgen kann. Der Grad, in welchem diese Rechte den Alltag bestimmen, ist in jeder gesellschaftlichen Situation unterschiedlich. Unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung ist es aber wichtig, dass die Behinderung nicht zu einer schlechteren Stellung gegenüber anderen Bürgern in der gleichen Situation führt. Strukturen neuer Betreuungsformen Die Orientierung an den Bürgerrechten kann nur zu individuellen Betreuungssettings, die sich an der Lebenswelt jedes Einzelnen orientieren, führen. Supported Living und Selfadvocacy wurden zu den Leitlinien der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen. Daraus leiten sich folgende Betreuungsformen ab:

- Unterstützung pflegender Angehöriger oder Freunde - Persönliche Budgets - Wohnen im eigenen Wohnraum allein oder in kleinen Wohngemeinschaften - Wohngruppen bis zu 10 Bewohnern - Kleinsteinrichtungen mit einer Durchschnittsgröße von 16 Bewohnern - Stadtteilintegrierte „Daycenter“ und „Supported Employment“ an Stelle von

WfB’s Jedes individuelle Setting sollte jeweils die Betreuungsform wählen, die am wenigsten Fremdeinwirkung auf die Lebenswelt der Hilfeempfänger hat. Selfadvocacy-Gruppen beteiligen sich aktiv an der Gestaltung der Unterstützungsformen. Community Care Konzepte und deren Umsetzung Mit der Einführung der am White Paper orientierten Behindertenhilfe konnten bei einer 16%igen Ausweitung der Gesamtkosten nachstehende Erfolge erreicht werden. Dies beweist, 12 Jahre nach der Beendigung des Schließungsprogramms der Großeinrichtung, eine aufwändige Follow up-Untersuchung. Community care

- entwickelte den Betreuungs- und Assistenzansatz „supported Living“ und damit eine stärkere Orientierung an der Lebenswelt der auf Hilfe angewiesenen Menschen

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- führte behinderte Menschen aus Großeinrichtungen zurück in die Gemeinden, aus denen sie stammen

- führte durch advokatorische Begleitung zu einer Aufwertung des

Rechtsstatus’ der behinderten Menschen - baute zusätzliche Behinderung als Folge von Hospitalisierung ab - führte zu dem Erhalt des sozialen Umfeldes trotz Hilfebedarfen, die nicht in

der Familie gedeckt werden konnten durch subjektorientierter Handlungs-ansätze aus denen Unterstützungsprogramme für Familien und wohnortnahe Angebote entstanden.

- stärkte die Durchsetzung der Interessen behinderter Menschen bei

öffentlichen Planungen durch neue Verantwortlichkeiten für die Gemeinwesenarbeit und den Aufbau von regionalen campaining groups

- führte zu verbessertem Verstehen der Lebenswirklichkeiten behinderter

Menschen durch die Aufteilung der Begleitung in die Bereiche Casemanagement und Support

- beteiligte Universitäten an Untersuchungen über die Lebenswirklichkeiten

behinderter Menschen. Diese entwickelten zur Teilhabe am öffentlichen Leben führende Hilfeformen und Maßnahmen. Sponsoren aus der Wirtschaft finanzierten diese Forschungen. Empirische Forschung wirkte gegen Ideologisierung und führte zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der bestehenden Praxis

- erhöhte die Wahlmöglichkeiten und die Passgenauigkeit bei der

Hilfegestaltung durch Trennung von Wohnraumversorgung und Erbringung von modularisierten Hilfemaßnahmen

- erhöhte einfach durch die Präsens der Menschen mit Behinderungen in den

Stadtteilen die Kompetenz der lokalen Versorgungssysteme im Umgang mit behinderten Menschen, für die sie mit der Einführung von Community Care zuständig waren

- führte zu ganz neuen professionellen Formen der Begleitung und Betreuung

behinderter Menschen

- vergrößerte die Teilhabe am öffentlichen Leben und die persönlichen Netzwerke der auf Hilfe angewiesenen Menschen.

- erhöhte die Kompetenz der allgemeinen Bevölkerung im Umgang mit

Behinderungen, die im Alltag mit der Einführung von Community Care auftraten

- bewies, dass behinderte Menschen keine Großeinrichtung außerhalb der

bestehenden Sozialräume für ihre Versorgung benötigen

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Erfolge in Zahlen: - 31%ige Verbesserung der Personalbesetzung - 14%ig verbesserte interne Hilfeplanung - 46%ig reduzierte institutionalisierte Betreuungsform - 19%ige Vergleichbarkeit mit normalen Wohnformen in der Gemeinde - 52%ige Reduzierung der Medikation mit anti-psychotischen Mitteln - 350%iger Anstieg in der Verfügbarkeit eines unabhängigen Advokaten - 7%iger Anstieg der individuellen Wahlmöglichkeiten - 55%iger Anstieg in der Größe der sozialen Netzwerke - 350%iger Anstieg in sozialer Integration - 32%iger Anstieg der Anzahl der Wochenstunden für geplante

Tagesaktivitäten - 134%iger Anstieg in der Anzahl der wahrgenommenen Freizeitangebote und

der Teilnahme an gemeindenahen Aktivitäten - 96%iger Anstieg der Vielfalt der Freizeitmöglichkeiten und der

gemeindenahen Angebote (TIZARD Review 3/2002)

Bei einer Betrachtung der Zahlen fällt auf, dass sich umfangreiche Veränderungen vor allem durch das Verlassen der Anstalten und die Rückführung in das normale Leben ergaben. Die Bereiche, in denen weniger umfangreiche Ergebnisse erzielt werden konnten, benötigen anscheinend tiefgreifendere Veränderungen in den Strukturen, den Methoden, der Personalentwicklung und der gezielten Gemeinwesenarbeit. Vielleicht weisen sie auch auf Bereiche hin, in denen Grenzen nur schwer überschritten werden können. Im April 2003 erschien ein Aufsatz in der TIZARD Review mit dem Titel „Delivering the Valuing People Vision“. In diesem Aufsatz werden die Aufgaben eines Institutes dargestellt, das die Vision von den Grundhaltungen und Werten zum Thema Community Care in die Praxis implementieren soll. Der Autor Rob Graig stellt fest, dass das Verfassen des White Paper verglichen mit der Umsetzung in die Praxis ein Spaziergang in einem Park ist. Das Institut, das mit Mitarbeitern, Einrichtungen und Kostenträgern arbeitet, befasst sich vor allem mit folgenden Themen, die sich nicht automatisch bei Strukturveränderungen ergeben:

1. Klärung von Begriffen und Konzepten 2. Verstehen der Konzepte 3. Gewinnung der Herzen und Köpfe für die Konzepte 4. Bereitschaft für Innovation herstellen 5. Unterstützung der Entwicklung angemessener Leitungsmodelle 6. Entwicklung von Kompetenz 7. Herstellen von Ressourcen 8. Ermutigung, von Erfolg und Irrtum zulernen 9. Erkennen und Auswerten von Fortschritten 10. Feinabstimmung der Vision

