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Cochabamba Gemeinden deutscher ZuwanderungKurzeinführungen zu...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

Interviews1- Hans Heinrich Brockmann Bannow....... . . . . . . . . . .12

2- Josef Haas Rampfel...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20

3- Oswald Henkel...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26

4- John Laurenz Schmidt Kranemann...... . . . . . . . . . . . . .32

5- Nicolas Jürgen Schütt von Holdt...... . . . . . . . . . . . . . . . .38

6- Hermann Wille Schwarz...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44

SouthPacificOcean

LagoTiticaca

LagoPoopo

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Brazil

Paraguay

Chile

Argentina

Peru

Boca do AcrePortoVelho

Ariquemes

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San Borja

Toquepala

Tacna

Arica

Iquique

Calama

Tocopilla

Mejillones

Antofagasta

Ilo

Putre

Guaqui

Guajar·-MirimJi-Parana

SantaAna

Santa Rosadel SaraChimore

Montero

Concepcion

CamiriGeneralEugenio A. Garay

CapitanPablo Lagerenza

MariscalEstigarribia

San Salvadorde Jujuy

Robore

Caceres

PuertoSuarez Corumba

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Uyuni

Villazon

Tartagal

La Quiaca

San Ramon de laNueva Oran

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Rio Branco

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PuertoMaldonado

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OruroSanta Cruz

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Politische Karte Bolivien

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11910 zählte Bolivien 2.270,000 Einwohner mit dem Regierungssitz La Paz, in der 78,856 Menschen lebten. Das direkte Umland von La Paz auf dem Altiplano, heute dicht besiedelt, war eine ländliche Gegend und wurde erst 1970 per Dekret zur eigenständigen Gemeinde El Alto deklariert. Vergleichszahlen aus dem INE Zensus von 2012 geben für die Doppelstadt

heutigen Department Pando, gegliedert war (Santibañez, S. 37). Die Bevölkerung Boliviens setzte sich nach Santibañez wie folgt zusammen: “658.000 Weiße spanischer Abstammung; 614.000 Mestizen; 725.000 Indios; 3.000 Neger; 10.450 Ausländer, wovon die Hälfte Peruaner, Chilenen und Argentinier sind.“ Das Territorium umfasste damals noch 1.568.241 Quadratkilometer. Bolivien war somit nach Brasilien, Argentinien, Mexico und Peru das fünftgrößte der 20 Länder Lateinamerikas (Santibañez, S. 56): Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sprach man von Bolivien als ein großes Land mit wirtschaftlicher Zukunft, da die umfangreichen Erzvorkommen ebenso wie die Existenz begehrter Naturprodukte wie Chinarinde und Naturkautschuk bekannt waren und ausgebeutet wurden.

Gemeinden deutscher Zuwanderung

Einsammeln der Kautschukmilch

La Paz 764,617 und El Alto 848,840 Einwohner an.1 Die Republik Bolivien war immer ein Einheitsstaat, der um 1900 in acht Departments und einem sogenannten „nationalen Territorium“, dem

1 Statistische Angaben für Cochabamba, Santa Cruz und Tarija konnte ich leider für die Epoche um die Jahrhundertwende nicht finden, da das Statistische Amt in Bolivien (Instituto Nacional de Estatística, INE) erst im Jahre 1936 eingerichtet wurde und seine Arbeit aufnahm. Alle Bevölkerungsangaben aus früheren Epochen beruhen auf Schätzungen oder sind Zitate.

Die vier Gemeinden Boliviens, in denen meine Interviewpartner heute leben, sind Gründungen der frühen Kolonialzeit: Cochabamba 1571, La Paz 1548, Santa Cruz de la Sierra 1556 umgesiedelt an seinen heutigen Standort 1601 und Tarija 1574. Diese Orte waren bereits in der Kolonialzeit für ihr günstiges Klima und die fruchtbaren Täler bekannt und so wundert es nicht, dass auch deutsche Siedler in diese Gemeinden zogen. Oftmals jedoch erst nachdem sie die ersten Jahre im bolivianischen Hochland oder im Amazonasgebiet verbracht hatten, da dies die Standorte der wirtschaftlichen Aktivitäten waren.

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Fotos: Fundación Cultural Rodolfo Torrico Zamudio

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C Cochabamba

Cochabamba, heute eine Gemeinde im gleichnamigen drittgrößten Department Boliviens mit 630.587 Einwohnern2, war schon früh ein zentraler Ort für den ländlichen Raum zwischen Hochland und Amazonasgebiet. In der frühen Kolonialzeit wurde das fruchtbare Tal mit seinem gemäßigten Klima zum landwirtschaftlichen Hauptlieferant für die Minengebiete in den andinen Departments von Potosí und Oruro. Cochabamba, eine spanische Gründung aus dem Jahre 1571 galt lange Zeit als die „Kornkammer Boliviens“. Neben verschiedenen Getreidearten gedeihen hier Kartoffeln, Mais, Gemüse, Obst und nicht zuletzt Coca. Cocablätter waren schon in der Kolonialzeit ein wichtiges Konsumgut für die Minenarbeiter, das die schwere körperliche Arbeit erleichterte. Bis heute ist die Coca Produktion im Chapare ein wichtiger Einkommensfaktor für das Department.

In der späten Kolonialzeit verlor Cochabamba seine komparativen Vorteile als Nahrungsmittelproduzent zugunsten der Region von Chuquisaca. Nur noch in Dürreperioden oder nach Unwetterkatastrophen versorgte das Tal von Cochabamba das Hochland mit Produkten. Dies setzte eine Entwicklung in Richtung Subsistenzwirtschaft mit kleinen Parzellen in Gang: Der Großgrundbesitz wurde

2 Diese und alle weiteren Angaben zu den Regionen und Gemeinden sind dem INE Zensus von 2012 entnommen.

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CHUQUISACA

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aufgeteilt. Noch heute dominieren in Cochabamba kleine landwirtschaftliche Betriebe, die oftmals Sonderkulturen anbauen. Auch erlangte die Textilproduktion von „tocuyo“ Stoffen an Bedeutung (Klein, S. 61).

Um die Jahrhundertwende zählte das Tal von Cochabamba zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Boliviens. Das Department von Cochabamba verzeichnete ein starkes Wachstum von 328.163 Einwohnern im Jahre 1910 auf 465.991 im Jahre 2014 und auf über 500.000 im Jahre 1925. Die Stadt Cochabamba war nach La Paz die zweitgrößte Stadt des Landes mit circa 50.000 Einwohnern (Bolivia en el Primer Centenario de su Independencia 1825 – 1925, S. 956). Die fruchtbaren Täler und der Yungas zogen Siedler an und die Regierung warb für eine Kolonisierung der warmen und tropischen Zonen des Departments. Von der baldigen Fertigstellung der Eisenbahnlinie Cochabamba – Santa Cruz erhoffte man sich zudem wirtschaftlichen Aufschwung (Ebda, S. 958).

So war es nicht verwunderlich, dass hier deutsche Migranten die erste Butter herstellten, die die importierte dänische Butter für die bessere Gesellschaft in Oruro ersetzte (Interview Haas). Ebenfalls waren deutsche Zuwanderer in der Herstellung von Bier (Marke Taquiña) und Wurstwaren erfolgreich, wie wir aus den Interviews mit den

Nachkommen der Familien Haas und Wille erfahren. Des Weiteren lässt sich die Konservenfabrik Dillman auf deutsche Vorfahren zurückführen. Andere deutsche Zuwanderer wie die Familien Henkel und Schmitt setzten sich nach Jahren erfolgreicher Arbeit im Handel bzw. in der Bergbauinfrastruktur Oruros in Cochabamba zur Ruhe. Der junge Einwanderer Brockmann lernte zuerst Orte im Hochland Boliviens kennen, bevor er sich im „Valle“, wie die Gegend im weitläufigen Tal von Cochabamba liebevoll genannt wird, nieder ließ.

Weitere Kurzbiographien deutschstämmiger Familien in Cochabamba mit vielseitigen Fähigkeiten und Verdiensten sind der Veröffentlichung „200 personajes Cochabambinos“ von Ramón Rocha Monroy, Editorial Los Tiempos, Edición del Bicentenario, Cochabamba - Septiembre 2010, entnommen:

•Boeck, von Eugen (1823-1888) Pädagoge und Schuldgründer der Erziehungseinrichtung „2 de Mayo“. Er betätigte sich auch als Hobby-Ornithologe und Meteorologe. Er schrieb die Wettervorhersage in der lokalen Zeitung „El Heraldo“.

•Knaudt, Julius (1869-1947), Zivilingenieur der Polytechnischen Hochschule Zürich, machte sich um zivile Baumaßnahmen in Cochabamba verdient, wie die Regulierung des Flusses „Rio Rocha“ und den Bau des Wasserspeichers Alalay. Sein Bauunternehmen errichtete sowohl das Kloster der Klarissinnen in heutiger Form wie verschiedene Stadtviertel u.a. „la antigua Alameda“. Er arbeitete auch in Oruro und in der Kommission der Grenzziehung zu Chile und wurde durch die Kartographierung des Grenzgebietes zu Chile bekannt. Zudem überwachte er die Baumaßnahmen der Eisenbahnlinie Tupiza – Villazón (Inspector Fiscal).

•Wilstermann, Georg, (1910-1936), in zweiter Generation Deutschstämmiger, der sich in der Luftfahrt engagierte. Während sein Vater als Mechaniker bei Lloyd Aéreo Boliviana

Blick über die Dächer von Cochabamba 1915Fotografie: La Fundación Cultural Torrico Zamudio

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Panorama von Cochabamba um 1900

arbeitete, war er der erste Handelspilot, der die ein- und später dreimotorigen Junker flog. Als Pilot der Luftwaffe flog er im Chaco-Krieg Einsätze mit mehr als 700.000 km. Bei einem Inlandsflug von Oruro nach La Paz kam er bei einem Absturz ums Leben.

Cochabamba - Frauenausflug mit Bierflaschen der Marke Taquiña 1908

Foto: Fundación Cultural Rodolfo Torrico Zamudio

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Interviews

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Interviews Interviews

Hans Heinrich Brockmann Bannow

Josef Haas Rampfel

Oswald Henkel

John Laurenz Schmidt Kranemann

Nicolas Jürgen Schütt von Holdt

Hermann Wille Schwarz

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ba1 Hans Hans Heinrich Brockmann Bannow

Geboren in Hamburg, am 21. Juli 1886Verstorben in Cochabamba, am 16. Juni 1959

Gebrüder Hans,

Karl und Robert Brockmann, Hamburg

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Die Auswanderung

Mein Vater, Hans Heinrich Brockmann Bannow, ist 1908 von Hamburg ausgewandert und ließ sich in Oruro nieder, wo er als Buchhalter für eine deutsche Firma arbeitete. Einer der Gründe weshalb er diese Arbeit im fernen Bolivien an nahm, war sicher die Abenteuerlust, die der Brief eines Freundes aus dem Jahr 1902, den er in einem perfekten Spanisch beantwortete, in ihm geweckt hatte. Ja, er wollte weg aus Deutschland. Auch sein älterer Bruder war vorübergehend nach Venezuela ausgewandert.

Brockmann in jungen Jahren

Am 8. August 1908 kam mein Vater aus Antofagasta kommend in Oruro an. Er wunderte sich, dass fast alle Leute, denen er begegnete, in Feierlaune und betrunken waren – er war mitten in die Festlichkeiten zum bolivianischen Nationalfeiertag hineingeraten.

Seine spanische Aussprache war von einem starken deutschen Akzent geprägt, den er nie ganz verlor. Auch die deutsche Staatsangehörigkeit hat er nie aufgegeben, was seinen Kindern sehr zugute kam, denn sie haben von ihm die deutsche Nationalität geerbt.

Einleben in Bolivien

Aber kehren wir zu den Anfängen meines Vaters in Bolivien zurück. Er hat nie viel über diese Zeit gesprochen, denn es hat ihm in Oruro nicht gefallen. Deshalb zog er mit einigen anderen jungen Deutschen nach La Paz weiter.

Brockmann 1912

Dort mietete sich die Gruppe in einem Haus ein, das die Leute „das Schloss“ nannten, weil es angeblich von Geistern und Gespenstern bewohnt war. So konnten die Deutschen – allesamt jung und ledig – das Haus zu einem günstigen Preis anmieten. Alle, auch mein Vater, arbeiteten in deutschen Firmen, über die ich nicht viel weiß. Ich kann mich aber erinnern, dass ich, als ich 1966 bei Macdonald einen elektrischen Wassererhitzer kaufte, von einem

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Deutschen bedient wurde, der meinen Vater noch aus dieser Zeit kannte.

Nach dem I. Weltkrieg kehrte mein Vater nach Hamburg zurück. Er wollte seine Familie besuchen und sich über die Situation in Deutschland informieren. Was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht. Deshalb sparte er Geld, um nach Bolivien zurückkehren zu können. Die wirtschaftliche Situation in Deutschland war schwierig. Die Inflation und die Arbeitslosigkeit hatten die Familie hart getroffen. Mein Vater unterstützte seine Eltern finanziell, wahrscheinlich mit den Ersparnissen aus Bolivien. Vor dem Krieg besaß unsere Familie ein großes Haus in Hamburg und ein Sommerhaus auf einer der Nordseeinseln. Sie wurden während des Kriegs nach und nach verkauft.

Mit dem gesparten Geld kaufte mein Vater 1923-

1924 deutsche Handelswaren, um diese nach Bolivien – diesmal nach Cochabamba und Santa Cruz – zu schaffen und dort zu verkaufen. So begann sein Leben als Handelsreisender, wobei er sich in Cochabamba niederließ. Sein einziges Transportmittel war ein Pferd.

