Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192
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\ i t Umberto C erron i I
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,1, Zum K ennen - und Lesen-Lernen . 1
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Fordem Sie uFr Ge~mtverzeichnis an! ~ 1~) ~ VSA-Verlag 1979. Stresemannstr. 384a, 2000IHamburg~10
Abe Rechte vorbehal t n 'I
ICEditori Riuniti, Rom 1978Druck und Buchbindearbeiten: Evert-Druck, Neumimster
ISBN 3-87975-168-4
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Inhalt
Vorbemerkung zur deutschsprachigen Ausgabe .Ubersicht der Abkurzungen der Werke Gramsci'sVorwort .
78'}
TeillAnto nio G rams ci - B io gr ap hisc he Notize n 11
Teil2Sti chworte zur Gramsci- Lek ti ire 35
Abstraktion 35 I Asthetik 35 I Affenvolk 35 I AlltagsbewuBtsein
36 I Arbeiterassoziationen 36 I Atheismus 37 I Btirokratie 38 I
Caporalismus 38 I Demokratie, politische 38 I Destruktion 38 I
Dialekt 39 I Diplomatie 39 I Elite 40 I Engels 40 I Experimentelle
Methode 41 I Feind 41 I Folklore 41 I Freiwilligkeit 42 I Ftih-
rungskrafte 42 1 Furst, modemer 43 1 Gedanken Gramscis 44 1 Ge-
fangnis 45 I Gegenwart als Geschichte 46 I Geist des Bruchs 46 I
Gemeinden 47 I Geometrie und Raffinesse 47 I Geschichte,ethisch-politische 48 1 Gesellschaft, burgerliche 48 I Gesellschaft,
Massengesellschaft 49 I Gesellschaft, geregelte 49 I Gewalt 49 I
Gewaltenteilung 50 I Gleichgiiltigkeit 51 1 GroBe Intellektuelle 51
I Hegemonie 52 1 Heuchelei 52 1 Historischer Block 53 1 Histori-
scher Materialismus 54 I Hochmut der Partei 54 I Hypostase 55 I
Ideologie 55 I Ignoranz 56 I Individualismus 56 I Individuum 56 I
Intellektuelle 57 I Italien 58 lItalien, das verlorene 60 Ilakobi-nismus 61 1 Katharsis 61 1 Kausalitat 62 1 Klassen 63 1 Konformis-
MUS 63 1 Korporativismus 63 1 Korruption - Betrug 64 1 Kosmopo-
litisches BewuBtsein 64 I Krise 65 I Kultur, europiiische 66 I Kul-
turtheorie 67 I Kutscherftiege 68 1 Laizisten 68 1 Lebewesen, poli-
tisches 69 I Lenin 70 I Liberalismus 71 I Lorianismus 71 I Luft-
schloB-Imperialismus 72 1 Miinnliche Vorherrschaft 72 1 Marx 72 1
Marxismus 73 1 Maximalismus 74 1 Musik 74 1 Nationalismus 75 1
National-volkstumlich 76 1 Nomadentum 76 1 Offiziersarmee 77 I
Partei 78 1 Partei alsFilter 79 1 Partei, revolutioniire 80 I Partikular
81 1 Pessimismus - Optimismus 83 1 Philosoph, wirklichkeitsnaher
83 1 Philosophie, demokratische 84 1 Politik 84 1 Politik alsLeiden-
schaft 84 1 Polizei 85 1 Revolution 85 1 Revolution, italienische 85 I
Rote Phrasen 86 I Schule 87 I Selbstkritik 87 I Sektiererisches
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Denken 87/ Spekulation 88 / Spezialist + Politiker 89/ Sprache 88/ Staat 89 / Stellungskrieg 89 / Stenterello 90/ Strategie und Taktik
90/ Struktur 91/ Subversion 91 / Siiditalienische Frage 92 / Tal-
entismus 93 / Theorie und Praxis 93 / Theratologie, intellektuelle
94 / Totalitlit 95 / Transformismus 95 / Traurigkeit 96 / Oberbau-
funktionare 96 / Ubergang zum Sozialismus 96/ Unniitze Opfer 97
/ Volksbiicherei 97 / Wahlrecht, allgemeines 97 / Wahrheit 98 /
Westen 98 / Wissenschaft 99 / Wissenschaft, neue 99 / Wissen-
schaft und Leben 100/ Zentralismus, organischer 100
Teil3
Einfiihrung in Gramsci 101I. Das politische Denken Gramscis . . . . . . . . . .. 102II. Eine neue theoretische Orientierung 113III. Universalitat und Politik 121
Teil4Gramsci original 165
Die siiditalienische Frage
Teil5Bibliographie ; 190
Verzeichnis der wichtigsten deutschsprachigenGramsci- Literatur
Vorbemerkung zur deutschsprachigenAusgabe
Wir haben in Ubereinstimmung mit dem Autor Umberto Cerroni
den vorliegenden Band fUr den deutschen Leser gegeniiber der ita-
lienischen Originalausgabe erweitert. 1m ersten Teil des Buches
sind von der Redaktion Cerronis Stichworte zum Lebensweg
Gramscis um weitere biographische Notizen ergdnzt und zu einer
selbstdndigen Ubersicht zusammengefiigt worden. Aile dort kursiv
wiedergegebenen Passagen (mit Ausnahme einzelner Hervorhe-bungen} sind nicht von U. Cerroni sondern von der VSA-Redak-
tion, bzw. sind redaktionelle Anmerkungen der Ubersetzerinnen.
Der zweite Teil des Gramsci-Lexikons enthdlt die Stichworte
und AusfUhrungen von U. Cerroni, abgesehen von denjenigen, die
wir in die biographischen Notizen iibernommen haben. Ferner ha-
ben wir die Stichworte Anti-Croce, Brescianismus, Cardomismus
und Freud aus der italienischen Ausgabe nicht iibernommen, weil
Cerronis Anmerkungen zu diesen Stichwortern dem deutschen Le-
ser nur durch umfangreiche Erlauterung verstiindlich wiiren.
Der dritte Teil des Buches enthiilt die Artikel »Das politische
Denken Gramscis«, »Eine neue theoretische Orientierung« und
»Universalitiit und Politik« von U. Cerroni.
1m vierten Teil des Buches hat die Redaktion einen liingeren
Auszug aus Gramscis Fragment »Die siiditalienische Frage« (vgl.
das entsprechende Stichwort) mitaufgenommen; dieses Manu-
skript, vor den »Gefiingnisheften« geschrieben und bei Gramscis
Verhaftung unfertig abgebrochen, erlaubt einen guten Einblick in
Gramscis Methode der theoretischen Analyse und in die Eroffnung
der fur ihn bedeutendsten politischen Fragestellungen.
Am SchlufJ des Gramsci-Lexikons geben wir eine Ubersicht uber
die deutschsprachige Gramsci-Literatur.
VSA-Redaktion
Hamburg, Oktober 1979
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{]bendcht der )lb~en
We rk e G ram sci'sder
C.P.C.
L.C.
O.N.
Q.
S.P.
S.P.
La costruzione del partito comunista, Turin,
Einaudi, 1971
Lettere dal carcere, Turin, Einaudi, 1965
L'Ordine nuovo (1919-1920), Turin, Einaudi, 1954
Quademi del carcere, Turin, Einaudi, 1975
Scrit ti iovanil i (1914-1918), Turin, Einaudi,
1958Scritti politici, Rom, Editori Riuniti, 1973
Was die »Ouaderni« betrifft, wurde neben der Seitenangabe aus
der kritischen Ausgabe von Einaudi, zur einfacheren Ubersicht fur
den Leser (nattirlich mit Ausnahme der noch unveroffentliehten
oder abweichenden Texte) ebenfalls die der sechsbandigen the-
menbezogenen Ausgabe von Editori Riuniti hinzugezogen, deren
Texte neu durchgesehen und auf der Grundlage der kritischen
Ausgabe eingeordnet wurden.