Die Ergebnisse zeigen aber deutlich, dass Community Care eine politische und erfolgreiche Entscheidung des Ressourceneinsatzes der siebziger Jahre in England war, die bis heute den Unterschied der sozialen Systeme in Europa prägt und starke Auswirkungen auf die Europapolitik hat. Ob bei der derzeitigen Wirtschaftslage und der demografischen Entwicklung ähnliche Bewegungen in

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Europa initiiert werden können ist fraglich. Im Moment drängt sich eher der Eindruck auf, dass in allen Ländern mit aller Mühe das erhalten wird, was in Zeiten mit besseren Prognosen geschaffen wurde. Es wird deshalb von besonderer Bedeutung sein, herauszufinden, welche Anteile des bürgerrechtlich orientierten Ansatzes eher eine Frage der Grundhaltung als der Finanzierung sind. Die Promotoren der Reformen in Schweden, Kent und Patricia Ericsson, behaupten, dass die Grundhaltungen, die ein Hilfesystem prägen, ausschlaggebend sind und Geld nur den Grad der komfortablen Umsetzung bestimmt. Dies wiederum bedeutet, dass auch in wirtschaftlich schwachen Gesellschaften eine Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen nicht nur nicht notwendig, sondern vor allem nicht gewollt ist. Denn Einrichtungen in diesen Ländern wären verarmte Orte für die besonders Elenden. Ist die Ausgrenzung auch in diesen Ländern keine akzeptierte Alternative im Umgang mit auf Hilfe angewiesenen Menschen, dann muss sich jede Pädagogik von ihren Orten lösen und gemeinsam mit den vorhandenen „natürlichen Helfern“ Orte gestalten, die nicht den Pädagogen „gehören“, sondern Teil des Umfeldes der Hilfebedürftigen sind. Außerdem dürften die professionellen Helfer sich nicht als Vertreter einer Berufsgruppe verstehen, die nur mit Ihresgleichen Teams für die Erbringung von Hilfeleistungen bildet. Vielmehr müssten sie sich als Initiatoren und Organisatoren verstehen, die hilfsbereite und hilfebedürftige Bürger miteinander in einen Prozess der Hilfeleistungen bringen. Diese Prozesse lassen sich am einfachsten in kleinen überschaubaren sozialen Räumen initiieren. Unsere Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass wir weder ein für heilpädagogische Sonderwelten auskömmliche Refinanzierungen erhalten, noch in wirklicher Not leben. In dieser Situation kann es nicht darum gehen, in voreiligem Gehorsam schon einmal die Not zu üben und damit Menschen mit Behinderungen bzw. die sich von der Pflege entlastenden Angehörigen, schlechter zu stellen als die allgemeine Bevölkerung - noch wird es ausreichen, den quantitativen und qualitativen Mangel an Personal zu beklagen. Auf jeden Fall können wir Schritte einleiten, die die Teilhabe des Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft nicht nur von der jeweiligen Entwicklung des Bruttosozialproduktes abhängig machen. Diese wären:

- Abschaffung von Großeinrichtungen und aller anderen Einrichtungen, die sich auf Grund ihrer Größe und Konzepte nicht in die gemeindenahe Versorgung integrieren lassen.

- Öffnung der kleineren Einrichtungen für die Netzwerke und das soziale Umfeld

- Herstellung von Nachbarschaft - Strukturen gegen Isolation durch Angliederung von individuellen

Betreuungsformen in überschaubaren kleinen Zentren, in denen man die jeweils erforderliche Hilfe bekommt. Dies geht bis hin zu einem Schlafplatz in diesem Sicherheit vermittelnden Zentrum, wo man sich von zeitweiligen Überforderungen ausruhen kann

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- Aktionen gegen Isolation durch organisierte Möglichkeiten der Gemeinschaftserfahrungen, die so nachhaltig sind, dass sie in den Alltag hineinwirken

- Aufbrechen der Pädagogisierung der Lebenswelten durch die Ermöglichung der maximalen Mitwirkung hilfsbereiter Menschen unabhängig von ihrer Ausbildung

- Ermöglichung der maximalen Mitwirkung der gemeinsam lebenden Hilfsbedürftigen in kleinen überschaubaren Häuslichkeiten

- Aufklärung der Gesellschaft, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Bedürfnisse haben und so leben wollen wie Menschen ohne Behinderungen

- Aufbau von regionalen Versorgungsverbünden mit Pflichtversorgung - Maximale Flexibilisierung der Strukturen durch entsprechende

Arbeitsverträge, Professionalisierung des Managements und vielseitig verwendbare Immobilien

Eine Vorrangstellung des bürgerrechtlichen Paradigmas vor dem heilpädagogischen führt jenseits von modernen Dienstleistungszentren mit qualitätsgesicherten Technologien und Produkten zu weniger formalisierten Hilfen. Vielleicht führen folgende Fragestellungen auf die Spur neuer Lösungen im Verhältnis des bürgerrechtlichen zum heilpädagogischen Paradigma.

- Wie leben eigentlich die 80% der Menschen mit Behinderungen, die nicht in Heimen wohnen?

- Wie können sie ihre Rechte und vor allen Dingen das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft umsetzen?

- Welche Gründe führen zum Verlassen des eigenen Umfeldes und zur Heimunterbringung?

- Warum ist das Heim in solchen Fällen die einzige Alternative? - Warum wird durch effektive Prophylaxen im Kindesalter herausforderndes

Verhalten nicht vermieden bzw. gemindert? - Warum werden sozialraumorientierte Hilfen nicht zur Vermeidung von teuren

und oft fremdbestimmenden individuellen Hilfen eingesetzt? Grenzen der Integration von Menschen mit Behinderungen nach Einführung von Community Care Community Care unterstellte eine hohe Inklusionsbereitschaft der Gesellschaft und eine hohe Entwicklungsfähigkeit der behinderten Menschen, auch der schwerst behinderten. Die Follow up-Untersuchung und der Erfahrungsaustausch in England weisen aber auch auf Grenzen hin, die sich auch in Amerika mit vergleichbaren Ansätzen zeigten. Diese sind:

1. Institutionen nach Einführung von Community Care haben weiterhin eine bedeutende, wenn auch veränderte Funktion. Freigewerbliche Anbieter betreiben kleinere Einrichtungen für Menschen mit herausforderndem Verhalten. Village Communities werden von Eltern stark nachgefragt

2. Erschwerte Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit hohen Lebensrisiken

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3. Erhöhung der Isolation behinderter Menschen im eigenen Wohnraum gegenüber einem Leben im Heim bei schlecht ausgestatteten ambulanten Diensten Überschätzung von Selbstbestimmung führt zu Isolation, Unterversorgung, Verwahrlosung, Kriminalisierung und abnehmender Lebenserwartung.

