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Colin Crouch

DIE BEZIFFERTE WELTWie die Logik der Finanzmärkte das Wissenbedroht Postdemokratie III

Aus dem Englischen von Frank Jakubzik

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Knowledge Corrupters.Hidden Cousequences of the Financial Takeover of Public Life bei Polity Press(Cambridge).

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliographie;detaillierte bibliographische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2015© Suhrkamp Verlag Berlin 2015© Colin Crouch 2015Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das desöffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durchRundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Friedrich Pustet, RegensburgISBN 978-3-518-42505-3

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Der Neoliberalismus und das Problemasymmetrischer Information . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Das Wissen und die Privatwirtschaft . . . . . . . . . . 553. Der Verfall der Moral im öffentlichen Dienst . . . . . 1054. Wissen für Bürger, Konsumenten oder Objekte? . . . 1495. Bürger, Kunden, Politiker, Fachkräfte und

Finanzleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

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Für Joan

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Danksagung

Ohne die Mitarbeit meiner Frau Joan hätte ich dieses Buchnicht schreiben können. Sie hat nicht nur große Teile des Mate-rials gesammelt, sondern ließ mich auch an Erfahrungen aus ih-rer jahrelangen Tätigkeit im englischen Schulsystem teilhaben,die das Inspektionswesen, das Berufsethos qualifizierter Fach-kräfte und andere Aspekte des öffentlichen Dienstes betrafen.Zudem unterstützte sie mich im Bemühen um eine dem allge-meinen Publikum zugängliche Ausdrucksweise.

Für Hinweise und Ermutigung danken möchte ich zudemmeinen Lektoren John Thompson bei Polity Press und Hein-rich Geiselberger bei Suhrkamp.

Wie stets bin ich für alle verbliebenen Irrtümer und Patzerallein verantwortlich.

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1. KapitelDer Neoliberalismus und das Problem asymmetrischerInformation

Im Oktober 2014 wurde bekannt, daß der britische NationalHealth Service (NHS) Hausärzten für jede Demenzdiagnoseeine Prämie in Höhe von 55 Pfund in Aussicht stellte. Daß De-menzerkrankungen häufig zu spät erkannt werden, gilt seitlängerem als ernstes Problem – der NHS wollte die Motiva-tion der Ärzte, diesbezügliche Untersuchungen durchzufüh-ren, durch den finanziellen Anreiz steigern.

Das Vorgehen stieß bei Ärzteschaft und vielen Patienten-gruppen auf empörte Ablehnung. In einem im British MedicalJournal abgedruckten Offenen Brief an die Leitung des NHS

(BMJ 2014) protestierten mehr als fünfzig Ärzte gegen dieAuslobung der Prämie, die das Vertrauensverhältnis zwischenArzt und Patienten untergrabe, das auf fachlicher Integrität,nicht auf einer Gewinnerzielungsabsicht beruhe. Einige Patien-tengruppen gaben ihrer Befürchtung Ausdruck, Ärzte könn-ten aus finanziellen Erwägungen häufiger als geboten Demenzdiagnostizieren. Viele Vertreter der Öffentlichkeit zeigten sichüberrascht, daß der NHS überhaupt mit derartigen finanziellenAnreizen arbeitet.

Das hätte allerdings niemanden überraschen sollen. Die An-nahme, daß man Menschen in jedem Fall am besten mit Geldmotiviere und sich lieber nicht auf ihre fachliche Kompetenzverlassen solle, ist seit einigen Jahren tief in den Köpfen vonManagern und Entscheidern in vielen Lebensbereichen veran-kert. Sie hat inzwischen weit mehr Schaden angerichtet, alses ein kleiner finanzieller Anreiz für Demenzdiagnosen ver-möchte. Und um diese Idee und ihre Folgen geht es im vorlie-genden Buch.