M.S.
INT.
R.
MACH.
L.V.N.
P.P.
8
IImaterialismo storico e la filosofia di Benedetto
Croce, Rom, Editori Riuniti, 1977
Gli intellettuali e I 'organizzazione della cultura,
Rom, Editori Riuniti, 1977II Risorgimento, Rom, Editori Riuniti, 1977
Note sui Machiavelli, sulla politica e sullo Stato
modemo, Rom, Editori Riuniti, 1977
Letteratura e vita nazionale, Rom, Editori Riuniti,
1977
Passato e presente, Rom, Editori Riuniti 1977
Vonvort
Wir sind Gramsci aile etwas schuldig. Dieser Band mochte ein be-
scheidener Beitrag sein, urn die gro8e Schuld, die auch ich auf
mich genommen habe, zu begleichen.
Die 132 Stichworte, die im ersten und zweiten Teil zusammen-
gestellt worden sind, beanspruchen lediglich, das festzuhalten, was
mir bei sorgfaltiger Lekt iire von Gramsci als das Wesentliche auf-
gefallen ist. Es besteht keinerlei Absicht zur Katalogisierung und
noch weniger, eine philologische Auslegung vomehmen zu wol-
len. Bestenfalls tragen die Stichworte dazu bei, das GedankengutGramscis in der Gegenwart wirken zu lassen.
Der dritte Teil des Bandes enthiilt den Text einer Gesprichs-
ronde tiber die politische Idee Gramscis, die 1974 an der Universi-
tat von Ljubljana stattgefunden hat; femer einen Artikel zum 40.
Todestag Gramscis, der in der »Unitll« erschien, und ein 1977 an-
UlBlich des Kongresses studi gramsciani gehaltenes Referat.
U.C.
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))Man m i iB te e tw a s s ch affe n > fU r ew ig : «
Tell 1
Antonio ·Gramsd -Biograph is che Nodzen*
Antonio Gramsci wird als Sohn einer Provinzbe- 22. 1. 1891amtenfamilie in Ales (Sardinien) geboren. Anto-
nio is t das vierte Kind der Familie Gramsci, drei
weitereGeschwisterkommen bis 1897noch hinzu.
Ais Antonio Gramsci neun Jahre all ist, verliertder
Vater in der Folge einer Verurteilung wegen Un-
terschlagung im Amt seine Stelle und sein Gehalt.
FUr die Familie beginnt eine Zeit voller Entbeh-
rung und Armut. Antonio is t oft krank.
Antonio Gramsci wird am 23. Januar 1891 als Ales
Sohn von Francesco und Giuseppina Marcias in
Ales in der Provinz Cagliari geboren. Seine Kind-
heit verbrachte er auf Sardinien, uber das er ein-
mal schrieb: »Sardinien ist eine Insel und jeder
Sarde ist eine Insel auf der Insel« (L. C., S. 881).
1977 wurde ein recht eigenwilliges Denkmal von
Gio Pomodoro in Ales eingeweiht, das hier heute
an Gramsci erinnert. Es handelt sich urn einen
Platz, der von allerhand symbolischen Zeichen
belebt wird: er dient als Treffpunkt, ein offener
Raum fur alle, so wie es das gesamte Werk
Gramscis sein wollte.
• Alle in den biographischen Notizen kursiv gesetzten Passagen (mit Aus-
nahme einzelner Hervorhebungen) sind Hinzufiigungen der VSA-Redaktion. Die
Ausfiihrungen zu den StichwortenAles, Ghilarza , San ti l Lussurg iu , Tur in , L 'Or-d ine nuovo , Mammutprozep, Tur i, Furewig , Quodern i de lcarcere ,Form ia und To dsind vom Autor Umberto Cerroni.
11
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Uber seine Kindheit schrieb Gramsci: »Mit
zwolf Jahren begann ich zu arbeiten und ver-
diente gut neun Lire im Monat (was auch bedeu-
tete, ein KiloBrot pro Tag) fur zehn Arbeitsstun-
den taglich, einschlie8lich sonntags morgens. Ich
verbrachte die Zeit damit, Aktenordner hin- und
herzuschieben, die schwerer waren als ich selbst,
und oft weinte ich heimlich des nachts, weil mich
• der ganze Korper schmerzte. Fast immer lernte
ich nur die grausamste Seite des Lebens kennenund bin doch immer damit fertig geworden, im
Guten wie im Schlechten« (L.C., S. 682).
Ghil8na Von Ales zog Gramscis Familie nach Ghilarza
urn, ein Dorf mit etwa 3.000 Einwohnern und
immerhin einer Eisenbahnstation. Eine Wasser-
leitung gab es jedoch nicht und das schlechte
Wasser machte »die Frauen von Ghilarza hiBlich
und aufgeschwemmt«. Ferner fehlte die Kanali-
sation und es gab Krankheiten, wie Malaria und
Tuberkulose. Hier besuchte Gramsci erstmals die
Schule und las seine ersten BUcher. Aus dem Ge-
fangnis schrieb er spater an seine Mutter: »Erin-
nerst Du Dich, wenn ich bis abends spat gelesen
habe und auf welche AusflUchte ich verfiel, urnmir BUcher zu besorgen?« (L. c.,S. 358) Und anseine Frau: »Du irrst, wenn Du glaubst, ich hatte
von klein auf literarische oder philosophische
Neigungen gehabt« (L.C., S. 287); »Ich hatte die
ausgepragtesten Neigungen fUr Naturwissen-
schaften und Mathematik« (L.C., S. 201).
1904 A nto nio G ra msc i ab solv ie rt d ie G ru nd sc hu le u nd
arb eitet d onn als B iiro die ner im K ata ste ram t. D er
Vater wird 1904 ow dem Gefi,ingnis entlassen.
A ntonio gehl m il 15 I ah re n in s d ritte G ym na sia l-
jahr.
12
Ein Dorf, 18 km von Ghilarza entfernt, wo
Gramsci - so scheint es - dank seiner Schwestern
das Gymnasium besuchen kon~te. Sie.verwand-
ten die Einnahmen fU r die inHelmarbeit angefer-
tigten Strickarbeiten zum Unterhalt fUr den
Gymnasiumbesuch des Broders.
Santa
LuSI IUq iU
13
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Antonio geht mit 18Jahren in die Stadt Cagliari, 1911
um dort sein Gymnasium zu beenden. Er lebta r m -
Iich: »Zuerst trank ich morgens nicht einmal mehr
das bif3chenKaffee, dann schob ich das Mittages-
sen hinaus und sparte so das Abendessen. Acht
Monate lang af3ich nur einmal am Tag und am
Ende desdritten Oberstufenjahres befand ichmich
in einem Zustand schwerer Unteremdhrung.« 1m
Alter von 20 Jahren macht Gramsci sein Abitur.
Er besteht dieAufnahmepriifung fur einStipendiat
an der philosophischen Fakultdt der Universitat
Turin; er lernt dort fluchtig einen anderen Kandi-
daten, Palmiro Togliatti, kennen. Das Stipendium
reicht kaum zum Leben.
Gramsci kommt 1911 als Stipendiat der Universi- Turin
Hit nach Turin und schreibt sieh in Literaturwis-
senschaft ein. 1m selben Jahr veroffentlicht Goz-
zano »1colloqui« und die Stadt fiihrt eine allge-
meine Ausstellung durch. Es ist sieher reiner Zu-
fall , aber in Turin kreuzen sieh in jenem Jahr der
Sozialismus auf der Suche nach seiner Reife, die
leisen Anzeichen von dekadentem Bewu8tsein
und die Starke der aufsteigenden Industrialisie-
rung.