4. Implementationsschwierigkeiten von individuellen Hilfeplanungen in die alltägliche Umsetzung der Hilfen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft bestimmen die Realität.

5. Neue Gefährdungen entstehen für geistig behinderte Menschen, die, aus

welchen Gründen auch immer, als entwicklungsfähiger eingeschätzt werden, als sie es tatsächlich sind. Bei dieser falschen Unterstellung negieren einzelne Menschen und die gesamte Gesellschaft ihre moralische Verpflichtung, eine fördernde, beschützende und sogar führende Rolle für diejenigen zu übernehmen, deren Kompetenz so stark vermindert ist, dass sie sich selbst oder der Gesellschaft Schaden zufügen könnten (Siehe Diagramm über relative Rehabilitationserfolge bei einer Untersuchungsgruppe schwer geistig behinderter Menschen, ).

6. Grenzen der Inklusionsbereitschaft der Gesellschaft wurden deutlich. Die Organisation der Teilhabe behinderter Menschen bleibt ein Balanceakt zwischen individueller Begleitung bei der Erfüllung von Inklusionsbedingungen und Minimierung von entmutigenden Exklusionserfahrungen sowie einer menschenwürdigen und überprüfbaren Exklusionsverwaltung. ( entsprechend Maßnahmen nach dem StGB § 63 u.ö.)

7. Nutzerorientierung ist gefährdet, zu einem Legitimationsmodell für Gruppierungen und Institutionen zu werden, die eigene Interessen als nutzerorientiert interpretieren.

Eine Weiterentwicklung der Qualität will man in England vor allem durch eine optimale Gestaltung des Preis-Leistungs-Verhältnisses herbeiführen. Menschen mit Behinderungen sollen mit Hilfe von Assistenz aus einem vielfältigen Angebot die Leistungen auswählen, die sie benötigen. Weiterhin sollen Qualitätsverbesserungen durch Personalentwicklungen erreicht werden. Nach einer Analyse des Tizard Center ( Tizard Review, Okt. 2001) der Universität Canterbury spielen

25,1

18,3

7,36,2

0

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30

initial heute

Dauer der Reha x = 6,8 Jahre

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biologisches Alter soziales Alter

(Detlef Boie, Klaus Volke: Mitarbeitermotivation und Personalentwicklung während der psycchosozialen Rehabilitation)

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Community Care als Antwort 09/10/03 16

gewinnorientierte Unternehmungen in der Vielfalt der Anbieter eine problematische Rolle. Sie erreichen gute Gewinne bei marktgängigen Preisen, weil sie sich auf eine eng definierte Klientel konzentrieren, die sich an das von ihnen angebotene Produkt anpassen kann. Ein ähnlicher Effekt kann aber auch bei gemeinnützigen Trägern auftreten, wenn die Steuerung durch die Kostenträger ausschließlich über den Preis erfolgt. Verlierer dieser Steuerung sind dann die Menschen, deren individueller Hilfebedarf nicht in die Palette der zwischen Sozialhilfe und Einrichtungsträgern verhandelten Produkte passt. Zu diesen Verlierern gehören viele. Denn die Menschen mit Behinderungen, die nach einer Eingruppierung nach dem Ausmaß des Hilfebedarfs in die Hilfebedarfsgruppen 1 und 2 eingeordnet wurden, benötigen auf jeden Fall eine Hilfe zwischen den derzeitigen stationären und ambulanten „Produkten“. Also individuelle Settings nach englischem und schwedischem Vorbild!

Konsequenzen des internationalen Fachaustausches für die Behindertenhilfe in Deutschland Community Care, das Paradigma der Behindertenhilfe in England, ist, genau wie das Paradigma Normalisierung in Dänemark und Schweden, ein Modell, das innovative Auswirkungen auf unser Denken und Handeln in Hamburg haben kann. Die wesentliche Konsequenz einer bürgerrechtlich orientierten Behindertenhilfe ist, dass heilpädagogische Hilfen nicht beliebig eingesetzt werden. Sie müssen garantierten Rechten und einer damit verbundenen individuellen Hilfeplanung folgen. Alle, die sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, wissen, dass ein Direktimport ohne folgende Szenarien nicht durchführbar ist:

„Ein erstes Ereignis wäre es, wenn der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg sich verbindlich darauf festlegen würde, dass...kein Mensch mit Behinderung unabhängig von der Art und Schwere seiner Behinderung mehr außerhalb der Freien und Hansestadt Hamburg - es sei denn, hier handelte es sich um seinen ausdrücklichen Willen – untergebracht wird. Das zweite Ereignis steht damit in unmittelbarem Zusammenhang. Gleichzeitig entscheidet der Senat, dass alle Menschen mit Behinderungen, die außerhalb Hamburgs untergebracht sind, wieder nach Hamburg also in ihr eigentliches Wohnumfeld zurückgeholt werden. Es sei denn der ausdrückliche Wille wäre ein anderer. Das dritte Ereignis ist ebenfalls damit verknüpfbar. Der Senat entscheidet ebenfalls, dass das vorhandene Platzangebot in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe in Hamburg auf dem derzeitigem Stand eingefroren wird. Das vierte Ereignis folgt unmittelbar daraus. Für alle Menschen, die unabhängig von der Art und Schwere von außerhalb Hamburgs wieder nach Hamburg zurückkehren, bedarf es umfassender angemessener und professioneller ambulanter Hilfen und Assistenzen in den jeweiligen Wohnquartieren. Als fünftes Ereignis beschließt der Senat zur gleichen Zeit, dass jede im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus errichtete Wohnung nur noch ein behindertengerechte bzw. eine für einen leichten nachträglichen Umbau