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Daß so viele Lebensbereiche wie möglich unter marktwirt-schaftlichen Aspekten zu betrachten und damit letztlich aufdie in ihnen verkörperten Geldwerte zu reduzieren seien, isteine der zentralen Thesen des Neoliberalismus, der einfluß-reichsten politischen und ökonomischen Ideologie der Gegen-wart. Einer überzeugten Anhängerschaft erfreut sie sich ins-besondere in jenem Sektor der Weltwirtschaft, der über diegrößte Dynamik und den größten Einfluß auf die Politik ver-fügt: dem Finanzmarkt. Hier wird alles und jedes allein nachMaßgabe des mutmaßlichen Preises bewertet, den ein Käuferzu zahlen bereit ist, weil er seinerseits die Vermutung hegt, daßein anderer Käufer einen höheren Preis zu entrichten bereitwäre, der wiederum davon ausgeht, daß ein weiterer Interes-sent … So entsteht ein infiniter Regreß von Preisvermutungen,die jeweils auf Mutmaßungen hinsichtlich anderswo zu erzie-lender Preise rekurrieren.

Die alleinige Konzentration auf den Preis darf sich durch-aus gewisser Vorzüge rühmen, etwa hinsichtlich der Vergleich-barkeit unterschiedlicher Güter. Allerdings richtet die nichtweiter hinterfragte Vorstellung, daß sich der Wert eines Gutsallein an dem mit ihm mutmaßlich zu erzielenden Preis bemes-se, nicht selten auch erhebliche Schäden an.

Die Problematik ist allgemein bekannt und war immer wie-der Gegenstand politischer Debatten: Uneingeschränktes Wirt-schaftswachstum schadet der Umwelt, der Markt selbst ver-mag aber nichts dagegen zu tun. Dinge wie Liebe oder Zu-friedenheit lassen sich nicht auf Märkten handeln, es sei denn,man definiert sie grundlegend neu. Weithin einig ist man sichauch darin, daß niemand aus Mangel an Zugang zu Geld aufgrundlegende Rechte in punkto Gesundheit, Bildung, Ernäh-rung und Wohnen verzichten müssen soll. Überdies hat uns,was weniger erwartbar gewesen ist, die Anwendung solcher»rein marktwirtschaftlicher« Verfahren auf dem Finanzsektor

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selbst in den Jahren 2007ff. eine katastrophale globale Wirt-schaftskrise eingetragen.

Doch daneben droht, bislang kaum beachtet, ein weiteresGebiet der Dominanz des Geldes und der inzwischen zumLeitstern fast aller politischen Entscheidungen avancierten Fi-nanzkennziffern zum Opfer zu fallen: das der Information,der Kenntnisse und des Wissens. Diese Diagnose mag zu-nächst überraschen, da die neoliberale Theorie selbst ein intel-lektuelles Gebilde ist und ein hohes Maß an Wissen voraus-setzt. Zudem führt sie das erwünschte Wirtschaftswachstumnicht zuletzt auf den Fortschritt der Wissenschaften zurück,deren Leistungsvermögen natürlich entscheidend von Infor-mationen und Erkenntnissen abhängt.

Meine zentrale These, der Neoliberalismus sei ein Feinddes Wissens, wird daher einiger Erläuterung bedürfen. Dabeikommt es mir natürlich gelegen, daß die Verfälschung von In-formationenund Erkenntnissen anerkanntermaßen zu den Ur-sachen der erwähnten Finanzkrise gehörte.

Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, diese Thesezu untermauern und zu zeigen, welche tiefgreifenden Beschä-digungen unseres Lebens – insbesondere in Hinsicht auf unse-re Bemühungen um eine moralische Lebensführung – aus derNeigung des Neoliberalismus resultieren, die Manipulationvon Informationen und die Diskreditierung von Fachwissenzu befördern. Zudem werde ich untersuchen, wie sich dieseNeigung womöglich bekämpfen ließe.