Gramsci kiimpft wdhrend seiner gesamten Turiner 1913
Studienzeit mit schweren Krankheiten, die ihm
oftmals selbst unter grof3tenAnstrengungen nicht
erlauben, seine Priifungen rechtzeitig abzulegen,
was jedesmal die Unterbrechung der Stipendien-
zahlung und damit wirtschaftliche Not zur Foige
hat. Er befreundet sich in Turin mit Angelo Tasca,
Palmiro Togliatti und Umberto Terracini, junge
und auf3er Togliatti damals aktive Sozialisten.
Gramsci schreibt Artikel fUr die Wochenzeitung
der Turiner Sozialisten II Grido del popolo
(Volksstimme) und fUr die Turiner Lokalseite der
15
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sozialistischen Tageszeitung Avanti! (Vorwdrts),
deren Chefredakteur damals Benito Mussolini
hiefJ. Irgendwann im Jahre 1913 tritt Gramsci in
die italienische sozialistische Partei (partito socia-
191.5 listo Italiano, PSI) ein. In Europa entbrennt 1914
der erste Weltkrieg. Etwa ein Jahr danach bricht
Gramsci sein Universitatsstudium ab; er arbeitet
als journalistischer Mitarbeiter bei II Grido del
popolo und Avanti! und wird wegen seiner
Krankheiten nicht eingezogen. Seine Leitartikel,
Kommentare und Essays erscheinen jetzt regelma-fJig und werden wegen der klaren Argumentation
und dem sprachlichen Ausdrucksvermogen, das
die sonst iibliche bombastische Rhetorik vermei-
det, beachtet. Neben der Redaktionsarbeit, neben
Nachhilfeunterricht zur Aufbesserung seines Ge-
halts geht er hiiu/ig als einfaches Parteimitglied in
die Arbeiterviertel Turins, um in den Preizeitstdt-
ten Vortriige ZU halten und mit den Arbeitern zu
diskutieren; die Themen reichen vom Krieg bis zur
Beurteilung eines neuen Theaterstiicks. Gramsci
entwickelt in dieser Zeit seine Kritik an dem bor-
nierten und plumpen Antiklerikalismus, der vielen
1917 Sozialisten eigen war. Die im Februar ausbre-
chende russische Revolution und der spdtere Sieg
der Bolschewiki prdgt die Diskussionen in den Ar-
beiterparteien Europas und verstdrkt unter den
lohnabhiingigen Massen der kriegfUhrenden Ldn-
der den Wunsch nach Frieden. FUrGramsci be-
ginnt mit dem Sieg der Partei Lenins zugleich eine
zentrale langjiihrige Beschii/tigung mit der Frage,
warum die Strategie un d Taktik der Bolschewiki
erfolgreich war und ob dieselbe Taktik auch in
entwicke lt en kapita li st is chen Ldndern zur al te rna-
tiven Hegemonie der arbeitenden Klassen fUhren
kbnnte. Die Tatsache, dafJim rUckstiindigen RufJ-:
land die proletarische Revolution siegte, wdhrend
siein den entwickelten kapitalistischen Metropolen
16
bis dahin ausgeblieben war, kommentierte
Gramsci zunachst damit, dafJauf praktische Weise
eine einseitige Auffassung des Marxismus wider-
legt sei: »Die Revolution der Bolschewtki ist die
Revolution gegen das Kapital von Karl Marx.«
Spdter, in den Gefangnisheften, korrigierte und
erweiterte er die aufgeworfene Fragestellung; in
den Termini »Bewegungskrieg« und »Stellungs-
krieg« fafJte er das Problem, dafJ die gegen den
russischen Zarismus gerichteten revolutioniiren
politischen Strategien unwirksam sind, wenn sieeiner entwickelten biirgerlichen Gesellschaft und
dem modernen dif/erenzierten Staat gegenuberge-
stellt werden; Gramsci sah sich in dieser Frage
nicht als Kritiker, sondern als FortfUhrer Lenin-
scher Ilberlegungen: »Mir scheint, Lenin hatte
verstanden, dafJ eine Wende vom Bewegungs-
krieg, der 1917 im Osten erfoglreich war, zum
Stellungskrieg, als dem im Westen einzige mogli-
chen, notig war.. , Nur hatte Lenin nicht die Zeit,
seine Formel zu vertiefen«.
Wenige Monate nach Ausbruch der Revolution
in RufJland entbrennen in Turin Barrikaden-
kiimpfe der Arbeiter; die Arbeiterbewegung von
Turin ist des sinnlosen Krieges iiberdriissig und
liifJtsich aufgrund von Lebensmittelmangel und
Kriegsrecht in den Fabriken zum Kampfverleiten,
dem diepolitische Zielrichtung und FUhrungfehlt.
Mlitiirschliigt denAufstand blutig nieder, fast aile
Punktiondre der Turiner PSI-Sektion werden ver-
haftet. Grasmci wird zum Sekretdr des provisori-
schen Exekutivkommitees der Turiner Sektion
gewahlt und iibernimmt damit zum erstenmal lei-
tende Parteifunktion. Nach der Verhaftung des
zwelten Redakteurs /Uhrt Gramsci II Grido del
popolo allein und macht aus der kleinen Propa-
gandazeitschrift eine Wochenzeitung des kulturel-
len und intellektuellen Lebens. Das »kleine Forum
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sozialistischer Kultur«, wie Gramsci esnennt, wird
im Oktober 1918 eingestellt.
1919 Der Krieg ist zuende; mit der Riickkehr der Sol-
daten aus dem Feld und der Riicknahme von Ver-
haftungen wegen des Turiner Aufstands normali-
siert sich das Parteileben des PSI in Turin;
Gramsci gibt sein provisorisches Parteiamt abo
Vom Krieg zuriickgekehrt sind auch die Freunde
Tasca, Terracini und Togliatti. Mit ihnen griindet
Gramsci, noch immer Redakteur des Avanti!, die
Zeitschrift L'ordine nuovo (Die neue Ordnung},Uber die politischen Motive der vier Verleger ur-
teilt Gramsci spdter kritisch: »Das einzige Gefiihl,
das uns verband ... war die vage Leidenschaft filr
eine vage proletarische Kultur; wir hatten einen
ungeheuren Aktionsdrang, fUhlten uns eingeengt;
ohne ein prdzises Ziel erlebten wir die Umbruch-
stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit, als
der Zusammenbruch der italienischen Gesell-
schaft bevorzustehen schien.«
l'Ordine DUOVO Die sozialistische Wochenzeitung, die am 1.Mai
1919 in Turin zum ersten Mal herausgegeben
wird, beginnt unter folgendem Motto: »Lernt,
denn wir werden eure ganze Intelligenz brauchen.