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geeignete Wohnung sein darf. Damit stellt er die Weichen für ein Leben in nachbarschaftlichen Bezügen in unserem Gemeinwesen. Als sechstes Ereignis beschließt der Senat ein sog. Bettenabbauprogramm für alle Einrichtungen der stationären Eingliederungshilfe abhängig von ihrer jeweiligen institutionellen Größe. Ziel dieses Programms ist es, alle stationären Angebote der Behindertenhilfe, in denen mehr als 8 bis 10 Menschen leben, abzuschaffen. Nicht geschützt von diesem Beschluss sind auch ausdrücklich sog. binnendifferenzierte Einrichtungen. Als siebtes Ereignis beschließt der Senat ein umfangreiches Unterstützungsprogramm ...in den Sektoren Ausbildung, berufliche Qualifikation, infrastrukturelle Maßnahmen in den Regionen und Zugänglichkeit sämtlicher öffentlicher Bereiche. Als achtes Ereignis werden regionale Initiativen der partnerschaftlichen sozialen Arbeit ins Leben gerufen und gefördert. Der Senat beschließt hier mit der Freien Wohlfahrtspflege ein umfangreiches Aktionsbündnis, das...eine völlige Veränderung der strukturellen regionalen Versorgung hin zum Paradigmenwechsel der partnerschaftlichen Solidarität zum Ziel hat. Als neuntes Ereignis schließen die Freie Wohlfahrtspflege, der Senat und die Gewerkschaften einen Vertrag, der den Umbau des Hilfesystems für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vertraglich absichert und zukunftsweisende Elemente der beruflichen Qualifizierung, der tarifvertraglichen Absicherung und des Einsatzes von Arbeitszeit enthält. Das zehnte Ereignis besteht darin, dass der Senat seine Entscheidungsbefugnis im Rahmen der materiellen Ressourcen der Eingliederungshilfe an den neu gegründeten Rat der Menschen mit Behinderungen stufenweise ...abtritt und nur noch ein haushaltsrechtliches Vetorecht zurückbehält. Dieser Rat als Ausdruck struktureller Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen wird gesetzlich verankert und erhält weit reichende Interventionsbefugnisse in allen öffentlichen Sektoren, soweit es um die Belange von Menschen mit Behinderung geht... (Karl Stengler in :“ Gerlef Gleiss März 2001 Wie werde ich die Anstalt los?“ )

In Deutschland fehlt uns das weit verbreitete Interesse der Öffentlichkeit an diesen und den aufgezeigten Entwicklungen. In Schweden ist die breite Öffentlichkeit zum Beispiel daran interessiert, behinderte Menschen erst einmal als schwedische Bürger mit allen Rechten und erst zweitrangig als Menschen mit besonderen Behinderungen, die individuelle Unterstützungsbedarfe haben, zu akzeptieren. Weiterhin fehlt uns ein wie in England durchgeführtes Schließungsprogramm von Heimen und Werkstätten und damit die Umlenkung finanzieller Ressourcen vom stationären in den ambulanten Sektor und der Ausbau kommunaler Verantwortung. Sowohl in England als auch in Schweden werden pro Menschen mit Behinderung mehr Finanzmittel ausgegeben als in Deutschland. Diese Ressourcen sind Voraussetzungen, um Strukturen zu ermöglichen und zu sichern, die zu erheblich verbesserter Integration führen.

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Community Care als Antwort 09/10/03 18

In Deutschland sind wir mit einer Hilfelandschaft konfrontiert, die zu 95% aus stationären Hilfen besteht. Gleichzeitig vertritt das Bundessozialhilfegesetz den Grundsatz ambulant vor stationär. Dieser Grundsatz wird aufgrund von Zuständigkeitsregelungen der Kostenträger, Besitzstandswahrungen von Großeinrichtungen, mangelhaften Ressourcen für individuelle Hilfen und der Angst der Kostenträger vor Marktausweitungen nicht umgesetzt. Vor dem Hintergrund einer problematischen demografischen Bevölkerungsentwicklung, in der immer weniger Steuerzahler für immer mehr Hilfsbedürftige aufkommen müssen und in der leere öffentliche Kassen vielen reichen Privathaushalten gegenüber stehen, müssen wir in Deutschland unseren eigenen Weg zu einer möglichst qualitativen Behindertenhilfe finden. In dem zusammenwachsenden Europa ist die Grundlage dieser Qualität die Umsetzung der Menschenrechte vor allem in Form von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetzen und einer an diesen Gesetzen orientierten Praxis. Diese Praxis muss sich an den eingangs beschriebenen Rechten orientieren und in folgenden Bereichen ihre Leistungen ständig überprüfen:

• Ausmaß erforderlicher Assistenz • individuelle Hilfeplanung • Vergleichbarkeit mit normalen Wohnformen • Verfügbarkeit unabhängiger Advokaten • Wahlmöglichkeiten in relevanten Bereichen • Größe der sozialen Netzwerke • Umfang der geplanten und durchgeführten Freizeit- und Kulturprogramme • Umfang der Teilhabe an öffentlichen Aktivitäten • festgestellter Missbrauch • Gesundheitsfürsorge • gesunde und ausreichende Ernährung • Wahrgenommenes Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl

Kommt man nach einem internationalem Vergleich zu dem Schluss, dass uns in Deutschland politische Grundlagen für Paradigmaveränderungen in Richtung Community Care fehlen, sollte man längst überfällige Dezentralisierungsprozesse und rein zahlenmäßig unbedeutende Maßnahmen im ambulanten Bereich nicht mit einer Variante von Community Care etikettieren. Mit dieser zweifelhaften Etikettierung verlieren wegweisende Entwicklungen in anderen Ländern ihre Bedeutung und können durch diese Vereinnahmung uns nicht mehr als ein hoch interessanter Spiegel unserer eigenen Praxis dienen. Das folgende Schaubild veranschaulicht die unterschiedlichen Faktoren in den Prozessen Community Care und Heimreform (Schaubild 1). Das dieser Veranschaulichung folgende Schaubild (3) weist auf die Bedeutung von Commitment als eine durch Synergie erzeugte Schubkraft für einen Veränderungsprozess hin. Commitment ist eine Grundhaltung, eine Tugend, die Selbstverpflichtung, Disziplin und Engagement umfasst. Gibt es in Deutschland auch kein gemeinsam geteiltes Commitment zu einem konkreten Veränderungsprozess, so geben die Gesetze doch eindeutig die unbeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an dem Leben in der Gemeinschaft als Ziel der Rehabilitation vor. Gesetzeswille und Praxis fallen nach der Reform

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Community Care als Antwort 09/10/03 19

bestehender Gesetze und der Diskussion um Gleichstellung und Antidiskriminierung immer mehr auseinander. Die Schaubilder 3 bis 7 zeigen die Herausforderungen einer innovativen Praxis an die Nutzer und die Institutionen der Behindertenhilfe. In Deutschland sind es vor allem die großen Einrichtungen, die Veränderungen in der Praxis durch die definitorische Kraft des Faktischen in Gang setzen. Von diesen praxisgestaltenden Einrichtungen und ihren Verbänden kann eine nicht zu unterschätzenden Schubkraft für die Innovation ausgehen. Angesichts der Gefahr einer zu schnellen Anpassung an europäische progressive Vorstellungen, sollten zentrale Strukturen bestimmende Begriffe wie z.B. „Ambulante Hilfen“ eine Definition erhalten. Diese muss eindeutigen Qualitätskriterien standhalten. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, mit erzwungener Ambulantisierung Strukturen, die ihrem Wesen und ihrer Dynamik nach stationäre Merkmale tragen, nur „umzupacken“ ; ohne sie wirklich zu verändern. Dabei spart man sich das aufwändige hospital closure programme und folgt einer Politik, die anscheinend Qualität erzeugen will, aber ausschließlich über den Preis steuert. Die wegfallende Mitwirkung, u.a. durch das Heimgesetz, würde aber die Rechte der Nutzer solcher Angebote erheblich schwächen und die Transparenz sowie die Unterscheidbarkeit der Angebote verloren gehen lassen. Außerdem würde einem Schwarz-Weiß-Denken das Wort geredet: „Ambulant ist immer gut und Heim ist immer schlecht“. Die Menschen, die auf ein hoch strukturiertes Hilfesetting angewiesen sind, das so klein wie möglich ist, aber unter den Schutz des Heimgesetzes fällt, werden von solchen sich selbst konzeptionell begrenzenden Systemen gemieden. Diese Systeme laufen Gefahr, damit klinische Angebote, die sie eigentlich überwinden wollen, zu stärken.

