Cinéfête 13 · War es schwierig, Tatiana de Rosnay zu bewegen, Ihnen die Filmrechte zu...

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Programmdossier Cinéfête 13 Das französische Jugendfilmfestival auf Tournée durch Deutschland Filme in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln Französische Botschaft Kulturabteilung Pariser Platz 5 10117 Berlin Tel: (030) 590 03 92 03 Fax: (030) 590 03092 42 AG Kino-Gilde e.V. Rosenthaler Straße 34/35 10178 Berlin Tel: (030) 257 608 40 Fax:(030) 257 608 43 [email protected] 1

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Programmdossier

Cinéfête 13

Das französische Jugendfilmfestivalauf Tournée durch Deutschland

Filme in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Französische BotschaftKulturabteilungPariser Platz 510117 BerlinTel: (030) 590 03 92 03Fax: (030) 590 03092 42

AG Kino-Gilde e.V.Rosenthaler Straße 34/35

10178 BerlinTel: (030) 257 608 40Fax:(030) 257 608 43

[email protected]

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INHALTSVERZEICHNIS

ELLE S´APPELAIT SARAH 3

KÉRITY, LA MAISON DES CONTES 10

LA TÊTE EN FRICHE 15

LE NOM DES GENS 20

LES AVENTURES EXTRAORDINAIRES D'ADÈLE BLANC-SEC 27

NO ET MOI 32

PIEDS NUS SUR LES LIMACES 37

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ELLE S´APPELAIT SARAH

Deutscher Titel: Sarah´s SchlüsselKinostart Frankreich: 13.10.10Kinostart Deutschland: 15.12.11Land: FrankreichRegie: Gilles Paquet-BrennerBuch: Serge Joncour und Gilles Paquet-Brenner, basierend auf dem

Roman von Tatiana De RosnayTon: Didier Codoul, Bruno Seznec, Alexandre Fleurant, Fabien

DevillersMusik: Max RichterProduktion: Eine Koproduktion von Hugo Productions - Studio 37 - TF1

Droits Audiovisuels - France 2 Cinéma, unter Mitwirkung von Canal+, TPS Star, France Télévisions

Produzenten: Stéphane Marsil / HugoProductions

Deutscher Verleih CAMINO FilmverleihLänge: 104 MinutenGenre: Drama

BESETZUNG:

Julia Jarmond Kristin Scott Thomas Sarah Mélusine Mayance Jules Dufaure Niels Arestrup Bertrand Tezac Frédéric Pierrot Edouard Tezac Michel Duchaussoy Genneviève Dufaure Dominique Frot Mamé Gisèle Casadesus William Rainsferd Aidan Quinn Frau Starzynski Natasha Mashkevich Herr Starzynski Arben BajraktarajRachel Sarah Ber Zoe Tezac Karina Hin Richard Rainsferd George Birt Sarah als junge Frau Charlotte Poutrel

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SYNOPSIS

Paris im Juli 1942. Sarah, ein zehnjähriges jüdisches Mädchen, wird mit ihren Eltern mitten in der Nacht von der französischen Polizei zur Deportation aus ihrer Wohnung geholt. Verzweifelt schließt sie ihren kleinen Bruder in ihrem Geheimversteck hinter der Tapetentür im Schlafzimmer ein und verspricht, ganz schnell wieder bei ihm zu sein. Den Schlüssel nimmt sie mit, nicht ahnend, welche Katastrophe ihrer Familie und fast 20.000 weiteren verschleppten Pariser Juden bevorsteht. Siebenundsechzig Jahre später verwebt sich Sarahs Geschichte mit der von Julia Jarmond (Kristin Scott Thomas), einer amerikanischen Journalistin, die für einen Artikel die damalige Razzia und ihre furchtbaren Folgen recherchiert. Bei dieser Arbeit stößt sie auf das Schicksal einer jüdischen Familie, die aus der Wohnung vertrieben wurde, die seit Jahrzehnten der Familie ihres zukünftigen MannesBertrand gehört und in die sie nach ihrer Hochzeit einziehen wollte. Je mehr Wahrheit Julia ans Licht befördert, um so mehr erfährt sie über Bertrands Familie, über Frankreich und schließlich über sich selbst.

INTERVIEW MIT REGISSEUR GILLES PAQUET-BRENNER

Was hat sie motiviert Tatiana de Rosnays Roman Sarahs Schlüssel für die Leinwand zu adaptieren?

Die Idee hatte ich drei Monate vor dem Start von UV („In der Glut der Sonne“, TV und „UV – Tödliche Verführung“, DVD, 2007), den ich mit einer gewissen inneren Unruhe erwartete. Ich wollte mich wieder mit ernsteren Inhalten beschäftigen und da kam mir Tatiana de Rosnays Buch in die Finger. Ich war fasziniert von dem fesselnden Plot, der von der Jagd auf Juden im von den Nazis besetzten Paris und deren anschließender Gefangenschaft in französischen Internierungslagern erzählt - aus heutiger Perspektive allerdings. Nachdem eine in Frankreich lebende amerikanische Journalistin zufällig einem Familiengeheimnis auf die Spur gekommen ist, untersucht sie die Geschichte ihrer Zweitheimat mit besonderem Interesse, bis ein Vorfall, der ursprünglich nichts mit ihr zu tun hatte, ihr Leben völlig auf den Kopf stellt. Die Story erkundet auch die Bereiche, denen sich nur wenige Filme widmen, nicht zuletzt das Verhalten normaler Menschen während der Deportationen - ohne sie in Kollaborateure und Kämpfer der Resistance zu unterteilen. Die schweigende Mehrheit verschloss die Augen und versuchte die eigene Haut zu retten – wie die Familie Tezac, die aus juristischer Sichtweise keinen Fehler gemacht hat und sich daher keiner Schuld bewusst ist. Oder die Dufaures, die mehr oder weniger gegen ihren Willen zu Helden werden. Der Film malt kein Gut-gegen-Böse Szenario an die Wand – er zeigt die Fakten und gleichzeitig die Konsequenzen für zukünftige Generationen und ist meilenweit entfernt von den üblichen Verkürzungen und Vereinfachungen. Und schließlich hat er auch mit meiner eigenen Familiengeschichte zu tun.

In wie fern?

Ich bin jüdischer Abstammung und die Männer in meiner Familie waren Opfer jener Periode. Mein Großvater, ein deutsch jüdischer Musiker, der sich in Frankreich nieder gelassen hatte, wurde von Franzosen denunziert und starb kurz nachdem er ins Lager geschickt wurde. Im Film verneige ich mich vor ihm durch die Figur des Geigenspielers, der Gift in seinem Ring versteckt hat und dadurch allein entscheiden kann, wann er stirbt. Meine Mutter erzählte mir seine Geschichte zum ersten Mal, als ich den Film vorbereitete. Einige Dinge traten wieder in mein Bewusstsein. Offensichtlich gab es mich noch nicht, als mein Großvater deportiert wurde, aber ich bekam mit, wie es meine Großmutter, meine Mutter und ihre Schwester betroffen hatte. DasBuch ließ all das wieder auftauchen – die Lebenden, die lernen müssen mit den Toten zu leben.

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War es schwierig, Tatiana de Rosnay zu bewegen, Ihnen die Filmrechte zu überlassen?

Schon bevor ich den Roman beendete, wollte ich den Film machen. Ich erfuhr, dass Tatiana und Serge Joncour, mein Koautor bei UV, sich kannten und mochten. Serge erwähnte ihr gegenüber, dass ich ihren Roman adaptieren wolle und wir nahmen Kontakt mit ihren Verlegern auf. Wir waren die ersten Interessenten, die sich meldeten, weil ich glücklicherweise das Buch bereits ein paar Tage nach seinem Erscheinen gelesen hatte. Der Erfolg des Romans führte dazu, dass Tatiana bald mit Angeboten, hauptsächlich aus den USA überschüttet wurde, aber Tatianas Wort galt und sie hielt uns die Treue.

Gab es in der Adaption, die sie gemeinsam mit Serge Joncour geschrieben haben, wesentliche Änderungen an der Story?

Nein, wir blieben ihr ziemlich treu, abgesehen von einem wesentlichen Aspekt. Im Roman versteckt sich Sarahs kleiner Bruder ganz spontan in dem Wandschrank als die Polizei kommt,um sie zu verhaften. Im Film überredet Sarah ihn, sich dort zu verstecken, was ihren Charakter verändert und ihr Schuldgefühl enorm verstärkt. Eine weitere wichtige Veränderung bestand darin, etwas zu verbessern, das viele Leser, auch mich, frustriert hat, die bedauerten, dass der Roman Sarah mehr oder weniger fallen lässt, nachdem ihr Bruder gefunden wird. Für den Film entwickelten Serge und ich die Figur der erwachsenen Sarah. Die Adaption war nicht besonders schwierig, weil der Roman so großartig strukturiert ist. Die einzigen wirklichen Probleme waren die Übergänge von einer Zeitebene in die andere – 1942 und heute – sowie das Vorhaben, den Film nicht länger als zwei Stunden werden zu lassen. Serge schickte mir eine erste Fassung, die 250 Seiten lang war! Aber von den Leuten, denen wir die endgültige Fassung zu lesen gaben, bekamen wir sofort positive Resonanz.

Trotzdem war es schwierig, die Finanzierung auf die Beine zu stellen...

Natürlich, bei meiner abwechslungsreichen Filmografie! Um ehrlich zu sein, ich glaube, einige Leute fühlten sich betrogen nach LES JOLIES CHOSES (2001). Nur zum Spaß machte ich danach GOMEZ & TAVARÉS („Payoff – Die Abrechnung”, 2003, DVD), der ein Hit wurde, aber dazu führte, dass die Leute Schwierigkeiten hatten, meine Person einzuschätzen. Der Start von UV beförderte mich mit Schwung zurück auf die Erde. Es ist ein seltsames Gefühl, einen Film zu machen, auf den man selbst stolz ist, den aber jeder sonst hasst. Na, wie auch immer. Eine ganze Menge Leute mochten das Drehbuch zu SARAHS SCHLÜSSEL, aber keineswegs die Tatsache, dass ich Regie führen wollte. Mein Produzent Stéphane Marsil bewies eiserne Hartnäckigkeit und Loyalität – seltene Qualitäten in diesem Geschäft. Er setzte seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Stéphane und die Erinnerung der Leute an LES JOLIES CHOSES retteten den Film. Frédérique Dumas von Studio 37 unterstützte uns, weil sie meinen ersten Spielfilm mochte.Das war entscheidend, ersparte uns allerdings nicht, einige entwürdigende Momente durchstehen zu müssen. Und es ist nicht untertrieben zu sagen, dass einige Leute versucht haben, uns los zu werden. Aber Stéphane gab nie auf. Bei diesem Projekt dachten wir ein Dutzend Mal, alles wäre aus. Und ein Dutzend Mal wurde die Situation auf völlig unerwartete Weise gerettet.

Wieso fiel Ihre Wahl auf Kristin Scott Thomas für die Rolle der Journalistin, deren Artikel über die Verschleppung der Pariser Juden den Anstoß für ihre Suche nach Sarah gab?

Im wahren Leben ist Kristin der Figur der Julia Jarmond im Film frappierend ähnlich. Sie war sogar ein wenig ängstlich, weil sie nie zuvor jemanden gespielt hat, die ihr so sehr ähnelt.Stéphane Marsil kannte Kristin gut, denn er hatte ARSÉNE LUPIN (2004) produziert und I'VE LOVED YOU SO LONG („So viele Jahre liebe ich dich“, 2008) kam gerade in die Kinos, als wir letzte Hand an das Drehbuch legten. Dieser Film führte zu einer engen Verbindung zwischen Kristin und den französischen Zuschauern. Wir schickten ihr das Drehbuch, bekamen aber lange keine Antwort, weil sie am Broadway auf der Bühne stand. Die Präsidentschaftswahlen in

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den USA standen an und dafür wollte ich dort sein. Ich traf Kristin am Tag von Obamas Wahlsieg. Mitgerissen von ihrem Wunsch diese Geschichte zu erzählen und der Euphorie, die die ganze Stadt ergriffen hatte, stimmte sie zu. Kristins Zusage war fundamental. Hinsichtlich der Finanzierung natürlich, aber auch wegen allem, was sie zu diesem Film beitrug. In SARAHS SCHLÜSSEL sehen wir sie wie sie im wahren Leben ist – charismatisch, modern, eine Frau ihrer Zeit. Ihre verhaltene Spielweise und natürliche Ausstrahlung umschiffen jede Falle von überzogener Sentimentalität. Sie sagt, in diesem Film sei sie das Gewissen des Publikums. Partei ergreifend, aber mit einem hohen Maß von Objektivität.

Wie haben Sie die anderen Rollen besetzt?

Wir wollten jeden Star-Auftrieb vermeiden und suchten einfach den besten männlichen oder weiblichen Schauspieler für die jeweilige Rolle. Es ging uns weniger um die großen Namen und jetzt haben wir eine gute Mischung aus etablierten und neuen Talenten. Wir fanden ausländische Schauspieler die jiddisch sprechen. Alles musste stimmen, authentisch sein – und die Künstlichkeit des Kinos überwinden.

Warum wollten Sie, dass Niels Arestrup den Bauern spielt, der die kleine Sarah aufnimmt, nachdem sie aus dem Lager entkommen konnte?

Niels hat die Derbheit eines Landmanns, physisch und charakterlich. Seine scheinbare Kälte steht in einem nützlichen Widerspruch zum Mut und der Freundlichkeit seiner Persönlichkeit. Er las das Drehbuch in zwei Tagen durch, wollte mich zum Kaffee treffen und sagte zu. Ähnlich wie Kristin ist Niels wichtig für die Balance des Films. Seine zurückhaltende Spielweise ist entscheidend und rettet seine Figur davor, in eine Gute-Laune-Rolle umzuschlagen. Manchmal hatte man das Gefühl, er würde sich nicht genug am Set engagieren. Das ist der Punkt, an dem du erkennst, dass man Leuten vertrauen muss, die einfach mehr Ahnung haben, als du selbst. Die Arbeit mit Weltklasse-Künstlern wie Niels und Kristin lehrt einen die Tugend der Demut.

Wie fanden sie Mélusine Mayance, die Sarah als kleines Mädchen spielt?

Ich war fest überzeugt davon, dass Kinder in Kriegszeiten belastbarer werden und sich schneller entwickeln, daher suchte ich wohl gleichzeitig nach der zukünftigen Erwachsenen und als ich RICKY (2009) von François Ozon sah, wollte ich sofort mit Mélusine arbeiten. Sie war eins von drei jungen Mädchen, die wir für Vorsprechen und Probeaufnahmen ausgewählt hatten. Das Ziel war, sie besser kennen zu lernen, ihre Entwicklung abschätzen zu können und zu sehen, wie sie auf den harten Stoff reagieren würden. Wir reduzierten auf zwei – ein eher instinktives junges Mädchen und Mélusine, die professioneller und überhaupt die erste Wahl war. Sie ist wie geschaffen für diesen Film. Sie versetzte einfach jeden in Erstaunen. Sie weiß genau, was sie ausdrücken will, hat einen Sechsten Sinn für Kamerapositionen und trifft ihre Markierungen ohne jeden Fehltritt. François Ozon meinte: „Mélusine ist kein kleines Mädchen, sie ist eine Schauspielerin.“ Für eine so schwierige Rolle in einem so jungen Alter hatten wir unglaubliches Glück, sie bei uns zu haben.

Es ist auch eine schöne Überraschung Aidan Quinn als Sarahs Sohn dabei zu haben, dessen Existenz erst durch Julias Recherche enthüllt wird. Wie sind sie auf ihn gekommen?

Tatiana fasst ihren Roman manchmal als Geschichte eines Mannes zusammen, der schließlich erfährt, wer seine Mutter war. Für die Rolle des William suchte ich nach einer Idee, nach Präsenz und Charisma. Er ist wichtig für die Geschichte, denn er gibt Julias Suche einen Sinn. Wir suchten lange und intensiv nach dem richtigen Schauspieler, aber obwohl Kristins Name ein Türöffner für uns war, ignorierten uns amerikanische Agenten höflich, wenn wir erklärten, dass wir nur drei Drehtage für die Szenen und wenig Geld hatten. Einige Schauspieler sagten zu, aber zu einer Gage, die wir uns nicht leisten konnten. Dann rief eines Tages unsere

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amerikanische Casting-Agentin an und sagte, sie warte auf eine Antwort von Aidan Quinn. Ich war überrascht, aber es war wie die Erfüllung eines Wunschtraums – ein Schauspieler, dessen Gesicht Filmfans erkennen, der aber der Figur Raum lässt, ein Eigenleben zu entwickeln. Darüber hinaus ist Aidan ein wundervoller Mensch und ein sehr uneitler und etwas unorthodoxer Schauspieler, der völlig in seiner Rolle aufgeht. Er hat eine großartige Arbeit abgeliefert.