Agitiert, denn wir werden all euren Enthusiasmus
brauchen. Organisiert euch, denn wir werden
eure ganze Starke brauchen.« Gramsci ist Redak-
tionssekretar, Die letzte Nummer erscheint am
24. Dezember 1920, aber am 1.Januar 1921 wird
die Herausgabe der Zeitung als Tageszeitung
wieder aufgenommen. Gramsci ist Chefredakteur
und das Motto der Zeitung lautet: »Die Wahrheit
sagen ist revolutionar.« Ab 1. Miirz 1924 er-
scheint die Zeitung vierzehntagig,
Dazu hat Gramsci spater geschrieben: »Als wir
im April 1919 zu dritt oder viert oder zu funft
(... ) entschieden haben, mit der Herausgabe der
18
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Zeitschrift -Ordine nuovo- zu beginnen, dachte
niemand von uns (vielleicht uberhaupt niemand)
daran, das Gesicht der Welt zu verandern, die
Gehirne und Herzen einer Vielzahl von Men-
schen zu emeuem, in eine neue historische Pe-
riode einzutreten.«
1919/~O l'O rdin e n uovo in itiierte m it einem von G ram sci
u nd T og lia tti g esc hrieb en en A rtikel iib er » Ar bei-
terdem okratie« die F ab rikriite-B ew eg ung in T u-
rin . D ie W ah l v on b etrieb sin tern en V ertr etern d erA rbeiter breitete sich au sgehend vom gropten T u-
rin er F IA T- W erk in der In dustriesta dt rasch aus,
aber d er po litische Z weck dieser B ew eg ung blieb
im P SI u mstritten u nd ih re U n te rstia zu ng erfo lg te
nicht m it der ganzen K raft der P anel; d ie F abrik-
r iu eb ew eg un g s ei be r b lie b aU f w en ig e in du str ia li-
sierte Z en tren b esch riin kt. U b er d ie G ru nd fra gen
sozialistischer Taktik war der PSI inzwischen in
S tro mu ng en b zw . F ra ktio ne n z erstritten ; d ie u nter
d er FUh rung Bo rd ig a s s te he nd e, d ie r ef orm is ti sc he
Linie kritisierende Fraktion forderte offen die
Spaltung un d die G riindun g einer zur K om in tern
g ehOr ig en K ommu nis ti sc he n P ar te i. G rams ci h ie lt
die G riindu ng einer P artei vo n » reinen« R evo lu-
tio nd re n fU r e in e g efiih rlic he »H allu zin atio n« u nd
wollte den Reformismus des PSI durch eine Er-
neuerung der P artei vo n innen bekiim pfen. N ach
der Niederlage der Turiner Bewegung, die
G rams ci d ar au f z ur uc kfid ute , d ap » die S oz ia lis ti-
sche Partei nun mal das war, was sie war, und die
A rbeiterkla sse alles rosig sah und lieber Lied er
u nd Fanf ar en hone, a ls O pfer zu b rin gen «, a kz ep -
tiert G ra msc i p lo tz lid : d ie U n verm eid lich keit d er
Spaltung, »Es war e ld ch er lic h, iib er e tw as z u j am -
mem, w as nich t m ehr zu dndem ist. D ie K omm u-
nisten kiin nen und m iissen kiihl u nd gela ssen a r-
g um en ti er en ; w en n a ll es in A uflO su ng b eg riffe n is t,
20
dann m up eben alles w ieder a ufgeb aut w erden , d ie
Partei mup erneuert werden. Von nun an mlissen
w ir die komm unistische Fraktion als eine echte
K ommu nistis ch e P artei seh en u nd sch dtzen , a ls so -
lid es G eriist der K om mun istischen P artei Itali-
ens.« Auf dem 17. Parteitag des P SI im Januar 1921
1 921 in Livorno wird die Partei gespalten; die
M in derh eit grundet u nter B ordiga s F iihrung die
K ommu nistisch e P artei ltaliens. D ie G riin du ng
d ieser S ekte, s o u rteilt G ra ms ci sp dter, w ar zu d ie-
sem Z eitpunkt »ohn e Z weifel der gro pte T rium phde r Reakt ion« .
G ra msci ist M itg lied d es Z en tra lko mm itee s d er
P artei; d ie Z eitu ng l'O rd in e n uo vo w ir d T ag esze i-
tu ng u nd o ffiz ie lle s P ar te ib la tt, d as d ie M e hr he its -
lin ie v on B or dig a v er tr itt. 1922 w ird G ra msc i zu m
Vertreter der KPI beim Exekutivkommitee der
K om in te rn in M o sk au n om in ie rt; e r v er liip t I ta lie n
fU r zw ei J ah re . I n ein em M oska uer N er ven sa na to -
rium , in das er sich w egen aku ter psych ischer SW -
r un ge n b eg ib t, l er nt G rams ci d ie P atie ntin E ug en ia
Schuch t kennen , die sein e F rau w ird . A ber sie w er-
den bald getrennt: Gramsci kehrt iiber W ien nach 1 92 4
Ita lien zuriick, nachdem die K PI p raktisch fiih-ru ng slo s g ew ord en w ar. D ie A bs etzu ng d es s ektie-
rerischen Kurses unter Bordiga durch eine von
T og liatti zogernd repriisen tierte P olitik der Z u-
sam men arbeit m it d en So zialisten w ar zu spat ge-
kom men; sowohl Bord iga als nun auch Togliatti
u nd v iele a ndere F U hru ngskrafte w aren in die G e-
fa ng nisse d er ita lien isch en F asc histe n g ew orfen
w or de n; d ie M a ss e d er P ar te im itg lie de r o rie ntie rt e
sich noch im mer an den revolutiondren Phrasen
d es a bg ese tzten P artelfU h rers B ord ig a. G ra msci,
den die Immunudt eines Parlamentsmandats zu-
n iichst vo r V erfolgun g schutzt, ern euert die Z ei-
tung I'ord ine nuov o u nd die da rum sich gru ppie-
r en de n D is ku ss io ns ru nd en u nd k ultu re lle n Z ir ke l;
21
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in der Partei ist er noch in der Minderheit.
1925 Die Unterdriickung der Demokratie in Italien
durch Mussolinis [aschistische Bewegung wird im
Laufe des Jahres 1925 immer offener, die Zer-
schlagung von freien Organisationen und person-
liche Repression waren an der Tagesordnung. In
dieser Situation, die wie Gramsci schrieb, den
Kommunisten nur chaotisches und zusammen-
hangloses Arbeiten erlaubte, sollte der3. nationale
Parteitag der KPI stattfinden und - nach den Vor-
stellungen Gramscis und auch der Komintern - dieverhdngnisvoll sektiererische politische Linie
Bordigas durch eine realistischere Politik des
Kampfes gegen den Faschismus endlich ersetzt
werden. Das Thesenpapier fur diesen Parteuag
wurde von Gramsci und Togliatti ausgearbeitet; es
stellte das Problem der Gewinnung von Verbiin-
deten der Arbeiterklasse im Kampf gegen die fa-
schistische Repression in den Vordergrund. Die
Thesen wurden aUf dem Parteitag, der aufJerhalb
Italiens in Lyon stattfand, mit grofJerMehrheit an-
genommen. Wiihrenddessen zerschldgt Mussolini
die sozialistische Partei Turatis, verbietet ihre
Presse und zwingt viele Sozialisten und Liberale
zur F/ucht insAusland. Auch Gramscis FrauJulio,
1926 die mit dem inzwischen geborenen Sohn Delio seit
einem Jahr in Rom wohnte, gebar den zweiten
Sohn aufJerhalbItaliens und floh mit den Kindem
nach Moskau zuriick. Gramsci schreibt in diesem
Jahr die Schrift iiber die Siiditalienische Frage, in
der er zum ersten Mal zusammenhdngend einige
der Fragestellungen und Probleme entwickelt, die
Thema der spiiteren Gefiingnishefte sind. Schon
hier erweist sich Gramsci alsherausragender mar-
xistischer Theoretiker, aUf dessen Arbeiten iiber
Kultur und Politik in der biirgerlichen Gesellschaft
sich aile Marxisten heute krisisch oder zustimmend
berufen.