Das Meiste, was er verkaufte, waren deutsche Textilien, vor allem Kleider für festliche Gelegenheiten. Er bot sie auf dem Markt an. Mein Vater reiste sehr viel. Ich erinnere mich an seine riesigen Stiefel mit Lederriemen und seine Gamaschen, die ebenfalls aus Leder waren. Wir Kinder spielten gerne damit. Im Vergleich zu den

Bolivianern hatte mein Vater sehr große Füße. Er trug Schuhgröße 44.

Familiengründung und Niederlassung in Cochabamba

1924 lernte mein Vater meine Mutter kennen. Es war in Cochabamba. Sie hieß Rita Hinojosa Achá geboren am 28. Februar 1904 in Cochabamba. Sie war Mestizin, gehörte der Damengesellschaft Cochabambas an und war in den gehobenen Kreisen der Stadt bekannt. In der Festschrift „Libro del Centenario de Bolivia“ von 1925 ist ihr Foto zu sehen. Unglückliche Umstände hatten dazu geführt, dass ihre Familie ihr Vermögen verlor, und so musste meine Mutter arbeiten. Sie tat dies in der Eisenwarenhandlung „Ferretería Cámara“.

Es dauerte einige Zeit, bis mein Vater sie erobert hatte. Sie gehörte der gehobenen Gesellschaft an, mein Vater hingegen war nur ein unbedeutender, völlig unbekannter deutscher Einwanderer ohne Rang und Namen. Erneut heuerte er bei einer deutschen Firma an und so konnten meine Eltern schließlich in Cochabamba 1926 heiraten.

Per Pferd unterwegs

Familie Brockmann in Hamburg

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Er war Lutheraner, sie Katholikin. Ihre Familie bestand darauf, dass wir Kinder im katholischen Glauben erzogen wurden. Die erste Tochter kam 1928 zur Welt. Es folgten die Söhne Hans (+), Robert und Carl (der Interviewte).

Nationalsozialismus und II. Weltkrieg

Die Tadeo-Haenke-Schule war damals die einzige deutschsprachige Schule in Cochabamba. Doch Mitte 1943 wurde sie geschlossen. Mein Vater war einer der wenigen in der Stadt, die einen Weltempfänger hatten. Jeden Abend hörten wir Nachrichten über den Kriegsverlauf. Damals trafen sich die meisten in Cochabamba ansässigen Deutschen immer Sonntag Vormittag im Club Alemán, wo oft ein Spiel namens „Palitroque“ gespielt wurde. Es gab einen großen Tisch mit Druckmaterial aus Deutschland – Bücher über den Krieg, Propaganda des Dritten Reichs und Fotografien von Hitler. Auch auf dem Schreibtisch meines Vaters stand ein solches Bild. Dieses ganze Material wurde wahrscheinlich vom Deutschen Konsul im Club ausgelegt. Viele

Deutsche unterstützten das Hitlerregime mit Kriegsgutscheinen. Die meisten taten dies nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus dem Wunsch, ihr Heimatland, das sich im Krieg befand, zu unterstützen. Aber natürlich gab es auch welche, die dem Deutschnationalismus frönten.

Ab 1939 trafen viele jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich in Cochabamba ein. Sie eröffneten Apotheken, Färbereien, Fotostudios und viele kleine Läden. Unter ihnen war auch der begnadete Fotograf Alfred Eisenstadt, der später in den USA Karriere machte und einen hohen Posten bei der Zeitschrift Life/Time bekleidete.

Leute, die uns nicht kannten, riefen uns manchmal “Jude, Jude” hinterher, weil wir alle sehr blonde Haare hatten. Sie hielten uns für Nachkommen der europäischen, jüdischen Flüchtlinge.

Auswirkungen des Kriegs auf die deutsche Gemeinschaft in Bolivien

Noch während des Weltkriegs kam es in Bolivien

Menuekarte des Hochzeitsessens und Liste der Hochzeitsgäste 1926

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zu einem Staatsstreich durch General Gualberto Villarroel. Villarroels Regierung war dem deutschen Nationalsozialismus wohlgesinnt, doch die USA setzte sie unter Druck, deutsche Handels- und Industriefirmen zu bolivianisieren. Auch musste Bolivien jegliche Beziehungen zu Deutschland unterbinden und erklärte diesem schließlich den Krieg.

Die Auswirkungen dieser Kriegserklärung auf die Deutschen in Bolivien waren verheerend. Mehrere wurden als Kriegsgefangene in Lager in den USA deportiert. Deutsche Schulen wurden geschlossen, die von Deutschen gehaltenen Aktien an der bolivianischen Airline Lloyd Aéreo Boliviano wurden enteignet. Zusammen mit mehreren anderen Deutschen wurde mein Vater verhaftet, kam jedoch nach einigen Tagen aufgrund der Tatsache, dass er mit einer einflussreichen Bolivianerin verheiratet war, wieder frei. Seine Freilassung kam wahrscheinlich Dank der guten Beziehungen unserer Familie zu einem hohen Regierungsbeamten zustande. Vermutlich handelte es ich dabei um den Informationsminister Roberto Hinojosa. An den Moment, in dem die Polizei meinen Vater abführte, kann ich mich heute noch gut erinnern. Es war ein Schock.

Auch die deutschen Ordensschwestern bekamen den Druck der Regierung zu spüren. Wir Schulkinder wurden Mitte 1943 in ein Internat in der Straße Lanza überführt, wo ich die dritte Primarklasse beendete. Und so kam es, dass wir durch die Unbilden der Zeit zufällig zu den Gründern der neuen deutschen Santa-María-Schule wurden. Die Schule war gemischt, also für Mädchen und Jungen zugänglich, was damals außerordentlich innovativ war. Die Nonnen waren sehr streng, alle didaktischen Materialien gingen durch ihre Hände, bevor sie im Unterricht zur Anwendung kamen. 1944 wurde die Alemán-Santa-María in eine reine Mädchenschule umgewandelt, wir Jungen wurden auf verschiedene andere Privatschulen verteilt wie Colegio „La Salle“, Colegio „Americano“. Ich kam auf die „La Salle“ Schule, wo ich in der vierten Klasse Klassenkamerad vom späteren Literatur-Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa

wurde. Geleitet wurde die Schule von spanischen und französischen Ordensbrüdern. Wir deutschen Kindern waren nicht gerade sehr beliebt in dieser Zeit. Als wir klein waren, sprach ich mit meinem Bruder Robert noch Deutsch. Doch als ich in die Schule kam, verlor ich das Deutsch. Auch mein Vater hat nach seiner Gefangennahme zu Hause nie mehr ein Wort Deutsch gesprochen. So ist uns die deutsche Sprache abhanden gekommen.

Eine Zeit lang hat mein Vater als erster Buchhalter bei der deutschen Handelsfirma Hausschildt-Bauer gearbeitet. Aber er verlor diese Stellung, wahrscheinlich aus politischen Gründen. Er tat sich mit einem anderen in Cochabamba ansässigen Deutschen, Werner Kühne, verheiratet mit Getrudis Beller zusammen und gründetet mit ihm eine Handelsfirma, die Haushaltsartikel aller Art aus Argentinien importierte. Das Geschäft lief ein halbes Jahr sehr gut, bis der Krieg zu Ende war.

Die Deutschen in Cochabamba spalteten sich in drei Gruppen: Diejenigen, die die Nationalsozialisten unterstützten, diejenigen, die sich vom Nationalsozialismus distanzierten und diejenigen, die sich nicht so recht entscheiden konnten. Zu letzteren gehörte mein Vater. So haben wir alles verloren, denn unsere Familie stand auf der „schwarzen Liste“ der USA. Wer auf der Liste stand, durfte nicht arbeiten, verlor seine Bürgerrechte. Das galt bis 1946 und mein Vater war davon betroffen, obwohl er nie aktiv das Naziregime unterstützt hatte.

Zum Glück hatte meine Mutter mehrere sehr gut gelegene Grundstücke geerbt. Um zu überleben, haben wir diese nach und nach verkauft. Um wenigstens ein bisschen zum Familienunterhalt beizutragen, begann mein Vater für eine amerikanische Firma zu arbeiten, die Lebensmittelpakete ins vom Krieg zerstörte Deutschland schickte. Die Mehrheit ihrer Kunden waren deutsche Juden. Mein Vater bekam eine Kommission pro Paket. Die Kunden bezahlten für die Pakete auf ein Bankkonto der amerikanischen Firma. So waren bei uns zu Hause immer viele Leute, denn das Büro meines Vaters war bei uns im Haus.

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Bis 1947 durfte mein Vater nicht regulär arbeiten. Schließlich fand er aber Arbeit bei einer bolivianischen Firma, wo er bis 1959 blieb. Er war schon sehr krank, aber glücklich. Fast alle seine Kinder hatten gute Arbeitsstellen gefunden, waren verheiratet und es ging ihnen gut.

Charakter meines Vaters und was er uns mit auf den Weg gegeben hat

Mein Vater starb, als ich noch studierte. So habe ich neben dem Studium immer auch gejobbt. Es waren schwere Zeiten. Mit seinem Gehalt als Buchhalter vermochte er, die Familie nur knapp über Wasser zu halten. Was wir von ihm mit auf den Lebensweg bekommen haben ist, dass man sich anstrengen muss, wenn man etwas erreichen will. Dies haben wir auch an unsere Kinder weiter gegeben. Wenn du deine Ziele erreichen willst, musst du dich voll einsetzen und durch eine hohe Arbeitsmoral auszeichnen – das ganze Leben lang.

Familienleben und deutsche Kultur

Das Wohlergehen unserer Familie war für meinen Vater immer die größte Sorge. Meine Mutter hat ihn stets unterstützt. Sie führten eine glückliche Ehe. Wir waren vier Kinder und haben ihnen zwölf Enkelkinder geschenkt. Vor dem Krieg haben wir zu Weihnachten immer Geschenke aus Deutschland erhalten: Spielsachen, Wollkleider und Weihnachtsschmuck. Für uns waren das die besten Spielsachen der Welt. Einmal bekam ich ein U-Boot geschenkt, das tatsächlich unter Wasser fuhr – wie ein echtes U-Boot!

Die Zeiten waren hart, aber wir hatten eine glückliche Kindheit. Ich erinnere mich, dass ich allergisch war auf die Wollkleider, meine Haut wurde immer ganz rot, aber meine Eltern wollten, dass wir diese geschenkten Kleider anziehen.

Mein Vater liebte die deutschen Weihnachtstraditionen und das deutsche Essen, vor allem aber das Bier. Er hat sein ganzes Leben nie

Letztes Familienfoto zusammen mit Vater Hans Heinrich kurz vor seinem Tode 1959

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„Choclo“ gegessen [gekochte Maiskolben, sehr typisch für Cochabamba, werden zu jeder Tageszeit gegessen], und sagte immer, das sei Fressen für das Vieh. Mir ist bis heute schleierhaft, wie man so viel Bier trinken kann, wie es mein Vater tat, ohne betrunken zu sein. Die Musik von Wagner liebte er.

Meine ganze Kindheit und Jugend habe ich in Bolivien verbracht. Ich habe viel unternommen zusammen mit meinen Vater, er war sehr liebevoll. Manchmal

Hans Heinrich Brockmann wohlgemut

mit 68 Jahren in Cochabamba

gingen wir ins Kino, sahen z.B. „der Zauberer von Oz“ und viel später „Sissi“. Mein Vater war ein sehr kontaktfreudiger Mensch, er ging sehr gerne in den Club Alemán. Vor dem II. Weltkrieg drehte sich unser soziales Leben rundum die deutsche Gemeinschaft. Danach und wegen der Spaltung der Deutschen in verschiedene Lager, wurde alles anders. Viele Deutsche sind weggezogen, in andere Länder. Wir zogen uns mehr in die Familie zurück, gingen nicht mehr viel aus.

Heute sind nicht mehr viele Deutsche in Cochabamba, die meisten sind abgewandert, nur noch ein paar deutsche Nachfahren leben hier. Sie betreiben z.B. ein Optikergeschäft oder sind in der Industrie tätig.

Gesellschaftliches Leben der Deutschen in Cochabamba

Vor und auch noch während der Hitlerzeit war das soziale Leben der deutschen Kolonie sehr aktiv, die Deutschen in Cochabamba hatten einen guten Zusammenhalt. Da war nämlich nicht nur der Deutsche Club, manchmal trafen wir uns auch im Schlösschen Aranjuez zum Sonntagstee. In den Schulferien im Sommer kamen auch immer deutsche Familien aus La Paz und Oruro zu Besuch. Sie wohnten in der Pension „Rheingold“ in der Straße Valdiviezo, Ecke Chuquisaca. Auch wir deutschen Kinder und Jugendliche hatten viel Kontakt untereinander, aber die Politik bereitet dem allem ein Ende.

Kontakt zu Deutschland

Wir haben immer in zwei Welten gelebt – in der deutschen und in der bolivianischen. Unsere Erziehung, die Pädagogik, das soziale Verhalten, auch das Handelsgebaren war stark von der deutschen Kultur geprägt. Und dennoch ist mein Vater nach 1924 nie mehr nach Deutschland zurückgekehrt. Briefkontakt hatten wir aber regelmäßig. Zuerst informierte uns die Familie in Deutschland über den Tod der Großmutter väterlicherseits, dann starb

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Karl, der ältere Bruder von Hans Heinrich, danach Robert. Von da an hatten wir nur noch Kontakt mit Luisa, der Frau von Robert. Sie schrieb immer auf Deutsch und wir haben die Briefe hier übersetzt.