Meine Argumentation stützt sich dabei auf folgende fünfAnnahmen:

1. Der Versuch, den öffentlichen Dienst nach marktwirt-schaftlichen Gesichtspunktenumzubauen, der ein grundle-gendes Bestreben neoliberaler Politik darstellt, führt zueiner radikalen Beschneidung der Kenntnisse, Kompeten-

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zen und Qualifikationen des dort beschäftigten Fachper-sonals. Die sich daraus ergebende Problematik spielte auchbei der Frage der Prämierung von Demenzdiagnosen eineRolle.2. Obgleich der Markt selbst eine hochelaborierte Form derWissensproduktion darstellt, untergräbt er, wenn ihm kei-ne Schranken gesetzt werden, andere Formen der Erkennt-nisgewinnung, so etwa die wissenschaftliche, die eine derGrundlagen des modernen Lebens bildet.3. Die klassische marktwirtschaftliche Theorie ging davonaus, daß sich die Mehrzahl der Marktteilnehmer moralischinteger verhält. Die gegenwärtig dominierende Rational-choice-Theorie prämiert hingegen Verhaltensweisen, diesich der Verfälschung und Verzerrung von Informationenund Wissen bedienen.4. Eine marktwirtschaftliche Ökonomie zeichnet sich derursprünglichen Idee nach dadurch aus, daß eine hohe An-zahl von Konsumenten und Produzenten am Markt teil-nimmt. Der heute herrschende Neoliberalismus hingegentoleriert hohe Konzentrationen monopolartiger Markt-macht auf Anbieterseite,wodurch einige Bereiche der Wirt-schaft von sehr wenigen Unternehmen dominiert werden.In manchen Fällen führt das so weit, daß einflußreicheWirtschaftseliten den Zugang zu Informationen und Wis-sen kontrollieren und beides auf eine ihren Interessen för-derliche Weise manipulieren können. Ich werde diese zwareinigermaßen pervertierte, aber vorherrschende Form desNeoliberalismus in den folgenden Kapiteln als »Neolibera-lismus der Konzerne« bezeichnen.5. Zum Gegenstand von Manipulationen werden auchKenntnisse und Informationen, die unser Bild von unsselbst betreffen. Um wirklich uneingeschränkt effizientam Markt agieren zu können, müssen wir uns in egozen-

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trische und amoralische Rechenmaschinen verwandeln. So-lange wir daneben auch noch andere Verhaltensweisen anden Tag legen, ist das nicht unbedingt problematisch. Wennjedoch der Markt und analoge Systeme auf immer weite-re Lebensbereiche übergreifen, wie es heute der Fall ist,schafft das einen Anreiz, alle unsere sonstigen Eigenschaf-ten zu unterdrücken und uns in unserem alltäglichen Han-deln vor allem am Vorbild derartiger Maschinen zu orien-tieren.

Unter dem Strich führen diese Entwicklungen zu einem schwer-wiegenden Problem: Während sich der kaum noch durch poli-tische Regulierungen beschränkte,von der Notwendigkeit ver-trauensbildenden Verhaltens befreite und von extremen Kon-zentrationen ökonomischer Macht verzerrte Markt in immerneue Lebensbereiche ausbreitet, laufen alle diejenigen, die kei-ner politischen oder wirtschaftlichen Elite angehören, inwach-sendem Maß Gefahr, von seinen Anbietern übers Ohr gehauenzu werden. Zwar erregen die einschlägigen Skandale – der Ver-kauf fauler Finanzprodukte durch Banken und Versicherun-gen, unmoralische Formen der Informationsbeschaffung durchMedien, die Manipulation von Leistungskennziffern in Äm-tern und öffentlichen Einrichtungen und so weiter – erheblicheAufmerksamkeit und werden weithin mißbilligt. Zu zeigenwäre allerdings, daß zwischen diesen vermeintlichen Einzelfäl-len systematische Zusammenhänge bestehen und daß sich vielevon ihnen darauf zurückführen lassen, daß wir einem reichlichverzerrten Verständnis von Marktwirtschaft ein Übermaß anRespekt erweisen.