Als Sie diese Künstler an Bord hatten, was war ihr Ziel zu Beginn der Dreharbeiten?

Einen großen Samstagabend-Film zu machen: verständlich, kommerziell, aber auch zum Nachdenken anregend. Ich wollte zurück zum Wesentlichen, zu einer gewissen klassischen Form. Ich wollte mir beweisen, dass ich es kann.

Was war ihr ästhetischer Ansatz?

Zunächst mal war es mein Hauptanliegen, eine klare Abgrenzung zwischen den beiden zeitlichen Perioden und die nötige Selbstbeschränkung gegenüber der Geschichte zu finden und zu erhalten, ohne allerdings dadurch die Kreativität einzuschränken. Und ich wollte die vollkommen unterschiedlichen Welten zeigen, in denen Sarah und Julia leben – das Kriegschaos und die Okkupation im Kontrast zu Julias relativ komfortablen Lebensstil. Ich beschloss, die Actionsequenzen von 1942 mit Handkamera und kurzer Brennweite zu drehen, um immer nah am Geschehen zu sein, um dann mit eher gefühlvollen Szenen unterschneiden zu können, wie der Flucht von Beaune-la-Rollande, um den Film wieder zu Atem kommen zu lassen. Für die Gegenwart entschied ich mich für einen eher klassischen Zugang und arbeitete alle Szenen für sich ab, so dass jede Großaufnahme und jede Bewegung eine eigene Bedeutung erlangte. Ich wollte den Zuschauer in die Lage versetzen, der Geschichte folgen zu können ohne durch den Stil meiner Inszenierung abgelenkt zu werden - obwohl er natürlich vorhanden ist. Aber die Story ist das Wichtigste.

Wie haben Sie das Velodrome neu erstehen lassen, in dem die Juden nach der Razzia gesammelt werden?

Ich habe mich mit Überlebenden getroffen, die sich alle gut an die stickige Hitze, den Lärm, den Gestank und die unruhige Menschenmenge erinnern konnten. Ihre Beschreibungen brachten mich immer mehr in Richtung einer fast impressionistischen Inszenierung anstatt detailgetreuer Nachbauten im Atelier. Dann sah ich zum ersten Mal MONSIEUR KLEIN („Monsieur Klein“, 1976) von Joseph Losey und fand heraus, dass er einen Teil des Films im Jacques Anquetil Velodrome in Vincennes, nahe Paris gedreht hat, das die gleiche von Eiffel inspirierte Stahlstruktur wie das Velodrome d'Hiver hat. Wir konnten uns vorstellen auch dort zu drehen, besonders als die Digital-Effekt-Crew mir sagte, dass es möglich wäre, ein Dach aufdas offene Velodrome zu bringen. Wir drehten also diese Szenen dort und die Leute von MacGuff machten eine außerordentlich gute Arbeit. Es gibt schließlich nur vier Einstellungen mit Special Effects in der ganzen Sequenz. Für den Rest löste ich die Szenen so auf, dass man das Gefühl von Menschenmassen bekommt, ohne ständig 500 Komparsen im Bild haben zu müssen. Ich wollte, dass der Zuschauer ein Gefühl von der ungeheuren Weite des Velodroms bekommt, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn ich war misstrauisch gegenüber Digitalen Effekten, die dich machen lassen, was immer du willst, manchmal auch auf Kosten des Realismus. Ich schlug mir auch die Idee einer klassischen Einstiegs-Totale aus dem Kopf, die nur von einem externen Standpunkt möglich gewesen wäre, während ich die Zuschauer ja hineintauchen lassen wollte. Jede Einstellung im Velodrome ist aus Sarahs Perspektive gedreht.

Fühlen Sie in solchen Momenten eine Verantwortung gegenüber der Geschichte?

Es graute mir davor! Als ich das Drehbuch schrieb, habe ich nicht wirklich darüber

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nachgedacht, weil ich ein Problem nach dem anderen angehe. Aber es tauchte auf brutale Weise wieder auf, als ich Annette Mullers La petite fille du Vel d'Hiv las, die Geschichte ihrer Flucht aus dem Velodrome als kleines Mädchen, nur wenig jünger als Sarah damals. Da wurde mir richtig bewusst, dass ich diese Ereignisse vor dem Vergessen bewahren würde. Es ängstigte mich noch mehr, als ich SCHINDLER'S LIST („Schindlers Liste“, 1993) wieder sah. Ich fragte mich, worauf ich mich im Alter von 35 Jahren eingelassen hatte!

Gab es eine Szene vor der Sie besondere Bauchschmerzen hatten?

Die Szene in der die Kinder von ihren Müttern getrennt werden. Ganz besonders, als ich begann, sie mit Annette Mullers an meiner Seite zu drehen.

Sie haben sie eingeladen, dabei zu sein?

Nein, sie wollte dabei sein. Sie kam mit ihrem Bruder Michel, der alles mit ihr 1942 tatsächlich durchgemacht hatte.

Wie war es, solch eine schreckliche Szene nachzubilden?

Ich lebte in einer Luftblase. Ich wollte auf gar keinen Fall von den Emotionen am Set beeinflusst werden. Ich begann, indem ich die Kamera in einiger Entfernung postierte, um zu sehen, wie die Komparsen sich bewegten. Die waren einfach großartig. Was sie mir gaben, war unbezahlbar. Einige wurden sogar ohnmächtig. Nach und nach bewegte ich die Kamera näher. Am Morgen konnte ich die unerträgliche Barbarei, deren Zeuge ich wurde, nicht mehr ertragen und ich begann Angst zu bekommen. Dann bat ich den Kameramann sich mit dem 14 mm-Objektiv unter die Menge zu mischen, auch auf die Gefahr hin, dass er angerempelt oder geschubst wurde. Er musste ein Paar Stöße einstecken, aber in fünf Takes fing er das ganze Chaos so ein, wie man es jetzt auf der Leinwand sieht.

Mit SARAHS SCHLÜSSEL waren sie der erste Regisseur, der an der Holocaust Gedenkstätte in Paris drehen durfte.

Ja, die Gedenkstätte war nie zuvor in einem Spielfilm zu sehen. Die Szene, in der die von Kirstin verkörperte Figur dorthin geht, barg ein hohes Risiko, weil leicht eine politische Aussage hinein interpretiert werden konnte. Der Mann, den sie dort trifft, fasst seine Aufgabe so zusammen: „Man muss Zahlen und Statistiken verlassen, um diesen Leben ein Gesicht und Realität zu verleihen.“ Diese Worte definieren meine grundlegenden Ziele für diesen Film. Bis jetzt haben Filme über den Holocaust sich eng an die historischen Fakten gehalten – verständlich und nicht wegzudenken. Ich habe mich damit nicht wohl gefühlt. Das wurde so häufig gemacht und aus meiner Sicht kann SCHINDLER'S LIST einfach nicht verbessert werden. Also überlegte ich, wie ich meinen bescheidenen Beitrag leisten könnte und wollte versuchen, die Zuschauer die Tragödie fühlen zu lassen, indem ich auf gewählte Worte verzichte und es menschlich nachvollziehbar mache. Die Zuschauer sollen sich in die Ereignisse hinein fühlen können – egal welcher Herkunft sie sind oder was für Meinungen sie mitbringen. Kristins Rolle ist die einer Amerikanerin, einer nicht jüdischen. Sarahs Geschichte und der Holocaust sind nicht ihre Geschichte, aber sie berühren sie indirekt. Es könnte jedem passieren.

So betrachtet, was ist ihre Vision dieses Films?

Sarahs Schlüssel ist ein fiktionaler Film, aber der Roman, den ich adaptiert habe, ist ausgesprochen gut dokumentiert und respektiert historische Fakten bis zum winzigsten Detail. Durch das Verfilmen der Geschichte von Sarah, Julia, William und den anderen habe ich hoffentlich einen Film gemacht, mit dem sich jeder identifizieren kann, ein Film, der Geschichte erfahrbar macht ohne zu verdummen oder zu moralisieren.

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DER REGISSEUR GILLES PAQUET-BRENNER

Gilles Paquet-Brenner ist Regisseur und Drehbuchautor. Er wurde 1974 in Paris geboren. Sein erster Film LES JOLIES CHOSES (2001), kam im November 2001 in die Kinos und fand bei Publikum und Kritik großen Zuspruch.

Der Film nach dem Roman der zornigen Virginie Despentes BAISE MOI („Baise-moi – Fick mich“, 2000) gewann mehrere Preise, darunter den MPAA-Award für den Besten Jungen Französischen Drehbuchautor, den Gilles Paquet-Brenner auf dem Deauville Filmfestival aus der Hand von Jack Valenti entgegennehmen durfte.

Das Studio Magazine meldete „die Geburt eines Autors“, Le Figaro „eine moderne Poesie, eine delikate Mischung aus Vulgarität und Feinheit“ und Premiere erfreute sich an „einem vielschichtigen Drehbuch über die Suche nach dem eigenen Ich mit einer wirklich originellen visuellen Umsetzung.“Variety beurteilte Marion Cotillards Hauptrolle – sieben Jahre vor ihrem Oscar für LA VIE EN ROSE (‚La vie en rose“, 2007) als „Bombenauftritt“, der ihr eine zweite César-Nominierung als Beste Nachwuchsdarstellerin bescherte: LES JOLIES CHOSES ist der Film, der Marions außergewöhnliche Begabung als Charakterdarstellerin zuerst erkennen ließ.

Zwei Jahre nach diesem Erfolg machte Gilles Paquet-Brenner mit GOMEZ & TAVARÈS („Payoff – Die Abrechnung”, 2003, DVD) den Versuch, es einem Massenpublikum recht zu machen. Als Tribut an all die Filme und Fernsehshows die er als Teenager mochte, wurde diese Action-Komödie ein solcher Erfolg, dass er mit GOMEZ VS. TAVARES („Bad Cops – Zwei Bullen sehen rot“, 2007, DVD) noch einen nachlegte. „Humor, Action und tolle Frauen – dieser Cocktail ist verdammt wirkungsvoll“ fand Le Parisien und Variety freute sich über den „hervorragend besetzten Actionfilm, mit einer ausgewogenen Mischung aus Wem-kannst-du-trauen und Überraschungsmomenten mit tollen Kämpfen und hervorragenden Stunts.“

Für seinen dritten Film UV („In der Glut der Sonne“, TV und „UV – Tödliche Verführung“, DVD, 2007) begab sich Gilles Paquet- Brenner wieder auf unbekanntes Terrain. In diesem Psychothriller mit seiner erdrückenden Atmosphäre, inszenierte er, von Moravia und dem italienisch-französischen Kino der frühen Sechziger beeinflusst, eine zynische und fast geräuschlose Konfrontation zwischen dem legendären Jacques Dutronc und dem jungen Nicolas Cazalé. Auch wenn das Publikum ein bisschen verloren schien, meinte L’Express der Film sei „wunderbar gemacht“ und Elle liebte „diese ungewöhnliche Unglücksruhe, die genug Zeit lässt, um ein paar schillernde Typen und die hervorragende Besetzung zu beobachten.“ Und aVoir-aLire schließlich sah in dem Thriller „die grausamste Sozialsatire.“

Filmographie

2001 : Les Jolies Choses2003 : Gomez et Tavarès (Payoff – Die Abrechnung)2007 : U.V. (In der Glut der Sonne/Tödliche Verführung)2007 : Gomez vs Tavarès (Bad Cops – Zwei Bullen sehen rot)2009 : Walled In (Eingemauert)2010 : Elle s'appelait Sarah (Sarah´s Schlüssel)

QUELLE : Presseheft CAMINO Filmverleih

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KÉRITY, LA MAISON DES CONTES

Deutscher Titel: Leon und die magischen WorteKinostart Frankreich: 16.12.10Land: FrankreichRegie: Dominique MonféryBuch: Anik Le Ray et Alexandre RévérendSzenenbild, Bauten/Dekorationsbau (art directors) :

Rebecca Dautremer, Richard DespresTon: Christophe Burdet, Adam Wolny Musik: Christophe HéralProduktion: Gaumont-Alphanim (Koproduktion), Lanterna Magica

(Koproduktion), La Fabrique (Koproduktion), Canal+ (Partizipation), Cinéart (Partizipation), Haut et Court (Partizipation) (als Haut et Court distribution), Films Distribution (Partizipation), StudioCanal (Partizipation), TF1 (Partizipation), TPS Star (Partizipation), Centre National du Cinéma et de L'image Animée (CNC) (Partizipation) (als Centre national de la cinématographie), Eurimages (support), Région Poitou-Charentes (support), Département de la Charente (support), Région Languedoc-Roussillon (support), Sofica Soficinéma 4 (in Zusammenarbeit mit) (als Soficinéma 4), Cofinova 5 (in Zusammenarbeit mit)

Produzenten: Clément CalvetDeutscher Verleih Sunfilm Entertainment (Video)Weltvertrieb: TelepoolLänge: 80 MinutenGenre: ZeichentrickfilmPreise Animationsfilmfestival Annecy (Frankreich) 2010:

Lobende Erwähnung

BESETZUNG: (Sprechrollen)

Éléonore Jeanne MoreauAdrien Pierre RichardLeon/Natanael (fr.) Arthur DuboisDer Vater Denis PodalydèsDie Mutter Julie Gayet Das weiße Kaninchen Lorant DeutschDer Oger GonzalesCarabosse Liliane Rovère

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SYNOPSIS

Der siebenjährige Leon kann immer noch nicht lesen. Als seine Tante stirbt, hinterlässt sie seinen Eltern ihr Haus und dem Jungen ihre alte Büchersammlung. Leon findet heraus, dass sich in der Bibliothek ein großes Geheimnis verbirgt: Wenn die Menschen den Raum verlassen, werden in den Bücher die Märchenfiguren der Welt lebendig. Aber wenn sie die Bibliothek verlassen müssten, würden sie für immer verschwinden - und die Kinder würden nie mehr ihre Geschichten lesen können. Als Leons Eltern damit beginnen, die Bücher zu verkaufen und Leon von der bösen Hexe Carabosse geschrumpft wird, sind seine neuen Freunde in größter Gefahr und für den kleinen Jungen beginnt das größte Abenteuer seines Lebens ...

INTERVIEWANIK LE RAY, Autorin des Drehbuchs :

Der Ursprung der Geschichte

Inspiriert zu der Geschichte wurde ich von einem drei- oder vierjährigen Jungen namens Natanaël. Eines Tages gestand er mir: „Weißt Du, also, äh, ich kann nicht lesen!“ Alle um ihn herum konnten lesen, nur er nicht. Er glaubte wirklich, dass ihm etwas fehlte, als ob jedem das Lesen angeboren wäre! Ausgehend von dieser Anekdote habe ich gedanklich alle Märchencharaktere aufgegriffen, die mir am Herzen lagen, und sie gemeinsam um Natanaël gruppiert, um somit eine Art von Aufbruch zu gestalten. Die Lektüre soll zum Träumen einladen und stellt außerdem eine intensive Intimität her. Wenn eine Person einer anderen etwas vorliest – wie zum Beispiel ein Elternteil seinem Kind – entsteht im Verlauf der Wörter so etwas wie ein gemeinsamer Traum. In dieser Erzählung erbt Natanael nicht nur eine Bibliothek mit Millionen von Büchern, sondern dazu noch die Begeisterung fürs Lesen.

Die Charaktere

Grafisch betrachtet war dies eine Art Wettlauf. Durch Rébeccas Arbeit konnten sich die Figuren sowohl im Damals wie auch in der Gegenwart daheim fühlen. Mir schien es, als hätten sie zwei Leben, ein wenig wie Schauspieler im Theater: Sie sind in der Stadt und auf der Bühne. In ihrer literarischen Geschichte sind sie in der Szene und in der Bibliothek. Ich fand es zum Beispiel interessant, dass Rotkäppchen und der böse Wolf gute Freunde sind. Und dass sie eine echte Verbundenheit teilten und seit Jahrhunderten als eine Art Paar zusammenleben. Alice ist eine weibliche Figur, die Natanaël ins Vertrauen zieht. Sie lässt ihn Risiken eingehen, indem sie ihn dazu bringt, sich zu befreien. Der Oger wiederum ist hin- und hergerissen zwischen seinem Instinkt des „Menschenfressers“ und seiner Sehnsucht nach Freundschaft. Auf jene oder andere Art werden all diese Figuren Natanaël dabei helfen, sein Ziel zu erreichen: die Formel zu lesen, die ihnen ein Weiterleben ermöglichen wird. Sie werden alles daransetzen, dass ihre Geschichten von Generation zu Generation erzählt und weitergegeben werden. Sie nehmen also ihr Schicksal in die Hand.