1964 erhielt ich ein Stipendium für das Technologische Institut in Delft, den Niederlande. Ich nutzte die Gelegenheit, um Kontakt zu

Brockmann Nachkommen 2007 in Cochabamba

meinen Cousins und Cousinen in Hamburg und Münster aufzunehmen. Heute habe ich per Email Kontakt mit meinem letzten lebenden Cousin in Westfalen.

Mehrere Nachkommen von Hans Heinrich Brockmann sind heute Mitglieder des Deutschen Hilfsvereins in Cochabamba.

Interview mit Dr. Carl Eduard Brockmann, Sohn von Hans Heinrich Brockmann,

Cochabamba im April 2014

Die Mutter Rita Hinojosa Achá

Aus: Bolivia en el primer Centenario de su

Independencia 1825 -1925

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ba2 JosefJosef Haas Rampfel

Geboren in Passau 1899Gestorben in Cochabamba 1981

„Malz und Hopfen gibt gute Tropfen“Hopfen und Malz, Gott erhalts!“

München, 1931

Dömens Brauereischule

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Auswanderung und Ankommen

Ein Jahr vor Ende des I. Weltkrieges 1917 wurde Josef Haas Rampfel, gerade 18 Jahre alt, eingezogen und  als Soldat nach Frankreich geschickt. Nach Kriegsende arbeitete er in seinem Beruf als Brauer. 1923 wanderte Josef mit dem letzten Geld, was ihm in Zeiten der Wirtschaftskrise übrig blieb, und zwei Freunden, die sich in einer ähnlichen Lage befanden, aus. Seine Mutter hatte ihn in Passau allein groß gezogen.  Mit einem Koffer voller Banknoten hatten sie sich in Hamburg bei einer Schifffahrtsgesellschaft  nach den Preis der Reise nach Buenos Aires erkundigt. Das Geld reichte gerade für die einfachste Kabine und so schifften sie sich Richtung Buenos Aires ein: Eine Reise ins Ungewisse mit dem aller Nötigsten im Koffer. In Buenos Aires wandten sie sich umgehend an das beste Hotel der Stadt, das Hotel Vienna, wo in der damaligen Zeit viele Deutsche abstiegen. Als Pfand hinterließen sie ihre wenigen Habseligkeiten und begaben sich gleich am nächsten Tag auf Arbeitssuche. Josef und ein Freund hatten das Brauereigewerbe erlernt, der dritte im Bunde war gelernter Melzer. Der erste Gang galt der Firma Quilmes, Cervecería y Maltería Quilmes S. A. I. C. A y G., einer sehr bekannten Brauerei, die von deutschen Einwanderern in Buenos Aires gegründet worden war. Sie wurden sofort von der Brauerei eingestellt. Ihre Wäsche hinterließen sie als Pfand im Hotel und versprachen, ihr Hotelzimmer zu bezahlen, sobald in einer Woche der erste Lohn ausgezahlt würde. Und so geschah es dann auch.

Josef arbeitete zwei Jahre bei der Firma Quilmes und später bei der Brauerei Pickert, einem ebenfalls bekannten deutschen Unternehmen in Buenos Aires. Umzug nach Bolivien und Gründungeiner Familie

Vier Jahre später, im Jahre 1927 bekam er ein Angebot, in der Brauerei „Cervecería Boliviana  Nacional“ La Paz, Bolivien, zu arbeiten. Er nahm die neue Stelle in Bolivien an und wurde von seinem neuen Arbeitgeber schon 1931 nach Deutschland geschickt, um den Braumeister Titel in der Dömens Fachschule für Brauereiwesen in München zu erlangen (Lehr- und Versuchsanstalt für Brauerei, München, Direktor: Dr. Dömens und Dr. Heller). 32 Jahre jung und unverheiratet kehrte er nach sechs Monaten Ausbildung mit dem Meistertitel in der Tasche nach La Paz zurück. In dieser Zeit in München passierte noch etwas Einschneidendes für sein späteres Leben: Er war der Liebe seines Lebens in einem Hotel in München begegnet. Teresa Schilleder hieß die Auserwählte, geboren 1908 ebenfalls wie Josef in Passau geboren. In München arbeitete Teresa, die aus einer alt eingesessen Familie aus Passau stammte, zu dieser Zeit als Köchin, um ihrer engen Heimatgemeinde zu entkommen. Vorerst stand eine schmerzliche Trennung an. Nach seiner Rückkehr 1932 nach Bolivien wurde Josef von der Firma schon 1933 allein nach Huari, Provinz Oruro, geschickt, um dort innerhalb von sechs Monaten in der Tochtergesellschaft seiner Brauerei zu arbeiten und die  Qualität des Bieres zu verbessern. Im Jahre 1933 holte er seine Braut Teresa nach Südamerika nach. Sie reiste über  Antofagasta, Chile, nach Südamerika. Eigentlich wollte Teresa gerade in Ägypten eine neue Arbeitsstelle annehmen, als Josef ihr den Heiratsantrag unterbreitete. In Antofagasta angekommen wurde gleich in der nächsten katholischen Kirche geheiratet. Josef hatte seinen Freund aus La Paz als Trauzeugen mitgebracht und für Teresa wurde ein Trauzeuge von der Straße gesucht und gefunden, so dass die Hochzeit ordnungsgemäß vollzogen werden konnte.

Heute die bekannteste Biermarke in Argentinien

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In La Paz wohnte das junge Paar im Gebäude der Brauerei, wo es neben den Fertigungshallen auch Wohnungen für  die Braumeister  gab. 1934 erblickte ihr erstes Kind, Hildegard, in La Paz das Licht der Welt. Es kämpfte mit Anpassungsproblemen an die Höhe. So wurden Mutter und Kind für drei Monate nach Chulumani gesandt, während der junge Vater eine neue Arbeitsstelle an einem Ort suchte, der nicht in der Höhe lag.

Die Brauerei „Cervecería Taquiña“ bot ihm kurz darauf eine Arbeit in Cochabamba an. Wegen des guten Klimas zog man kurz entschlossen um. Damals existierten zwei Brauereien in Cochabamba, die sehr gute  „Cervecería Colón“ mit Braumeister Antonio Zimmermann und die „Cervecería Taquiña“, die damals am Rande des Bankrotts stand.  Im Dezember 1934 kamen sie per Zug mit nur wenig Hausstand nach Cochabamba. Josef begann das Leben als Braumeister bei  „Cervecería Taquiña“ mit nur einem Pferdewagen, um das Bier  auszufahren. Auch mit Eseln wurde das Bier ausgetragen. Eine sehr schwierige Lebensphase begann. Man wohnte in der Brauerei, die 13 km außerhalb der Stadt lag. Die praktische Teresa begann, umgehend ihren Mann bei seiner Arbeit zu unterstützen. Zum Beispiel wusch sie nachts die Bierflaschen, da es in dieser Zeit noch keine Maschinen für das Waschen gab. Durch harte Arbeit bauten sie in diesen Jahren die heruntergewirtschaftete Brauerei allmählich wieder auf.

In dieser Zeit gab es in Cochabamba schon einen Deutschen Club, in dem sich das soziale Leben der Deutschen bei Bier und Wurst abspielte. Im Club wurde ausschließlich „Paceña“ oder „Colón“ Bier getrunken. Um das Monopol der beiden Konkurrenten zu brechen, lud Teresa die deutsche Gemeinschaft sonntags in die Brauerei „Taquiña“ ein und servierte den Gästen nicht nur Bier, sondern auch gutes deutsches Essen, deutschen Kuchen und Café. Es waren die Jahre 1935-36, als hart um den Markt gekämpft wurde bis dann endlich auch im Deutschen Club in Cochabamba die Marke „Taquiña“

Arbeit und Leben in Cochabamba – alles dreht sich um´s Bier

In der Brauerei - beim Verladen

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getrunken wurde. Die Qualität der Biermarke hatte sich in diesen Jahren extrem verbessert. Die Brauerei „Colón“ hingegen wurde im Jahre 1944-45 sogar geschlossen und „Cervecería Taquiña“ verblieb als einzige Brauerei vor Ort. Zudem kaufte Josef 1938 mit eigenem Geld einen Lastwagen und lieh ihn der Brauerei aus. Teresa, die geborene Geschäftsfrau, arbeitete hart, obwohl 1935 Werner, das zweite Kind geboren wurde, 1938 José und 1939 Manfred – ein

erwarb sie peu á peu  angrenzendes Land. 1947 stellte sie einen deutschen Verwalter ein, der über verschlungene Wege aus einem Internierungslager in den USA nach Bolivien kam. Seine Frau, eine  Bolivianerin mit japanischem Vater, hatte er im Internierungslager in den USA kennengelernt.  Die Jahre des II. Weltkrieges  zogen spurlos an ihnen vorbei, ebenso wie die Auswirkungen der „Schwarzen Liste“, da die bolivianische Firmenleitung der Brauerei sie schützte. Sie wollten ihren Braumeister nicht verlieren. Ab 1937 gelangten viele deutsche Flüchtlinge nach Cochabamba, fanden Arbeit in der Brauerei und wurden von Teresa bekocht. Die meisten Flüchtlinge waren politisch Verfolgte. Sie schlossen Dreijahresverträge mit der Brauerei ab, die sie verlängern konnten. Viele von ihnen wanderten nach Kriegsende weiter bzw. in der Zeit von General Torres, der als linksgerichtet galt und von dem sie vermuteten, dass er sie enteignen würde.

 

Alltagsleben in Cochabamba und Aufbau neuer Wirtschaftszweige

1956 kauften sie sich ein Haus in Cochabamba. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten sie in der Brauerei. 1942 hatte Teresa damit begonnen von den paar Kühen, die sie besaß, Butter herzustellen, die sie nach La Paz verkaufte. Sie pflanzte auch Kartoffeln an und vermarktete sie mit einem kleinen Lieferwagen. 1951 hatte sie insgesamt 42 ha Land zusammengekauft und bewirtschaftete es mit Hilfe des deutschen Verwalters und circa 20 Arbeitskräften.  Milchprodukte und Kartoffeln für den Markt in La Paz und Cochabamba machten den Hauptanteil ihrer Produktion aus. Besonders hausgemachte Butter ließ sich gut vermarkten, da zu diesem Zeitpunkt die Butter noch aus Dänemark importiert wurde, da Butterproduzenten in Bolivien fehlten. Das Gehalt von Josef war nicht so üppig, so dass Teresa ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Familie wurde. Zu der Zeit waren sie schon eine sozial gut integrierte und angesehene Familie in der neuen Heimat Cochabamba. Teresa organisierte sowohl den Haushalt mit den vier Kindern wie die Landwirtschaft.

Mädchen, drei Jungs rundeten die Familie ab. Teresa war trotz des Familienzuwuchses so in die Geschäfte ihres Mannes eingebunden, dass die Bevölkerung von Cochabamba sogar annahm, dass sie die Eigentümer der Brauerei seien. Die Brauerei gedieh, aber Josef blieb Angestellter mit ein paar Aktienanteilen.

Er arbeitete 42 Jahre in der  „Cervecería Taquiña“, bis kurz vor seinem Tod, wo er die Arbeit in der Brauerei aufgab. Jahre später wurden die Aktien der Brauerei verkauft.

Die Zeit des  II. Weltkrieges

1941 kaufte Teresa 6 ha Land in Tiquipaya, schaffte eine Kuh an und lief jeden Tag per Fuß diese Strecke, um frische Milch für ihre Kinder zu melken. In dieser Zeit gab es keine Milch für ihre Kinder in der Nähe der Brauerei zu kaufen. Dieses Grundstück zeichnete sich zudem durch einen Eukalyptushain aus. Die Stämme aus diesem Wäldchen verkaufte sie nach und nach an die Minengesellschaften in Oruro und Potosi. Mit dem Geld aus dem Holzverkauf

Herrenabend mit Taquiña BierFoto: Fundación Cultural Rodolfo Torrico Zamudio

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neuen Haus in Cochabamba, aber die Arbeit stand immer im Mittelpunkt ihres Lebens.Den Söhnen wurde eine gute Schulausbildung in der angesehenen Unterrichtseinheit „La Salle“ und dann im Instituto Americano zuteil. Die Tochter genoss die Schulausbildung in „Santa Maria“ bei den deutschen Schwestern und später im „Instituto Americano“, nachdem die deutsche Schule geschlossen worden war. Trotz der Schulschließung brachten beide Elternteile den Kindern Deutsch bei, allerdings mit starkem bayrischen Akzent. Auch unter den Eltern herrschte der bayrische  Dialekt vor. 1956 wurde das älteste Kind Werner nach Deutschland geschickt, um den Titel des Brauereimeisters zu erwerben. Er besuchte, wie schon sein Vater, die Dömensschule, die Fachschule für Brauereiwesen in München, obwohl er das Brauen schon als Jugendlicher in Cochabamba durch seinen Vater erlernt hatte. 1959 folgten José und Manfred dem Ruf der Ausbildung nach Deutschland. José besuchte die Fleischerschule in Landshut und Manfred absolvierte eine Mechanikerlehre in Hamburg. Nur Tochter Hilde blieb in Bolivien und absolvierte eine Ausbildung als Sekretärin im „Instituto Americano“. 1962 kehrte José nach Cochabamba zurück und begann, mit Mitteln der Familie die Metzgerei „Salchicheria Haas Ltda“. aufzubauen. Teresa war die Ideengeberin, Planerin und Organisatorin. José besorgte die Maschinen für die Metzgerei als er sein Studium beendete aus Deutschland. Teresa überzeugte José, dieses Geschäftsmodell zu verwirklichen. Teresa sah gute Marktchancen für deutsche Metzgereiprodukte. 1964 nahm die Metzgerei im industriellen Stil die Produktion auf.Nach Abtreten des deutschen Verwalters, führte die Landwirtschaft Alfons Gondeck Luppy weiter, geborener Chilene und auch Braumeister von Beruf, er arbeitete mehrere Jahre in der „Taquiña“, wo er seine Ehefrau Hilde Haas kennenlernte.  Nach seinem Tod im Jahre 2006  hat José auch diese Arbeit übernommen.  Die Unternehmerin TeresaTeresa eröffnete auch das erste Ladenlokal für

Es blieb kaum Zeit für andere Aktivitäten. Josef hingegen konnte schon so manches Wochenende im deutschen Club verbringen und nahm am sozialen Leben der deutschen wie bolivianischen Gesellschaft aktiv teil. Teresa empfing ebenfalls Gäste in ihrem

Unterstützung durch ein indigenes Kindermädchen

Es wird gefeiert

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Fleisch- und Wurstwaren in Cochabamba. Dort wurden die Produkte der Metzgerei, wie die Produkte der Molkereien verkauft. Teresa arbeitete bis 1988 im Ladengeschäft. Sie hatte 1000 Geschäftsideen. Ihr Traum war es, noch ein deutsches Restaurant zu eröffnen. Leider schaffte sie dies nicht mehr.