Damit will ich keineswegs behaupten, daß alle Formen vonUnehrlichkeit in Wirtschaft und Politik dem Markt allein an-zulasten wären. Betrug und Korruption kommen in allen Wirt-schaftsformen vor, am häufigsten vermutlich in vom Staat ge-

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lenkten Ökonomien, in denen überhaupt kein Markt existiert.Manche Arten solchen Fehlverhaltens resultieren allerdingssehr wohl aus der Weise, in der Märkte heute funktionieren,und sie ließen sich erheblich reduzieren, wenn die Politik derMachtfülle, die Märkte und Unternehmen heute genießen, we-niger unkritisch gegenüberstünde.

Unter dieser Machtfülle hat in besonderem Maße das de-mokratische Gemeinwesen zu leiden, denn zuverlässige Infor-mationen sind sein Lebenselixier. Sobald die Inhaber großerEinflußsphären über die Macht verfügen, Informationen zuunterschlagen oder die Öffentlichkeit mit einseitigen, irrefüh-renden oder sonstwie manipulierten Informationen zu ver-sorgen, wird das betroffene Gemeinwesen zur Geisel ihrer Ei-geninteressen. In dieser Hinsicht schließt die auf diesen Seitengeführte Diskussion auch an meine Darlegungen zum ThemaPostdemokratie an (Crouch 2004).

In den folgenden Kapiteln wird der Umstand, daß unge-bremste Märkte und Konzerne, die eine monopolartige Stel-lung innehaben, eine Verminderung der Kenntnisse und Kom-petenzen hochqualifizierten Personals betreiben, immer wie-der eine Rolle spielen. Wenn ich dabei von Fachkräften oderExperten spreche, meine ich nicht ausschließlich Angehörigeelitärer Berufe, sondern imweiteren Sinne auch Techniker, Pfle-gekräfte und Betreuungspersonal sowie jeden Mitarbeiter, derfür die Erbringung seiner Dienstleistung eines eigenen Er-messensspielraums hinsichtlich seiner Vorgehensweise und sei-nes Arbeitsaufwands bedarf. In jedem dieser Fälle besteht einSpannungsverhältnis zwischen diesen Fachkenntnissen und-kompetenzen (die nicht selten exklusives Eigentum der jewei-ligen Facheliten sind) und den Anforderungen eines demokra-tischen Miteinanders.

Sprecher der Wirtschaft wie des Staats nehmen gern fürsich in Anspruch, die Interessen dieser Fachkräfte zu vertre-

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ten. Manchmal wenden sie sich aber auch gegen sie, zumeist un-ter Verweis auf Verbraucher- beziehungsweise Bürgerrechte.So beklagen Politiker häufig, daß das Personal des öffentlichenDienstes ein arrogantes, unzugängliches und elitäres Gebarenan den Tag lege und es an Dienstleistungsbereitschaft mangelnlasse. Vertreter des Marktes wiederum behaupten, daß Fach-kräfte, vor allem im öffentlichen Dienst, ihre Kunden gern be-vormunden und sich ein eigenes Urteil darüber anmaßen, woderen Interessen liegen – anstatt wie auf dem Markt einfachdas zu liefern, was ihre Kunden verlangen, die sehr viel besserwüßten, was in ihrem Interesse sei.

Hinter der politischen Forderung, daß sich auch hoch-qualifizierte Fachleute nach dem Markt richten sollen, stecktzumeist das populistische Versprechen, das Konsumentenvolkvon der »Bevormundung« durch diese Fachleute und ihreKenntnisse zu »befreien« – was gleichermaßen auf Mitarbeiterim Pflegebereich wie auch auf Wissenschaftler zielt, die vor denGefahren der globalen Erwärmung oder mit Produkten derJunkfood-Industrie einhergehenden Gesundheitsrisiken war-nen. Der Markt, so meinen die Befürworter marktwirtschaft-licher Verhältnisse etwa im Gesundheitswesen, schaffe eineunmittelbare,von Störungen durch Politik und Bürokratie freieBeziehung zwischen Arzt und Patient. Viele Ärzte befürch-ten allerdings, die Einführung von Finanzkennzahlen undmarktwirtschaftlichen Methoden könne – wie im Fall der prä-mierten Demenzdiagnosen – das aus ihrer Sicht unabdingbareVertrauensverhältnis zwischen ihnen und ihren Patienten zer-stören.