RÉBECCA DAUTREMER, Illustratorin:

Beim Lesen des Entwurfs hatte ich bezüglich des Charakters von Natanaël eine bestimmte Intuition. Ich wollte, dass er niedlich ist, ohne gleich zur „ersten Klasse“ zu gehören. Er sollte schüchtern sein und auf gewisse Weise vernachlässigt. In einem Wort: besonders. Er ist ein etwas einsames Kind. Für mich war er eindeutig ein dunklerer Typ. Ich stellte ihn mir mit dem Topfschnitt der 70er Jahre vor, die ihm etwas leicht Böhmisches verlieh. Es gibt schon einen Unterschied zwischen einem perfekten Topfschnitt und einem Haarschopf, den die Mama seit drei Monaten nicht mehr geschnitten hat!

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Ich glaube wirklich daran, dass man Märchenfiguren Leben einhauchen kann. Das begeistert mich, das mache ich den ganzen Tag lang, jeden Tag meines Lebens. An der Geschichte liebe ich die Idee, wie man dieser Parallelwelt beim Erwachen zusehen kann und dass man all diese kleinen Charaktere wiederfindet, die in Büchern und in der Bibliothek ihr eigenes Leben besitzen. Und man schaut zu, wie sie sich verbreiten und überall in der Welt leben. Bei den Märchenfiguren war ich bemüht, alle Klischees beiseite zu lassen und zu meinen eigenen wilden Versionen zurückzukehren. Es wurde niemals behauptet, dass Alice Blau oder Rot trägt. Woran allerdings kein Zweifel besteht, ist die Tatsache, dass sie blond ist. Die Alice in dem Film hat eine wahrhaftige Persönlichkeit. Ich habe sie mir mit zackenförmigen Haaren vorgestellt. Rotkäppchen ist weniger vormodelliert, weil es zu diesem Thema keinen Disneyfilm gab. Mir gefiel der Einfall, sie mit einem peruanischen Körbchen und einem Poncho auszustatten. Der Wolf sollte etwas kleinlaut und schwerfällig sein, eher lieb und fusselig. Der Oger ist ein recht zweideutiger Charakter. Er kann sehr angsteinflößend sein, aber seine körperliche Befindlichkeit macht ihn zerbrechlich. Er sollte bedrohlich und in gewissen Momenten auch zart und gnädig sein. Schließlich zeichnete ich ihm einen großen Körper auf seine kleinen Beine, was ihn etwas ungeschickt erscheinen lässt und seine Dualität unterstreicht. Den Gestiefelten Kater wollte ich nicht mit dem gewohnten Federhut ausstatten. Bei seinem Gestus und seinem Aussehen ließ ich mich von Charleston inspirieren. Letztendlich gab es mehr als 40 Charaktere, und aus einleuchtenden Gründen haben wir den Schwerpunkt nur auf einige besondere gelegt.

Illustrationen und künstlerische Leitung

Illustration und Zeichentrick-Kino

Ich habe eher die Angewohnheit, allein und sehr unabhängig in meinem Studio zu arbeiten. Bei meinen Büchern gehe ich eher wie eine Fotografin vor, die mit Bildausschnitten Diese Arbeit erfolgte im Austausch mit dem Regisseur, Dominique Monféry. Er fragte mich, wie ich mir diese oder jene Figur vorstellte. Ich machte einen ersten Entwurf, und dann diskutierte man erneut. So gelang es uns, dieses Universum vollständig mit Leben zu erfüllen.

Farbe, Licht, Komposition

Ich arbeite oft intuitiv, indem ich mich von meinen Gefühlen leiten lasse. Die Bibliothek zum Beispiel sollte rötlich dargestellt werden, wie das Innere eines Magens. Gemäß wurden unterschiedliche Rottöne gefunden. Als Natanaël zum Beispiel heimkehrt und schaudernd die Bibliothek entdeckt, sind die Rottöne härter, rauer und aggressiver. Man entschied sich dabei für eine Palette von Karmesin bis Magenta. In dem Augenblick, wo sich seine große Schwester vor der leeren Bibliothek wiederfindet, verändert sich die Farbe und wird sanfter und neutraler; von Kaki bis hin zu einer Spur Orange. Die Träume basieren farblich auf einem Rosaton.Abgesehen von der Farbe interessieren mich auch die Komposition und die Arbeit am Licht. Anstelle von perfekten Bildern habe ich mich mehr bemüht, bestimmtes Licht, Reflektierungen und Durchlässigkeiten zu finden. Die Dinge erhalten stets durch das Licht Volumen. Es war mir sehr wichtig, dass gewisse Szenen eher schattenhaft erahnt werden können. Sei es das Schloss, die Bibliothek oder der Hangar von Pictou – erst durch das Wechselspiel von Licht und Schatten bilden sich Räume. Jegliches Dekor des Films entsteht durch Anwendung von mehreren Rohstoffen, die entweder extra hergestellt wurden oder meinen Fachbüchern entstammen. Die Dekors sind wie bemaltes Papier; man nahm Stofffetzen und fügte Schattierungen hinzu. Nichts wurde mit Photoshop geschaffen. Es ist eine handwerkliche Arbeit, alles wird von Hand skizziert und ausgeführt. Selbst wenn ein Vorgang nur zwei Sekunden lang dauert, wurde alles mit derselben Liebe zum Detail entworfen.

Fläche und Ausstattung

Es wurde viel Zeit damit verbracht, festzulegen, wo die Sonne aufgeht und wie man die Häuser

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sinnvoll zueinander aufstellt. Ausgehend von einem Plan, der mir bereitgestellt wurde, habe ich eine echte Landkarte gezeichnet - mit dem Meer, Häusern, Bäumen usw. Zum Beispiel galt es zu bedenken, wie die kleinen Märchengestalten auf den Strand gelangen. Und vor allem war es wichtig, über Erzählmuster hinausgehend, diesen Vorgang so schön wie möglich zu gestalten.

DOMINIQUE MONFÉRY, Regisseur:

Erzählstil, Regie

Fantastischer Realismus

Durch die Umsetzung sollte man sich wie ein Kind fühlen, dass von einer halbrealen Welt fasziniert war. Die Idee war, auf Kindheitserinnerungen anzuspielen und diese ursprüngliche Offenheit in Beziehung zu den Geschichten zu setzen.

Ein intimer Abenteuerfilm

Hinsichtlich der Zeichnungen und der Geschichte wählte man eine sehr feine Darstellung dessen, was im Inneren des Hauses und in der Bibliothek geschieht. Sobald man die Türschwelle übertritt, nimmt ein wahrhaftiges und rasantes Abenteuer Gestalt an.

Die Figuren

Die Figuren interagieren richtig miteinander, wie etwa Schneewittchen, die gerade ihren Apfel essen will und von den sieben Zwergen daran gehindert wird. Bei Natanaël wollte ich, dass er sich im Laufe der Erzählung entwickelt. Er lernt, sich zu behaupten, entdeckt sein Schicksal und seine Persönlichkeit. Als er im Schloss das Streichholz greift, um damit gegen die Krabbe kämpfen, wird er zum Ritter und übernimmt vollständig die Heldenrolle. Hier wird er allmählich zum Herren des Abenteuers, und dieses Selbstvertrauen ermöglicht ihm letztendlich den Zugang zur Literatur.

Sounddesign und Musik

Gemeinsam mit Christophe Héral entschied man sich dafür, dass die Musik zwischen einem nüchternen Orchester, einem schlichten, wiederkehrenden Leitthema und aufwändigeren Orchestrationen pendeln solle. Als Geräuschkulisse wollte man etwas sehr Natürliches, Organisches. Am Anfang sind beide Welten noch getrennt und stehen parallel zueinander. Zum Beispiel ist der Charakter der Krabbe in der ersten Strandszene gleichzeitig und wird in der Sandburg dann schrecklich und bedrohlich. Bei den Märchenfiguren arbeitete man mit raschelndem Papier. An der Stelle, wo Natanaël auf die Leiter getrieben wird und in die Parallelwelt zurückkehrt, griff man auf „realistischere“ Geräusche zurück. Am Ende des Films wäre die klassische Lösung gewesen, auf das Papierknistern zurückzugreifen und beide Welten wieder voneinander zu trennen. Aber man beschloss, den Ton „realistisch“ zu halten. An dieser Stelle existieren die Figuren wirklich für Natanaël. Die zwei Welten bilden nun eine.

Eine universelle Geschichte

In der letzten Szene, während man durch alle Kontinente reist, hört man die Geschichten in der Sprache des jeweiligen Landes. Die Bibliothek, in der die Geschichten aus aller Welt leben, hat also Einfluss über Grenzen und Sprachen hinaus. Und diese Geschichten werden überall dort lebendig bleiben, wo es Menschen gibt, die bereit sind, sie zu erzählen. Am Ende schlafen Natanaël und seine Schwester über dem Buch ein, und in ihren Träumen gehen die Geschichten weiter. Das ist das Kernstück von Erzählungen und vom Lesen.

Kommentare gesammelt von Frédéric Schindler

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DIE ILLUSTRATORIN RÉBECCA DAUTREMERRébecca Dautremer studierte Kunst in Paris. Bevor sie eine der bekanntesten französischen Illustratorinnen wurde, widmete sie sich dem Grafikdesign. Unter anderem hat sie die Alben Prinzessinnen, Elvis und Cyrano verfasst.

DER REGISSEUR DOMINIQUE MONFÉRY2004 erhielt der Kurzfilm Destino von Dominique Monféry eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Bester animierter Kurzfilm. Dominique hat zahlreiche Filme gedreht, darunter Hercules, Tarzan, Kuzco, der hochmütige Herrscher und Franklin und der Schatz im See.

QUELLE: französisches Presseheft Haut et CourtÜberseztung : Valentin Olbrich

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LA TETE EN FRICHE

Deutscher Titel: Das Labyrinth der WörterKinostart Frankreich: 02.06.10Kinostart Deutschland: 06.01.11Land: FrankreichRegie: Jean BeckerBuch: Jean Becker, Jean-Loup Dabadie Ton: Jacques Pibarot, Vincent Montrobert, Francois GroultMusik: Laurent VoulzyProduktion: Produktionsleitung: Bernard Bolzinger, Produktionsbeauftragte:

KJB Production, Coproduktion: STUDIOCANAL –FRANCE 3 CINÉMA –DD PRODUCTIONS

Produzenten: Louis BeckerDeutscher Verleih CONCORDE FILMVERLEIHLänge: 82 MinutenGenre: Komödie/Drama

BESETZUNG:

Germain Gérard DepardieuMargueritte Gisèle CasadesusGardini Francois-Xavier Demaison Francine Claude MauraneLandremont Patrick BouchiteyJojo Jean-Francois StéveninDie Mutter Claire MaurierAnnette Sophie Guillemin

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SYNOPSIS

Es ist die Geschichte über eine dieser Begegnungen, die das ganze Leben verändern können: das Zusammentreffen in einem Park zwischen Germain (Gérard Depardieu), um die 50, praktisch Analphabet, und Margueritte (Gisèle Casadesus), einer kleinen alten Dame und leidenschaftlichen Leserin. Vierzig Jahre und hundert Kilo trennen sie. Eines Tages setzt sich Germain zufällig neben sie. Margueritte liest ihm Passagen aus Romanen vor und eröffnet ihm die Welt und die Magie der Bücher, von denen sich Germain immer ausgeschlossen fühlte. Für sein Umfeld, die Freunde im Bistro, die ihn bis jetzt für einen Einfaltspinsel hielten, wechselt die Dummheit mit einem Mal die Seite ... Aber Margueritte verliert immer mehr ihr Augenlicht und aus tief empfundener Freundschaft zu dieser charmanten, verschmitzten und aufmerksamen alten Dame, übt Germain lesen und zeigt ihr, dass er in der Lage sein wird, ihr vorzulesen, wenn sie selbst es nicht mehr kann.

PRESSENOTIZDAS LABYRINTH DER WÖRTER ist eine Geschichte voller Humor und Lebensfreude, mit einem bemerkenswert guten Gérard Depardieu und einer Hauptdarstellerin an seiner Seite, Gisèle Casadesus, der das Alter nichts von ihrem Charme genommen hat. Mit wunderbarem, feinem Sprachgefühl – der Originaltitel LA TÊTE EN FRICHE bedeutet so viel wie „Der brach liegende Kopf“ – ist Regisseur Jean Becker ein zu Herzen gehender, lustiger, durch und durch menschlicher Film gelungen. Zärtlich, voller Hoffnung erzählt DAS LABYRINTH DER WÖRTER davon, dass es nie zu spät ist, Neues zu lernen und glücklich zu sein.Wie schon in „Dialog mit meinem Gärtner“ und „Ein Sommer auf dem Land“ beschwört Becker einmal mehr mit meisterhafter, auf den Punkt gebrachter Leichtigkeit sein Thema: die Menschlichkeit, den Realismus des Landlebens, den Charme und die Kultiviertheit des Herzens der so genannten „Kleinen Leute“...„Dieser Germain, das hätte ich sein können“, so charakterisiert Depardieu eine Rolle, die ihmgeradezu perfekt auf den eindrucksvollen Leib geschrieben scheint.Ihn als tollpatschigen, gutmütigen, vom Leben gezeichneten Germain zu sehen, zählt zu dengroßen Momenten der Filmgeschichte.

INTERVIEW MIT REGISSEUR JEAN BECKER

Wie sind Sie auf den Roman von Marie-Sabine Roger aufmerksam geworden und was hat Sie gereizt, ihn zu adaptieren?

Ich habe jemanden, der mir bei der Recherche hilft und der mich auf das Buch von Marie-Sabine Roger „La tête en friche“ hingewiesen hat. Schon bei der Lektüre bin ich seinem Charme verfallen. Die Figur dieses freundlichen, etwas ungehobelten Kerls, der unter seiner mangelnden Bildung leidet, hat mich gleich gefangen genommen. Man könnte denken, er sei etwas simpel, auch wenn er es überhaupt nicht ist. Und durch das unvorhergesehene Zusammentreffen mit einer alten, sehr gebildeten Dame, die ihm den Reichtum der Literatur nahebringt, entwickelt er sich weiter. Sie „erschließt“ sozusagen seinen Geist, macht ihn urbar.

Warum haben Sie Jean-Loup Dabadie gebeten, mit Ihnen zusammen den Stoff zu adaptieren?

Wir wollten schon seit langer Zeit einmal zusammen arbeiten. Ich gab ihm „La tête en friche“ zu lesen, das Buch gefiel ihm sehr – et voilà, die Gelegenheit hatte sich endlich gefunden.

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Ist das Schreiben für Sie ein Vergnügen?

Das Schönste für mich im Entstehungsprozess eines Films sind das Schreiben und der Schnitt. Den Dreharbeiten sehe ich mit einer gewissen Bangigkeit entgegen, weil ich immer die Sorge habe, dem Geschriebenen nicht standhalten zu können. Und pausenlos ganz gewissenhaft seinund aufpassen muss, dass ich mich nicht zu weit davon entferne.

Haben Sie die Dreharbeiten immer schon so erlebt?

Es ist natürlich immer angenehm, sich jeden Tag, sechs Wochen lang, mit der kleinen Schar zu treffen, die man um sich versammelt hat. Aber ich will Ihnen ein Geständnis machen: Es kann auch sehr lästig sein, immer wieder auf die gleiche Frage antworten zu müssen: „Was machen wir?“ Ich denke immer an die Antwort, die Sébastien Japrisot gab: „Ich weiß es nicht, aber das machen wir gut“. Beim Drehen, ich gebe es zu, bin ich eher schwierig. Ich schreie viel, das stimmt, aber ich bin mir immer dessen bewusst, dass jeder Fehler, einmal gemacht, mich von meinem Ziel entfernen wird: Die Richtigkeit dessen, was geschrieben ist, wiederzugeben. Jedes Detail ist in meinen Augen entscheidend.

Wann haben Sie daran gedacht, Gérard Depardieu, mit dem Sie bereits bei ELISA gedreht haben, in der Rolle des Germain Chazes zu besetzen?

Sehr früh. Sogar ehe ich mich aufs Schreiben des Drehbuchs gestürzt habe. Ich habe das Buch von Marie-Sabine Roger meinem Agenten und Freund Bertrand de Labbey zu lesen gegeben. Er hat mir dann den Namen Depardieu nahe gelegt und gefragt, ob er ihm das Buch schicken dürfe. Gérard hat mich drei Tage später angerufen und mit mir über eine Stunde lang eifrig darüber geredet, bis in die kleinsten Details. Ich glaube, er verstand das Buch so gut wie ich, wenn nicht besser, was das Fließende und die Kraft seiner Interpretation erklärt. Jedenfalls hat mich seine tiefe Liebe zu dieser Geschichte darin bestärkt, diesen Film zu machen – zumal mit der Aussicht, ihn an Bord zu haben! Und schließlich auch diese alte Dame, eine außergewöhnliche Schauspielerin von 95 Jahren: Gisèle Casadesus! Nach einer Vorführung sagte mir jemand ‚Diese beiden sind dazu bestimmt, sich zu treffen’. Diese Bemerkung hat mich wirklich gefreut, weil sie genau das Thema des Films wiedergibt.