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Am 8.Novembe r w ird Gramsci t ro tz s ei ne rpa r-
l am en ta ri sc he n Immuni td t v er ha ft et ; Mu ss ol in i
ha ttes ich en tschlossen, nun auch diepar lamentari -
sche Fassade e inzure ipen und a i le oppos it ione llen
Pa rt ei en a us d em Par lame nt z u w er fe n u nd z u v er -bieten.
Muunutproze8 1m Jargon des antifaschistischen Untergrunds
• wurde so der ProzeB genannt, der am 28. Mai
1928 gegen Gramsci und die Fiihrungsgruppe der
Kommunisten vor dem Sondergerichtshof eroff-
net wurde. Darunter waren Terracini, Scocci-
marro und Roveda. In diesem ProzeB, den der fa-
schistische Propagandaminister Michele Isgro lei-
tete, sagte dieser, als ervon Gramsci sprach: »Wir
miissen diesem Gehirn fur 20 Jahre untersagen zu
funktionierene, Es gelang ihm nicht.
G rams ci w ur de zu e in er G efiin gn is stra fe v oniiber 20 Jahren verurteilt.
Turf In der Strafanstalt von Turi war Gramsci vom 19.
Juli 1928 bis zum 18. November 1933 in Haft.
Hier entstand der groBte Teil der Quaderni. Gu-
stavo Trombetti erinnert sich an den Tag der Ab-
reise aus Turi: »Begleitet von der Gefangniswa-
che begaben wir uns ins Magazin und packten dieSachen. Wahrend er wie vorher vereinbart die
Wache in ein >Schwatzchen<verwickelte, steckte
ich die 18handgeschriebenen Hefte inden Koffer
mitten unter die anderen Sachen.e Aber es waren
mehr Hefte: 21. Von Turi aus hatte Gramsci ge-
schrieben: »Ich lebe kaum und schlecht, eine tie-
rische und dahinvegetierende Existenz«. Doch
der Insasse Nummer 7047 war dabei, eines der
groBen Werke der zeitgenossischen Kultur zuschreiben.
24
Scrlttur. (aulografa) _ : : a . ~ . . . : ..~.I, ·
. . . . . . 1. . . . _ . . . . . . nn ....... fill•• _
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FU r eM. »( . .. ) Man miiBte etwas >rur ewige schaffen«,
schrieb Gramsci" an Tania von Mailand aus am
19. Marz 1927; »nun, ich mochte mich nach ei-
nem festumrissenen Plan intensiv und systema-
tisch mit einem Gegenstand beschaftigen, der
mich voll beansprucht und meinem Innenleben
eine Zielsetzung gibte (L.C., S. 58). Gramsci li-
stete vier Themenbereiche auf: 1. »eine Untersu-
chung tiber die Herausbildung des offentlichen
Geisteslebens des vorigen Jahrhunderts in Itali-
en, mit anderen Worten, eine Untersuchung tiber
die italienischen Intellektuellen.« 2. »eine Studie
tiber vergleiehende Sprachwissenschaft«; 3.
»eine Untersuchung tiber das Theater Pirandel-
los, tiber die Veranderung des theatralischen Ge-
schmacks wie ibn Pirandello reprasentiert und
mitbestimmt hat.« 4. seine Abhandlung tiber den
Trivialroman und den literarischen Geschmack
des Volkes.« Gramsci faBte zusammen: »Im
Grunde besteht ftir den, der genau hinsieht, zwi-
schen diesen vier Themenbereichen eine Homo-
genitat: allen liegt gieicherma8en die Frage nach
.dem volkstiimlichen kreativen Geist in seinen un-
terschiedlichen Phasen und Entwicklungsgraden
zugrunde«.
Das Projekt wurde mehrfach verandert, Am
( 17. November 1930 sehrieb Gramsci von Turi aus
;1 an dieselbe Schwagerin: »Ich habe mich auf drei
I oder vier Hauptthemen festgelegt. Eins davon ist
das tiber die kosmopolit ische Funktion, die die
italienischen Intellektuellen seit dem 17. Jahr-
hundert innehattene (L.C., S. 378). Und noch
einmal am 3. August 1931: »Eines der Themen,
das mich am meisten interessiert, war, einige cha-
rakteristische Gesichtspunkte in der Geschichte
der ital ienischen Intellektuellen festzuhalten.
• Gramsci schrieb .fUr ewig« im Original in deutsch
(Anm. d. Red.),
26
Dieses Interesse entstand auf der einen Seite aus
dem Wunsch, den Staatsbegriff zu fundieren und
auf der anderen, mir tiber einige Aspekte der hi-
storischen Entwicklung des italienischen Volkes
Rechenschaft abzulegen.« (L. C., S. 459f) Zwei
Vberlegungen sind erforderlich. Die erste betrifft
die Tatsache, daB das wesentl iche Augenmerk
der von Gramsci im Gefangnis durchgefuhrten
Studien deutlich auf eine griindliche Ausarbei-
tung des v~~denden MQ_m~!lj~&~Ij_!:htet_~ein
seheiIif,"welehes die herr.~cheI!<ie~!l~~L~!~~!~.-driickten:j{ja~~ ..~teinande[ verbiipdet (Q(kI
~icht verbundet) hat und wahrend der Zeit der
.Einigunidenitilienisehen Staat zusammenhielt.
Mit anderen Worten, wie Gramsci selbst in einem
Brief vom 7.September W-schrieb, ist die Un-
tersuehung tiber die_!ntellektuellen »als Vorha-
ben sehr umf~eic~ .....W.cluvd l . . ! . . tc luk.n . .B~-
·i~I~~~}I!!el~~~~n._d.Q9! sehr~rv :~! !~ !~_1~I ) .<1mich nieht auf den herrschenden ~~
auf"die··g;;;~.~j~.~~ii.e.ki\i~ii~~~~~~!t_~%.~~Iin:
ke«. Gramsci fiigt femer hinzu: »DieS(l.lJlltersu-
~~~~~a~!&;~~~~erd~~i7:! : : ·~._ _. b eg riff -.-., ~ , -. ...•
wird als p<>litisch~~~.!~t.j ..JUkta.turoder.~~~~~.Pj!:.a~ ..~~_~P.!!~~g_<!!!~_Y..°lks.~
massen an dell ..!~!Q!!l;I..ktiUDiQlpJ1S nnd d t t: Q k o -
nomie ~i~~~·geg~~1lc::11.SitwUion)...und,.nicht.als
Gleichgewicht V(m"'~mi~~l"y.ndJ!W,'g_c:!.!ifbe.r
Gesellschaft •• oder der Hegemonie einer sozia-
le~"'~ppe tiber die Gesamtgesellschaft einer
Nation, ausubt mittels sogenannter privater Or-
ganisationen wie Kirche, Gewerkschaften, Schu-
len usw.« (L. C., S. 481). Demnach, so konnte
man sagen, wollte Gramsci die Geschiehte der
versaumten politischen Einigung Italiens und die
..Zur begrifflichen Bestimmung von btirgerlicher Gesell-
schaft, vgl. das entsprechende Stichwort (Anm. d. Red.).
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trotz allem in der italienischen Gesellschaft auf-
rechterhaltene kulturelle Einheit untersuchen:
die Geschichte dessen, was die nationale Einheit
gebremst hat und dessen, was sie hatte beschleu-
nigen konnen und sie in der Perspektive auf eine,
durch die sozialistische Revolution erneuerte Ge-
sellschaft und einen erneuerten Staat hin be-
schleunigen kbnnte.
Die zweite Betrachtung betrifft das Schicksal
des um diesen Plan herum gesammelten Mate-
rials. Die im Gefangnis geschriebenen Hefte sol-len als Grundlagenmaterial dienen, um ein Werk
fUr ewig zu schreiben, aber der Tod bereitete die-
ser Arbeit Gramscis ein jahes Ende. Trotzdem
sind es gerade diese Hefte geworden, die sein
Werk fUr ewig bilden und denen gegenuber die
Welt zum Schuldner von Antonio Gramsci ge-
worden ist.