Diese Problematik werde ich im letzten Kapitel näher be-leuchten. Zunächst möchte ich meine Behauptung untermau-ern, daß von gewissen Formen der Marktwirtschaft die Ge-fahr einerallgemeinen Verdummung, einer Minderung unsererKenntnisse und unseres Wissensstands ausgeht – und en pas-

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sant eine Gefahr für unser Vertrauen in andere und unsere Be-reitschaft, moralisch zu handeln.

Das soll nicht heißen, daß der Neoliberalismus die Ursachedes gegenwärtig überall zu beobachtenden Vertrauensverlustssei. Ich würde nicht einmal behaupten, daß es einen solchenVertrauensverlust tatsächlich gibt. Vielmehr teile ich die An-sicht, die Onora O’Neill in ihrer exzellenten Arbeit zu diesemThema (2002) vertritt: Wir haben zwar das Gefühl, daß al-lerorten ein Mangel an Vertrauen herrsche, bringen aber in un-serem eigenen Alltag keineswegs weniger Vertrauen auf alszuvor.

Der Neoliberalismus spielt in diesem Zusammenhang vorallem deshalb eine Rolle, weil seine Advokaten unerschütter-lich behaupten, daß der Markt alle Vertrauensprobleme lösenwerde, weil er Vertrauen überflüssig mache. Das trifft, wiewir sehen werden, sogar in vielen Fällen zu. Aber eben nichtin allen. Und auf verschiedene Weisen kann der Markt demVertrauen sogar abträglich sein.

Marktanaloge Kennziffern und Rankings im öffentlichen

Dienst

Ein Beispiel wird verdeutlichen, worauf sich die erste meineroben aufgeführten Thesen bezieht, und uns zum Kern derProblematik leiten, um die es mir hier geht. Sie ist nicht unbe-dingt der beste Ausgangspunkt; das wäre eher der umfassen-dere Punkt 2. Ich habe sie dennoch an den Anfang gestellt, weilsie die politisch folgenreichste und am leichtesten zu erkennen-de Entwicklung betrifft.

Seit den achtziger Jahren ist es in Mode gekommen, die Lei-stungen von Einrichtungen des öffentlichen Dienstes meß-und vergleichbar zu machen, indem man deren Beschäftigten –

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Lehrern, medizinischem Personal, Pflege- und Betreuungs-kräften, Polizisten und so weiter – Zielzahlen vorgibt, deren je-weilige Erreichung oder Nichterreichung in Rankings übertra-gen wird. Diese Rankings werden veröffentlicht; einerseits,um die Nutzer eines Dienstleistungsangebots der öffentlichenHand in die Lage zu versetzen, zwischen verschiedenen An-bietern wählen zu können, zum anderen jedoch stets, damitdie Leiter und Manager öffentlicher Betriebe wie Manager vonPrivatunternehmen agieren und belohnt beziehungsweise be-straft werden können, je nachdem, ob sie »Gewinne« oder»Verluste« erwirtschaften.

Die dahinterstehende Absicht ist es, sowohl die Nutzer wieauch das Management öffentlicher Dienstleister in eine Lagezu versetzen, die weitestmöglich der von Kunden beziehungs-weise Anbietern auf einem Markt entspricht. Die Leistungs-kennziffern sollen dabei die Rolle übernehmen, die auf demMarkt dem Preis zukommt.

Der Theorie des freien Marktes zufolge sieht das Proce-dere – das ich hier der Einfachheit zuliebe nur aus Sicht desKunden darlege – etwa so aus: Der Kunde kauft, nachdem ersich einmal für eine bestimmte Geschmacksrichtung und Qua-litätsstufe entschieden hat, eine Ware auf Grund eines simplenPreisvergleichs, also anhand eines einzigen Indikators. Das istdas Schöne am Markt: Er stellt uns in einem einzigen Datumalle Informationen zur Verfügung, die wir brauchen, um effi-ziente Entscheidungen zu treffen.