Sie haben mit ihr bereits LES ENFANTS DU MARAIS gedreht. Warum wollten Sie ihr dieseRolle anbieten?

Gisèle verfügt, ungeachtet ihres zerbrechlichen Äußeren, über eine beachtliche Charakterstärke, die hervorragend zu dieser Figur passt. Ich glaube, es ist überflüssig, ihr Talent zu rühmen. Schauen wir uns die Nebenrollen an, und erklären Sie uns Ihre Kriterien für deren Auswahl, angefangen mit Claire Maurier, die die Mutter von Germain Chazes spielt … Als ich im Fernsehen eine Ausstrahlung von Cédric Klapischs UN AIR DE FAMILLE sah, war das der Auslöser: Ich wusste gleich, dass Claire die Figur dieser wilden, gewalttätigen Mutter verkörpern könnte.

Claude Maurane?

Sie hat sofort zugesagt, zum einen weil sie die Rolle spielen wollte, zum anderen aber auch ein bisschen Angst hatte, sie vielleicht nicht spielen zu können. Aber sie ist sofort ganz natürlich in die Haut ihrer Figur geschlüpft. Sie ist wirklich bewundernswert, diese Frau …

Patrick Bouchitey als Bistro-Kumpel?

Das ist ein Schauspieler, den ich immer gut und passend finde, und der unter anderem, eineerstaunliche Persönlichkeit hat.

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Sophie Guillemain in der Rolle von Germains Freundin?

Eine sehr natürliche Schauspielerin. Sie bildet mit Gérard ein glaubwürdiges Paar. Klar, es gibt einen großen Altersunterschied zwischen den beiden, aber letztendlich ist sie es, die ihn bemuttert. Und ich finde, das funktioniert wirklich gut auf der Leinwand.

Fällt es Ihnen leicht, die Schauspieler zu finden, die Ihren Figuren entsprechen?

Ich vertraue unbedingt dem Urteil meiner Casting-Agentin.

Was für eine Art Regisseur sind Sie am Set?

Ich mag es, einfaches Kino zu machen. Wie mein Vater mir oft erklärt hat, zeichnet eine gute Regie aus, dass man sie nicht bemerkt. Wenn man sie bemerkt, geht das zu Lasten der Geschichte, weil man sich auf alles andere als das Wesentliche konzentriert. Mein Regieführen beschränkt sich also darauf, die Entwicklung meiner Figuren im Verlauf der Handlung zu begleiten mit dem immer gleichen Ziel: dass die Zuschauer meiner Filme nicht als genau dieselben den Saal verlassen, als die sie gekommen sind.

Alle Ihre Filme haben etwas gemeinsam: Sie sind nostalgisch, ohne rückständig zu sein. Wie gelingt Ihnen dieses schwierige Unterfangen immer wieder?

Ich weiß nicht ... Jedes Mal bin ich einfach berührt von den Themen, meist Stoffe aus Büchern. Ich bediene mich vor allem den Kreationen anderer und erzähle ihre Geschichten.

Wenn man DAS LABYRINTH DER WÖRTER gesehen hat, ist man überwältigt, ohne den Eindruck zu haben, emotional erdrückt worden zu sein. Wie schaffen Sie das?

Es geht mir nicht darum, larmoyant zu sein, auch wenn manche das meinen, und ich glaube, ich habe auch nicht auf den Knopf der Gefühlsduselei gedrückt. Ich versuche einfach, das zu erzählen, was mich bewegt hat, und diese Emotion auf die Leinwand zu bringen.

Haben Sie als Filmemacher mit den Jahren gelernt, die Geschichten, die Sie berühren, besser zu erzählen?

Ich glaube, ich werde mit jedem Mal besser (lacht). Nein, ein Scherz, ich möchte sagen, manlernt mit jedem seiner Filme etwas dazu und achtet darauf, nicht zweimal den gleichen Fehlerzu begehen. Erfahrung, die hilft von Zeit zu Zeit …

Ist DAS LABYRINTH DER WÖRTER im Schneideraum noch sehr verändert worden?

Ich versuche, die Momente zu vermeiden, wenn der Zuschauer schon ahnt, was in der nächsten Szene passieren wird und sich sagt ‚Schon gut, wir haben’s ja verstanden’. Ich zögere nie, etwas wegzuschneiden. Das ist schwierig, wenn man seine ersten Filme macht, weil man an seinen Bildern hängt. Aber man sollte als Regisseur nie in seine Bilder vernarrt sein. Ich habe gelernt, es nicht mehr zu sein und mich auf den Rhythmus zu konzentrieren.

Warum haben Sie Laurent Voulzy mit der Filmmusik beauftragt?

Ganz einfach – und nicht gerade originell – weil ich seine Chansons und seine Melodien liebe. Am Anfang hat er sich geweigert, weil er dachte, er würde es zeitlich nicht schaffen. Aber als ich ihm den Film zeigte, hat er schließlich zugesagt. Danach ging alles sehr schnell. Einen Monat später schickte er uns ein sehr schönes Thema, das mir sehr gefiel.

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Sind Sie nervös vor dem Filmstart?

Man sagt oft, wenn der Schnitt erledigt ist, gehört der Film dir nicht mehr. In meinem Fall stimmt das nicht. Ich bin involviert, bis er in die Kinos kommt. Es hat drei Jahre gedauert, um ihn zum Leben zu bringen, und ich möchte nicht, dass irgend ein Detail all unsere Mühen zunichte macht am Ende der Kette, der Promotion des Films. Ich schulde es mir, da mitzuwirken. Meiner Meinung nach läuft ein Film, wenn er dem Publikum übergeben ist, entweder gut, mittelmäßig oder gar nicht. In all diesen möglichen Fällen muss man die Ärmel hochkrempeln und an den nächsten denken.

DER REGISSEUR JEAN BECKERJean Becker wurde 1938 in Paris als Sohn der Regisseurs Jacques Becker geboren. Er arbeitete als Regieassistent für seinen Vater und für Henri Verneuil. Als sein Vater 1960 plötzlich verstarb, führte Jean die Dreharbeiten von dessen Ausbruchsdrama LE TROU „Das Loch“ zu Ende. Danach blieb er dem Metier treu, drehte drei Krimis bzw. Kriminalkomödien mit Jean-Paul Belmondo (UN NOMMÉ LA ROCCA, „Sie nannten ihn Rocca“; ÉCHAPPEMENT LIBRE, „Der Boss hat sich was ausgedacht“, TENDRE VOYOU, „Geliebter Schuft“) und arbeitete fürs Werbefernsehen. 17 Jahre später feierte er mit seinem Leinwandcomeback L’ÉTÉ MEURTRIER („Ein mörderischer Sommer“) Triumphe. Der in der Provinz angesiedelte Thriller, ein großer Boxoffice-Erfolg in Frankreich, brachte Isabelle Adjani den César als Beste Hauptdarstellerin. Nach einer weiteren mehrjährigen Auszeit sorgte er mit ELISA („Elisa“) mit Gérard Depardieu für Furore. Der Film machte Sängerin Vanessa Paradis zum Star und wurde mit dem César in der Kategorie Beste Musik ausgezeichnet. In der Literaturverfilmung LES ENFANTS DU MARAIS („Ein Sommer auf dem Lande“) mit Gisèle Casadesus schuf er ein stimmungsvolles Porträt der „kleinen Leute“ und ein Plädoyer für Menschlichkeit. Die Drehbücher seiner Filme schreibt Becker meist selbst, häufig sind es Adaptionen von Romanen. Die Familie Becker hat sich inzwischen in der dritten Generation dem Filmemachenverschrieben: Jean Beckers Sohn Louis produzierte seit 2006 drei Filme seines Vaters, DIALOGUE AVEC MON JARDINIER („Dialog mit meinem Gärtner“), DEUX JOURS À TUER („Tage oder Stunden“) und DAS LABYRINTH DER WÖRTER.

Filmografie (Auswahl)

1961 UN NOMMÉ LA ROCCA (Sie nannten ihn Rocca)1964 ÉCHAPPEMENT LIBRE (Der Boss hat sich was ausgedacht)1965 PAS DE CAVIAR POUR TANTE OLGA (Kein Kaviar für Tante Olga)1967 TENDRE VOYOU (Geliebter Schuft)1983 L’ÉTÉ MEURTRIER (Ein mörderischer Sommer)1995 ELISA (Elisa)1998 LES ENFANTS DU MARAIS (Ein Sommer auf dem Lande)Nach dem gleichnamigen Roman von Georges Montforez2000 UN CRIME AU PARADISNach dem Stück von Sacha Guitry2003 EFFROYABLES JARDINSNach dem gleichnamigen Roman von Michel Quint2006 DIALOGUE AVEC MON JARDINIER (Dialog mit meinem Gärtner)Nach dem gleichnamigen Roman von Henri Cueco2008 DEUX JOURS À TUER (Tage oder Stunden)Nach dem gleichnamigen Roman von François d’Epenoux2010 LA TÊTE EN FRICHE (DAS LABYRINTH DER WÖRTER)Nach dem gleichnamigen Roman von Marie-Sabine Roger

QUELLE : Presseheft CONCORDE FILMVERLEIH

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LE NOM DES GENS

Deutscher Titel: Der Name der LeuteKinostart Frankreich: 24.11.10Kinostart Deutschland: 14.04.11Land: FrankreichRegie: Michel LeclercBuch: Baya Kasmi und Michel LeclercTon: Sophie Laloy, Emmanuel Augeard, François Groult

u.v.a.Musik: Jérôme Bensoussan und David EuverteProduktion: Delante Films, Karé Productions, TF1 Droits Audiovisuels

(Koproduktion), Canal+ (Partizipation), TPS Star (Partizipation)Région Ile-de-France (support), Banque Populaire Images 10 (in Zusammenarbeit mit), Uni Étoile 7 (in Zusammenarbeit mit), Sofica Valor 7 (in Zusammenarbeit mit)

Produzenten: Caroline Adrian, Antoine Rein, Fabrice GoldsteinDeutscher Verleih X VerleihWeltvertrieb: Warner BrosLänge: 100 MinutenGenre: KomödiePreise: Césars 2011: bestes Originaldrehbuch (Michel Leclerc, Baya

Kasmi), beste Hauptdarstellerin (Sara Forestier)

BESETZUNG:

Bahia Benmahmoud Sara ForestierArthur Martin Jacques GamblinCécile Benmahmoud Carole FranckMohamed Benmahmoud Zinedine SoualemAnnette Martin Michèle MorettiLucien Martin Jacques BoudetLionel Jospin Lionel Jospin

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SYNOPSISDie junge attraktive Bahia (Sara Forestier) trägt ihren außergewöhnlichen Namen mit Stolz, kämpft mit aufbrausender Leidenschaft für alle gerade verfügbaren Randgruppen und dürfte für ihren Geschmack ruhig ein bisschen weniger französisch aussehen. Auch sonst hat die charmante Politaktivistin ihren eigenen Weg gefunden, die Welt zu verbessern: Ganz nach dem Lebensmotto ihrer hippiebewegten Eltern, „Make love, not war“, schläft sie mit politisch rechts stehenden Männern, um sie ideologisch umzudrehen. Eine Ausnahme macht sie allerdings für den bekennenden Linkswähler Arthur (Jacques Gamblin), der sich eigentlich ganz wohl dabei fühlt, mit seinem konservativen Allerweltsnamen in der anonymen Masse unterzutauchen. Doch Bahia stellt sein bis dahin geordnetes und zurückgezogenes Leben völlig auf den Kopf. Und so muss sich Arthur plötzlich nicht nur mit Bahias mitreißendem Idealismus, sondern auch mit der wahren Geschichte seiner Familie auseinandersetzen.

PRESSENOTIZ

DER NAME DER LEUTE ist eine hintersinnige und charmante Komödie über die grenzüberschreitende Wirkung der Liebe, die Suche nach der eigenen Identität und den unbeirrten Einsatz für seine Ideale. Regisseur Michel Leclerc legt mit dieser unkonventionell erzählten romantischen Geschichte seinen zweiten Spielfilm vor und wirft damit auch einen amüsanten Blick auf unsere heutige Gesellschaft, in der Menschen wieder auf die Straße gehen, um für ihre Überzeugungen einzustehen.In der männlichen Hauptrolle brilliert Jacques Gamblin (KOMMISSAR BELLAMY, C’EST LA VIE), einer der aufregendsten Charakterdarsteller Frankreichs, der seinem Arthur die unwiderstehliche Mischung aus Zurückhaltung und Wagemut verleiht. Frankreichs Shootingstar Sara Forestier (GAINSBOURG), die 2005 den César als beste Nachwuchsdarstellerin erhielt, überzeugt an seiner Seite in der Rolle der lebensfrohen und mitreißenden Bahia.DER NAME DER LEUTE lief als Eröffnungsfilm der 49. „Semaine de la Critique“ des Festival de Cannes 2010, wo er Publikum wie Kritiker gleichermaßen begeisterte.

INTERVIEW:EIN GESPRÄCH MIT MICHEL LECLERC UND BAYA KASMIWie hat das Abenteuer von DER NAME DER LEUTE begonnen?

Michel Leclerc: Als ich Baya vor fast zehn Jahren kennen lernte, sagte sie mir ihren Namen und ich fragte: „Ist das brasilianisch?“. Sie antwortete: „Nein, algerisch.“ Dann fragte sie mich nach meinem Namen und sagte anschließend: „Na, wenigstens weiß man bei dem sofort, wo er herkommt!“ Der Ausgangspunkt im Film ist also derselbe wie in unserer persönlichen Beziehung.Baya Kasmi: Wir wollten auf diese ganze deterministische Diskussion über Identität und verschiedene Gemeinschaften reagieren, weil wir sie nicht gutheißen und uns darin auch nicht wiederfinden können. Die Gesellschaft hat stark vereinfachte Vorstellungen, die implizieren, dass ein bestimmtes Verhalten auf die jeweilige Herkunft zurückzuführen ist. Nun, man kann aber auch sehr gut nicht in dieses Schema passen.Michel Leclerc: In Frankreich ist die Frage nach der Herkunft oft kompliziert und zugleich zwanghaft. Wie kann man seinen Wurzeln treu bleiben, ohne sich völlig einer Gruppenidentität zu unterwerfen? Wie kann man ein Atheist sein, ohne seine Herkunft zu verleugnen? Solche Fragen faszinieren uns.

Die Geschichte ist also höchst biografisch?

ML: Ja. Immer wenn wir über unsere Familien gesprochen haben, stellten wir trotz aller

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Unterschiede gewisse Gemeinsamkeiten fest, zum Beispiel bei den Neurosen und Obsessionen unserer Eltern. Tatsächlich basieren Liebesbeziehungen ja vielmehr auf einem gemeinsamen Familienhintergrund als auf einer vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen oder ethnischen Gruppierung.

DER NAME DER LEUTE ist eine Komödie, ebenso wie Ihr erster Film J’INVENTE RIEN. Warum haben Sie dieses Genre gewählt?

ML: Wenn man etwas von sich selbst erzählen oder zumindest autobiografisches Material verwenden will, ist Humor ideal, um die nötige Distanz zu schaffen, damit das Ganze nicht in Narzissmus ausartet. Dann redet man zwar immer noch von sich, macht sich aber gleichzeitig auch über sich selbst lustig, so dass auch andere Menschen einen Zugang zu der Geschichte finden können. Das ist der Hauptgrund, warum ich Komödien drehe: Ich halte sie für den elegantesten Weg, um über Persönliches zu sprechen, ohne selbstverliebt zu wirken.

Wer sind Ihre Vorbilder?

ML: Woody Allen hat kürzlich in einem Interview geklagt, dass junge Filmemacher mehr von Scorsese und Tarantino beeinflusst seien als von ihm. Ich versuche nun schon seit Jahren zu zeigen, dass ich von ihm beeinflusst worden bin – bei DER NAME DER LEUTE vor allem von DER STADTNEUROTIKER und RADIO DAYS – aber niemand bemerkt es. Am liebsten würde ich alle seine Filme, einen nach dem anderen, kopieren, ich fürchte nur, dass mein Leben dafür nicht ausreicht. Ich träume heimlich davon, dass er eines Tages eine Plagiatsklage gegen mich einreicht, damit ich endlich die Gelegenheit habe, ihn persönlich zu treffen!

Wie kam es zur dramaturgischen Umsetzung des Themas?

BK: Das war ein langer Prozess. Als wir uns das erste Mal mit unserem Produzenten zusammengesetzt haben, hatten wir ungefähr 60 Seiten mit sehr verschiedenen Situationen. Außerdem hatten wir eine ziemlich genaue Vorstellung von dem komischen Potential unserer Figuren, weil von Anfang an klar war, dass wir eine Komödie machen wollten.ML: Das Drehbuch brauchte seine Zeit, weil wir eher von Situationen und Figuren ausgegangen sind als von einer fertigen Erzählung. Zum Beispiel Bahia, die mit ihren politischen Gegnern schläft, um sie auf ihre Seite zu ziehen – solche Ideen haben unsere Dramaturgie entscheidend bereichert.