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Community Care als Antwort 20

These: Aus Gründen der klaren Unterscheidbarkeit sollten die Begriffe Community Care und Heimreform auseinander gehalten werden. Die Heimreform kann viel von Community Care lernen und Community Care kann auf Grund der Grenze von Finanzierbarkeit und Individualisierung für einen Teil der Menschen mit

Behinderung auf reformierte Heimformen angewiesen sein.

Schließung von

Großeinrichtungen

Teildezentralisierung einer Großeinrichtung

in beliebig große dezentrale

Einrichtungen

Rückführungs- programme in

Herkunftsgemeinde

Wohnort in Ab- hängigkeit zum

Immobilienmarkt und Eigentum

Aufbau ambulanter Dienste

mit den aus der Schließung frei

werdenden Finanzen

Stationäre Dienst- leistungen (97%)

Ambulante Dienst- leistungen (3%)

Mietverhältnis mit Wohnungsbau- genossenschaft oder

priv. Vermieter Status: Mieter

Heimvertrag in Einrichtungen

Status: Heimbewohner

Arbeit in nomalen Betrieben od.

kleinen Projekten Status: Kollege

Arbeit in großen WfB`s mit Ausnahme Eines Arbeitsprojektes

Status: Betreuter

Bildungsprogramme

für die Gesellschaft und ihre

Institutionen Einbeziehung der Gesellschaft, ihrer

Institutionen erfolgt, wenn überhaupt,

fallbezogen

Dienstleistung nach Wahl des

Hilfeempfängers (od. seines Vertreters)

Mitwirkung der Bewohner

nach Heimgesetz

COMMUNITY

CARE

HEIM- REFORM

Die unterschiedlichen Strukturelemente von Community Care und Heimreform

Schaubild 1

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Community Care als Antwort 22

Commitment* als Voraussetzung von Synergie

Not committed

Committed

Nutzer Nach ihren Vorstellungen teilhaben Zuwendung

Einrichtungen u. Verbände Möglichst hohen Preis für etablierte Dienstleistungen Planungssicherheit

Familien größtmögliche Entlastung und Minimierung von Risiken bei gleichzeitiger Normalisierung der Betreuungsformen

Mitarbeiter Abgesicherte Beschäftigung

Gesellschaft Entlastung von Störungen

Kostenträger Politisch und fachlich anerkannte Konzepte mit gedeckelten Budgets

Traditionelle Ressourcen-verteilung

Neue Ressourcen-verteilung nach gesetzlich geregelter Neuorientierung

Commitment Gesellschaft, Kostenträger, Dienstleister, Mitarbeiter, Nutzer, Familien

Ressourcen: Geld, Beziehungen, Immobilien, Personal, Erfahrung, Wissen

* Commitment: Verpflichtung und Engagement gegenüber einem gemeinsamen Ziel

Schaubild 2

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Community Care als Antwort 23

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3

5

die notwendige Hilfen zuverlässig und transparent sowie bedarfsgerecht finanzieren

die vorhandene Ressourcen effizient aufteilen aufniederschwellige Angebote im Sozialraum und auf personenbezogene Hilfen

deren Personal kompetent ist und Verantwortung auf der Grundlage von Gleichstellung, Antidiskriminierung und Teilhabe wahrnimmt

die Rechtssicherheit verschaffen und Krisen, die durch Kostenverschiebungen entstehen, vermeiden

M enschen mit Behinderung

nehm en an der Gem einschaft teil

und werden als Individuen akzeptiert

Schaubild 3

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Community Care als Antwort 24

Schaubild 4

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3

3

in der nach der Phase der extremen Individualisierung auf Grund großen Wohlstandes ein neues Verhältnis zu Gemeinschaft und den damit zusammenhängenden Verpflichtungen entsteht

die durch Kontakt mit Menschen, die anders als sie selbst erscheinen, lernen, mit Fremdem um zugehen

Menschen mit Behinderung

nehmen an der Gemeinschaft teil

und werden als Individuen akzeptiert

in der gemeinnützige Vereine Menschen mit BehinderungenniedrigschwelligenZugang verschaffen

deren Kirchen sich in besonderer Weise für die Gleichheit aller Menschen einsetzen

deren Institutionen mit den besonderen Bedürfnissen behinderter Menschen umgehen können

in der Familien mit behinderten Angehörigen durch gute Arbeitsteilung mit Hilfsorganisationen wohnort-fremde Unterbringung vermeiden

in deren Schulen, alle Schüler in Kontakt mit behinderten Menschen kommen und Vorurteile im Kindes-alter abbauen sowie Kompetenzen im Umgang mit behinderten Menschen aufbauen

in der die Spannbreite von hoher Leistungsfähigkeit bis extremer Angewiesenheit auf den Mitbürger als Realität des Menschseins akzeptiert wird

die auf teure und aussondernde Großeinrichtungen immer mehr verzichten

deren Gesetze durch Strukturen Rechtssicherheit und Teilhabe ermöglichen

in der Bürger leicht verletzbare und von Missbrauch besonders bedrohte Mitbürger schützen

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Community Care als Antwort 25

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6

Sind im Kern straff organisiert und an den Rändern hochgradig kooperationsfähig

beteiligen Betreute am Qualitätsmanagement

identifizieren und nutzen alle vorhandenen Angebote und Unterstützungs-möglichkeiten

Dezentralisieren, regionalisieren und flexibilisieren Angebotsstrukturen

überprüfen ihre Abläufe ständig auf Mitwirkung

Menschen mit Behinderung

nehmen an der Gemeinschaft teil

und werden als Individuen akzeptiert

setzen Personal flexibel ein

ermöglichen das gewünschte Maß an Individualität und Gemeinschaft

Suchen für die Hilfeempfänger ständig bedeutungsvolle Aktivitäten in wichtigen sozialen Bereichen

verzichten auf Patentrezepte wie z.B. Individualisierung

organisieren ihre Beteiligungsformenniederschwellig

öffnen ihre Angebote in den Sozialraum und verlieren damit ihren Heimcharakter

beteiligen aktiv Verwandte und Freunde der Hilfeempfänger in den Netzwerken der Hilfe.