Quademi
del carcere
(Geflingnisbefte)
1m Gefangnis von Turi beginnt Gramsci am 8.
Februar 1929 mit dem Entwurf seiner Gefang-
nishefte, zwei Jahre und drei Monate nach der
Verhaftung. Er hat lange uber die Richtung sei-
ner Studien nachgesonnen, mit denen er versu-
chen wird, die Langeweile im Gefangms und die
Hoffnungen der Gefangniswarter zu besiegen. Er
hat viel gelesen: »Mehr als einen Band am Tag
neben den Zeitungene und trotzdem ist er »von
dem Gedanken gequalt, daB man etwas schaffen
mUBte>fiirew i g e « (L. C., S. 58)
Nach dem Tode Gramscis wurden die Manus-
kripte der 33 »Ouadernie von Tania Schucht auf
Anraten von Sraffa nach Moskau geschickt, wo
sie von Vincenzo Bianco, dem italienischen Ver-
treter in der Komintern, in Empfang genommen
wurden. Nach der Befreiung Italiens macht Felice
Platone in der Rinascita (April 1946) eine erste
detaillierte Besprechung daruber, 1948 beginnt
28
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die Veroffentlichung der sechsbandigen themati-
schen Ausgabe im Einaudi-Verlag:
II materialismo storico e la filosofia di Bene-
detto Croce; Gli intellettuaIi e I'organizzazione
della cultura; II Risorgimento; Note suI Machia-
velli, sulla politica e sullo stato moderne; Lettera-
tura e vita nazionale; Passato e presente.
Die kritische Ausgabe, herausgegeben von
Valentino Gerratana, erscheint 1975 im Einau-di-Verlag.
1933 Mit Hilfe interfUltionalerSolidaritdt erreieht es die
italienisehe Arbeiterbewegung, die Einlieferung
Gramscis in eine Privatklinik zu bewirken, Einige
Monate spdter gewahrt man ihm bedingte Haftaus-
setzung, Gramsei ist todkrank, aber er schreibt
weiter an den Gefangnisheften. Erst im Sommer1935 bricht seine Arbeit abo
Formi. Von Turi aus wurde Gramsci in eine Klinik nach
Formia verlegt, wo er von Dezember 1933 bis
zum 24. August 1935 in Haft bleiben wird. Noch
1936 erinnert er sich der Zugreise von Turi aus:
»Welch schrecklichen Eindruck empfand ich im
Zug nach sechs Jahren, in denen ich nichts als die-
selben Dacher, dieselben Mauern, dieselben fin-steren Gesichter gesehen hatte. Nun sah ich, da B
die weite Welt wahrend dieser Zeit weiterbestan-
den hatte mit ihren Wiesen, ihren Waldern, den
einfachen Menschen, den Kinderscharen, Bau-
men und Garten - aber vor allem, was fur ein
Eindruck, aIs ich mich nach so langer Zeit im
Spiegel erblickte: ich bin sofort in die Nahe der
Karabinieri zuriickgewichen« (L. C., S. 850).
1937 Gramsci sollte am 21. April aus der Haft entlassen
werden; seinen Plan zur Ruekkehr zu seiner Fami-
lie nacn Sardinien kann er nieht mehr durchfUh-
30
renoAntonio Gramsci stirbt sechs Tage spdter in
der Klinik »QuisisafUl« in Rom.
Zweimal spricht Gramsci explizit vom Tode. Zu- Tod
erst von der Strafanstalt Turi aus am 20. Mai
1929, als er an die Ehefrau schreibt: »Ich hatte
nie geglaubt, daB soviele Menschen eine so groBe
Angst vor dem Tod haben; trotzdem, gerade in
dieser Angst liegt der Grund fur viele psychologi-
sche Phanomene im Gefangnis, In ltalien sagt
man, da8 einer, der an den Tod zu denken be-ginnt, alt wird. Das scheint mir eine sehr ermah-
nende Beobachtung zu seine (L.cV., S. 275). Am
15. Dezember 1930 schreibt er, ebenfalls aus Turi
an die Mutter: »Seit vier Jahren bin ich gealtert .
Ich habe viele weiSe Haare, habe die Ziihne ver-
loren, ich lache nicht mehr vor Freude wie friiher.
Aber ich glaube, weiser geworden zu sein, meine
Erfahrungen mit Menschen und Dingen berei-
chert zu haben. Ansonsten habe ich die Lust am
Leben nicht verloren. Mich interessiert immer
noch alles und ich bin sicher, daB ich, selbst wenn
ich keine sgerosteten Saubohnen mehr knabberne
kann, wtirde ich dennoch kein Mi8faDen empfin-
den, andere sie knabbern zu horen. Ich bin also
nicht alt geworden, was meinst Du? Man wird alt,
wenn man den Tod zu fiirchten beginnt und Mi8-
fallen daran empfindet, die anderen das tun zu
sehen, was wir selbst nicht mehr tun konnene
(L. C., S. 388)
Die beiden Texte weisen einen wichtigen Un-
terschied auf. In dem ersten sagt Gramsci, daB
man anfangt alt zu werden, wenn man anfangt an
den Tod zu denken. 1m zweiten hingegen prazi-
siert er, daB man antangt alt zuwerden, wenn man
anfangt, den TodzufUrehten. Es steht in der Tra-
dition der groBen Denker, an den Tod zu denken,
ohne zu altern. Hingegen ist es ein Zeichen des
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IG R I D O D E L P O P O'-1" t.r ·"~~
' . , . . . _• •
ONIO GRAM SC I E ' M O
lif_lam. .".rt"lto......... ·.ltri com.,.
. . .-
Alters anzufangen, voller Furcht an den Too zu
denken. Es lieBe sich hinzufiigen, daB die Furcht
vor dem Too proportional zum Desinteresse am
Leben zu stehen scheint.
Gramsci starb am 27. April 1937 um 4.10 Uhr,
nachdem er stoisch gegen viele Krankheiten an-
gekampft hatte (Morbus Pott, Lungentuberkulo-
se, nervliche Uberreizung, Angina pectoris,
Gicht). Er war 46 Jahre altoDie Beerdigung am
folgenden Tag fand bei Gewitter statt. Dem Sarg
folgte nur eine Kutsche mit zwei Verwandten. Erwurde auf dem Englischen Friedhof hinter der
Porta Paolo und der Porta della Resistenza beige-
setzt. Uber sieh selbst schrieb er: »Ich mochte
nieht betrauert werden. Ich war ein Kampfer, der
im unmittelbaren Kampf kein Gluck hatte, und
Kampfer konnen und durfen nieht betrauert wer-
den, wenn sie nieht gezwungenerma8en gekampft
haben, sondern es selbst bewu8t gewollt haben«
(L. C., S. 469). Gramsci war der gro8te Italiener
seit Machiavelli.