Teresa galt als die selbstbewusste, agile Geschäftsfrau in Cochabamba - eine Kuriosität, die große Ausnahme unter den traditionellen Frauen der besseren Gesellschaft. Teresa fuhr ihre Lieferwagen selbst. Durch diese und viele andere mutige Taten war Teresa bekannt und geachtet, aber auch die Ausnahme, die Arbeitssame, die starke Frau. Dieser Typ Frau kam einer Revolution in Cochabamba gleich: Sie erntete, butterte, vermarktete, fuhr Auto. Vor allem hatte sie eine gute Nase für Geschäfte. Der Typ Mensch, dem man eine harte Schale, aber einen weichen Kern zuschreibt. Im Leben handelte sie immer als die „gute Deutsche“ – so verstand sie sich. 1947 haben sie die deutsche Staatsangehörigkeit aufgegeben, da  Bolivien für sie zur zweiten Heimat wurde. Teresa starb im Jahre 1992 im Alter von 83 Jahren in Cochabamba. Sie hatte fast bis zuletzt im Familienbetrieb mitgearbeitet. In der Metzgerei und

im Laden arbeiten auch Tochter Hildegard und die Ehefrau von José, Ingeborg Kölbl Wille. Hilde führte den kleinen Laden als Teresa sich zur Ruhe setzte bis zum Jahre 2000 weiter.

Erweiterung des Geschäftes

Im Jahr 1991 errichteten José und Ingeborg Kölbl im Zentrum von Cochabamba auf der Avenida Heroinas, ein Gebäude, um im Erdgeschoss einen kleinen Supermarkt zu eröffnen, um unter anderen die Produkte der Metzgerei und auch die Produkte der eigenen Molkerei zu verkaufen. Die Metzgerei feiert dieses Jahr ihr fünfzigstes Jubiläum (1964-2014). José Haas arbeitet auch weiterhin in der Metzgerei  und  Landwirtschaft, Ingeborg Kölbl zeichnet sich verantwortlich für den Supermarkt zusammen mit ihrer Tochter Mónica Haas.

Beziehungen zu DeutschlandJosef und Teresa reisten mehrmals nach Deutschland, um ihre Familien zu besuchen. Nach Deutschland zurückzukehren, kam jedoch für sie nicht in Frage. Bis auf Manfred leben alle Kinder in Bolivien und haben sich hier in ihrer  Heimat etabliert ebenso wie ihre Kinder und Enkelkinder.  

Das Interview mit José Enrique Haas und Ingeborg Kölbl de Haas wurde im April 2014 in Cochabamba

geführt 

Teresa fünfzig Jahre alt

Anlage Metzgerei Haas

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Der junge Oswald im Kreise seiner Matrosenfreunde

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ba3 OswaldOswald Henkel

geboren in Nowawes, heute Babelsberg am 22. März 1893gestorben in Cochabamba am 16. Dezember 1970

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Oswald Henkel mit Arbeitskollegen und Eisenbahn in Machacamarca

Die Auswanderung

Mein Vater, ein gebürtiger Babelsberger, arbeitete damals bei Orenstein & Koppel, einer Lokomotiv- und Maschinenbaufabrik in Babelsberg, heute Kreis Potsdam. Dort bestellte der Zinnbaron Simon I. Patiño Lokomotiven und das Zugehör, wie die Waggons, unter der Bedingung, dass ein Ingenieur für die Wartung und den Aufbau einer Werkstatt in Machacamarca mit entsandt wird. So unterschrieb mein Vater 1920 seinen ersten Arbeitsvertrag für 6 Jahre. Mein Vater entschloss sich zu dem Schritt, da die Verhältnisse in Deutschland nicht gut waren und er mit Gattin, Emmi, gebürtige Magdeburgerin, und dem ersten Kind, Margot, das Risiko auf sich nehmen wollte. Er wagte den Neuanfang, in einem Land, dass gerade durch den Zinnboom Reichtum regenerierte.

Die Ankunft

Machacamarca, auf circa 4 200 müMN gelegen, war nicht nur was die Höhe anbelangte eine Herausforderung. Eine minimale Infrastruktur und städtisches Leben waren nicht gegeben. Es war eine reine Minenstadt in den Hochanden mit einer Anlage zu Aufbereitung der Mineralien. Sie schifften sich in Hamburg auf der Cap Acorna ein bis zum Zielhafen Buenos Aires. Von dort ging es weiter per Zug in circa 5 bis 6 Tagen nach Oruro. Margot war gerade mal neun Monate alt bei dieser Reise und wurde erst einmal höhenkrank. Das ganze geschah ohne ärztliche Betreuung. In großen Überseekoffern wurde seine persönliche Habe, in erster Linie Haushaltsgegenstände, mitgeführt. Simon I. Patiño hatte ihm Haus und Hof versprochen. Was mein Vater vorfand war zwar ein großes Haus, aber nur mit Tischen und Stühlen vollgestellt – zum Schlafen gab es rein gar nichts, aber alles für große Feiern. Dann ließen sie sich erst einmal das Nötigste aus Oruro kommen und fertigten sich Betten und

Schränke aus Holz an. Das warme Badewasser wurde aus der Lokomotive, die im Abstand von nur einigen Metern am Haus vorbei fuhr, geliefert. Erst später gab es Badeöfen, die mit getrocknetem Llama- und Schafskot beheizt wurden. So wurde auch gekocht. Meine Eltern konnten bei ihrer Ankunft in Machacamarca kein Wort Spanisch, geschweige denn Aymara oder Quechua, was die Landbevölkerung sprach.

Das Einleben in Machacamarca

Wir hatten einen Garten, in dem Radieschen, Mohrrüben, Mohn und Rosen gepflanzt wurden ebenso wie viele Bäume. Hühner, Enten, Schafe

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Der Buick – noch auf Schienen

Unter Soldaten der kaiserlichen Marine in Konstantinopel

und Schweine ergänzten die Ernährung der Familie zusammen mit einem Gemüsegarten. Dann konnte man in der „pulperia“, dem Lebensmittelgeschäft der Minenfirma, dänische Butter und andere

hauptsächlich aus England importierte Produkte kaufen. Frischfleisch kam aus Oruro. Mein Vater lernte aus purer Not, Würste herzustellen, Kinder

zur Welt zu bringen, rundweg alles, was man in der absoluten Pampa zum Überleben brauchte – man rief den Gringo eben auch zu den Geburten, da es keinen Arzt gab. Einen Erste-Hilfe-Kurs hatte er im

ersten Weltkrieg absolviert, wo er in der kaiserlichen Marine in Konstantinopel stationiert war. Dieser leistete ihm jetzt gute Dienste.

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Familie Henkel

Beruflich ging es mit meinem Vater bergauf. Sein Dienstherr Simon I. Patiño fing gerade damit an, die Mine zu erschließen und sich eine eigene Infrastruktur per Eisenbahn zu erstellen. So musste mein Vater die Buicks, richtige Autos, für die Schienen umbauen.

Zudem veranlasste Simon I. Patiño, dass noch eine Tischlerei und eine Gießerei vor Ort aufgebaut wurden.

Die Familie wächst – unser Leben in Machacamarca

Nachdem Haus und Hof eingerichtet und die Versorgung mit Lebensmittel durch Eigenversorgung mehr recht als schlecht gesichert war, erblickte 1922 Mercedes, meine zweitälteste Schwester das Licht der Welt in Machacamarca. Ihr folgte Schwester Gisela 1924, dann mein Bruder Oswald 1929, Irmgard

1931 und ich, Erich, der Jüngste der Familie im Jahre 1935. „Mein Kapital läuft auf der Straße!“ war einer der Lieblingssprüche meines Vaters.

Sogar einen Tennisplatz und ein Clubhaus gab es Dank der Rührigkeit meines Vaters in Machacamarca. Der Tennisplatz war mit rotem Sand aus gemahlenen Ziegelsteinen fachgerecht ausgestattet worden. Mein Vater wusste sich zu helfen! Familienausflüge fanden im Umkreis von Machacamarca statt. Wenn man etwas mehr Gesellschaft suchte, begab man sich nach Oruro. Oruro hatte zu dieser Zeit eine schöne große deutsche Kolonie, die größer war als in La Paz. Sozial engagierte man sich im Deutschen Club in Oruro. Ebenso ließ sich die erste deutsche Bank in Bolivien in Oruro nieder. Der Bergbau boomte in dieser Stadt!

Heimaturlaub wurde unserer Familie alle sechs Jahre von Simon I. Patiño bezahlt. 1927 und 1936 reisten wir nach Babelsberg als gesamte Familie. Dann brach der II. Weltkrieg aus. Per Deutscher Welle hielt mein Vater seine Verbindung mit Deutschland aufrecht. Er berichtete an die Deutsche Welle, wie ihr Empfang in Bolivien war. Heimaturlaube gab es keine mehr.

Der Krieg hatte schwerwiegende Folgen für unsere Familie. Da meine älteren Geschwister in Babelsberg zur Schule geschickt wurden (in Oruro gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine gut funktionierende Deutsche Schule), führte der Ausbruch des II. Weltkriegs zu einer Familientrennung.

Zeiten der Veränderungen

1942 verließ mein Vater Machacamarca, da er im jungen Alter von 49 Jahren einen Herzinfarkt erlitt, so dass er umgehend aus der Höhe wegziehen musste. Wir siedelten nach Cochabamba. Nur meine älteste Schwester und das jüngste Kind, also meine Wenigkeit, lebten zu diesem Zeitpunkt noch in Bolivien.

Nach dem II. Weltkrieg wurde er nicht in ein Internierungscamp geschafft, was außergewöhnlich war. Die bolivianische Regierung fragte stattdessen bei ihm an, ob er die Betreuung der bolivianischen

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Eisenbahn übernehmen könnte. Er schlug das Angebot aus. Die Regierung setzte ihn jedoch so unter Druck, dass er die Stelle als führender Ingenieur für den Bau der Straßentrasse von Santa Cruz nach Cochabamba und von Cochabamba nach Santa Cruz an nahm. Er wurde in Santa Cruz stationiert. Die Straßentrasse wurde von zwei Seiten aus gebaut. Um nicht in ein Internierungslager verschickt zu werden, übernahm er also den Straßenbau. Alle Maschinen wurden von Cochabamba nach Santa Cruz in einer Zeit von 4 ½ Monaten transportiert. In Santa Cruz baute er auch den Maschinenpool für Bau und Wartung auf – er war sehr vielfältig veranlagt, mein alter Herr. Das betrieb er von 1946 bis 1953. Auch eine amerikanische Wegebaugesellschaft hat ihn danach bis zu Fertigstellung der Strecke übernommen. Als dieses Straßenprojekt beendet war, nahm ihn der bolivianische Staat, die CBF, wieder unter Vertrag bis zum Jahr 1963.

Mein Vater hat erst mit 70 Jahren sein Arbeitsleben beendet und ist dann erst nach Deutschland zurückgegangen. Alles wurde in Cochabamba verkauft. Er wollte seine letzten Tage in seiner alten

Heimat verbringen und dort beerdigt werden. Er lebte sich aber nicht bei seiner ältesten Tochter in Flensburg ein und kehrte nach Bolivien zurück. 1970 verstarb er in Cochabamba. Er hatte in dieser Stadt viele Freunde, zweimal pro Woche spielte er Skat, war aktives Chormitglied, Mitglied des Deutschen Clubs in Oruro und auch in Cochabamba, nahm am deutschen Stammtisch teil. Er liebte es, dass Alt und Jung hier immer zusammen trafen.

Sein ganzes Geld verlor er, weil er es auf der Südamerikanischen Bank in Buenos Aires hinterlegt hatte. Ihm wurde angeraten, um sein Geld nicht zu verlieren, die bolivianische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Das tat er nicht. Er war korrekt und konsequent. So verlor er sein Geld. Durch die nächsten Jobs hat er aber immer wieder gutes Geld verdient. Mein Vater hatte sein gesamtes Vermögen in Goldpfund angelegt, da Simon I. Patiño den Lohn in Goldpfund auszahlte. Das war damals die stabilste Währung in Bolivien und Patiño war sehr europäisch eingestellt. Am Ende seines Arbeitslebens war mein Vater ein wohlhabender Mann.