Nun will man also den Eltern schulpflichtiger Kinder, denPatienten, die eine Klinik suchen, oder auch den Insassen vonAltenheimen anhand von Kennziffern und Rankings ähnlicheinfache Vergleiche ermöglichen. Der Theorie nach hat daszwei positive Folgen. Erstens werde der einzelne Nutzer öf-fentlicher Einrichtungen in die Lage versetzt, seine Entschei-dung für einen Anbieter selbst zu treffen, anstatt sie sich von

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staatlichen Autoritäten diktieren lassen zu müssen. Zweitenserstehe für alle Anbieter eines Segments ein Anreiz, ihre rank-ingrelevanten Leistungen zu verbessern, weil sie andernfallsKunden verlieren – im Gegensatz zu einem öffentlichen Dienst-leister alter Art, der durch nichts daran gehindert werde, einermachtlosen Kundschaft eine monopolistische und konkurrenz-lose Dienstleistung so anzubieten, wie es ihm, nicht wie es derKundschaft gefällt.

Man darf die Vorteile dieses Ansatzes nicht unterschätzen,insbesondere jene nicht, die der zweite Punkt mit sich bringt,der auch für die Manager der Einrichtungen hilfreich ist. Eskommt hier nicht so sehr auf die Wahlfreiheit des Konsumen-ten als Selbstzweck an, als vielmehr auf den Anreiz zur Lei-stungssteigerung, der für den Anbieter darin liegt, daß derNutzer die Möglichkeit erhält, eine Wahl zu treffen.

Allerdings hat das Arrangement auch seine Schattenseiten.So kann immer nur eine Auswahl von Parametern in die Lei-stungsmessung einbezogen werden, da sonst die Datenmengezu groß würde und der Konsument überfordert wäre. Aus die-ser Notwendigkeit ergeben sich zwei Nachteile. Erstens wärenes letzten Endes dann eben doch wieder Minister, Behörden-leiter und ihre Berater, die bestimmten, was ein rankingrele-vanter Leistungsparameter ist und was nicht. Auf diese Weisekönnen sie solchen Kriterien eine größere Bedeutung verschaf-fen, an denen sich die Nutzer ihrer Ansicht nach orientierensollten. Und das müssen natürlich nicht unbedingt die sein, diedie Nutzer selbst ausgewählt hätten.

So ermutigt der britische Staat beispielsweise junge Leutedazu, sich bei der Entscheidung für ein Studienfach an den Ein-kommen zu orientieren, die Absolventen des jeweiligen Fachsnach dem Studium typischerweise erzielen (mehr dazu im fol-genden Kapitel). Sie sollen ihren Bildungsweg also vor allem inHinblick auf seine möglichen finanziellen Folgen betrachten –

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und nicht unter dem Aspekt ihrer intellektuellen Interessenoder des Vergnügens, das ihnen das Lernen in einem Fach be-reitet. Daß Politiker ein solches Ziel verfolgen, ist nicht an sichverwerflich. Daß sie sich dazu jedoch suggestiver Methodenbedienen, paßt nicht recht zur vielbeschworenen »Wahlfreiheit«des Konsumenten, der seine Entscheidungen dank solcher In-dikatoren angeblich frei von staatlichem Einfluß treffen kann.Tatsächlich ändert sich lediglich der Stil der politischen Ein-flußnahme: Sie bedient sich einer Technik subtiler und ver-deckter »Anstöße«, die zwar weniger autoritär daherkommen,aber gerade dadurch auch schwerer zu durchschauen und alsokritisch zu hinterfragen sind.