Ihre Figuren scheinen sich allen Schubladen zu entziehen, in die man sie stecken will.

ML: Ebenso wie wir, sind auch sie das Ergebnis einer „Vermischung“, und daher identifizieren sie sich nicht mit den Problemen von Immigranten der zweiten und dritten Generation. Sie denken nicht mal mehr daran. Zum Beispiel sagt Arthur Martin ganz klar, dass er nicht jüdisch ist, obwohl seine Mutter Jüdin ist. Der Name einer Person enthüllt also nicht mehr notwendigerweise, wer man ist oder eigentlich sein sollte – man kann Goldenberg heißen und nicht mehr jüdisch sein, wenn man es nicht sein will. Seit einigen Jahrzehnten leben die Menschen ihr Leben mehr und mehr außerhalb der Gemeinschaft, aus der sie stammen; aus diesem Grund verliert der Nachname zunehmend an Bedeutung. Heutzutage, in einem Land, in dem sich Menschen verschiedener Herkunft vermischen, ist es an jedem selbst, seine wahre Identität zu definieren.BK: Trotzdem wollen wir den Widerspruch akzeptieren, dass wir es einerseits ablehnen, mit einer bestimmten Verhaltensweise, entsprechend unserer Herkunft, identifiziert zu werden und uns andererseits wünschen, unsere Wurzeln und die Geschichte unserer Familie nicht zu vergessen. Nur weil man sich untereinander mischt, heißt das noch lange nicht, dass man verschwindet – im Gegenteil. Für uns ist die zentrale Idee, die wir in dem Film vermitteln möchten, dass die „Bastarde“ die Zukunft der Menschheit sind.

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Arthur Martin sagt über sich selbst, er sei „besser als alle anderen, und trotzdem einLadenhüter.“

ML: Ich habe eine Schwäche für Charaktere, die ein wenig zu rigoros sind, um liebenswert zu sein und die durch ihre Unflexibilität nur schwer gesellschaftsfähig sind. Arthur Martin gehört zu den Menschen, die über eine gewisse moralische Rechtschaffenheit – oder eher Unnachgiebigkeit – verfügen, die sie davon abhält, Zugeständnisse zu machen. Das ist auch das, was man Lionel Jospin vorwirft und daher ist es kein Zufall, dass Arthur Jospin-Anhänger ist. Wir fanden die Idee toll, einen sehr ernsten Charakter ohne Sinn für Humor in einer Komödie zu haben.

Wie kamen Sie auf die Idee, aus Arthur einen Ornithologen zu machen, der für das französische Amt für Tierseuchen arbeitet?

ML: Wir haben für Arthur nach einem Beruf gesucht, der seinen zwanghaften Charakter widerspiegelt. Das Prinzip, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um alle möglichen Risiken auf ein Minimum zu reduzieren, entspricht seiner persönlichen Lebensphilosophie so sehr, dass er damit sogar eine Karriere aufbauen konnte.BK: Als wir das Berufsbild recherchiert haben, wurde uns klar, dass es eine Menge Bezüge zu seiner Persönlichkeit gibt. Zum Beispiel haben wir herausgefunden, dass es seine Aufgabe ist, bei einem Verdacht von Vogelgrippe die Massenschlachtung von Hühnern anzuweisen – die dann vergast werden müssen. Das spiegelt Arthurs Problematik offensichtlich wider.

Bahia verkörpert die totale Hingabe.

ML: Bahia ist ein sehr mutiger Charakter. Sie vertritt die Ansicht, dass es immer besser ist, irgendetwas zu tun, als gar nichts zu tun. Sie ist eine Aktivistin, die daran glaubt, dass sie durch ihre Taten die Welt verändern kann. Das Besondere an ihr ist aber, dass sie keinen Unterschied macht zwischen ihrem politischen und ihrem persönlichen Einsatz, sie schläft ja sogar mit ihren politischen Gegnern! Sie ist ein Charakter mit einer ganz eigenen Geisteshaltung.BK: Außerdem vereinfacht sie Dinge aus der Not heraus. Die Welt ist heutzutage so komplex, dass man eine klare Herangehensweise braucht, wenn man sich engagieren und dabei bleiben will. Deshalb sagt sie manchmal so lächerliche Dinge wie: „Quads sind total faschistisch, Linke sind okay und Rechte sind Faschisten“, ohne sich dafür zu schämen! Das mag kindisch wirken, für sie ist es aber eine bewusste Entscheidung: Sie folgt dieser einfachen Denkweise, um die Energie für ihr Handeln nicht zu verlieren. Das ist eine Herausforderung.

Arthur und Bahia leiden beide gleichermaßen darunter, dass man ihnen ihre Herkunft nicht auf den ersten Blick ansieht...

ML: Das ist eine ihrer Gemeinsamkeiten. Sie haben den Eindruck, dass ihre Identität nicht dem Bild entspricht, das andere von ihnen haben. Das erzeugt bei beiden ein Schuldgefühl: Im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern, die aufgrund ihrer Herkunft leiden mussten, ist ihnen bewusst, dass sie gar nicht leiden. Sie sind gegen diejenigen, die das Leid der vorherigen Generation für ihr eigenes Geltungsbewusstsein ausnutzen. Die Opfer geschichtlicher Traumata wie der Kolonialisierung, dem Holocaust oder der Sklaverei haben jedes Recht dazu, aber die Pflicht ihrer Nachkommen ist es, zu verhindern, dass eine solche Katastrophe noch einmal geschieht.BK: Arthur reagiert darauf, indem er seine jüdische Herkunft verbirgt, Bahia, indem sie ihre arabischen Wurzeln betont, auch wenn man sie ihr nicht ansehen kann. Deshalb entscheidet sie sich auch dafür, kurzfristig ein Kopftuch zu tragen, weil sie dadurch als Araberin wahrgenommen wird und die feindlichen Blicke zu spüren bekommt. Endlich erlebt sie selbst, was ihr Vater durchgemacht hat.

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Die Szene, in der Arthur Bahia anzieht, ist voller Poesie.

ML: Für Bahia ist Nacktheit ohne Bedeutung, sie benimmt sich nackt genauso wie angezogen, sie verbindet das nicht mit Sexualität. Deswegen mussten wir ihre Nacktheit als Normalzustand darstellen und das Anziehen ihrer Kleider als erotisch. Das war eine echte Herausforderung.

Wie haben Sie sich die Eltern vorgestellt?

ML: Die Eltern von Arthur haben ihr ganzes Leben darauf aufgebaut, dass man die Wunden ihrer Vergangenheit nur durch das Totschweigen der Besatzungszeit nicht wieder aufreißt. Sie sind in den 50er Jahren aufgewachsen, sind fasziniert vom Fortschritt und glauben wirklich daran, dass die Welt durch die Erfindung von Spülmaschine und Toaster besser geworden ist. Das ist ein Glück, das vielleicht lächerlich erscheint, aber es ist dennoch Glück.BK: Die Eltern von Bahia sind von den 70ern geprägt. Obwohl die Mutter Französin ist, mag sie ihr Land nicht besonders. Für sie ist Frankreich ein Land von Kolonialisten, Kollaborateuren und Umweltsündern. Das ist wiederum die sehr französische Eigenschaft des Selbsthasses und der eigenen höhnischen Verunglimpfung. Frankreich nicht zu mögen, ist oft sehr französisch. Französisch zu sein, ist auch den König zu köpfen, zu revoltieren und jede Form von Nationalismus zu verabscheuen.ML: Bahias Vater gehört zu jener Generation von Immigranten, die nicht um die Anerkennung ihrer Identität kämpfen, auch wenn sie am meisten gelitten haben. Mit Arthurs Mutter verbindet ihn, ein Opfer des Krieges zu sein – des Zweiten Weltkrieges und des Algerienkrieges – aber sich letztendlich dafür entschieden zu haben, Frankreich zu lieben.

Wie kamen Sie auf Jacques Gamblin?

ML: Wir haben sehr schnell an ihn gedacht. Ich hielt ihn für die richtige Wahl, weil er hervorragend diese selbst beherrschte, verschlossene Figur darstellen kann, die dennoch eine Form von Menschlichkeit ausstrahlt. Er hat außerdem einen Körperbau, der viel komisches Potential bietet, auch wenn das bisher noch nicht so ausgenutzt wurde.

Und Sara Forestier?

ML: Wir haben Bahias Rolle als eine Art arabische Marilyn angelegt. Also haben wir zunächst nach einer Schauspielerin mit arabischen Wurzeln gesucht. Aber keine gefunden, die all die verschiedenen Aspekte ihres Charakters spielen konnte: humorvoll, lebhaft, spontan und hemmungslos. Also haben wir auch nicht-arabische Schauspielerinnen gecastet. Als wir Sara Forestier trafen, wussten wir sofort, dass sie die Richtige ist, auch wenn sie nicht ganz der Figur entsprach, die wir uns vorgestellt hatten. Aber sie hat genau diese lustige, ungestüme, geistreiche Art, ohne vulgär zu sein, nach der wir gesucht hatten. Danach haben wir die Rolle für Sara umgeschrieben und ihr die opportunistische Seite gegeben, über die wir vorhin sprachen.BK: Dank Sara kamen wir mühelos zu einer komplexen Figur, die darunter leidet, nicht arabischauszusehen, obwohl ihr Vater aus Algerien stammt.

Die Schauspieler agieren erstaunlich natürlich...

ML: Ich habe es sehr genossen, bei diesen Schauspielern Regie zu führen, weil ich das Gefühl hatte, dass sie sehr in den Film involviert waren und damit offen für Improvisation. Ich finde es wichtig, dass es bei einem präzise geschriebenen Drehbuch wie diesem noch Raum für gewisse Freiheiten gibt. Zum Beispiel habe ich die kämpferische Persönlichkeit von Carole Franck genutzt, die Bahias Mutter spielt: In den Szenen, in denen sie sich über Atomkraft aufregt und Arthur zu einer Zweckehe anstiften will, hat sie improvisiert.

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Auf welchem Material wurde gedreht?

ML: Ich wollte von Anfang an verschiedene Materialien mischen. Der Film ist zum größten Teil in HD gedreht, wir haben aber auch Super 16 und Super 8 benutzt. Um beispielsweise Arthurs verliebte Sichtweise auf Bahia zu zeigen, haben wir auf Super 16 gewechselt, weil es sinnlicher und wärmer wirkt.

Was wollten Sie als Regisseur erreichen?

ML: Ich wollte mit dem Kontrast spielen zwischen den ernsthaften Themen des Films – Politik, Kindheitstraumata – und dem glamourösen Stil der Inszenierung. Wenn Arthur und Bahia beispielsweise nach Bahias Zweckheirat durch das Herbstlaub laufen, diskutieren sie über die Pflicht des Erinnerns und den Algerienkrieg. Ich fand es sehr amüsant, mit dem Widerspruch zu spielen zwischen einer Totalen, wie sie für romantische Komödien typisch ist – Brautkleid, Champagnerflasche in der Hand – und dem Gesprächsthema. Andererseits wollte ich vermeiden, übermäßig viele Schnitte zu haben und systematisch auf Nahaufnahmen zu schneiden, wie es bei Standard-Komödien üblich ist. Ich wollte lieber Totalen, um die Körper der Figuren einzufangen und die Szenen nicht übermäßig zu betonen, auch wenn ich dadurch auf manchen komischen Effekt verzichten musste.

Wie ist die Musik entstanden?

ML: Jérôme Bensoussan, der Komponist, mit dem ich schon lange zusammenarbeite, lässt sich sehr von Zigeunerrhythmen, Klezmer und orientalischer Musik inspirieren. Seine Musik berührt mich sehr wegen ihrer Sinnlichkeit. Also habe ich ihn gebeten, diesen Stil unverfälscht in den Film einzubringen und ihn mit Musik, die etwas orchestraler ist, zu erweitern – wir haben uns da besonders von einigen lyrischen Partituren von Georges Delerue inspirieren lassen. Für die Szene zum Beispiel, in der Bahia und Arthur sich über die Pflicht des Erinnerns streiten, habe ich Jérôme gebeten, eine romantische Musik zu schreiben: Obwohl sich die beiden anschnauzen, hat man das Gefühl, dass sie sich Worte der Liebe zuflüstern. Diesen Kontrast mag ich sehr.

DER REGISSEUR MICHEL LECLERC(Buch und Regie)

Michel Leclerc begann seine Karriere als Regisseur mit einer Reihe von Kurzfilmen, darunter auch LE POTEAU ROSE, der zahlreiche Festivalpreise errang. Nebenher arbeitete er als Redakteur für verschiedene französische Sendeanstalten. Für seinen ersten Langfilm J’INVENTE RIEN konnte er namhafte Darsteller wie Kad Merad (WILLKOMMEN BEI DEN SCH’TIS) und Elsa Zylberstein (SO VIELE JAHRE LIEBE ICH DICH) gewinnen – der Low-Budget-Film wurde prompt zum Publikumserfolg in Frankreich.Neben seiner Arbeit als Regisseur schreibt Leclerc auch Drehbücher, zum Beispiel für die Fernsehserie „Age sensible“ oder den Spielfilm LA TÊTE DE MAMAN (Regie: Carine Tardieu). Für das Drehbuch zu DER NAME DER LEUTE erhielt er den renommierten französischen Drehbuchpreis „Grand Prix du meilleur scenariste“, zusammen mit seiner Lebensgefährtin und Co-Autorin Baya Kasmi, mit der er auch Chansons schreibt.

FILMOGRAPHIE (Auswahl)

2010 DER NAME DER LEUTE Buch und Regie2007 LA TÊTE DE MAMAN Buch2006 J’INVENTE RIEN Buch und Regie2001 LES CHIMERES DE SVANKMAJER (Kurzfilm) Regie2000 LE POTEAU ROSE (Kurzfilm) Regie, Darsteller

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1996 LE TUTU (Kurzfilm) Regie

BAYA KASMI(Buch)

Baya Kasmi wurde 1978 in Toulouse geboren – und hat wie ihre Filmfigur Bahia in DER NAME DER LEUTE ebenfalls algerische Wurzeln. Im Jahr 2000 zog sie nach Paris, um Filmemacherin zu werden und hatte schon ein Jahr später die Gelegenheit, Drehbücher für die französische Fernsehserie AGE SENSIBLE zu verfassen. Danach schrieb sie diverse Folgen für verschiedene TV-Serien wie COEUR OCÉAN, FAIS PAS CI FAIS PAS CA und LE COCON und entwickelte mehrere Serienkonzepte, häufig auch in Zusammenarbeit mit ihrem Lebensgefährten Michel Leclerc. 2006 stand sie für dessen ersten Langfilm J’INVENTE RIEN auch als Schauspielerin vor der Kamera. Zusammen mit ihm wurde sie für ihr Drehbuch zu DER NAME DER LEUTE mit diversen Preisen ausgezeichnet, darunter auch der „Grand Prix du meilleur scenariste“. Baya Kasmi macht außerdem Kurzfilme und schreibt Chansons, die sie auch selbst in der Gruppe „Michel et Baya“ singt.

FILMOGRAPHIE (Auswahl)

2010 DER NAME DER LEUTE Buch2008 CEUX, QUI AIMENT LA FRANCE (TV-Film) BuchAÏCHA (TV-Serie) Buch2007 FAIS PAS CI FAIS PAS CA (TV-Serie) BuchSANS PAPIERS (TV-Serie) Buch, Konzeption2006 J’INVENTE RIEN DarstellerinCOEUR OCÉAN (TV-Serie) Buch2005 ON S’APPELLE (TV-Serie) BuchLE COCON (TV-Serie) BuchMA TERMINALE (TV-Serie) Buch2001 AGE SENSIBLE (TV-Serie) Buch

QUELLE : Presseheft X VERLEIH

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LES AVENTURES EXTRAORDINAIRES D'ADÈLE BLANC-SEC

Deutscher Titel: Adèle und das Geheimnis des PharaosKinostart Frankreich: 14.04.10Kinostart Deutschland: 30.09.10Land: FrankreichRegie: Luc BessonBuch: Luc BessonTon: Selim Azzazi, Nicolas Bourgeois, Ken YasumotoMusik: Eric SerraProduktion: Europa Corp. (Koproduktion)

Apipoulaï (Koproduktion) (als Apipoulaï Prod.)TF1 Films Production (Koproduktion)Canal+ (Partizipation)Sofica Europacorp (in Zusammenarbeit mit)Cofinova 6 (in Zusammenarbeit mit)

Produzenten: Virginie Besson-SillaDeutscher Verleih Universum Film GmbHWeltvertrieb: Buena Vista InternationalLänge: 107 MinutenGenre: Abenteuer/Krimi

BESETZUNG:

Adèle Blanc-Sec Louise Bourgoin Dieuleveult Mathieu Amalric Inspektor Léonce Caponi Gilles Lellouche Agathe Blanc-Sec Laure de Clermont-Tonnerre Marie-Joseph Esperandieu Jacky Nercessian Justin de Saint-Hubert Jean-Paul Rouve Professor Ménard Philippe Nahon Präsident Fallières Gérard Chaillou Choupard Serge Bagdassarian Andrej Zborowski Nicolas Giraud

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SYNOPSIS

Paris, 1912. Adèle ist klug, charmant und überaus abenteuerlustig. Als ebenso leidenschaftliche wie furchtlose Reporterin und Hobby-Archäologin schreckt sie vor keiner Gefahr und Herausforderung zurück – weder vor düsteren Pharaonengräbern, finsteren Gegenspielern, mürrischen Kamelen, geheimnisvollen Mumien, schüchternen Verehrern und erst recht nicht vor einem leibhaftigen Flugsaurier. Dieser ist gerade aus einem Millionen Jahre alten Ei im Naturkundemuseum entschlüpft und stellt ganz Paris auf den Kopf. Für Adèle jedoch kein Grund zur Beunruhigung. Und während sie sich aufmacht, auch diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, gerät sie prompt in eine Fülle weiterer halsbrecherischer wie atemberaubender Abenteuer...