33
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34
TeD 2
S tichworte zurGramsd-Lekti ire
Abstraktion
»Abstraktion wird immer die Abstraktion von einem historisch
bestimmten Begriff sein.« (0., S. 1276; M.S:, S. 340)
Asthetik
Es gibt keine bessere Kritik an der auf den Inhalt fixierten Asthe-
tik als diese lapidare AuBerung Gramscis: »Zwei Schriftsteller re-
prasentieren dasselbe soziale Moment, doch der eine ist ein Kunst-
ler, der andere nicht.« (0., S. 425)
Affenvolk
Vnter dem Titel »Affenvolk« erschien am 2.Januar 1921 imOr-
dine nuovo ein von Gramsci unterzeichneter Artikel, eine Analyse
tiber den» ZerfallsprozeB der Kieinbourgeoisie«, der am Ende des
19. Jahrhunderts begonnen hatte. Gramsci schrieb, daB »der Fa-
schismus die letzte > Vorstellungc der stadtischen Kleinbourgeoisie
auf der Biihne des nationalen politischen Lebens ist«: nachdem sie
mit der Entwicklung der GroBindustrie und des Finanzkapitals
»jede Bedeutung« verloren hat, »sucht sie mit allen Mittein, ihre
Position zur historischen Initiative zu bewahren: siemft die Arbei-
terklasse nach und geht auf die Stra6e«. Wie jede soziale Schicht,
die ihrer Funktion entleert ist, wird die Kleinbourgeoisie vom Fa-
35
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schismus mitgerissen und instrumentalisiert, der sie sich zur Stutze
macht: »Das Affenvolk fullt die Chronik, schafft aber keine Ge-
schiehte, hinterlabt keine Spuren in der Zeitung, hat keinen Stoff
anzubieten, tiber den man Bucher schreiben konnte.« (S. P., S.
389 ff). Aber es ist anzumerken, daB das Affenvolk qualitativ zwar
unbedeutend ist, quantitativ aber au6erst relevant; und esverbrei-
tet und reproduzier t sich mit gro6er Geschwindigkeit; denn als
Kleinbtirge~ wird man nieht nur geboren, man wird es.
A1Itagsbewu8tsein»Sich auf das AlltagsbewuBtsein (senso comune, A. d. 0.) als
Probe der Wahrheit zu beziehen, ist ein Nonsens (non senso,
A. d. 0.)« (0., S. 1399; M. S., S. 153), weil »das Alltagsbewu6t-
sein eine zwiespaltige, widerspruchliche Auffassung ist« (0., S.
1399; ibidem). Apologetik gegentiber dem AUtagsbewuBtsein ist
also Apologetik gegeniiber dem Zwiespaltigen oder genauer, ge-
genuber dem Zwiespaltigen, das darin besteht, intellektueUe
Wahrheiten mit nieht-intellektueUen Kriterien zu ergriinden. Der
historische Charakter intellektueller Wahrheiten bedeutet nicht
daB diese nicht-intellektueUe Wahrheiten seien. '
Arbeiter-Assoziationen
Gramsci schreibt, »die Arbeiterassoziation kann und muB als we-
sentlieher Faktor der proletarischen Revolution aufgefaBt wer-
den« (0. N., S. 14). In demMa6e aber, wiedie proletarischen Le-
bensbedingungen die allgemeinen Lebensbedingungen des mo-
dernen Menschen darsteUen, mu6 die Assoziation als der wesent-
liche Faktor der modernen Freiheit betrachtet werden. Es ist wich-
tig, daran zu erinnern, daB die burgerliche Revolution die politi-
schen Assoziationen ihrem Wesen nach verurteilt (Gesetz Le Cha-
pelier)*, und daB der biirgerliche Staat als Gesarntheit das Pha-
.• ~as ?esetz LeChapelier verbot 1791 imFrankreich der burgerlichen Revo-lution jegliche Form der Assoziation. Anm. d. Red.
36
nomen mit Feindseligkeit betrachtet, selbst wenn er es hinnimmt
und toleriert.
Individuelle Freiheiten werden nicht als Freiheit des Sieh-Ab-
sonderns verstanden, sondern als Freiheit, sieh individuell inner-
halb der sozialen Gemeinschaft zu artikulieren. Es erscheint also
klar, daB das Eigentumsrecht nieht organischer Bestandteil einer
Theorie der modemen Freiheit sein kann, da das Eigentumsrecht
imWesen ein Ius excludendi alios darstellt: eine Freiheit, sich un-
ter Ausschluf der GeseUschaft hinter einem Privileg zu verschan-
zen. Die SchluBfolgerung daraus aber lautet, daB diese die einzige
(schrittweise) auszuschlie6ende Freiheit innerhalb einer neuenGesellschaftsordnung ist. Alle anderen biirgerlichen und politi-
schen Freiheiten, die die gesellschaftliche Artikulation und politi-
sche Ausfaltung des Gemeinwesens erlauben, ohne es zu zersto-
ren, sollten als Gesamtheit in eine sozialistische Verfassung aufge-
nommen werden. Hingegen ist es vorgekommen, daB das »sektie-
rerische Denken« (vgl. das entsprechende Stichwort) des Sozia-
lismus davon ausging, daB es, urn die Freiheit der privaten Aneig-
nung auszuschlieBen, notwendig ware, jede formale (politisch-
rechtliche) Freiheit auszuschlie6en, urn sie durch die gesellschaft-
liche Freiheit zu ersetzen. So, als ware die Gesellschaft dann nicht
aus Individuen zusammengesetzt!
Atheismus
»Der Atheismus ist eine rein negative und unfruchtbare Forme
(0., S. 1827; M. S., S. 129), denn er ist eine noch untergeordnete
oder rein polernische Form. Das hatte bereits Marx angemerkt, als
er schrieb: »Der Atheismus ... hat keinen Sinn mehr, denn der At-
heismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Nega-
tion das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialis-
mus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von
dem theoretisch und praktisch sinnlichen BewufJtsein des Men-
schen und der Natur als des Wesens.« (Okonomisch-Philosophi-
. s che Manuskripte von 1844, MEW Erganzungsband I, S. 546,
Berlin [DDR] 1968.)
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Biirokratie
»Die Burokratie ist die gefahrlichste der gewohnheitsmiiBigen und
konservativen Krafte.« (0., S. 1604; MACH., s. 63) Gefahrlicherals die Burokratie der anderen ist demnach nur die eigene.
CaporaHsmus*c
»Befehlen urn des Befehlens willen, das ist Caporalismus.« (0., S.
968; MACH., S. 193). Und dennoch miissen Befehle erteilt wer-den, »damit ein Zweck erreicht werde«; d. h., man muB befehlen,
urn einem Zweck zu gehorchen und sowerden die anderen gehor-
chen, urn zu befehlen: »Im Gehorsam liegt immerein Befehlsmo-
ment und im Befehl ein Moment des Gehorsams« (ibidem).
Gramsci driickt das so aus: »Der Befehl ist eine Funktion« (0., S.
969; ibidem) Darum gebuhrt nur dem der Befehl, der beabsieh-
tigt, mit der Befehlsfunktion SchluB zu machen.
• Eine hierarchische Fiduungsstruktur; Anm. d. Red.
Demokra tie , p o6tis ch e
»Die -politische Demokratie- tendiert dahin, Regierte und Regie-
rende zusammenfallen zu lassen.« (0., S. 501) In dieser Tendenz
liegt die Moglichkeit begriindet, daS sich die Perspektive fur den
Sozialismus offnet.
Destmkt ion
Viel zu haufig »wird Destruktion ganz mechanisch aufgefaSt und
nicht als Destruktion-Rekonstruktion« (0., S. 1612; MACH., S.
44 f). Destruktion so aufgefaBt, bedeutet jedoch im allgemeinen
ein historisches Versagen: »Es ist nieht wahr, daB jeder, der -zer-
stort., zerstoren wille (0., S. 708; P.P., S. 206). Haufig endet der-
jenige, der in der Politik nur zerstorerisch wirken will, selbst zer-
38
.1
.• I
, I
I
stort: »Viele der angeblichen Zerstorer sind nichts anderes a 1 s
>Beauftragte fur versaumte, miBlungene Werke- und strafbar nach
dem Gesetzbuch der Geschichte« (ibidem; P. P., S. 206 f). Die
einzig sichere Form wirklicher Zerstorung ist die, etwas zu schaf-
fen: »Man zerstort, indem man etwas schafft« (ibidem; P. P., S.