Als »Schubser« (der englische Begriff lautet »nudge«) be-zeichnet man Verfahren, mit denen Unternehmen, Behördenund andere mächtige Akteure uns, möglichst ohne daß wires merken, zu einem von ihnen gewünschten Verhalten anzu-regen versuchen. Ein klassisches Beispiel ist die Anordnungder Waren in einem Supermarkt, insbesondere in Kassennähe.Die Übertragung solcher kommerziellen Techniken auf dasGebiet der Politik geht auf die Überlegungen zweier amerika-nischer, mit den Methoden der Verhaltensökonomie arbeiten-der Wissenschaftler namens Richard Thaler und Cass Sunstein(2009) zurück, von denen einer, Sunstein, von der RegierungObama zum Leiter des »Office of Information and Regulato-ry Affairs« berufen wurde. Die konservativ-liberale Koalitionin London wiederum installierte etwa zur gleichen Zeit das»British Behavioural Insights Team« innerhalb des dem Pre-mierminister unterstellten »Cabinet Office«. Diese »NudgeUnit«, wie sie in der Öffentlichkeit heißt, hat die Aufgabe, zuuntersuchen, inwieweit sich die Ideen von Thaler und Sunsteinin Großbritannien umsetzen lassen.*

* Ähnliche Pläne gibt es mittlerweile auch in Deutschland. Im August 2014schrieb die Bundesregierung drei Referentenstellen aus. Gesucht wurden laut

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Mit den Verfahren des »Anschubsens« will man Bürger da-zu bringen, sich wie von der Politik gewünscht zu verhalten,ohne dies durch Gesetze und Verordnungen regeln und kon-trollieren zu müssen. Befürworter des politischen Gebrauchsvon »Anstößen« verweisen gern auf deren Bedeutung in derGesundheitserziehung, mit der sich Thaler und Sunstein vor-rangig befaßten. Einer ihrer diesbezüglichen Vorschläge laute-te, daß man überprüfen solle, ob sich die Techniken, mit denenNahrungsmittelhersteller Menschen zum Verzehr ungesunderLebensmittel verführen, nicht auch für das entgegengesetzteZiel verwenden ließen. Zweifellos ein durch und durch gut ge-meinter Ansatz. Allerdings ist nicht schwer zu sehen, daß ersich ohne weiteres auch für weniger wohltätige und unmittel-bar egoistische Zwecke verwenden läßt, da er es ermöglicht,anderen Menschen bestimmte Verhaltensweisen nahezulegen,ohne daß es ihnen überhaupt bewußt wird.

Ein zweites Problem solcher an Indikatoren orientiertenVerfahren liegt darin, daß durch sie einer kleinen Anzahl – zu-meist politisch relevant erscheinender – Aspekte einer Dienst-leistung eine überragende Bedeutung beigemessen wird, wäh-rend andere zwangsläufig in den Hintergrund treten. Mit anSicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird dadurch dietatsächliche Qualität der jeweiligen Dienstleistung ebenso ver-zerrt wie ihre Bedeutung für den Klienten. Diese Verfälschungüberträgt sich dann auf die Beschäftigten der betreffenden An-bieter, die nachdrücklich aufgefordert werden, ihre Bemühun-gen auf die vom Indikator erfaßten Aspekte zu konzentrieren –was natürlich nur auf Kosten anderer Arbeitsbereiche möglich

Medienberichten Anthropologen, Psychologen und Verhaltensökonomen fürden Stab Politische Planung, Grundsatzfragen und Sonderaufgaben. Ein Regie-rungssprecher sagte laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf Nachfrage,»es gehe darum, neue Methoden für ›wirksames Regieren‹ zu erproben. Dafürsollten Erkenntnisse der Verhaltensökonomie stärker genutzt werden.« (Plik-kert/Beck 2014; Anmerkung des Übersetzers)

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ist. Würden die zuständigen Behörden jeweils genau die rich-tigen Zielvorgaben machen und nur zweifellos untergeordneteAspekte aus der Leistungsmessung ausschließen, könnte dasdennoch ein nutzbringendes Verfahren sein. Häufig wird je-doch genau das nicht der Fall sein.