Das Fußballteam von Machacamarca

mit meinem Vater als Sponsor

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Der Alltag in Machacamarca

Der Arbeitsalltag begann um 7 Uhr in der Früh und es wurde durch gearbeitet. Meine Mutter wurde von einer Köchin, einem Gärtner, einer Waschfrau und einem Kindermädchen unterstützt. Es wurde deutsch gekocht. Mein Vater hat selbst gern gekocht und auch geschlachtet und geräuchert. Wie gesagt, er war sehr vielseitig veranlagt. Für meinen Vater gab es nicht das Wort „geht nicht“. „Man muss nur wollen“, sagte er dann. Meine Mutter war eine typische deutsche Hausfrau und liebevolle Mutter. Als Abwechslung gab es neben dem Tennisspiel auch ein Kino in Machacamarca, das man am Abend besuchen konnte.

Das Familienleben

Mein Vater war sehr kinderlieb, was man ja auch gemerkt hat. Er hat uns in der deutschen Kultur aufgezogen, deutsche Märchen vorgelesen und deutsche Lieder gesungen. Das haben wir mehr von unserem Vater gelernt. Er hat auch immer darauf gedrungen, dass Deutsch in der Familie gesprochen wurde. Er las immer nur deutsche Bücher. Großes Interesse bekundete er sein Leben lang für das Geschehen in Deutschland, aber er war nie Parteimitglied der NSDAP. Englische Sender konnte man nicht in Machacamarca empfangen. So hat er die englische Sprache erst durch die Amerikaner im späteren Arbeitsleben erlernt.

Persönlichkeitsprofil des Vaters

Mein Vater war zwar treudeutsch in seinem Wesen, aber sehr aufgeschlossen und lernbegierig. Er war sein Leben lang sehr korrekt und hilfsbereit. Er war ein guter, gerechter, aber strenger Chef. Er wurde von seinen Arbeiter und Angestellten der Tiger - el Tigre - genannt. Die Arbeiter hatten keine Angst, aber sehr viel Respekt vor ihm.

Mit einer Anekdote möchte ich dies untermauern: Als einer seiner Enkel, Thomas Henkel, per Eisenbahn von Bolivien nach Argentinien fahren wollte, wurde er am Bahnschalter gefragt, wie er zu

dem Nachnamen „Henkel“ käme und ob er mit dem Henkel aus Machacamarca verwandt sei. Als Thomas Henkel erklärte, dass dies sein Großvater sei, meinte der alte Bahnangestellte: “Oh, dann bist Du verwandt mit „el Tigre“, da muss man doppelt aufpassen, sonst kommt er aus dem Himmel!” Er konnte sich noch gut an meinen Vater „el Tigre“ erinnern.

Interview mit Sohn Erich und Ehefrau Ilse HenkelCochabamba, April 2014

Wohnhaus der Familie Henkel in Machacamarca

Bahnstation in Machacamarca

Bahnarbeiter auf Lockomotive, Machacamarca

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ba4 JohnJohn Laurenz

Schmidt Kranemanngeboren in Nowawes, heute Babelsberg am 22. März 1893

gestorben in Cochabamba am 16. Dezember 1970

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Die Auswanderung

John wurde als jüngster Sohn in einer Hamburger Familie 1901 geboren. Für ihn als jüngstes Kind der Familie fehlte Geld zum Studium. Nach der Schule begann er in einem Kaffeekontor zu arbeiten und absolvierte dort eine Buchhalterlehre. 1926 wanderte er aus. Durch eine Zeitungsannonce hatte er erfahren, dass man einen Buchhalter in Bolivien suchte. Er war abenteuerlustig und noch ungebunden und erhoffte sich eine bessere Zukunft in Übersee.

Per Schiff kam er mit seiner gesamten Habe, die in einem Überseekoffer passte, von Hamburg nach Antofagasta. Von Antofagasta ging es weiter per Zug nach Cochabamba zu einer Firma, die sich auf Eisenwaren spezialisiert hatte. Firmenbesitzer waren anteilig zwei deutschstämmige Familien. Am Anfang wohnte er an der Plaza Padilla in einer Zweizimmerwohnung, die die Firma für ihn bereitstellte.

Zwei Jahre später holte er seine Freundin, Anne Lise Skuldzus, aus Hamburg nach Antofagasta nach, wo die beiden standesamtlich heirateten. Beide hatten die lutherische Glaubenszugehörigkeit. Beide stammten aus dem Norden Europas, die Vaterlinie aus Norwegen, die Mutter aus Litauen. Die Eltern der Braut hatten zur Bedingung gemacht, dass umgehend geheiratet werden solle. Anne Lise reiste mit einer enormen Truhe mit ihrer gesamten Ausstattung aus Deutschland an: Bettwäsche, Laken, Handtücher. John hatte ihr mitgeteilt, dass es hier in Bolivien sehr primitiv zuging. So kam meine Mutter 1930 in Cochabamba an und fiel fast in Ohnmacht über ihr neues Zuhause. Die Firma stellte ihnen ein kleines Häuschen zur Verfügung an der Pazuela Padilla.

Die junge Familie wächst

Das erste Kind, Heidi genannt, erblickte im Jahre 1932 in Cochabamba das Licht der Welt. Heidi Schmidt wurde später als große Malerin in Bolivien gefeiert und erhielt die höchste bolivianische Auszeichnung im Kunstbereich den „Premio Nacional de Bellas

Artes“. Die junge Mutter Anne Lise tat sich zu Beginn schwer mit den Gewohnheiten in Bolivien. So konnte sie zum Beispiel diese offenen Fleischstände am Markt nicht anblicken. Dies war ihr zuwider. Allerdings hatte sie eine indianische Magd, die ihr sowohl das Einkaufen am Markt wie die spanische Sprache beibrachte. Meine Mutter kam aus einer vornehmen Hamburger Familie und war anfangs von der Kultur in Cochabamba nicht begeistert. Sie hatte keine Freundinnen, keinen sozialen Kreis in der Stadt, aber aus Liebe zu ihrem Mann nahm sie die Umstände in Kauf. Mein Vater erlernte die spanische Sprache leicht, da er sehr an Sprachen interessiert war und durch den Publikumsverkehr in seiner Firma schnell dazu lernte. Zudem hatte er schon in Hamburg Spanischunterricht genommen. Mein Vater war ein gemütlicher, zufriedener Mensch, der sein Schicksal annahm, so wie es kam. Meine Mutter beklagte sich schon eher mal über die Umstände des neuen Lebensumfeldes.

Umzug nach Oruro

Ein einschneidendes Erlebnis für die junge Familie passierte im Jahre 1935: Die Firma Findel zog nach Oruro um und lud meinen Vater und zwei weiterer Deutsche ein, mit nach Oruro zu ziehen. In Oruro stellte die Firma der Familie ein schönes, großes Haus in guter Lage zur Verfügung. Lohn und Arbeitsbedingungen verbesserten sich ebenso. Vater akzeptierte sofort und meine Mutter willigte in

Anneliese Skuldzus und John Schmidt

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den Umzug ein, da sie in Erfahrung gebracht hatte, dass die größte deutsche Kolonie in Oruro lebte und sie dort Bridge spielen und ihren Hobbies in einem deutschsprachigen Kreis nachgehen konnte. Oruro hatte zu dieser Zeit sogar einen Zweigstelle einer deutschen Bank (wahrscheinlich die deutsch-Südamerikanische Bank). 1936 erblickte ich als zweites Kind das Licht der Welt in Oruro. Es war eine Hausgeburt unterstützt von einer deutschen Ordensschwester. Wir hatten damals in Oruro eine Kongregation deutscher Schwestern, die extra zu meiner Mutter kamen, da ihr Spanisch noch nicht ausreichte, um sich zu verständigen.

Beruflich ging es meinem Vater in Oruro gut. Frau Findel, die Firmenbesitzerin, heiratete einen Herrn Rüde, der somit von einem Tag auf den anderen der neue Chef meines Vaters wurde. Der neue Chef verlangte sehr viel von den Deutschen. Herr Ludewig und Klaus Schmidt waren weitere deutsche Kollegen in der Firma. Sie alle mussten bis 20:00 abends arbeiten und wurden von dem angeheirateten Herrn Rüde nicht gerade gut behandelt. Das Gehalt reichte für ein gut bürgerliches Leben, man konnte lokale Reisen unternehmen, z.B. nach Cordoba, Argentinien. Zudem wurde eine Reise mit den Kindern nach Deutschland unternommen, wo die Kinder in Hamburg lutherisch getauft wurden.

Zentrum des sozialen Lebens in Oruro - der Deutsche Club

Oruro war in diesen Jahren eine Boomstadt – sie beherbergte die größte deutsche Kolonie in Bolivien. Viele Deutsche hatte der Bergbau nach Oruro gelockt, wo sie in die Erschließung von Minen investierten, wie die berühmten deutschen Zinnbarone Hochschild und Eickenberg. Sie verdienten viel Geld in dieser Zeit und zogen deutsche Fachkräfte nach. Der erste Deutsche Club in Bolivien wurde 1898 in Oruro gegründet, früher als der Deutsche Club in La Paz. Der Deutsche Club in Oruro war der Treffpunkt der feinen Welt. Hier verbrachte man seine Freizeit: Es wurde Skat gespielt oder Feste gefeiert. Der Club war im deutschen Stil eingerichtet mit einem Kachelofen, der mit getrockneten Lamamist beheizt

wurde. Ansonsten war das Ambiente eher im Stil einer deutschen Gastwirtschaft gehalten. Serviert wurde strammer Max, Braten und Spiegelei, deutsche Speisen halt und jeden Mittwoch traf man sich hier zum Skatabend. Für 2000 Personen hatte der Club ein Service der Marke Hutschenreuther aus Deutschland importiert, welches mit der Aufschrift „Club Aleman Oruro“ und dem Bild eines Bergmannes, der eine Lore schiebt, versehen war. Ein perfektes Service mit kleinen und großen Tellern, Desserttellern, etc.. Der Deutsche Club richtete auch große Feste aus, wie z. B. meine Hochzeit für 400 Personen. Wir hatten ja genügend Porzellan!

Gutes Porzellan war in der damaligen Zeit ein Statussymbol. Es wurde aus Übersee importiert und - als es noch keine Eisenbahnlinie gab - mit speziell für diesen Zweck gezüchtete Maultiere über die

Hutschenreuther Porzellan mit der Aufschrift

“Club Alemán Oruro”

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Anden geschafft. Oft leisteten sich die Reichen den Luxus sich eigene „Familienservice“ anfertigen zu lassen, versehen mit dem Familienwappen in den Farben ihrer Anwesen gehalten, mit blauem oder rotem Rand und mit goldener Verzierung. Wehe dem, der sich nicht den Regeln beugte und es wagte, ein Service zu bestellen, das schon von einer anderen Familie als „ihr Familienservice“ definiert worden war. Auch da galt es Spielregeln einzuhalten. So konnte meine Schwester Rosemarie in späteren Jahren ein Rosenthal Service mit Goldrand, der Serie Aida aus dem Jahre 1912 aus dem Nachlass vom Zinnbaron Simon Patiño ersteigern.

Als Kind erinnere ich mich an die großen Feste, die im Deutschen Club gefeiert wurden mit 400 bis 500 Leuten! So war das Gesellschaftsleben in Oruro, es wurde Geld im Bergbau verdient und genauso schnell wieder ausgegeben.

Weitere deutsche Einrichtungen entstehen in Oruro – die Deutsche Schule

Als die Kinder heranwuchsen gründete mein Vater mit weiteren Deutschen die erste deutsche Schule in Bolivien mit finanzieller Unterstützung des Deutschen Reiches. Anfangs war die Schule für 150 Kinder konzipiert. Später lernten an dieser Schule 400 Kinder unter der Aufsicht von entsandten deutschen Fachkräften. Ab 1952 wurde mein Vater zum ersten Deutschen Konsul nach dem Krieg in Oruro ernannt. Ihm oblag es, die deutschen Lehrer nach Oruro zu holen. Während des Schulbaus hielten Gemeindemitglieder trotz Kälte und Regen nachts Wache auf der Baustelle. So schlief auch mein Vater so manche Nacht auf einem Feldbett in dem Rohbau.

Der Alltag in Oruro

Der Alltag in Oruro war phantastisch. Der Kindergarten war ein deutscher Kindergarten geleitet von deutschen Schwestern. Am Morgen liefen wir allein Hand in Hand in unseren Kindergarten und meine Mutter holte uns täglich ab. Hier wurde nur Deutsch gesprochen. Meine Eltern

unterhielten ein reges soziales Leben. Es wurde gefeiert und getanzt meistens in privaten Häusern der Deutschen. „Ich tanze mit dir in den Himmel hinein...“ war damals ein sehr beliebter Song. Wir hatten viele deutsche Schallplatten. Meine Mutter hatte auch nur deutsche Freundinnen und vor allen deutsche Bridgespielerinnen!

Zu dieser Zeit hatten wir noch kein Kraftfahrzeug. Wenn mein Vater zu weit entfernten Minen gesandt wurde, um Gelder einzutreiben, da man auch Kredite vergab zum Kauf der Eisenwaren der Firma, geschah die Reise per Maultier. Pferde hatten nur die Militärs, während man sich Maultiere für zwei oder drei Tage mieten konnte. Diese Reisen waren extrem beschwerlich. Wenn die Nacht die Reisenden überraschte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als im Freien oder unter einer Brücke zu nächtigen. Vater musste sehr hart arbeiten, während meine Mutter von Anfang an von einer Indianerin als Köchin, der lieben Tea, unterstützt wurde. Die Tea konnte bald besser Deutsch, als meine Mutter Spanisch sprach! Meine Mutter konnte kein Spanisch und hatte nie Interesse, Spanisch zu lernen! Sie spielte Klavier, sie nähte unsere Kleider und unsere Uniformen und spielte leidenschaftlich einmal in der Woche Bridge. In Oruro wurde auch das dritte Kind geboren, ein Sohn, der aber kurz nach der Geburt an Typhus verstarb.