PRESSENOTIZ

Erfolgsregisseur Luc Besson („Das fünfte Element“) ist mit einem fantastischen Abenteuer zurück - mit viel Action, Spannung, Witz und einer hinreißenden neuen Heldin! In der Titelrolle glänzt Bessons neueste Entdeckung: Frankreichs Shootingstar Louise Bourgoin („Das Mädchen aus Monaco). Ihren finsteren Gegenpart verkörpert Mathieu Amalric („James Bond 007 - Ein Quantum Trost"). Als Vorlage für Bessons neuen Regiestreich dienten die beliebten Comics „Les aventures extraordinaires d'Adèle Blanc-Sec“ von Jaques Tardi. Hinter den Kulissen versammelte Besson ein bewährtes Team: Kameramann Thierry Arbogast und Komponist Eric Serra arbeiten seit „Nikita" mit ihm zusammen. Als Produzentin fungiert seine Ehefrau Virginie Besson-Silla („From Paris with Love").

REGISSEUR LUC BESSON ÜBER… …die Begegnung mit Jacques Tardi

Das ist eine lange Geschichte. Zuallererst habe ich mich in seine Heldin Adèle verliebt, das muss vor etwa zehn Jahren gewesen sein. Ich versuchte Kontakt zu Tardi aufzunehmen, aber unglücklicherweise hatte er „Adèle“ bereits einem anderen Regisseur versprochen. Ich war damals zwar enttäuscht, freute mich aber für Tardi, dass er einen „großen” Regisseur gewonnen hatte, und wünschte ihm nur das Beste. Dann wartete ich sehnsüchtig auf den Film, doch der kam nie. Nach drei oder vier Jahren rief ich Tardi erneut an und er erzählte mir, dass er sich mit bewusstem Regisseur und den Filmemachern an sich überworfen habe. Er lehnte das ganze Ansinnen einer Kino-Adaption kategorisch ab. Ich musste ihn überzeugen, es sich noch einmal zu überlegen. Wir trafen uns mehrere Male, mussten ihn beschwichtigen und ihn von unseren lauteren Absichten überzeugen. Dann dauerte es noch mal ein Jahr, bevor wir die Rechte zurückkaufen konnten, die sein Agent jemanden anderem verkauft hatte. Nach sechs Jahren des Wartens und der Verhandlungen stimmte Tardi schließlich zu, mir die Filmrechte an seiner Adèle zu überlassen.

…die Adaption der Comic-Vorlage

Bei meinem ersten Entwurf hielt ich mich sehr eng an den Comic, Tardis Universum und die hervorstechenden Merkmale von Adèle Blanc-Sec. Als ich Tardi mein Skript überreichte, packte mich die blanke Angst. Es war nervenaufreibend – immerhin hat er die Vorlage geschrieben, und nun hatte ich mir seine Figur durch meine Adaption zueigen gemacht. Doch ich hatte Glück: Er las das Drehbuch und sagte: „Es ist toll!” Er erkannte seinen Comic und seine Figur darin wieder und fand zugleich eine Interpretation für die Leinwand, nicht bloß eine simple Übertragung seiner Geschichte in bewegte Bilder. Damit habe ich ihn herumgekriegt. Die einzige Änderung, um die er mich bat, war, einem der Charaktere einen anderen Namen zu geben.

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…DIE SCHAUSPIELER UND IHRE ROLLEN

„Ich hatte bei diesen Dreharbeiten ein Riesenglück. Sämtliche Darsteller gaben alles und trugen soviel bei.”

Louise Bourgoin – Adèle Blanc-Sec

Ich hatte Louises Karriere schon seit geraumer Zeit verfolgt – von der schrulligen Wetterfee auf Canal+ bis zu ihrer Hauptrolle in Anne Fontaines Das Mädchen aus Monaco neben Fabrice Luchini. Ihre Fähigkeit, eine solche Bandbreite verschiedenster Charaktere zu spielen, begeisterte mich. Diese Wandlungsfähigkeit ist sehr rar, aber genau darauf kommt es in der Rolle der Adèle an: Sie trägt im Film allein 15 verschiedene Verkleidungen. Bei unserem ersten Treffen verstanden wir uns auf Anhieb und ich war überzeugt, dass ich meine Adèle gefunden hatte. Louise ist sehr aufgeschlossen, schlagfertig und kann von einer Sekunde zur nächsten von Heiß auf Kalt umschalten – genau wie Adèle, nur kontrollierter. Außerdem ist Louise sehr fleißig und absolut zuverlässig. Mit Adèle ist das schon schwieriger, denn sie geht ihren eigenen Weg und nichts kann sie aufhalten! Am Set wurde Louise von der Crew nur „die Buchhalterin” genannt, weil sie ständig die Anschlüsse und den Drehplan checkte. Sie hatte jede Einstellung im Kopf. Die Arbeit mit ihr war die reinste Offenbarung!

Mathieu Amalric – Dieuleveult

Mathieu Amalric war einer der ersten Schauspieler, die ich für ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS engagierte. Ich schätze ihn als Mann genauso wie als Schauspieler. Er zählt zu den größten Talenten seiner Generation und ist zu völlig unglaublichen Verwandlungen fähig. Seine Leistung in Schmetterling und Taucherglocke ist einfach überwältigend. Ich traf mich also mit Mathieu, um ihm die Rolle des Dieuleveult anzubieten, doch er lehnte ab: Er nehme gerade eine Auszeit von der Schauspielerei, um sich der Regie zu widmen. Ich habe es wohl Mathieus Kindern zu verdanken, dass ich ihn doch noch überreden konnte. Als er nach Hause kam, erzählte Mathieu nämlich seinem Sohn von ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS. Und der sagte: „Du spinnst! Tardi, Adèle Blanc-Sec – das ist sensationell! Das musst du machen!” Mathieu rief mich also zurück und ließ mich wissen, dass er für ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS eine Ausnahme machen würde. So wendete sich alles zum Guten, und der Dreh mit ihm war das reinste Vergnügen. Ich glaube allerdings nicht, dass das Publikum Mathieu erkennen wird, wenn Dieuleveult im Film auftritt – es sei denn, man weiß, welchen Part er spielt. Sein Gesicht ist zumindest nicht zu erkennen. Er hat sogar seine Stimme verstellt. Er ist völlig in der Figur verschwunden – eine außergewöhnliche Leistung.

Gilles Lellouche – Caponi

Ich kannte Gilles Lellouche schon seit langer Zeit. Wir lernten uns 2003 bei seinem ersten Kurzilm Pourkai… Passkeu kennen. Ich habe mir immer viel Zeit für Gilles genommen, fand aber nie eine Rolle, die ich ihm anbieten konnte. Was die Statur angeht, sind Caponi und Gilles sich gar nicht so unähnlich. Er musste nur Gewicht zulegen. Ich habe ihn nicht gebeten, in zwei Monaten 30 Kilo zuzunehmen, so wie Scorsese es damals bei Wie ein wilder Stier von De Niro verlangt hat. Wir haben Gilles einfach ein bisschen ausgepolstert. Nach gerade mal zwei Meetings hatten wir unseren Caponi – keine einfache Figur: Er ist ein schroffer, ungehobelter Typ, nicht gerade der Hellste und ständig etwas neben der Spur, was zu immer neuen lustigen Situationen führt. Außerdem ist er eine der Schlüsselfiguren des Films und ein gutes Gegengewicht zu Louise und ihrer Kopfarbeit.

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Jean-Paul Rouve – Justin de Saint Hubert

Jean-Paul Rouve hat tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Saint Hubert aus dem Comic, diesem Großwildjäger, der seine Safari abbricht, um den Pterodaktylus zu jagen. Wir mussten ihm nur noch ein Ziegenbärtchen verpassen, seine Augen eine Nuance dunkler machen und ihm einen Tropenhelm aufsetzen – fertig! Der perfekte Saint Hubert.

Jacky Nercession – Esperandieu

Jacky Nercession ist ein weiterer Schauspieler, der jede noch so wundersame Metamorphose beherrscht. Er kann einfach jede Rolle spielen – auch eine verrückte alte Dame, wenn man ihm nur ein Kleid und eine Perücke gibt! Bei ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS verbrachte Jacky fünf Stunden täglich in der Maske. Der Part war für ihn mit seiner umfangreichen Bühnen- und Filmerfahrung eine tolle Herausforderung. Er konnte sich richtig austoben. Ich finde, dass er nie die Paraderolle bekommen hat, die er verdient. Ich hoffe, das wird sich jetzt ändern, denn er kann wirklich alles und jeder sein.

Laure de Clermont-Tonnerre – Agathe

Laure de Clermont-Tonnere hatte einen kniffligen Part – sie spielt nämlich Adèles Schwester. Die beiden zanken und streiten den ganzen Tag, sind sich äußerlich aber sehr ähnlich. Ich hatte Laure nie zuvor getroffen, aber ich war sehr positiv überrascht.

…DIE CREW

„Ich habe nur grandiose Techniker engagiert, und die meisten von ihnen waren alte Bekannte.”

Thierry Arbogast ist mein Kameramann. Wir arbeiten seit Nikita zusammen. Und Olivier Bériot hat bei den Kostümen großartige Arbeit geleistet. Er ist ein hochtalentierter Designer, den ich inzwischen gut kenne, weil wir schon bei der Arthur-Trilogie zusammengearbeitet haben. Das Produktionsdesign ist bei ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS ausschlaggebend, und so verpflichtete ich erneut Hugues Tissandier, der für mich schon Johanna von Orleans und die Arthur-Trilogie betreut hat. Wir verstehen uns blind. Wie gewohnt arbeiteten wir zunächst mit Set-Modellen in kleinerem Maßstab, was mir gestattet, vorab Aufnahmewinkel und Perspektiven auszuwählen. Bei Modellen merkt man schnell, ob die Decken zu hoch oder zu niedrig sind oder die Wände zu weit voneinander entfernt. Hugues benutzt für seine Entwürfe und Präsentationen mittlerweile digitale Technologie; das heißt, ich kann auf einer virtuellen Tour die Winkel festlegen, aus denen ich drehen will, und welche Linsen ich benutzen möchte. Noch dazu spart die neue Technologie Geld, weil wir von vornherein nur jene Sets bauen, die auch wirklich im Bild sind. Die Fülle von Texten über Ägypten und Jacques Tardis wertvolle Unterstützung, der uns seine private Bibliothek geöffnet hat, haben uns die Recherchen sehr erleichtert. Jacques’ Wohnung ist voll mit Geschichtsbüchern und Dokumenten, und Hugues hat dort viel Zeit mit ihm verbracht. Ich glaube, Tardi war von der Qualität unserer Arbeit ziemlich beeindruckt – jedenfalls als er Adèles Apartment zum ersten Mal sah. Es war schön, das mitzuerleben: Jacques kam am Set an und betrat Adèles Wohnung, die ja schließlich er geschaffen hat. Und plötzlich kam Louise als Adèle herein, in ihrem grünen Mantel und dem Federhut, und überreichte ihm ein Exemplar des Comicbuches, das sie für ihn signiert hatte. Das war ein wundervoller Moment. Es stimmt, ich arbeite häufig mit der gleichen Crew. Sie sind alle großartig, echte „Krieger”, würden manche Leute sagen. Ich kann aber nicht von ihnen verlangen, dass sie exklusiv an meinen Filmen mitwirken. Deshalb bin ich begeistert, wenn sie für andere Regisseure in die USA, nach China oder sonst wohin reisen. So sammeln sie neue Eindrücke und machen bereichernde Erfahrungen – und davon profitiert dann auch meine Arbeit. Mir ist wichtig, dass

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sie weiterhin neue Dinge ausprobieren und Maßstäbe setzen wollen. Ja, ich verlange ihnen viel ab. Immer mehr, jedes Mal ein kleines bisschen mehr…

…EIN NEUER FILM, EINE NEUE ERFAHRUNG

Jeder Film ist eine ganz neue Erfahrung, durch die Geschichte, die Charaktere, die Schauspieler, die Menschen, die man trifft − aber vor allem kommt es auf den Zeitpunkt an, zu dem man ihn macht. Wenn du deinen ersten Film drehst, ist alles aufregend neu. Ich war zwanzig, als ich Der letzte Kampf gemacht habe. Die Zeit vergeht… und mit 25, 30 Jahren bist du nicht mehr derselbe, genauso wenig mit 40, mit 50… Zwischen unserer eigenen spirituellen und intellektuellen Entwicklung und unseren praktischen Erfahrungen besteht eine Art komplexe Chemie. Wenn ich mit den Dreharbeiten zu einem neuen Film beginne, ist die wichtigste Frage jedes Mal, wie ich diese Erfahrung nutzen kann und mir dabei trotzdem eine neue, frische Herangehensweise bewahre. Das ist unerlässlich, wenn man einen guten Film machen will. Bei ADÈLE UND DAS GEHEIMNIS DES PHARAOS haben wir in der Preproduction viel Basisarbeit geleistet, und ich habe viel Wert auf die Vorbereitungen gelegt. Dies war übrigens das erste Mal, dass ich nicht zugleich Produzent war. Diesmal eine Produzentin zu haben – Virginie Besson-Silla, meine Frau –, war eine angenehme Erfahrung. So konnte ich meine ganze Energie auf die Regie konzentrieren. Ich war die ganze Zeit sehr anspruchsvoll und habe alles gegeben. Ich wollte unbedingt, dass dieser Film so gut wie möglich aussieht und dass der Schneideprozess die pure Freude wird, die reinste Freude.

Filmographie Luc Besson (Auswahl) − Regie

2010 LES AVENTURES EXTRAORDINAIRES D’ADÈLE BLANC-SEC („Adèle und das Geheimnis des Pharaos”) 2009 ARTHUR ET LA GUERRE DES DEUX MONDES 2008 ARTHUR ET LA VENGEANCE DE MALTAZARD („Arthur und die Minimoys – Die Rückkehr des bösen M”) 2006 ARTHUR ET LES MINIMOYS („Arthur und die Minimoys“) 2005 ANGEL-A 1999 THE MESSENGER: THE STORY OF JOAN OF ARC („Johanna von Orleans”) 1997 THE FIFTH ELEMENT („Das fünfte Element“) 1994 LÉON („Léon – Der Profi“) 1991 ATLANTIS 1990 NIKITA 1988 LE GRAND BLEU („Im Rausch der Tiefe”) 1985 SUBWAY 1983 LE DERNIER COMBAT („Der letzte Kampf”)

QUELLE: Presseheft Universum Film

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NO ET MOI

Kinostart Frankreich: 17.11.10Land: FrankreichRegie: Zabou BreitmanBuch: Zabou Breitman, Agnès de Sacy, nach dem Roman von Delphine

de ViganTon: Henri Morelle, Jean-Marc Lentretien , Eric BonnardMusik: Elise LuguernProduktion: Epithète Films, France 3 Cinéma (Koproduktion), Orange

Cinéma Séries et France Télévisions (Partizipation), Banque Postale, Image 3, Soficinéma 6 (in Zusammenarbeit mit), Procirep, Centre National de la Cinématographie (support), Diaphana (distributor)

Produzenten: Frédéric Brillion et Gilles LegrandLänge: 105 MinutenGenre: Drama

BESETZUNG:

No Julie-Marie ParmentierLou Nina RodriguezLucas Antonin ChalonLous Vater Bernard CampanLous Mutter Zabou Breitman

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SYNOPSISNo et Moi ist ein Drama, das von der Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Mädchen handelt: Lou ist eine frühreife 13jährige, die bitterlich von der Welt enttäuscht ist. Nora, die von allen nur „No“ genannt wird, ist eine unberechenbare 18jährige – und obdachlos. Die beiden treffen aufeinander, als Lou für einen Aufsatz ein Interview mit einer Obdachlosen führen soll. Eine Begegnung, die beider Leben verändert.