Dazu ein anderes Beispiel. Seit es in den neunziger Jahrenzu einer großen Debatte über zu lange Wartezeiten in Kran-kenhäusern kam, legen britische Gesundheitspolitiker Wertdarauf, daß jeder Patient möglichst schnell einen Termin bei sei-nem Hausarzt bekommt. Daher besteht heute für praktischeÄrzte ein Anreiz, der Erstuntersuchung von Patienten Priori-tät vor anderen Elementen der Gesundheitsfürsorge, etwa vor-beugenden Maßnahmen, einzuräumen. Grundlage dafür ist of-fenbar die Annahme, daß die Meinung der Politiker auf Grundihrer demokratischen Legitimierung höher zu bewerten sei alseine möglicherweise andere Auffassung der betroffenen Haus-ärzte – und möglicherweise ihrer Patienten.

Und damit stoßenwirauf die profunde Frage nach dem Ver-hältnis zwischen der Meinung demokratisch gewählter Politi-ker, dem Urteil von Fachleuten und den Wünschen der Men-schen, mit der ich mich im letzten Kapitel ausführlicher be-fassen werde. Können wir darauf vertrauen, daß die Politikerbei der Auswahl von Leistungsindikatoren stets die wichtig-sten Aspekte in den Vordergrund stellen? Oder besteht nichtdie Gefahr, daß sie Dingen eine ungebührende Relevanz zu-kommen lassen, die etwa in den Medien eine herausragendeRolle spielen?

Hinzu kommt, daß öffentliche Dienstleister oft in Berei-chen tätig sind, die für unser Leben eine wichtige Rolle spielen,in denen wir selbst jedoch nicht über genügend Kenntnisse ver-fügen, um ohne weiteres beurteilen zu können, welche die je-weils beste Lösung wäre. Die Advokaten des Marktes schmei-chelnuns gernmit der Versicherung,wir seien hinreichend kom-

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petent, um diesbezügliche Entscheidungen selbst zu treffen,sofern uns nur ein einfacher Indikator, etwas einem Preis Ver-gleichbares, zur Verfügung stehe. Aber können wir wirklichdavon ausgehen, immer genau zu wissen, welche Elemente ei-ner Gesundheitsdienstleistungfür unser Wohlbefindenamwich-tigsten sind, ohne über eine medizinische Ausbildung zu ver-fügen?

Lassen wir das vorerst dahingestellt. Fraglos verwendenstaatliche Stellen Rankingsysteme häufig dazu, den Nutzerauf Grund ihrer Eigeninteressen in eine bestimmte Richtungzu beeinflussen, was dem gern beschworenen Topos der Kon-sumentensouveränität eine leicht verlogene Note verleiht. Dochgibt es wirklich keine andere Möglichkeit, als uns entweder aufunsere relative Unwissenheit oder auf die von staatlichen Stel-len vorgegebenen, politisch motivierten Indikatoren zu stüt-zen? Sollten wir nicht vielleicht lieber doch ein offenes Ohrfür die Leute haben, die bei öffentlichen Dienstleistungsanbie-tern beschäftigt sind und deren Beruf es ist, sich in ihrem Be-reich umfassende Kenntnisse zu verschaffen und sie in quali-tativ hochwertige Leistungen umzusetzen? Dürfen wir ihnenmehr Vertrauen schenken als den Politikern?

Die neoliberale Theorie behauptet, daß jeder Mensch inerster Linie durch Eigeninteressen motiviert werde. Folglichglaubt sie auch, daß Fachkräfte ihre überlegenen Kenntnissesystematisch dazu nutzen würden, uns zu hintergehen undüberhöhte Preise zu verlangen, weil sie sich wie Geschäftsleu-te verhalten und verhindern wollen, daß wir das auch tun.Deshalb verdiene allein der Markt unser Vertrauen, der keinMensch ist und daher auch keine eigenen Interessen verfolgt.Das ist die Denkweise, die den britischen NHS auf die Ideekommen ließ, Hausärzte mit einer Prämie zu belohnen, wennsie bei einem ihrer Patienten Demenz diagnostizieren.

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