Wir heizten und kochten mit getrocknetem Lamamist. Zweimal in der Woche durfte jedes Familienmitglied ein warmes Bad genießen. Das war damals eine Besonderheit in Oruro. Das Wohnzimmer wurde nur bei Familienfeiern oder sonstigen Anlässen beheizt. Es war oft bitterkalt. Die Küche wurde von der Mutter beaufsichtigt. Es wurden deutsche Speisen gekocht und Tea lernte deutsche Gerichte zu kochen.

Die Auswirkungen des II. Weltkriegs

Beide Eltern behielten ihr Leben lang die deutsche Staatsangehörigkeit bei. Meine Mutter war das Herz der deutschen Kolonie und wurde von allen „Mami“ genannt. Meine Mutter nahm sich der kranken Deutschen an, besonders die Alleinstehenden

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und sie behandelte sie auch bei uns zu Hause. Für alle war sie die Mami. Sie war eine sehr beliebte Frau in Oruro. Mit der Herausgabe der „Schwarzen Liste“ nach Kriegsende kam mein Vater in ein Internierungslager: Drei Jahre in den USA, so wie alle deutschen Lehrer und die meisten Mitglieder der deutschen Kolonie, obwohl mein Vater gegen Hitler war und sich auch so artikuliert hatte.

Die Zeit der Internierung meines Vaters war für uns alle eine sehr harte Zeit. Alle Ersparnisse wurden eingefroren. Meine Mutter sicherte den Lebensunterhalt unserer Familie dadurch, dass sie die Uniformen für die deutsche Schule fertigte. Wir Kinder mussten helfen und die Knopflöcher stechen. Zudem gab sie Klavierunterricht, um das Überleben zu sichern. Meine Schwester und meine Mutter haben sehr unter dieser Zeit gelitten. Sie sind beide gut über den Berg gekommen, aber meiner Mutter ging es seelisch schlecht, da sie die Kriegsmitteilungen jeden Abend am Radio verfolgte. Beide Großeltern kamen bei Bombenangriffen in Hamburg ums Leben. So habe ich meine Großeltern nie kennengelernt.

Die Nachkriegszeit

Meine Mutter kaufte sich von ihrem ersparten Geld einen kleinen gebrauchten Mercedes, um zu den warmen Quellen nach Obrajes zu fahren. Das war ihr kleiner Luxus! Die meisten Deutschen kauften sich zu dieser Zeit kleine Mercedese in Oruro.

Erst 1950 kehrte mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Mein Vater gab die Arbeit in der Firma Findel & Bogolde auf, da er dort schlecht behandelt wurde. Er machte sich selbstständig und eröffnete ein kleines Eisenwarengeschäft, in dem die ganze Familie mitarbeitete. Nach und nach konnten wir uns vergrößern, da mein Vater sehr gute Kontakte hatte und er ein sehr liebenswerter Mensch war. So erhielt er verschiedene bolivianische Vertretungen, wie z.B. die Alkoholmarke „Caiman“. Wir verkauften damals alles, was Geld brachte. Auch das Eisenwarengeschäft expandierte. So konnte man sich 1950 ein eigenes Wohnhaus im Stadtzentrum kaufen, in dem die Eisenwarenhandlung im unteren Geschoß einzog.

Da es finanziell bergauf ging, konnte er seine jüngste Tochter nach dem Abitur in Oruro nach Heidelberg zum Studium senden, wo sie ihre Dolmetscherprüfung am Deutschen Fremdspracheninstitut absolvierte. Ein Jahr später ging es dann nach England, wo sie das Cambridge Examen ablegte. Dies war die Voraussetzung, die es ermöglichte, später in Hamburg bei der Deutsch-Südamerikanischen Bank zu arbeiten. Der Vater hatte dies eingeleitet, um seine Tochter in das Geschäft in einzuarbeiten.

Nach dem II. Weltkrieg wurde mein Vater der erste deutsche Konsul 1953 in Oruro. Immer noch lebten in Oruro viele Deutsche. Da es ihm geschäftlich gut ging, konnte er es sich leisten, konsularisch ehrenamtlich tätig zu werden. Mein Vater erhielt sogar das deutsche Bundesverdienstkreuz nach 25 Jahren konsularischer Tätigkeit.

Einmal im Jahr lud er alle Deutschen zuhause ein. Politische Reden wurden gehalten und es wurde informiert, was in Deutschland passierte wie z. B. über den Mauerbau. Mein Vater war sehr an deutscher Politik interessiert. So organisierte er auch Informationsveranstaltungen für Deutsche mit Würstchen und Kartoffelsalat! Ungefähr 40–50 Deutsche nahmen daran in der Regel teil. Alle waren gegen die Hitlerzeit, man hisste die deutsche Fahne und sang die neue deutsche Nationalhymne. Es war ein reges Leben an der deutschen Schule und im Deutschen Club. Mein Vater war auch Präsident des Deutschen Schulvereins in Oruro. Das soziale und wirtschaftliche Leben in Oruro war immer sehr stark von der deutschen Gemeinschaft geprägt bis die Generation der ersten Auswanderer verstarb. Später hatten wir sogar eine Nichtregierungsorganisation, die mit Unterstützung von EU-Mitteln arbeitete, um Infrastruktur im Straßen- und Wegebau und in der Bewässerung zu fördern. Das war ein reges Leben der Deutschen in Oruro!

Beziehungen zu Deutschland 

Geschäftlich erhielt mein Vater verschiedene Vertretungen aus Deutschland. Privat besuchte man die Geschwister in Deutschland und die

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jüngste Tochter. Er hatte auch noch viele Freunde in Deutschland, in erster Linie in Hamburg, er war Hamburger geblieben. Deutsche Politik und das Zeitgeschehen haben wir weiter mit Interesse verfolgt.

Persönlichkeitsprofil des Vaters

Mein Vater war ein arbeitsamer Mensch mit großen Prinzipien. Er hatte eine spezielle Lebensphilosophie. Er war ein Mensch, der jedem half. Sein Leben lang war er Freimaurer. Den Familienbetrieb führte er sehr umsichtig und geplant. Er war vorausschauend. Mein Vater ist und war in meinen Augen der perfekte Mann!

Das Interview mit Tochter Rosemarie Schmidt, verheiratete Cederberg, wurde im April 2014 in

Cochabamba geführt.

Feine Gesellschaft im

“Club Alemán Oruro”

Aus: Bolivia en el primer Centenario de su

Independencia 1825 -1925

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ba5 Nicolas Nicolas Jürgen Schütt

von HoldtGeboren in Wilster, Schleswig Holstein, am 7. Januar 1871

Gestorben in Sucre im Juni 1957

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Auswanderung

Unser Großvater Nicolas wurde am 7. Januar 1871 in Wilster, Schleswig Holstein, geboren. Sein Vater Johann Schütt war Kaufmann, seine Mutter, Luise von Holdt, war Hausfrau. Nicolas studierte an einer Hamburger Handelsschule und schloss als bester seiner Klasse ab. Er war ein abenteuerlustiger, neugieriger junger Mann. Sein strenger Vater legte ihm am Ende seiner Ausbildung eine Rechnung mit den entstandenen Kosten vor. Als unser Großvater in der Zeitung eine Anzeige der deutsch-bolivianischen Firma Morales Bertram entdeckte, die eine Fachkraft mit kaufmännischer Ausbildung für ihre Filiale in Potosí, Bolivien, suchte, überlegte er nicht lange, nahm das Angebot an und reiste per Schiff von Hamburg nach Antofagasta. Es war das Jahr 1892, er war 21 Jahre alt.

Ankunft in Bolivien

Nicolas wurde in der Niederlassung von Potosí stationiert, arbeitete zugleich für die Zweigstelle in Oruro. Das Handelshaus exportierte Mineralien und importierte im Gegenzug Werkzeug und Gebrauchswaren, vor allem aus Deutschland. Auch Luxusprodukte wie Möbel der Firma Thonet und elegantes Porzellan wurden in die Bergbauregionen geliefert. Vor dem Bau der Eisenbahnlinie musste alles aus der Hafenstadt Antofagasta mit Maultieren in die Ortschaften des Hochlandes transportiert werden. Drei Jahre arbeitete er in Bolivien und nach Ende seines Vertrages kehrte er nach Hamburg zurück.

Ein paar Jahre später schlug ihm die Firma vor, wieder bei Morales Bertram in Bolivien zu arbeiten. Nicolas hatte nicht nur eine gute Arbeit geleistet, sondern auch einen wesentlichen Anteil zum Erfolg des Handelshauses beigetragen. Er willigte unter der Bedingung ein, als Teilhaber an der Firma in das Geschäft in Potosí einzusteigen. So entstand die Firma Morales, Bertram & Schütt.

Familiengründung

Nicolas heiratete in Sucre Estela Urdininea Calvimonte, eine junge Frau aus angesehener Familie. Zwei weitere Schwestern Estelas heirateten ebenfalls junge Deutsche, und so entstanden außer der Familie Schütt Urdininea, die Familien Gerke Urdininea und Arndt Urdininea. Das junge Paar lebte in Potosí, aber zur Geburt ihrer Kinder ritt Großmutter nach Sucre, wie damals üblich bei gut situierten Familien, denn man befürchtete, dass Kinder auf der Höhe mit Herzfehlern geboren würden. Drei Kinder erblickten in Sucre das Licht der Welt: Luisa 1902, unser Vater Nicolas Alberto 1903 und Julio 1905. Zu dieser Zeit wurde die Firma aufgelöst und die Filialen unter verschiedenen Geschäftsführern aufgeteilt. Unser Großvater erhielt das Geschäft in Potosí und seine Partner die Niederlassungen in Cochabamba und Oruro.

Unsere Großeltern übernahmen ein altes Haus in der Calle Matos im Stadtzentrum von Potosí. Es war Teil eines ehemaligen Klosters, dass unter Denkmalschutz stand und sich noch heute noch im Familienbesitz befindet. Im Winter lebten sie in einem tiefer gelegenen Haus an der Avenida Villazón, in der Nähe des Bahnhofs.

Später lebte dort auch Tante Luisa mit ihrem ersten Mann, Anton Nowotny, und unser Vetter Edgar. Großvater war ein passionierter Reiter und hielt mehrere Pferde in einem Stall mit Freigehege des Winterhauses. Freunde erzählten uns, dass ihre Eltern die Uhren nach dem täglichen Ausritt von Don Nicolás, so wurde er genannt, stellen konnten. Denn jeden Tag in der Früh ritt er zur gleichen Stunde aus, um das Geschäftshaus im Zentrum zu erreichen. Er war genauso pünktlich und korrekt beim Ausritt wie in seinen geschäftlichen Angelegenheiten. Die Büroräume im ehemaligen Klostergemäuer waren sehr kalt. Einige von uns Enkelkindern erinnern sich noch gut an die Angestellten, die in den karg beheizten Räumen am Stehpult stehend im Mantel arbeiteten. Wir Kinder waren von diesem Haus magisch angezogen, von den gruseligen Gespenstergeschichten, die wir zum Teil selber erfanden und genüsslich verbreiteten.

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Das Handelshaus Schütt

Das Geschäft firmierte zuerst unter „Schütt von Holdt Import“, mit einer kleinen Fußnote auf dem Geschäftspapier, „Nachfolger von Morales, Bertram & Schütt“. Zur Zeit unseres Vaters wurde es in „Nicolas Jürgen Schütt Suc.“ umbenannt. Am Anfang wirkte die Firma nur in Potosí, und unser Vater war von dort aus als Handelsreisender hoch zu Ross unterwegs. Auf Maultieren wurden hauptsächlich Textilien, in Lederkoffern verpackt, von Ort zu Ort transportiert. Die Ziele waren vor allem Dörfer in den Provinzen von Potosí, Chuquisaca und Santa Cruz. Der Handelsvertreter führte die Muster den lokalen Händlern vor und nahm ihre Bestellungen entgegen. Man ritt damals immer zu zweit aus. Ein Maultier trug die Betten und die anderen Tiere die Musterkoffer. Gastfreundschaft war ein ungeschriebenes Gesetz, so war es selbstverständlich, dass den Reisenden warmes Wasser, Heu für die Tiere und ein Platz, um die Betten aufzustellen, angeboten wurde. Wochen später ritt ein weiterer Angestellter mit der bestellten Ware aus und nahm die Zahlungen entgegen, eine vertrauensvolle Angelegenheit.

Nur ein einziges Mal passierte ein Missgeschick und zwar Jahrzehnte später, als die Waren schon in Lastwagen transportiert wurden: In den Wirren des Bürgerkriegs von 1948 versuchte ein junger Kassierer, das gesammelte Geld mit der Ausrede zu unterschlagen, er wäre von Soldaten der Aufständischen ausgeraubt worden. Unser Vater fuhr die ganze Route nach, befragte unter anderem Geschäftsfreunde und sogar den Befehlshaber der vermeintlichen Räuber und deckte den Schwindel auf.