vernetzen ihre Angebote mit denen anderer Anbieter

verfügen über Leitbild, das zu maximaler Inklusion verpflichtet

Schaubild 5

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Community Care als Antwort 26

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7

kompensieren Kommunikationseinschränkungen

vermeiden Überbetreuung

Erreichen maximale Inklusion

begegnen den individuellen Lebenswelten mit Respekt, Empathie, Engagement

wenden vielfältige Methoden fürEmpowerment an

vergewissern sich permanent, welche lebensweltlichen Vorstellungen der Hilfeempfänger hat

fördern die individuelle und kollektive Identität ihrer Betreuten

fördern Selbstständigkeit durch Strukturen im Alltag

finden kreative und, wenn nötig, unkonventionelle Problemlösungen

wachsen an ihren beruflichen Herausforderungen

stellen ein angemessenes Nähe-u. Distanzverhältnis als Dienstleister her

hören zu und nehmen die Aussagen der von ihnen betreuten Menschen ernst

achten und fördern die Selbstinterpretationen und die Selbstbestimmung der Hilfeempfänger

Menschen mit Behinderung

nehmen an der Gemeinschaft teil

und werden als Individuen akzeptiert

vermeiden die vorschnelle moralische Bewertung der Meinung der Betreuten

sehen die Kooperation mit Angehörigen, Freiwilligen und Nachbarn als selbstverständliche Voraussetzung einer vernetzten Hilfe

überprüfen realistisch, ob das, was der behinderte Mensch bekommt, auch wirklich von ihm gewollt und gebraucht wird

lassen Menschen mit Behinderungen, wenn möglich, in ihren Teams mitarbeiten

zeigen den Hilfeempfängern Wahlmöglichkeiten bei wichtigen Entscheidungen auf und versetzen sie damit in die Lage, eindeutig ja oder nein zu sagen

Schaubild 6

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Community Care als Antwort 27

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M enschen m it Behinderung

nehm en an der Gem einschaft teil

und werden als Individuen akzeptiert

Nutzer kom mt seiner M itwirkungspflicht am Reha-Prozess aktiv nach

Nutzer lässt sich im sicheren Rahmen durch neue Erwartungen und ihm unterstellte Kompetenzen zu mehr Selbstständigkeit herausfordern

W ohneinrichtungen werden von Familien .nicht als Heim sondern als W ohnung ihres K indes gesehen, in der sie sich entsprechend verhalten

Entscheidung für eine Unterbringung in der Region

Familie entscheidet sich für flexible und ambulant betreute W ohngemeinschaften , wenn dies behinderungsbedingt möglich ist

Familien beteiligen sich an sozialen E inrichtungen, unterstützen durch M itwirkung und Ideen, beseitigen Schwächen durch konstruktive Kritik

CC Bedürfnisse sind gleich

Schaubild 7

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Community Care als Antwort 28

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Community Care als Antwort 29

Anstöße für die Praxis in der Behindertenhilfe des Rauhen Hause Folgende Ergebnisse erzielten wir durch den Modellversuch „Individualisierung der Behindertenhilfe“, der in starker Anlehnung an den Fachaustausch mit englischen Kooperationspartnern 1996/97 im Rauhen Haus durchgeführt wurde:

• Die Orientierung an den englischen und schwedischen Paradigmen führte in unserer Behindertenhilfe dazu, dass wir mehr Menschen ambulant als stationär betreuen.

• Die selbst gesetzte Mindestquote von einem 10%igen Anteil von Menschen mit erheblichem herausforderndem Verhalten in unseren Betreuungen überschritten wir um 200%.

• Kein Bewohner mit geringem Hilfebedarf(Hilfebedarfsgruppe 1 nach Metzler) lebt noch in einem Heim.

• Die Bewohner, die unter stationären Refinanzierungsbedingungen in dezentralen Wohnformen leben, teilen sich jeweils zu zweit bis zu sechst eine Häuslichkeit, in der sie über ein eigenes Zimmer verfügen.

• Jeder Bewohner hat einen von der Alltagsbegleitung unabhängigen Prozessbegleiter zur Seite , der die lebensweltlichen Vorstellungen des Menschen mit Behinderung herausfindet und zur Grundlage der Hilfeplanung und Evaluation macht

• Die Hilfeplanungen erfolgen in Betreuungskonferenzen mit dem Bewohner und seinen Angehörigen. Hierzu haben wir uns seit 1996 selbst verpflichtet.

• Für jeden Bewohner gibt es eine für ihn transparente und für die Mitarbeiter verbindliche Tages und Wochenplanung.

• Die Heimbeiräte werden von unabhängigen Moderatoren unterstützt. • Der Wechsel von stationärer zu ambulanter Betreuung ist auf Grund eines

differenzierten ambulanten Angebots so niederschwellig, wie es unter den bestehenden Globalrichtlinien möglich ist.

• Das Qualitätsmanagement ist unabhängig von der Heimleitung und bezieht Nutzer mit ein.

• Die individuelle Arbeitsbegleitung des Rauhen Hauses, die sich an dem Paradigma Supported Employment orientiert, wird von behinderten Menschen stark nachgefragt und ist somit eine Alternative zu einer Werkstatt für behinderte Menschen.

• Die Einbeziehung der Ressourcen aus dem Sozialraum in diese Planung gewinnt immer mehr Einfluss. Dies fördert die Kooperation zwischen ambulanten und stationären Maßnahmen und die Einbeziehung aller örtlichen Träger und Veranstalter in die Hilfegestaltung. Dieses horizontale Planen und das Ausschöpfen von formellen und informell verfügbaren Ressourcen ist auf Grund der starken stationären Prägung der Hilfelandschaft (vertikales Planen) eine neue Herausforderung für die verantwortlichen Planer. Die mit diesem Ansatz verbundenen Veränderungen der Berufsrollen sind auf einen längerfristigen Prozess angelegt. Deshalb geht diese Entwicklung langsam, aber stetig voran.

• Menschen mit Behinderungen und ihre Unterstützer organisieren an den Bedürfnissen der Nutzer orientierte regionale Kultur und Freizeitreffs.

• In der Aktion „Türen öffnen“ unterstützen Freiwillige Menschen mit Behinderungen, ihre Freizeit in der Stadt zu gestalten.

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Community Care als Antwort 30

• Für Menschen mit erworbenen Hirnschäden steht ein spezielles Leistungsangebot zur Verfügung, dass ein Verbleiben im gewohnten Umfeld wenn immer möglich gewährleistet.

Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge

Im Rauhen Haus blicken wir, wie in ganz Deutschland, auf eine lange heilpädagogische Tradition zurück. Diese wehrte das medizinische Paradigma mit allen seinen klinischen Folgeerscheinungen erfolgreich ab. Es führte zu einem hohen professionellen Standard aber auch zur Kolonisierung der Lebenswelten der Menschen mit Behinderungen in Sondereinrichtungen. Das Lernen aus den Erfahrungen in England, die durch bürgerrechtliche Bewegungen entstanden, kann zu einer Herausforderung der heilpädagogischen Tradition führen. Dies wird für die Praxis entscheidende Folgen haben, wenn der Blick aus der Position der Bürgerrechte auf das tradierte heilpädagogische System von außen an Bedeutung gewinnt. Geschieht dies nicht in relativ radikaler Weise, wird man immer wieder erstaunt sein, was die Pädagogik alles integrieren kann, ohne das Verhältnis zwischen Hilfeempfängern und Helfern sowie Hilfeempfängern und Institution wirklich grundlegend zu verändern. Mit einem realistischen Blick auf die vorhandenen Ressourcen und deren Verteilung verbunden mit der Hoffnung, durch verbesserte Netzwerk- und Sozialraum-orientierung die Praxis zu verbessern, finden wir unseren eigenen Weg, die heilpädagogisch geprägte Hilfelandschaft kritisch zu überprüfen. In diesem Prozess müssen notwendige Veränderungen vorgenommen sowie Bewährtes entdeckt und weiterentwickelt werden. Vorhandenes und Neues muss daraufhin überprüft werden, ob es auch ohne die notwendigen politischen Entscheidungen zur Stärkung gemeindenaher Strukturen (Community Care) zu einer Erweiterung der Inklusionsbereitschaft einer Gemeinde oder Gemeinschaft (Caring Community) führt. In diesen Prozessen werden wir immer wieder mit der Erfahrung konfrontiert, dass die Qualität der Hilfeleistungen im Bereich der Behindertenhilfe in dem schwierigen Balanceakt zwischen individueller Freiheit und Selbstbestimmung auf der einen sowie behinderungsbedingter Angewiesenheit, Geborgenheit und Schutz auf der anderen Seite entsteht. Dabei darf die Zubilligung der Selbstbestimmung der Menschen mit augenscheinlichen Schwächen nicht die Fürsorglichkeit einer Gesellschaft, auf die diese Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen angewiesen sind, vermindern. Dieses gegen den Augenschein aufzubauende gleichberechtigte Verhältnis eines Hilfeleistenden zu einem auf Hilfe angewiesenen Menschen ist eine anspruchsvolle Übung im Umgang zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen. In diesen Augenblicken der Begegnung geschieht Inklusion oder Exklusion. Diese Erlebnisse prägen die Erfahrungen der behinderten Menschen und wirken je nach dem er- oder entmutigend. Diese Übung erleichtert man sich, wenn alle an ihr Beteiligten sich klar darüber sind, dass Selbstbestimmung und Fürsorge als Selbstzweck keinen Wert haben. Sie führen für sich alleingenommen in Anbetracht unserer individuellen Begrenzungen nur zu Zynismus oder Entmutigung. Zynisch ist, wenn jeder für sein Glück bzw. Unglück ausschließlich allein verantwortlich gemacht wird und entmutigt werden Menschen, die zum Objekt der Fürsorge werden.

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Community Care als Antwort 31

Selbstbestimmung und Fürsorge müssen, und hierauf weist Klaus Dörner immer wieder hin, dem Ziel dienen, dass jeder Mensch einen Platz in einem Gemeinwesen bekommt, an dem er für andere wichtig ist. Dörner sieht die Gefahr, Teilhabe nur immer im Sinne des stillen Teilhabers zu realisieren. Er betont das vitale Bedürfnis jedes Menschen, von einem anderen gebraucht zu werden. Mit dem Gefühl, wirklich gebraucht zu werden, kann ein Selbstwertgefühl entwickelt werden. Die Weltgesundheitsorganisation definiert in der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) Teilhabe als „Eingliederung, als das Einbezogensein, die Teilnahme und den Zugang sowie Findung von Anerkennung in den Bereichen:

- der persönlichen Selbstversorgung - der Mobilität,

und Beteiligung an - Informationsaustausch, - sozialen Beziehungen, - häuslichem Leben und an der Hilfe für andere, - Bildung und Ausbildung, - Erwerbsarbeit und Beschäftigung, - Wirtschaftsleben, - Gemeinschaft, - sozialem und staatsbürgerlichen Leben.

„Teilhabe an der Gesellschaft meint besonders auch die Ausübung der üblichen sozialen Rollen“ (Schuntermann 2002) Diese Definitionen sind Voraussetzung von Empowerment und sich ausweitender Teilhabe. Diesen Platz im Gemeinwesen kann sich der Mensch mit Behinderungen je nach seinen Kompetenzen selbstbestimmt suchen und gestalten oder aber auch gestaltet bekommen. Je nach individueller Angewiesenheit benötigt er Fürsorgeleistungen in Form von Ermutigung, Zuwendung, praktischer Unterstützung, Mobilitätshilfe, Begleitung, Anleitung, Organisationshilfe und vieles mehr. Vor allen Dingen braucht er aber auch Unterstützung von Menschen,

- die sein Ziel nicht aus den Augen verlieren - die sein Ziel nicht mit ihren eigenen verwechseln, - für die ihre Hilfeleistung nicht zum Selbstzweck wird, egal ob sie diese mit

Selbstbestimmung oder mit Fürsorge legitimieren. Wenn wir selbst unsere eigene Angewiesenheit auf die Zubilligung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten und Fürsorge erkennen, verlassen wir im vollen Bewusstsein die Dichotomie von Selbstbestimmung und Fürsorge (Schaubild 8). Wir beteiligen uns an der Suche nach dem individuell angemessenen Maß von selbstbestimmter Verantwortung eines jeden für sein Handeln und an der notwendigen Fürsorge, die ihn wie uns alle auf den Anderen angewiesen macht. Besonderer Beachtung bedürfen in diesem Zusammenhang Betreuungssettings, in denen Menschen mit folgenden Behinderungen und Assistenzbedarfen unterstützt werden: Starke geistige Behinderung Kommunikationsprobleme, die zu tiefgreifenden Verständigungsschwierigkeiten mit anderen führen Unfähigkeit, sich selbst aktiv oder passiv an den Geschehnissen der Umgebung zu beteiligen Angewiesenheit auf Assistenz von Betreuern in allen Lebensbereichen, die Teilhabe-relevant sind Beendigung von Aktivitäten bei Rückzug des Betreuers

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Community Care als Antwort 32

In der Studie „Improving the quality of life of adults with more severe learning disabilities “ (TIZARD Review, April 2003) wurde die Teilhabe von 51 Bewohnern, die in 13 Häusern leben, an den Geschehnissen in ihrer Umgebung untersucht. Die wesentlichen Ergebnisse sind folgende:

• Die zweite Generation des Betreuungspersonals in den stadtteilintegrierten Betreuungssettings war für eine Reduktion der Qualität in der Interaktion von Betreuern und Bewohnern verantwortlich.