INTERVIEW MIT REGISSEURIN ZABOU BREITMANWie kamen Sie zu der Idee, No und ich zu verfilmen?

Die Produzenten Frédéric Brillion und Gilles Legrand wollten mir unbedingt das Buch von Delphine De Vigan schicken. Allerdings hatte ich ihnen meine Vorbehalte mitgeteilt: Schon mein letzter Film war eine Romanverfilmung, ich arbeitete zudem an der Dramatisierung von Texten von Lydie Salvayre, und ich wollte nicht schon wieder auf Romanmaterial zurückgreifen. Doch dann hat der Klappentext etwas in mir angestoßen: Ich habe gleich ein schlichtes, bewegendes Thema erkannt, das gleichzeitig - Verzeihung für das böse Wort -werbewirksam ist. Schon immer wollte ich eine Geschichte über die Jugend erzählen, und diese Geschichte kam mir wie gerufen: über diese hochbegabte Jugendliche, die sich in Sachen Zuwendung vernachlässigt fühlt und darüber auch wütend werden kann, was bei frühreifen Kindern oft der Fall. Wie alle Jugendlichen will sie die Welt und gleichzeitig ihre eigene retten.Ich habe das Buch gelesen und dabei sofort überlegt, wie sich daraus ein Drehbuch machen ließe: Wie könnte ich daraus etwas formen, das auch mich innerlich berührt? Welche Schauspieler könnte ich mir am besten vorstellen?, usw., usw. Sehr bald wurde mir klar, dass die Besetzung ungeheuer wichtig sein würde.

Wie sahen Ihre Recherchen aus?

Ich habe Mädchen getroffen, die in einer ähnlichen Situation wie No waren und habe mit ihnen gesprochen. Dabei fiel mir ihre sehr ausgewählte Ausdrucksweise auf: Sie haben mir nie direkt geantwortet, scheuten sich davor, sich zu öffnen.Und manchmal sah ich sie während unserer Gespräche einfach einnicken. Sie schliefen wenig, aus Angst, bestohlen zu werden...Die erste Drehbuchfassung zeigten wir Erziehern und Personen, die in Vereinen arbeiteten, die sich um Obdachlose kümmerten. Für diese Geschichte musste vieles gefilmt werden, damit sie auch wahrhaftig klingt. Jene Menschen haben uns geholfen, einige Dialoge zu überarbeiten.Seit ich am Theater in dem Stück Über Menschen gespielt habe, das sich auf Dokumentationen von Raymond Depardon stützt, hat sich meine Arbeitsweise geändert.Auf der Bühne war es sehr merkwürdig, den Text neu zu schreiben und ihn dann zu spielen, diesen Diskurs, der genau genommen kein Text war, sondern gesprochene Sprache, die durch Improvisation entstand. Bis zu diesem Zeitpunkt war in meinen Drehbüchern alles präzise geschrieben, und zwar dermaßen dicht, dass man beim Dreh kaum noch etwas verändern konnte. Durch mein von Depardon beeinflusstes Arbeiten jedoch wurde ich flexibler und entspannter.Schon in Ich habe sie geliebt gab es eine Szene mit zwei echten Lastwagenfahrern (also keinen Schauspielern). Wir haben da teilweise improvisiert, und das gefiel mir sehr. Daher glaubte ich, dass ich auch bei No und ich so verfahren müsse: einige Szenen würden ausformuliert sein und andere, viel freiere Szenen, würden durch geführte Improvisation entstehen. Dies betraf vor allem den Charakter von No, die Stelle, in der man sie auf einem Tonbandgerät hört oder auch die lange, im Jump Cut gedrehte Szene, als sich Julie-Marie Parmentier über ein Mädchen auf dem Place des Fêtes aufregt.

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Wie haben Sie Julie-Marie Parmentier ausgewählt?

Im Laufe eines langen Prozesses! Ich habe die Idee, No von einer Frau von der Straße spielen zu lassen, schnell verworfen. Man hätte eine außergewöhnliche Frau finden müssen, einen fast monolithischen Charakter, aber das hätte nur funktioniert, wenn sie die einzige Hauptperson des Films gewesen wäre. Angesichts einer kleinen Schauspielerin von 13 Jahren war das unmöglich. Ich habe also nach Schauspielerinnen im Alter von No gesucht, also von 19 – 20 Jahren: Der Kontrast zwischen der Jugendlichkeit und der Rauheit, der Lebenshärte der Mädchen ist grundlegende Basis. Sie sind noch nicht voll ausgereift, einige von ihnen haben fast noch kleinkindliche Züge…Am Ende blieben drei wunderbare und völlig unterschiedliche Mädchen übrig: Jede hatte eine Eigenschaft an sich, die mich entzückte, aber ich war nicht ganz überzeugt. Ob sie auch die notwendige Zähigkeit für die 35 Drehtage haben würden? Es stellte sich heraus, dass die Castingleiterin Juliette Denis war, die Tochter von Jean-Pierre Denis, der den Film Murderous Maids gemacht hatte. Eines Tages sah ich sie an und dachte: „Und wie wär’s mit Julie-Marie Parmentier?“ Sie ist älter als die Rolle, aber sie ist so zart, so jugendlich. Beim Casting lasen die Mädchen aus einem Monolog-Teil von Depardons Urgences vor. Zwischen dem Augenblick, als Julie-Marie sich vorstellte und dann schließlich zu spielen begann, war ein dermaßen starker Kontrast, lag eine derartige Verwandlung, dass ich sofort Herzklopfen bekam.

Und Nina Rodriguez?

Wir haben eine Art wildes Casting gemacht und sind auch in Schauspielschulen gegangen. Lou ist dreizehn, das ist ein schwieriges Alter, in dem man nicht mehr so unbeschwert und arglos ist. Aber es ist auch ein magisches Alter, wie in dem Film L’Effrontée zu sehen ist. Ich schaue mir Nina an und habe den Eindruck, sie zu kennen, ohne zu wissen woher. Sie spielt die Szene, in der Lou wütend auf ihre Eltern ist, weil No gegangen ist. Ich sehe dieses kleine, brave Mädchen, das die Hunde von der Leine lässt. Es gab keinen Vergleich mit anderen Kandidatinnen. Und dann erinnerte ich mich, dass ich in dem Film C’est la vie – So sind wir, so ist das Leben ihre Mutter gespielt hatte. Nina spielte die junge Deborah François. Zwischen 7 und 13 Jahren hatte sie sich verändert und hatte nun das Gesicht eines jungen Mädchens. Es war auch der erste Versuch mit den beiden Mädchen. Es war schwierig, sie hatten Lampenfieber. Julie-Marie war die angespannteste, weil Nina schon ausgewählt worden war. Man hat sofort gesehen, dass etwas zwischen ihnen vibrierte. Nicht alles war sofort da, aber etwas war am Entstehen. Es war heikel, jetzt schon zu sagen: Genau das sind sie, denn der Film lebt im Großen von den beiden. Der Vorteil war, dass Julie-Marie keine 18 mehr ist. Sie ist eine solide Theaterschauspielerin und sehr engagiert. Sie hat Nina beeindruckt und sie mitgerissen. Julie-Marie hat sehr schnell verstanden, dass No immer in Bewegung war, und Nina war wie Lou: regungslos gegenüber No. Zudem verstand Julie-Marie es auch, Nino zu provozieren und wachzukitzeln. Als sie zum Beispiel auf der Treppe in Lucas’ Haus von ihrem Traum, in dem sie nackt ist, erzählt, springt Nina, die sehr prüde ist, sofort darauf an. Nina hat diese Fähigkeit, vorbereitete Szenen zu spielen, und kann gleichzeitig so wirken, als liefe keine Kamera. Man kann nicht genau sagen, wo ihr Spiel beginnt, das ist schon verwirrend.

Und Ihr Sohn, der Lucas spielt?

Er hat schon mit mir gedreht, als er in dem Film Ich habe sie geliebt den Sohn von Daniel Auteuil spielte. Das war in etwa so, als würde das Kind eines Schreiners zum ersten Mal Bekanntschaft mit Holz machen! Ich selbst habe gemeinsam mit meinen Eltern geschauspielert, unter anderem auch am Theater. Ich arbeite gerne mit meiner Familie, ich finde das reizvoll … Meine Tochter mag lieber Musik, während Antonin einen einjährigen Schauspielkurs in England besucht hat. Er erschien mir für die Rolle geeignet: Ich weiß, dass er sehr genau sein kann und Intentionen schnell aufnimmt. Ich denke, dass er Lucas eine gute Mischung aus Sanftheit und Ungezwungenheit verleiht – in Verbindung mit No ist das interessant, auch mit Hinblick auf Lou, damit sie keine Angst vor ihm zu haben braucht. Es ist schon rührend, seinem Sohn

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Regieanweisungen zu geben, aber im Grunde bewegen mich alle Schauspieler, wenn sie sich gut in eine Szene einfühlen und Regieanweisungen umsetzen können.

Wollten Sie von Anfang an die Rolle der Mutter spielen?

Das war die Idee von Frédéric Brillion. Ich habe gezögert, aber durch den Arbeitsplan wurden alle Szenen, die am Anfang in der Wohnung spielen sollten, umgestellt, und ich hatte Lust, neue Herangehensweisen auszuprobieren, die ich beim Spielen von Über Menschen entdeckt hatte. Vor allem in der Szene, wo die Mutter No vom Tod ihrer zweiten Tochter Thais berichtet, als sie noch ein Baby war. Urgences oder andere Dokumentarfilme haben mir gezeigt, wie hilflos sich Menschen fühlen, die schreckliche, zerrüttende Dinge erlebt haben, die schon länger zurückliegen. Dabei entstand eine improvisierte Szene, die absolut kalt wirkt. Allgemein gesagt interessierte mich das Thema der abwesenden Mutter: Jene drei Erwachsene leiden unter einem gewaltigen emotionalen Defizit, hervorgerufen durch das schmerzhafte Fehlen einer Mutter. Lous Vater tut was er kann, und ich finde, Bernard Campan hat dieser Figur eine schöne Menschlichkeit gegeben, obwohl auch er die Kleine etwas aufgegeben hat. Dass Lou ein hochbegabtes Kind ist, hat nichts verbessert: durch ihr frühreifes Wesen wird sie oft nicht mehr wie ein Kind behandelt.

Was glauben Sie, was Lou in No wiederfindet?

Ein weibliches Erscheinungsbild. Die einzigen Frauen in ihrem Leben sind eine schon tote kleine Schwester und eine halbtote Mutter. Was die Männer angeht, so gibt es ihren Vater und ihren Lehrer, welchen sie sehr liebt. Aber No ist die einzige wirklich lebendige Frau in ihrer Nähe: zwar nicht in bester Verfassung, aber sie will sie auf jeden Fall bewahren. Auf eine gewisse Weise wird Lou eine neue Thaïs für sich finden, die etwas älter ist. Sie wird die Frau retten, die sterben wird. Sie wird auch ihre Mutter retten, und dann wird ihr diese neue Thaïs entgleiten.

Und was findet ihre Mutter in No?

Ein unmittelbares Fehlen von Vertrautheit, aus dem sich folgender Sinnspruch ergibt: Manchmal verhindert die allergrößte Nähe das Vertrauen.Das ist wie im Theater: Es ist schwieriger, vor zwei Personen zu spielen als vor einem vollen Saal. Darüber hinaus kann No sie nicht beurteilen. Die Mutter leidet ständig unter der Schuld, die ihr durch das Urteil anderer aufgebürdet wird: Sie weiß, dass sie sich nicht um ihre Tochter gekümmert hat. No kann diesen Vorwurf nicht ausdrücken, weil sie von nirgendwo kommt. Die Eltern, so drückt sie sich aus, hat sie nicht.

Warum wurden die Charaktere von Lou und No stärker „sexualisiert“ als im Buch?

Dies erschien mir wesentlich, und ehrlich gesagt, war das bereits im Buch so angelegt. Man kann erahnen, dass No sich prostituiert, während Lou mit „Magenschmerzen“ von der Schule heimkehrt. Es ist ganz klar, dass sie ihre Regel hatte. Der Ausbruch der Sexualität wird das zerbrechliche Band, das sich zwischen ihnen gebildet hat, verändern. Die Sexualität wird hier zur Gefahr. Übrigens weiß man nicht, was zwischen Lucas und No geschieht, warum er so zornig ist, als er das Geld in Nos Strumpfhose entdeckt… Einer der Erzieher, dem ich das Skript zum Lesen gab, sagte mir, dass Lucas‘ Einmischung in dieses Mädchen-Duo ganz wichtig sei: Sie verhindere die Lous und Nos Verschmelzung, die oft morbide und gefährlich sei.

Könnte man den Film als „Road Movie“ bezeichnen, der in Paris spielt?

Tatsächlich findet sich etwas davon im Film. Zumindest gibt es eine Schnitzeljagd, bei der man Zeichnungen auf Lous Turnschuhen sieht.Ich wollte ein leicht grobkörniges Bild, und ich war zufrieden, eine wundervolle Kamerafrau zu

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haben, die von ähnlicher Körpergröße wie die zwei Hauptfiguren war. Oft wurde auf Schulterhöhe gedreht, also passend zur Größe der Charaktere! Mit einem 1,80 m großen Kameramann wäre der Film ganz anders geworden. Ich hatte noch nie in Paris gedreht, und es war sehr schwer, mir das vorzustellen, denn die Stadt sollte kein eigenständiger Charakter werden. Im Roman von Delphine de Vigan mochte ich vor allem Lous Mobilität, und es machte mir viel Spaß, in der Metro oder im Bus zu drehen.Schnell erkennt man den Unterschied: Für Lou steht der Bus für die Schule, und die Metro ist Lou. Von der technischen Seite her war das bisweilen kompliziert, aber ich wollte, dass man, während man durch die Stadt fährt, sowohl Lou als auch die Objekte sieht, die sie betrachtet. Daher auch die Reflexionen auf den Fensterscheiben…

Wie haben Sie den Kontrast zwischen Aussen- und Innensets hergestellt?

Es wurde sehr intensiv an der Ausstattung von Lous Wohnung gearbeitet. Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Charakters war das unabdingbar. Denn wenn ihr Heim nicht authentisch wirkt, ist alles falsch. Wenn man in einer echten Wohnung dreht, ist alles komplizierter als im Studio, aber man profitiert von den Dingen, die man nicht bedacht hätte, wie etwa die Zimmerdecken. Sie sind da, sie sind tief, das ist wichtig und setzt die Personen auf eine bestimmte Ebene. Außerdem ähnelt die Wohnung der meiner Kindheit: So habe ich Wert darauf gelegt, dass die Küche gelb ist, wie meine damals. Zudem besitzt der Film eine traumhafte Dimension, die das Apartment zu einer Zuflucht macht: Denn draußen gibt es so viele Menschenfresser…

Wie haben Sie die Musik ausgewählt?

Ich wollte vor allem Frauenstimmen haben, unterlegt mit Pop- und Rockmusik.Ich mag Portishead sehr, und ich habe eine Cutterin, Françoise Bernard, die sehr fähig darin ist, Stücke zu finden und diese mit den Szenen zu verbinden.Sie hat die Live-Version von „Over“ gefunden, die in der Hochbahn zu hören ist. Und auch die Stücke von Metallica, die von einem Streichquartett neu eingespielt wurden! Im Film gibt es viel Sprache, viele In- oder Off-Stimmen, und manchmal muss man die Stimmen abschneiden, um den Zuschauern etwas Luft zu lassen. Das Stück von Purcell, das beim Besuch von Ivry und in der Bahn zu hören ist, beschwört in mir eine unendliche Traurigkeit herauf, und ich glaube, die größte unendliche Traurigkeit ist die einer Mutter, die sich weigert, ihrer Tochter die Tür zu öffnen.

Behandelt No und ich ein gesellschaftliches Thema? Ist es ein kritischer Film?

Ja, auf eigene und leise Art. Anstelle eines Making-Offs erschien es mir interessanter und sinnvoller, eine kleine Doku über Apasco drehen zu lassen: Das ist das Betreuungszentrum, mit dem wir gearbeitet haben und in dem Julie-Marie auf die anderen Mädchen trifft. Es war das einzige Pariser Notaufnahmelager für junge, obdachlose Frauen zwischen 18 und 25 Jahren, und am 30. Juni hat es mangels fehlender Gelder schließen müssen. Natürlich ist auch diese Realität in den Film eingeflossen.