Die „Casa Schütt“, wie das Handelshaus genannt wurde, war zuerst nur in Potosí tätig. Die Erweiterung nach Sucre fand Anfang der vierziger Jahre statt. Großvater blieb in Potosí und unser Vater zog nach Sucre um, wo das Geschäft zuerst in einem gemieteten Eckhaus an der Plazuela de la Policía betrieben wurde. Das heutige Haus an der Calle Arenales kaufte unser Großvater 1943. Die Geschäftsräume und Lagerhallen waren im Erdgeschoss untergebracht, unser Vater und die zwei Kinder aus erster Ehe bewohnten den obersten

Stock. Seine Frau Cira Mogro Jofré war 1939 nach der Geburt ihres zweiten Kindes gestorben. 1944 heiratete er Elisabeth Hodgkinson Hurtado. Die aus dieser Ehe stammenden weiteren sieben Kinder wurden alle in diesem Haus geboren.

Die importierte Ware wurde hauptsächlich an den Einzelhandel verkauft. Sowohl in der Zentrale von Potosí als auch in der Niederlassung in Sucre wurde ein breites Warensortiment vertrieben, das von Porzellan und Eisenwaren über englische Wollstoffe (Cashmere) bis hin zu Elektrogeräten und verschiedenen Maschinen reichte. Später kam die Vertretung von Medikamenten (Hoechst in Sucre und Bayer in Potosí) hinzu, die an Apotheken und Krankenhäuser geliefert wurden.

Familie und Gesellschaft

Mein Großvater schickte seine Kinder sehr früh nach Deutschland. Unser Vater wurde 1912 mit neun Jahren nach Hannover in die Schule gesandt und musste in Deutschland bis Ende des Krieges bleiben. Als er zurück kehrte, hatte er seine Muttersprache Spanisch verlernt und musste Spanisch Unterricht nehmen, um sich wieder mit seiner Mutter verständigen zu können. Großvater sprach Deutsch mit seinen Kindern, ansonsten wurde im Haus Spanisch gesprochen. Großmutter Estela, eine gebildete, feinfühlige Dame, führte ein großzügiges Haus mit weitreichenden familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Im „Rocambor - Saal“ wurde Karten gespielt, wohl auch Skat mit deutschen Freunden. Tante Luisa organisierte fröhliche Partys im Winterhaus, von denen man uns später wehmütig erzählte. Großvater war evangelisch, Großmutter katholisch. Sie nahm wohl weitgehend die Erziehung ihrer Kinder in die Hand.

Später, in Sucre, wurde zu Hause hauptsächlich Spanisch gesprochen und Deutsch nur noch, wenn Großvater zu Besuch aus Potosí kam oder deutsche Freunde unseres Vaters anwesend waren. Unsere Kenntnisse der deutschen Sprache erlangten wir in den deutschen Schulen von Sucre und La Paz. Zum Studium oder zur Ausbildung gingen alle Enkel nach Deutschland, einige auch in die USA.

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Zu Hause schätzten wir sehr die vielfältige bolivianische Küche, aber auch deutsche Spezialitäten, vor allem deutsches Gebäck. Zu Weihnachten hatten wir einen Christbaum zu Hause. Im Gegensatz zu Verwandten und Freunden, die damals meistens die traditionelle Krippe aufbauten. Am Heiligen Abend sangen wir deutsche Weihnachtslieder, assen aber danach die heimische Picaña und gingen anschließend zur „Missa de Gallo“. Vom Weihnachtsbaum über die Weihnachtslieder und Plätzchen bis hin zu den Süßigkeiten zu Ostern spürte man den deutschen Einfluss in unserer Familie.

Beziehungen zu Deutschland

Großvater wurde in den zwanziger Jahren zum Ehrenkonsul des Deutschen Reiches in Potosí ernannt. Wir haben Bilder von eleganten Veranstaltungen aus dieser Zeit. Zum Beispiel vom Besuch des General Kundt in Potosí, Anfang der dreissiger Jahre. 1934 brach der Chaco-Krieg zwischen Paraguay und Bolivien aus und unser Vater meldete sich freiwillig - sehr zum Entsetzen des Großvaters - zum Militärdienst. Er führte eine Transporteinheit bis Ende des Krieges 1936 an. Zu dieser Zeit, nach der Machtergreifung Hitlers, setzte die Verfolgung der Juden in Deutschland verstärkt ein und Bolivien nahm über zehntausend jüdische Flüchtlinge auf, die zum Teil auch nach Potosí und Sucre kamen. Unser Großvater behandelte sie wie normale deutsche Staatsbürger und wurde deswegen von der Botschaft in La Paz öfters unter Druck gesetzt. Anfang 1941 legte er sein Ehrenamt unter Protest nieder: „Wenn ich nicht alle Deutschen vertreten kann, so will ich keinen vertreten“.

Kurze Zeit danach erklärte Bolivien, gemeinsam mit der Mehrzahl anderer amerikanischer Staaten, Deutschland den Krieg. Mehrere deutsche Staatsbürger wurden damals in Bolivien inhaftiert und nach Texas, USA, deportiert, darunter auch Freunde der Familie. Sie kamen erst nach Ende des Krieges nach Bolivien zurück. Unseren Großvater hatte sein tapferer Entschluss von seinem Amt als Konsul zurückzutreten von diesem Schicksal

bewahrt. 1952 erhielt er von der Bundesrepublik Deutschland für sein damaliges Wirken das Bundesverdienstkreuz und wurde erneut zum Konsul in Potosí berufen.

Reiselust

Die Sommerferien verbrachten unsere Großeltern oft in Antofagasta am Meer. Antofagasta war für viele Familien aus Potosí und Sucre ein bevorzugter Ferienort Die Zugfahrt dorthin dauerte zwei Tage. Familien aus La Paz und Oruro fuhren meistens nach Arica. Nach dem Tod von Großmutter Estela 1931 fuhr Großvater fast jedes Jahr mit dem Schiff von Antofagasta nach Hamburg und kehrte erst nach mehrmonatigen Aufenthalten nach Potosí zurück. Er besuchte die Heimatstadt seines Vaters Wilster und in Hamburg die Firma Johann Stump, welche im Chile Haus B ihr Büro hatte und mit dem Einkauf und Versand der Waren nach Bolivien beauftragt war.

Eine seiner Reisen konnten wir aufgrund der Passagierlisten, die wir im Internet fanden, rekonstruieren. Demnach ist „Nikolaus Schütt aus Wilster (Deutsch) am 28. Januar 1937 mit dem Schiff „Saarland“ von Bremen nach Antofagasta, Chile, gefahren“. Bemerkungen dazu: „Reiseklasse: Kajüte; Alter: 65; Witwer; Konsul; Diplomatenpass“. 1939 konnte er aber, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nicht mehr die gewohnte Reiseroute zurückfahren. Daher fuhr unser Vater über Spanien nach Deutschland, um den Großvater auf der äußerst langwierigen Rückreise zu begleiten: Über Polen ging es nach Moskau (es war die Zeit des Hitler-Stalin-Paktes), von dort mit der Transsibirischen Eisenbahn über Ulan-Bator nach Peking, weiter ging die Reise über Seoul, Tokio, San Francisco bis nach Antofagasta und Potosí. Nach dem Krieg fuhr Großvater 1953 ein letztes Mal nach Deutschland.

Engagement und Persönlichkeitsprofil

Unser Vater wurde 1954 ebenfalls zum Konsul

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der Bundesrepublik Deutschland ernannt. Er unterstützte die deutschsprachige Gemeinde, indem er sich unter anderem für die Gründung der Deutschen Schule in Sucre einsetzte. Er war viele Jahre im Vorstand des Centro Escolar Alemán, dem Deutschen Schulverein in Sucre, so wie auch dem Deutsch-Bolivianischen Kulturverein, dem Centro Cultural Boliviano-Alemán. Für seine Tätigkeit erhielt auch er das Bundesverdienstkreuz.

Großvater hat seine deutsche Staatsbürgerschaft nie aufgegeben; auch wir Nachfahren besitzen bis heute deutsche Pässe. Sein Freundeskreis entstammte meist der deutschen Gemeinschaft und der Verwandtschaft seiner Frau. Ab 1954 lebte er mit uns in Sucre und verbrachte seine letzten Lebensjahre recht zurückgezogen.

In seiner Lebensweise war er sehr hanseatisch geprägt. Auf unserer Finca San Joaquín, wo wir locker in Freizeitkleidung angezogen waren, saß er in seinem schwarzen Anzug mit Weste und

Zwicker und las stundenlang, unterbrochen nur von Spaziergängen. Er hat immer viel gelesen und mit der Zeit hatte er eine große Bibliothek mit tausenden von Büchern zusammengetragen. Er war wissensdurstig, wollte mehr erfahren besonders über das Reisen. Abenteuerbücher bevorzugte er. Selbst als er bettlägerig wurde, studierte er weiter und vertiefte sein Quechua Studium.

Großvater starb mit 86 Jahren in Sucre, sein Sohn, unser Vater wurde 96 Jahre alt.

Nachtrag

Meine Tochter und ich fahren nächste Woche von meinem jetzigen Wohnort Caracas nach Cochabamba, um am 19. April 2015 den 90. Geburtstag meiner Mutter Elisabeth (Betty) Hodgkinson de Schütt zusammen mit einem grossen Teil der Familie zu feiern. An diesem Tag wird die Liste der Nachkommenschaft aus de Verbindung

Sucre

Foto: Fundación Cultural Rodolfo Torrico Zamudio

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von Nikolaus Schütt von Holdt (Wilster) und Estela Urdininea Calvimontes (Sucre) so aussehen:

3 Kinder, 10 Enkel, 33 Urenkel und mehr als 40 Ur-Urenkel.

Sie leben in Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Deutschland, England, Italien, Schweiz, Serbien, Spanien, USA und Venezuela.

Dr. Ing. Jürgen Schütt Mogro

Die drei Hübschen, Plaza 25 de Mayo in Sucre um 1920

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Hermann Wille Schwarzgeboren in Leidringen bei Stuttgart am 26. August 1881

gestorben in Santa Cruz am 14. November 1962

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Auswanderung und Ankommen

Unser Großvater Hermann Wille erlernte den Kaufmannsberuf bei der Firma C. Blum-Jundt in Emmendingen, die bis heute überlebt hat. Nach der Ausbildung wechselte er zur Firma Merck Bauer, die ihn als Agent und Vertreter nach Bolivien entsandte. Am 7.05.1908 schiffte er sich in Hamburg auf der „Cap Ortegal“ ein. Route: Hamburg, Southampton, Vigo, Lissabon, Rio de Janeiro, Buenos Aires. Von Buenos Aires reiste er zu Pferd über La Quiaca, im äußersten Nordwesten Argentiniens an der Grenze zu Bolivien. Von dort ging es weiter nach Potosí, wo er sich niederließ. Er arbeitete für seine Firma als Handelsreisender, in dem er Waren in Sucre und den umliegenden Dörfern vertrieb.

Die Waren wurden auf Maultieren transportiert. Er belieferte auch den Laden von Carmen Urioste de Lemaitre, in deren Tochter, Juana María del Carmen, er sich verliebte. Ihre Zuneigung ging allmählich in eine feste Beziehung über argwöhnisch beobachtet von der damals noch sehr verschlossenen Gesellschaft Sucres. Zu dieser Zeit war es undenkbar, dass eine junge Frau aus gutem Haus mit einem nicht aus Sucre stammenden Mann und schon gar nicht mit einem Ausländer eine Beziehung einging. Erinnerung an die Militärzeit 1900

Unterwegs in den Bergen

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Familiengründung und Aufbau seiner wirtschaftlichen Unternehmungen

Carmen, die Mutter von Juana María del Carmen, zog Erkundigungen über unseren Großvater ein, die offensichtlich positiv ausfielen. Der Heirat wurde zugestimmt. Die Hochzeit fand in Sucre am 26.06.1913 statt. Nach der Heirat wohnten Hermann und María del Carmen im Gebäude „Gran Poder“ in Sucre einem Gemäuer, das heute als Museum genutzt wird. 1914 wurde das erste Kind Adalberto geboren, das aber nach 11 Monaten verstarb. Es folgten: Am 14.10.1915 María Blanca Carmen, 2.04.1917 Guillermo, 15.09.1918 Carlos, 02.08.1920 Oscar und am 26.12.1922 Enrique, schließlich 1925 Hilda. Hilda starb mit zwei Monaten an einem Herzleiden.

Unser Großvater arbeitete weiterhin als Handelsvertreter bis er seiner Schwiegermutter ihr Geschäft auf Raten abkaufte, um sich selbstständig zu machen. Sein Geschäft in Sucre entwickelte sich, trotz der Repressalien, denen er als Deutscher wegen des I. Weltkrieges ausgesetzt war, sehr erfolgreich.

Der Erfolg ermöglichte es ihm, eine Handelsniederlassung in Potosí aufzubauen. Dort boomte zu dieser Zeit der Bergbau unter den Zinnbaronen Patiño, Aramayo und Hochschild. Leider erwiesen sich alle Geschäftsführer, die er in Potosí einsetzte, als unfähig, das Geschäft profitabel zu führen. Daher beschloss er 1928 das Geschäft in Sucre aufzugeben und mit der gesamten Familie nach Potosí zu ziehen, um die Führung des Handelshauses selbst zu übernehmen. Die Arbeit war hart aber erfolgreich. Das Geschäft war an sieben Tagen der Woche geöffnet. Samstags wurde sogar bis Mitternacht bedient, da an diesem Tag die Minenarbeiter in die Stadt kamen, um ihre Einkäufe zu tätigen. Sie erreichten Potosí bei Einbruch der Dunkelheit und leuchteten ihren Weg mit Karbidlampen, die sie auch in den Minen benutzten.

1934 ersteigerte Hermann Wille von der Zentralbank die in Potosí in Konkurs geratene und im Jahre 1907 von Deutschen aufgebaute Brauerei „Cervecería Nacional Potosí“. Entsprechend waren die Einrichtungen sehr primitiv, die Maschinen veraltet und nicht betriebsfähig Die heruntergekommene Brauerei wurde soweit rehabilitiert, dass man Bier brauen konnte.