• Jede Reduktion der Menge und der Ausbildung des Personals wirkte sich negativ auf die Teilhabe von Menschen mit starken Behinderungen aus.

• Die Teilhabe war in den Einrichtungen am größten, in denen die Betreuer mehr Fähigkeiten besaßen, die Bewohner zu aktivieren.

• Die Mischung von mehr oder weniger stark geistig behinderten Menschen wirkte sich positiv auf die Teilhabe der schwer geistig behinderten Menschen aus.

• In Settings, in denen ein Bewohner besonders herausforderndes Verhalten zeigt, verringert sich die Teilhabe der Mitbewohner auf Grund von Rückzug.

• Einrichtungen mit größeren und stärker institutionalisierten Betreuungseinheiten führten zu geringerer Teilhabe.

• Das Verhalten des Betreuers bezüglich der Organisation des Tagesablaufes, der effektiven Kommunikation und der Darbietung von Aktivitäten ist von besonderer Bedeutung für die Teilhabe an den Geschehnissen der Umgebung. Bereits 5-10% Verbesserung in diesen Verhaltensweisen der Betreuer führte zu einer bedeutungsvollen Auswirkung auf die Lebensqualität der Bewohner.

Je mehr Resilienz ein Mensch in seiner früheren Entwicklung erworben hat, desto eher wird er trotz seiner Behinderung seinen Weg in der Gemeinschaft finden. Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit(en) von Individuen oder Systemen (z.B. Familie), erfolgreich mit belastenden Situationen (z.B. Misserfolgen, Unglücken, Notsituationen, traumatischen Erfahrungen, Risikosituationen u.ä.) umzugehen. Die wichtige Bedeutung von Prophylaxe und der qualitativ hochwertigen Betreuung im frühen Kindesalter wird oft unterschätzt. Dabei ist sie die Basis einer gelingenden Teilhabe (s. Schaubild 8). Je resilienter ein Menschen trotz seiner Behinderungen ist, je eher wird er sein Höchstmaß an Selbstbestimmung erreichen. Diese Resilienz vermindert die zusätzlichen Einschränkungen , die durch soziale Probleme und durch hierdurch erworbene psychische Störungen auftreten.

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Community Care als Antwort 33

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Die Bedürfnisse sind gleich!

Unterstützte Alltags-bewältigungTeilhabeRisikover-meidungKommu-nikation_________Hilfeplanung

ResilienzWiderstands- u.

DurchsetzungskraftProphylaxe

Empowerment

Menschen mit geistiger Behinderung sollten gefragt werden, welche Dienstleistungen sie benötigen und sie müssen zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten wählen können

Menschen mit geistiger Behinderung sollen Wertschätzung erfahren. Ihnen sollen Möglichkeiten eröffnet werden, die Gemeinschaft, in der sie leben, zu unterstützen. Sie sollten nicht ausgegrenzt werden

Menschen mit geistiger Behinderung sind Individuen

Menschen mit geistiger Behinderung sollen unterstützt werden, alles zu tun, zu dem sie in der Lage sind

M enschen mit geistiger Behinderung sollen dieselben gemeindeintegrierten Dienstleistungen nutzen können w ie alle anderen auch

M enschen mit geistiger Behinderung sollen von den spez iellen Kompetenzen von Dienstleistern im Sozial-, Gesundheits- und Ausbildungsbereich profitieren

Menschen mit geistiger Behinderung sollten die Dienstleistungen bekommen, die ihrem Alter, ihren Fähigkeiten und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen

Selbst-bestimmung-ständigkeit-verantwortung-interpretation____________Eigene WahlEigene Vorstellungen

Selbstbestimmung und Unterstützung verlieren ihren Selbstzweck. Sie werden zu tragenden Pfeilern bedürfnisbefriedigender Teilhabe. Das M aß der selbstständigen Teilhabe bzw. Angewiesenheit auf

Unterstützung ist behinderungsbedingt unterschiedlich. Das individuell richtige Maß sichert die Teilhabe.

Schaubild 8

Page 34: Community Care als Antwort auf katastrophale Zust nde.doc) · Community Care als Antwort 09/10/03 3 Dieser Schritt gewinnt an Bedeutung für alle Bürger unabhängig von ihrer Behinderung

Community Care als Antwort 34

Der Balanceakt zwischen dem Zugeständnis der Bürgerrechte und der Fürsorglichkeit der Gesellschaft findet in allen Ländern statt und ist somit das wirkliche gemeinsame Internationale. Wie er geschieht und was in ihm ausbalanciert wird, hängt von vielen nationalen Gegebenheiten, wie u.a. gesellschaftliche Traditionen, vorhandene Ressourcen und Mentalitäten ab. Diese Tatsache macht Direktimporte von Strukturen und Lösungen unmöglich. Das Lernen der einzelnen Nationen von einander führt zu immer neuen Anstößen für die eigene Praxis, ohne zwangsläufig eine Imitation des Vorbildes zu produzieren. Das nächste Update der Erkenntnisse für die eigene Praxis aus dem internationalen Diskurs erfolgt daher organisch aus dem begonnenen und schon relativ weit fortgeschrittenen Lernprozess. Diese Updates sind Meilensteine des Prozesses, der die Wahrung der vollen Bürgerrechte für alle Bürger, unabhängig von ihrer Behinderung, zum Ziel hat. Kein Mensch soll wegen seiner Behinderung und gegen seinen Willen seinen vertrauten Lebensraum verlassen müssen! Dieser mit diesem Ziel ausgestattete Lernprozess verläuft mit den Visionen europäischer Behindertenpolitik konform und oft gegenläufig zu der Sozialpolitik und dem Verwaltungshandeln regionaler Regierungen. Hilfen werden zwar dem Individualisierungsanspruch des BSHG entsprechend, aber so kostengünstig wie möglich gewährt. Durch diese Praxis erhält der Hilfeempfänger oft weniger Ressourcen, als er für ein individuelles Leben braucht. Für die Stärkung des Sozialraums, der durch prophylaktische und niederschwellige Angebote teure individuelle Hilfen minimieren könnte, bleibt in den meisten Fällen überhaupt nichts mehr übrig. Diese Gegenläufigkeit zum politischen Handeln macht die Lernprozesse in Ländern, die keine ambulante wohnortnahe Pflichtversorgung organisieren müssen, zwar notwendig und interessant, aber oft auch unbequem, schwierig und langwierig. Hierauf muss man sich einstellen; aber man muss auch wissen, dass es keine Alternative zu ihnen gibt, wenn die Wahrung der Bürgerrechte an erster Stelle der europäischen Behindertenpolitik stehen soll. Michael Tüllmann Hamburg, 09.10.03

G:\APL\rstrohm\Tuellmann\TEXTE\Community Care als Antwort auf katastrophale Zustände.doc09.10.03