Filmographie Zabou Breitman – Regie2002 Sich erinnern an die schönen Dinge2006 Der Mann seines Lebens 2009 Ich habe sie geliebt2010 No und ich

QUELLE : französisches Presseheft DiaphanaÜberseztung : Valentin Olbrich

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PIEDS NUS SUR LES LIMACES

Deutscher Titel: Barfuß auf NacktschneckenKinostart Frankreich: 01.12.10Kinostart Deutschland: 05.05.11Land: FrankreichRegie: Fabienne BerthaudBuch: Fabienne Berthaud, Pascal ArnoldMusik: Michael StevensProduktion: Le Bureau, Canal+ (Partizipation), CinéCinéma, Région Ile-de-

France (support), Région Provence Côte d'Azur (support), Banque Populaire Images 10 (in Zusammenarbeit mit), Soficinéma 5 (in Zusammenarbeit mit)

Produzenten: Bertrand FaivreDeutscher Verleih Alamode FilmdistributionLänge: 103 MinutenGenre: DramaPreise: Art Cinema Award Cannes 2010

BESETZUNG:

Clara Diane Kruger Lily Ludivine SagnierPierre Denis Ménochet Odile, Pierres Mutter Brigitte Catillon Paul, Pierres Vater Jacques Spiesser Mireille Anne Benoît Jonas Jean-Pierre Martins Dan Gaëtan Gallier Seb Reda Kateb Paulo Côme Levin

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SYNOPSIS

Lily (Ludivine Sagnier) ist anders. Sie lebt in einer skurrilen Fantasiewelt und macht meistens das, wozu sie gerade Lust hat. Zusammen mit ihrer Mutter wohnt sie in einem idyllischen Landhaus. Als ihre Mutter plötzlich stirbt, ist es an Lilys Schwester Clara (Diane Kruger), die mit einem Anwalt verheiratet ist und in Paris lebt, für Lily da zu sein. Unter dem Einfluss der eigenwilligen und freiheitsliebenden Lily findet Clara mehr und mehr Geschmack an der von Lily vorgelebten Ungebundenheit. Sie beginnt, ihr konformes Leben in Frage zu stellen. Eine gewaltige Herausforderung für ihre Ehe und gleichzeitig die Wiederentdeckung der Nähe zwischen zwei ungleichen Schwestern.Barfuß auf Nacktschnecken ist ein wunderbar verspielter Sommerfilm von Fabienne Berthaud (Frankie) mit Ludivine Sagnier (Swimming Pool, 8 Frauen) und Diane Kruger (Inglourious Basterds, Mr. Nobody, Troja). Der Film erhielt 2010 in Cannes den Art Cinema Award.

PRESSENOTIZ

„Sind die Zwänge unserer Erziehung, die Werte, die man uns einbläut– Geld, materieller Wohlstand, Erfolg im Beruf, Vernunft in Herzensan-

gelegenheiten usw. – nicht allzu oft Schuld an unserem Unglück?“Fabienne Berthaud

Erzählt wird die Geschichte von zwei ungleichen Schwestern, die der plötzliche Tod der Mutter wieder zusammenbringt. Die vernünftige Clara will sich aufopferungsvoll um ihre Schwester kümmern – und merkt erst spät, dass sie ihre Schwester mindestens ebenso sehr braucht wie diese sie. Denn was Lily ihrer Schwester und allen Menschen in ihrem Umfeld auf eine so einzigartige Weise vorlebt, ist ihre entwaffnende Aufrichtigkeit und Kompromisslosigkeit – sich selbst und auch allen Menschen gegenüber. Barfuß auf Nacktschnecken ist ein Plädoyer das Hier und Jetzt in vollen Zügen auszukosten und sich von gesellschaftlichen Normen nicht einengen zu lassen.So leuchtend, farbenfroh und einzigartig wie Lily selbst sind auch die Bilder mit denen Fabienne Berthaud ihre Geschichte erzählt. Die französische Künstlerin Valérie Delis hat das Szenenbild des Films gestaltet, um dem Film auch hier visuell die Originalität und Verspieltheit einzuhauchen, die seiner Protagonistin entspricht.

INTERVIEW MIT REGISSEURIN FABIENNE BERTHAUDWann wurde die Idee zu „Barfuß auf Nacktschnecken" geboren?

Die Figur der Lily ist durch ein Mädchen inspiriert, das zu Behandlungszwecken in jener Klinik untergebracht war, in der wir damals „Frankie“ drehten. Letztlich ist „Barfuß auf Nacktschnecken" eine logische Fortsetzung meiner bisherigen Arbeit: Phantasiewelten und Grenzerfahrungen zählen ebenso zu den Themen, die mich laufend beschäftigen, wie die Unangepasstheit und die Zerbrechlichkeit meiner Protagonisten.

Was hat Sie an diesem Mädchen so fasziniert?

Ihre Freiheit. Ihre Fähigkeit, ganz im Hier und Jetzt zu leben. Mich interessieren Menschen, die keiner Schablone entsprechen und denen es aufgrund ihrer ausgeprägten Sensibilität verwehrt ist, sich widerstandslos in ein Gesellschaftsmodell einzufügen, wie es einem nun einmal angeboten wird. Lily schert sich nicht um die Grenzen dessen, was gemeinhin als „Normalität" betrachtet wird, und mit dieser Einstellung zwingt sie uns dazu, uns über die möglichen

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Lebensformen einer Person Gedanken zu machen, die sich in kein bestimmtes Schema pressen lässt. Ohne sich auf Kompromisse einzulassen, verfügt Lily frei über ihren Geist und ihren Körper – da gibt es nichts zu verhandeln! Sie rüttelt an der herrschenden Moral und brüskiert damit ihre Umwelt. Die Geschichte rührt uns im Grunde alle in unserem Innersten, denn sie wirft die Frage nach dem schmalen Grat zwischen „normal" und „verrückt" auf. Sind die Zwänge unserer Erziehung, die Werte, die man uns einbläut – Geld, materieller Wohlstand, Erfolg im Beruf, Vernunft in Herzensangelegenheiten usw. – nicht allzu oft schuld an unserem Unglück?

Wie würden Sie Ihren Film definieren?

Als eine Familiengeschichte: Zwei Schwestern, schwer mitgenommen durch den plötzlichen Tod ihrer Mutter, begegnen sich wieder. Beide geraten aus dem Gleichgewicht, jede auf ihre eigene Weise. Ihr Alltag gerät aus den Fugen, und gerade das treibt sie dazu, voneinander zu lernen und sich einander zu offenbaren. Ich wollte dabei Aspekte wie Menschlichkeit, Liebe und Freiheit thematisieren. Die große Herausforderung bestand im Grunde darin, den jeweils anderen in seinem Anderssein zu verstehen.

Wann haben Sie in Erwägung gezogen, Diane Kruger, der Hauptdarstellerin ihres vorigenFilms „Frankie", die Rolle von Lilys älterer Schwester Clara anzuvertrauen?

Ich habe mir das nicht überlegt: Das war einfach so, es lag auf der Hand! Wir hatten einfach Lust, erneut zusammenzuarbeiten. Ich liebe es, sie vor der Kamera zu haben! Sie inspiriert mich. Sie ist eine Darstellerin, die gleichzeitig stark und zerbrechlich wirkt, und ich finde es faszinierend, wie sie diese zwei Gegensätze in sich vereint. Sie versteht sich bestens darauf, auch in ganz ruhigen Szenen mit großem Feingefühl Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Wir kennen uns jetzt schon seit einigen Jahren. Sie ist mit meinem Arbeitsstil vertraut, so dass wir nicht viele Worte wechseln müssen, um einander zu verstehen. Sie weiß, was ich von ihr erwarte, und ich weiß, was sie von mir erwartet.Die Figur der Clara ist gewiss keine leichte Rolle, so verschlossen, wie sie sich gibt, und dabei doch auch so empfindsam. Sie ist eine Person, die mit großer innerer Unruhe zu kämpfen hat, davon aber nichts nach außen dringen lässt.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Ludivine Sagnier die Rolle der Lily anzuvertrauen?

Lily zu besetzen, war eine extrem knifflige Angelegenheit – vor allem deshalb, weil diese Figur niemals lächerlich wirken darf. Sie streift zwar sehr wohl die Grenzen des Verrückten, doch das bedeutet noch lange nicht, dass man aus ihr eine Art „Rainwoman" hätte machen dürfen. Folglich musste eine Darstellerin gefunden werden, die sich ein gewisses Maß an kindlicher Ausstrahlung bewahrt hat: Eine, die zwar mit größter Leidenschaft agiert, dabei aber gleichzeitig eine entwaffnende Unschuld und Aufrichtigkeit an den Tag legt. Das ist nun wirklich keine Rolle, an die man halbherzig herangehen könnte. Wer sich darauf einlässt, für den darf es keine Kompromisse geben, der muss alles geben! Diese Rolle verlangt einem viel Arbeit ab, ohne dass man das wirklich sehen würde.Ich spürte, dass Ludivine Sagnier die notwendigen Fähigkeiten hatte, um diese Rolle zu meistern. Als sie zu den Proben erschien, brauchte ich nur kurz hinzuschauen, wie sie zur Tür hereinkam, um sofort zu wissen, dass sie genau die Richtige war. Allein schon ihre Erscheinung, halb Frau, halb Kind – und dann diese absolute Unverfälschtheit! Also habe ich sie mit Diane Kruger zusammen gebracht, denn ich musste ja sehen, wie die beiden miteinander harmonieren würden, ob sie sich denn auch gut verstehen und mögen würden. Die beiden haben sofort einen Draht zueinander gefunden, und auch von ihrer Erscheinung her passte es wunderbar, sie in der Rolle von zwei Schwestern zu sehen. Zwischen ihnen herrschte tatsächlich eine enge Verbundenheit, eine große Bereitschaft, aufeinander zuzugehen.

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Inwieweit haben Sie bei "Barfuß auf Nacktschnecken" von Ihren Erfahrungen bei "Frankie" profitieren können? Und wie arbeiten Sie im Allgemeinen?

Mir scheint, dass jeder Film seine eigene Grammatik hat. Wohl deshalb habe ich jetzt den seltsamen Eindruck, als ob "Barfuß auf Nacktschnecken" mein "zweiter erster Film" wäre. Übrigens hat sich auch Diane Kruger während der Dreharbeiten ständig über mich lustig gemacht, indem sie mir zurief: „Aber Fabienne, bitte vergiss nicht: Wir drehen hier einen echten Film, mit einem richtigen Team!" Der Wahrheit halber muss man dazu aber sagen, dass sich das Filmteam bei „Frankie" lediglich auf eine einzige Assistentin beschränkte, die das Mikrophon hielt, während ich mit einer kleinen Digitalkamera herumhantierte, als wäre es ein Kugelschreiber. Das war alles. Freilich war das auch dem Budget des Films geschuldet. Diesmal war alles anders: Mir standen alle Mittel zur Verfügung, die man fürs Kino braucht; dazu ein Filmteam, das ich allerdings bewusst klein belassen habe, um nicht vom Gewicht der Technik erdrückt zu werden. Ich muss mich frei fühlen, um arbeiten zu können. Ich retuschiere nichts, lege mich niemals auf ein starres Bild fest, sondern kümmere mich um die Einstellungen. Wenn ich nicht den Blickwinkel der Kamera einnehme, dann kann ich auch die Szene nicht nachfühlen, die ich gerade drehe. Allein darauf kommt es an. Der Film entsteht aus dem Moment heraus.Wenn ich eine neue Szene in Angriff nehme, dann versetze ich mich in eine Art Alarmzustand, in dem ich ganz nervös bin: Ich lauere auf etwas Unerwartetes, auf ein Wunder, einen Moment der Gnade. Ich bereite nichts vor, weiß aber genau, in welche Richtung ich gehe und was ich erreichen will. Vorher nämlich habe ich gründlich über alles nachgedacht.Während der Aufnahmen habe ich die unselige Angewohnheit, ständig zu reden, etwa, um den Darstellern Anweisungen zu erteilen. Das liegt auch daran, dass wir fast nie eine Szene im Voraus proben. Ich sage mir immer: „Erzähl deine Geschichte so, als würdest du einen Dokumentarfilm über diese Menschen drehen". Ich musste mir also Leute zusammensuchen, die bereit waren, sich auf diesen Arbeitsstil einzulassen, und die sich von ihren eingefahrenen Reflexen und Gewohnheiten lösen können, um den meinigen zu folgen.

Ein wichtiges Element des Films ist der ganz eigene Kosmos, den sich Lily um sich herumerschafft. Wie sind Sie bei der Gestaltung dieses Universums vorgegangen?

Während des Schreibens habe ich die Künstlerin Valérie Delis getroffen, deren Werk Lilys Universum sehr nahe kommt, da es ebenfalls durch einen sehr engen Bezug zur Natur und zu den Tieren geprägt ist. Als Valérie Delis mir die Türen ihres Ateliers öffnete, habe ich mich von ihrer Phantasiewelt einfach überwältigen lassen und dann, durch ihre Kunstwerke inspiriert, verschiedene Szenen des Drehbuchs umgeschrieben. Wir haben uns gemeinsam Gedanken über Lilys Kosmos gemacht, über ihre Art, sich zu kleiden und sich Dinge zu erschaffen…Erst haben wir ein paar Skizzenhefte angelegt, und dann hat es nicht lange gedauert, bis Valérie damit anfing, für Lily Schürzen und Pantoffeln zu schneidern. Des Weiteren hat sie Lilys Werkstatt am Ende des Gartens entworfen und einige ihrer Kunstwerke zur Verfügung gestellt, um sie in ihr Zimmer zu stellen. Als ich Valérie vorschlug, den Wald mit Installationen auszuschmücken, kam ihr die Idee, die Bäume „einzukleiden". Gewissermaßen hat sie also Lilys Universum mitaufgebaut, miterfunden und bereichert.

Haben Sie sich an bestimmten Filmen oder Regisseuren orientiert, um „Barfuß aufNacktschnecken" zu drehen?

Ich gebe zu, dass ich mir vor jedem Drehbeginn die Filme von Cassavetes anschaue. Ich habe dann den Eindruck, seine Stimme zu hören, die mir ins Ohr raunt: „Los, mach was du willst! Kümmere dich nicht um die anderen und fühl dich frei! Es gibt keine anderen Regeln als nur deine eigenen!" Jedenfalls hat er diese Wirkung auf mich, und so bewahrt er mich davor, Angst zu haben.

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Zu den fesselndsten Momenten des Films gehört die Liebesszene, die sich zwischen Lilyund einer Horde Jungs in einem Bus abspielt. Wie haben Sie es hinbekommen, dass diese Szene auf der Leinwand gleichzeitig roh wirkt und doch ganz dem Tonfall kindlicher Fröhlichkeit, von dem der Film sonst geprägt ist, verhaftet bleibt?

Lily ist da die Großzügigkeit in Person. In ihren Augen ist nichts Verkehrtes daran, den Jungs Vergnügen zu schenken. Übrigens sagt sie das auch klipp und klar ihrer Schwester: „Wenn ich schon einen Körper habe, dann doch wohl, um mich seiner zu bedienen! Wozu hätte ich denn sonst einen?" Für sie ist nichts einfacher als das.Allerdings wird diese Szene nicht nur aus ihrer Perspektive gezeigt, und dies dürfte der Grund dafür sein, dass sich ein Gefühl des Unbehagens einstellt. Um dies zu erreichen, habe ich allen drei Jungs Anweisungen erteilt und ihnen erklärt, worauf es ankommt. Dann habe ich sie frei agieren lassen und die Kamera 22 Minuten lang einfach laufen lassen.

Der Film ist in der Tat durchgehend von einer Balance zwischen großer Emotionalität,Witz und Unbehagen geprägt – was uns daran hindert, ihn einem bestimmten Genrezuzuordnen…

Wenn es sich mit diesem Film so wie mit Lily verhält – dass man ihn nämlich nicht in eine bestimmte Schublade stecken kann –, dann soll mir das durchaus recht sein. Ob ein Film nun angelsächsisch, deutsch oder französisch daherkommt, ist letztlich egal, solange es nur darin „menschelt" und er in sich stimmig ist. Er muss die Leute ansprechen. Das ist das Einzige, was zählt!

Ziehen Sie eher das Kino oder die Literatur vor?

Beides! Ich brauche das eine, um das andere machen zu können. Das befruchtet sich doch gegenseitig! In meinen Romanen finde ich die Themen für meine Filme, und umgekehrt finde ich die Ideen für meine Romane, indem ich Filme drehe.

FABIENNE BERTHAUD, Regie, Drehbuch, Kamera

Barfuß auf Nacktschnecken ist der zweite Spielfilm der französischen Regisseurin und Autorin Fabienne Berthaud. 2005 erschien ihr Debutfilm Frankie, bei dem sie auch das Drehbuch schrieb, Kamera führte und ihn produzierte. Zuvor hat Berthaud Kurzfilme und eine Folge der TV-Serie Chambre n° 13 gedreht. Als Schauspielerin stand Berthaud in den 80er und 90er Jahren bei französischen Kino- & TV Produktionen vor der Kamera.

QUELLE : Presseheft Alamode Filmdistribution

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