Der kleine Motor-Generator-Satz reichte gerade aus, um die Kühlmaschinen und kleinere elektrische Geräte mit Strom zu versorgen. Daher wurden andere Maschinen wie die Malzmühle mit Windkraft betätigt. Hermann Wille nahm einen deutschen Braumeister unter Vertrag und das erste Bier wurde

Die Auserwählte María Lemaitre

In guter Gesellschaft in Sucre 1910

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gebraut und verkauft. Einige Zeit später verkaufte er sein Stoffgeschäft. Alle Kinder wurden von Anfang an stark in den Betrieb miteingebunden. Als Hermanns Söhne Guillermo und Carlos älter wurden, schickte er sie nach Cochabamba bzw. La Paz, um in den dortigen Brauereien das Bierbrauen zu erlernen.

Als sich unser Großvater zur Ruhe setzte, übergab er die Leitung der Brauerei seinen Söhnen Guillermo und Carlos und zog mit seiner Frau Juana María del Carmen zurück nach Sucre. Dort lebten sie bis sie 1952 nach Santa Cruz umzogen, wo seine Frau am 03.06.1952 verstarb. Unser Großvater folgte ihr 10 Jahre später in den Tod und verstarb ebenfalls in Santa Cruz am 14.11.1962.

Der Alltag und die Anerkennung in der Gesellschaft

Unser Großvater war ein äußerst disziplinierter Mensch. In der Regel stand er um 05.00 in der Früh auf auch Sonntags. Dann unternahm er als erstes einen Morgenspaziergang und nahm allein sein Frühstück zu sich.

Sein wirtschaftlicher Erfolg begründete seine Anerkennung und gesellschaftliche Stellung. Vor allem, dass er eine Brauerei, die zuvor zweimal pleite gegangen war, aufkaufte und zum Erfolg führte, fand die wohlverdiente Anerkennung seiner Mitbürger. Zudem änderten sich in den fünfziger Jahren die Lebensumstände in Sucre nach der Wahl von Victor

Paz Estenssoro. Die Zeiten, in denen man als „Rentist“ von dem leben konnte, was der Großgrundbesitz abwarf, gehörten endgültig der Vergangenheit an. Um den Lebensstandard der Oberschicht zu halten, musste nun produktiv gewirtschaftet werden. Für diesen neuen Wirtschaftsstil war mein Großvater ein exzellentes Beispiel. Er hatte sich seinen Wohlstand selbst erarbeitet.

Die Zeit nach dem II. Weltkrieg – die „Schwarze Liste“

Die Zeit des II. Weltkrieges waren schwere Zeiten für die Deutschen in Bolivien. Unser Großvater hatte seine Brauerei rechtzeitig auf einen befreundeten Bolivianer übertragen. Dies geschah auf Ehrenwort. Er erhielt sie schon 1949 zurück. Großvater war nie unglücklich oder verbittert, wie andere über die Strafmaßnahmen nach Ende des II. Weltkrieges. Er war froh, dass der Krieg beendet war. Er hatte Frieden geschlossen mit dem Weltgeschehen.

Bis heute ist die Brauerei in Potosí in Familienbesitz. Zudem ist sie die einzige selbstständige Brauerei in Bolivien, die nicht von größeren Konzernen aufgekauft worden ist. Noch heute ist unsere Brauerei in Potosí auch das größte Unternehmen vor Ort. Unser Großvater hat einen guten Grundstock für die nachfolgenden Generationen gelegt.

Großvater war Buchhalter und hat anfangs im Import-Export gearbeitet. Da seine Familie in Deutschland eine Hausbrauerei mit Restaurantbetrieb den „Gasthof zur Sonne“ besaß, hatte er immer eine Vorliebe für dieses Gewerbe. Und als er hörte, dass die Brauerei versteigert werden sollte, ging er hin, um sich das an zu schauen. Das tat er ein paar Mal, ohne dass etwas passierte. Er ging hin als Beobachter, „einfach gucken“. Er hatte großes Interesse an der Brauerei, aber kein Geld. Gott sei Dank bot ihm die „Banco Nacional de Bolivia“ einen zinslosen Kredit an, worauf sich der Großvater spontan entschloss, die Brauerei zu kaufen. Der Erstgeborene, Friedrich Wilhelm, absolvierte gerade sein Abitur. Er hegte den Wunsch, Medizin zu studieren, aber Großvater bestimmte, dass er Braumeister werden sollte. Zu

Bierfabrik in Potosí 1907

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diesem Zweck schickte er ihn nach Cochabamba, wo er in die Lehre zu Braumeister Haas ging. Der zweite Sohn, Carlos, wurde ebenfalls dazu bestimmt, Braumeister zu werden. Er wurde zu einem guten Bekannten, dem Braumeister Körbel, in die Lehre geschickt. So kam es, dass beide Kinder letztendlich in der Brauerei gearbeitet haben.

Das Familienleben

Das Familienleben stand unter dem Zeichen der Arbeit. Es wurde sehr viel gearbeitet. Sonntag ging man mal in den Deutschen Club oder für zwei, drei Tage in die Hauptstadt Sucre, aber in der Regel verließ man die Brauerei nicht. Es gab - ganz im Gegensatz zu anderen Familien - keine rauschenden Feste und keine sonstigen Statusäußerungen. Unser Großvater wollte seine Kinder zu guten Deutschen erziehen.

viele Deutsche in Sucre und Potosí. So hatte unsere geschäftstüchtige Großmutter einen Salon für die Deutschen in Potosí eröffnet, wo man sich zu Café und Kuchen traf. Zu dieser Zeit existierte weder eine Deutsche Schule noch ein Deutscher Club in Potosí. Unsere Großeltern haben nur geschuftet. Selbst auf den Kirchgang am Sonntag wurde verzichtet. Der Großvater war Protestant, die Mutter Katholikin, es wurde katholisch geheiratet und die Kinder wurden katholisch getauft, aber die Religion spielte im Alltag keine Rolle.

Beziehungen zu Deutschland 

Unser Großvater ist nie nach Deutschland zurückgekehrt. Er reiste einmal nach Buenos Aires, um sich medizinisch untersuchen zu lassen. Dort hat er im Hafen ein deutsches Schiff gesehen. Da ist er die Reling hoch gegangen, hat sich niedergekniet und 15 Minuten lang meditiert. Als er wieder von Bord ging, sagte er zu unserer Großmutter: „Ich war jetzt in Deutschland!“ Das hat ihm gereicht.

Er hat seine deutsche Staatsangehörigkeit nie aufgegeben, auch nicht in schwierigen Zeiten wie zum Ende den II. Weltkriegs.

Familien- und Arbeitsleben waren nicht voneinander zu trennen. In Zeiten unseres Großvaters lebten

In Buenos Aires 1960

Er hat hart gearbeitet und sich nie eine Auszeit gegönnt. Auch aus der Politik hat er sich herausgehalten – aus der deutschen wie aus der bolivianischen. Seine Kinder wollten zum Teil nach Deutschland zurück beeinflusst durch die deutschnationale Denke in dieser Zeit. Sie wollten

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dem deutschen Volk dienen, aber unser Großvater hielt sie zurück, auch mit der Unterstützung des damaligen deutschen Botschafters.

Kindheitserinnerungen

Das Handelshaus unseres Großvaters lag in Potosí direkt am Boulevard in bester Lage. Er importierte von Zahnpasta bis zu teuren Uhren alles aus Deutschland, von einfachen Gebrauchsgegenständen bis zu Luxusgütern, alles was Bergleute und Ingenieure kauften. Brillen, Knöpfe, Farben, alles was man sich nur vorstellen kann. Zu dieser Zeit lebten in Potosí allein über 200 deutsche Ingenieure. Die Kinder und Enkelkinder haben im Laden ausgeholfen. So erzählt eine Anekdote aus dieser Zeit, dass die Kinder einen Nachmittag lang sich die Langeweile mit dem Spiel mit Zahnpasta vertrieben. Als Großvater am Abend den Laden betrat, war das Lokal flächendeckend mit weißer Zahnpasta dekoriert. Großvater wartete ein paar Tage ab, bis die Zahnpasta gehärtet war und ordnete an, diese abzukratzen und einzusammeln. Jahrelang mussten wir zum Zähneputzen diese Zahnpasta benutzen. Der Großvater bändigte so vier wilde Jungs, Guillermo, Carlos, Oscar, Enrique und ein Mädchen namens Maria Blanca.

Als unser Großvater sich in Sucre zur Ruhe setzte, übernahmen seine Kinder die Brauerei in Potosí. Großvater hatte immer einen Spazierstock dabei. Großvater sprach: „Ich schenke dir diesen Spazierstock, das ist das Einzige, was du von mir erben wirst!“ Warum? „Der Spazierstock möchte, dass er jeden Tag um die ganze Fabrik geführt wird!“ Jeden Nachmittag unternahm Großvater einen Spaziergang zu Fuß vom Zentrum Potosís aus bis hin zur Brauerei und schaute nach dem Rechten.

Wie wurden die Geschäfte zwischen Bolivien und Deutschland abgewickelt?

Unser Großvater gab einmal im Jahr eine Bestellung auf. Dies geschah in Form eines Briefes, den er mit Tinte abfasste, um eine Kopie zu erhalten. Zu diesem Zweck wurde das Schriftstück über eine Druckpresse gerollt. Erst dann wurde der Brief nach Hamburg aufgegeben. Von diesem Zeitpunkt an dauerte es ein ganzes Jahr bis die Waren in Bolivien eintrafen. Man darf nicht vergessen, dass der gesamte Transport auf dem Seeweg verlief und viel Zeit verschlang. Die hanseatischen Firmen, bei denen mein Großvater bestellte, holten sich bei der Hausbank des Großvaters in Hamburg das Geld ab, das die bestellten Waren kosteten. Geschäfte auf Ehrenwort!

Alle Handelshäuser in Bolivien importierten in der damaligen Zeit - so wie Großvater - ihre Waren aus Deutschland. Der Handel verlief nach folgendem Schema: Einmal im Jahr wurde ein Firmenvertreter aus ihrer Mitte auswählt, der mit den Bestellungen aller Handelshäuser nach Deutschland fuhr. Von jedem Unternehmen nahm er Goldbarren mit, die er in Hamburg bei einer Bank deponierte. Ebenso gab er die Bestellbriefe bei den hanseatischen Kaufleuten ab. Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, Annoncen in verschiedenen Zeitungshäusern aufzugeben, um ausgewählte Arbeitskräfte, die in Bolivien fehlten, anzuheuern. Diese Art der Personalsuche übernahm er ebenfalls für alle Handelshäuser. Das Ehrenwort galt. Die wilde Kinderbande 1928

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Persönlichkeitsprofil des Großvaters

Er war streng mit sich selbst. Viele Kindergeschichten, die in unserer Familie überliefert werden, handeln von dem strengen Blick, bei dem man stramm stand. Großvater stammte aus einer Lehrerfamilie. Daher stammt wohl seine Vorliebe, sich sehr um Fremdsprachen zu kümmern. Aber ansonsten war er aus tiefster Seele ein Kaufmann. Als gebürtiger Schwabe hatte er seine kaufmännische Ausbildung in Stuttgart erhalten. Er hat seinen Kindern selbst Deutsch unterrichtetet. Er benutzte schwäbische Lehrbücher. Selbst Schillergedichte ließ er seine Kinder ins Spanische übersetzen. Er hielt nach, dass seine Kinder und Enkelkinder untereinander deutsch sprachen, obwohl die Muttersprache ja im wahrsten Sinne des Wortes das Spanische war. Wenn er sie auf Spanisch reden hörte, stellte er sich taub. Er pflegte die deutsche Sprache in der Familie und förderte dies, soweit es in seinen Möglichkeiten stand. Da seine Frau im höheren Alter taub war, störte es sie

auch nicht, dass in der Familie die deutsche Sprache vorherrschte. Deutsches Liedgut wurde gesungen, es wurde viel gelesen und Großvater baute eine riesige Bibliothek auf. In der Zeit in Sucre praktizierte er auch mit seinen Kindern die französische Sprache.

Porträt Hermann Wille 1910 und 1947

Großeltern 1947

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Großvater war ein sparsamer Mensch, aber nicht geizig. In Sucre sind wir mit dem Großvater viel spazieren gegangen, haben Verwandte oder Bekannte besucht. Er war der geborenen Lehrer: Er hat uns immer viel beigebracht bis hin, wie man einen Gemüsegarten anlegt (später in Santa Cruz). Wir Kinder mussten jäten und die Beete gießen. Seine Kinder und Enkelkinder hingen sehr an ihm. Mein Vater hat nie geweint, nur zu Großvaters Tod.

Großvater und Großmutter in Yotala 1949

Antwortschreiben des Bürgermeisters von Leidringen 1965

bezüglich des Heimatscheins

Alle Kinder und Enkelkinder haben den Großvater geliebt und verehrt. Er war unser Vorbild, ein Idol für uns alle. Er hat eine Nachkommenschaft von 15 Enkeln hinterlassen. In unseren Erzählungen ist er bis heute lebendig. Alle berichten nur Gutes über ihn. Er war ein guter Familienvater und ein guter Geschäftsmann. Mit Ausdauer und Zielstrebigkeit wurde er ein erfolgreicher Geschäftsmann in Bolivien und legte so den Grundstein für die nachkommenden Generationen.

Interview mit Enkeltochter Ingeborg Kölbel

und Enkelsohn, Gerardo Wille,

Cochabamba, April 2014