206). SoreIsMythos der zweckmiiBigen Gewalt, d. h. der Destruk-
tion, die als solehe eine moralische Regenerierung sei, ist vollig
falsch. Mit einem solehen Mythos kann sich lediglich ein Nihilist
oder Asthet zufrieden geben. Auf der anderen Seite wachst die
Notwendigkeit der konstruktiven Destruktion im Verhaltnis zu
dem Wesen und dem historischen Wert derjenigen Konstruktion,die zerstort werden solI.
Dialekt
In einem Land wie Italien, das soviele Dialekte hat und eine wenig
populare Landessprache, schlagt Gramsci ein aufmerksames und
offenes Studium der volkstumlich-dialektsprachlichen Realitat,
aber auch eine groBe Initiative zur Oberwindung der Situation vor.
In der Tat, »wer nur Dialekt spricht oder die Landessprache in ge-
ringerem MaBe versteht, beteiligt sich notwendigerweise in einer
mehr oder weniger beschrankten oder provinziellen, versteinerten
und anachronistischen Weise an der Erfassung der Welt im Ver-
haltnis zu den groBen gedanklichen Stromungen, die die Weltge-
schichte beherrschen«, sodaS »seine Interessen beschrankt, mehr
oder weniger korporativistisch sein miissen, keine allgemeinen
sein werden« (0., S. 1377; M. S., S. 5). Nur populistische Dema-
gogie kann die historisch-kritische Aufmerksamkeit gegenuber
dem Dialekt in seine Verherrlichung verkehren, nur aristokrati-
scher Asthetizismus kann dem Volk die Bedeutungslosigkeit der
Nationalsprache vorspiegeln.
Diplomat ie
»Die Italiener haben die moderne Diplomatie begrundet.« (0." S.
904); INT., S. 85). Und so haben sie leider auch den diplomati-
schen Geist mitbegriindet.
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EUte
Gramsci ist der subtilste Kritiker der Theorie politischer Eliten,
wie sie insbesondere von Gaetano Mosca und Vilfredo Pareto auf
den Punkt gebracht worden ist, der aber bereits die moderne
Staatstheorie vom reprssentanven, liberalen Staat zugrunde lag
(Locke, Kant, Humbold, Constant). Gramsci eroffnet erneut die
Diskussion tiber die Moglichkeit der »Wiedereinglied~rung« des
politischen Lebens in das Alltagsleben. Er zieht die Trennung von
Regierten und Regierenden als notwendig dauerhafte und theore-
tisch nicht diskutierte in Zweifel und deckt demgegenuber ihren
provisorischen Charakter auf, insofern sie namlich der atomisti-
schen Struktur der biirgerlich-kapitalistischen Gesellschaft dien-
lich ist. Darum lenkt er bestandig die Aufmerksamkeit sowohl auf
die Herausbildung einer Elite als Avantgarde, die verbiindet ist
mit dem gesamten historischen Block, wie auch auf die eigenstan-
dige Entwicklung der Massen. Er schreibt: »Es handelt sich, das ist
wahr, darum, an der Herausbildung einer Elite zu arbeiten. Diese
Arbeit aber dart nicht losgelost sein von der Aufklarungsarbeit
unter den breiten Massen, im Gegenteil, beide Aktivitaten stellen
eigentlich nur eine einzige Aktivitat dar und gerade das erschwert
das Problema (0., S. 892). Tatsachlich geht es darum, eine Elite
herauszubilden, die sich nieht als Elite fiihlt und stattdessen die
Massen anleitet, sich seIber zu fiihren und damit eine historische
Situation zu schaffen, in der der Unterschied zwischen Elite und
Masse hinfallig wird.
Engels
»Natiirlich sollte der Beitrag von Engels nieht unterbewertet wer-
den, doch soUte man Engels auch nieht mit Marx gleiehsetzen.
Man soli nicht glauben, daB all das, was Engels Marx beigefiigt hat,
absolut authentisch sei.« (0., S. 420) Und trotzdem werden die
Werke von Marx und Engels noch immer zusammen publiziert,sogar in kritischen Ausgaben.
40
Expe rim en teU e Me tho de
»Die Durchsetzung der experimentellen Methode trennt wirklich
zwei Welten in der Geschichte voneinander, und es beginnt die
Zersetzung von Theologie und Metaphysik und die Geburt des
modernen Denkens.« (0.,S.473) Die von gewissen Laizisten und
Marxisten entfachte Polemik gegen die Wissenschaft ist somit
kaum oder gar nicht zu verstehen. Sie bevorzugen gegeniiber der
Methode der experimentellen Wissenschaft die spekulative Me-
thode, die so manches Mal unter dem Deckmantel von Dialektik
prasentiert wird.
Feind
In der Politik spricht man haufig von der »Hand des Feindes«, was
oft als Alibi der eigenen Unfahigkeit dient. Gramsci sagt: »Wenn '
ein Feind dir Schaden zufiigt und du dich dariiber beklagst, bist du
ein Dummkopf, denn es ist den Feinden eigen, Schaden zuzufii-
gen. Wenn dir aber ein Freund Schaden zufugt, ist dein Groll be-
rechtigt« (0., S. 1809; P. P., S. 93)
Folk lore
Der traditionellen Auffassung von Folklore als einem bizarren
oder »pittoreskene Moment, setzt Gramsci die Notwendigkeit
entgegen, »sie als eine )Welt- und Lebensanschauunge zu untersu-
chen, die bestimmte Schiehten (bestimmt in Raum und Zeit) der
Gesellschaft umfabt« (0., S. 2311; L. V. N., S. 267). Diese Neu-
bewertung der Folklore als Gegenstand der Wissenschaft bedeutet
durchaus keine Verherrlichung der Folklore (wie behauptet wur-
de). Die Folklore steht eigentlich in enger Beziehung zum »AII-
tagsbewu8tsein« oder zur »philosophischen Folklores und konsti-
tuiert eine »nicht nur nieht ausgearbeitete und unsystematische
Weltanschauung (... ), sondern dagegen auch eine sehr vielfalti-
ge « (0.,S. 2312;L. V. N., S. 268). Sie beinhaltetunterschiedliche
Schichtungen und stellt sich dar als »ein verworrenes Konglomerat
aus Bruchstiicken aller Welt- und Lebensanschauungen, die die
41
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Geschichte durchlaufen haben, von denen sieh groStenteils allein
in der Folklore abergHiubische, sturnme und charakteristische
Dokumente finden« (ibidem). In diesem Zusammenhang und im
Gegensatz zum Nationalen, »nahert sich das Folkloristische dem
-Provinziellen. « (0., S. 1660); P.P., S. 10). Eine neue Kultur wird
»die Trennung zwischen moderner und volksttimlicher Kultur
oder Folklore« (0., S. 2314; L. V. N., S. 270) aufheben mtissen
und der Kultur der Massen dazu verhelfen, die Ebene einer kri-
tisch-systematischen Anschauung zu erreichen. Gramsciist alles
andere als ein Populist!
FreiwiDigkeit
Die Geschichte Italiens ist voller »Freiwilliger«: von den Schick-
salsbanden tiber die »Garibaldikiimpfer« bis hin zu den »Tapfe-
ren«. Aber »es ist anzumerken, daBdie Freiwilligkeit bei allem hi-
storischen Wert, der nicht gemindert werden soli, ein Surrogat fur
das Eingreifen des Volkes gewesen ist, und in diesem Sinn ist es
eine KompromiSlosung bei Passivitat der nationalen Massen.
Freiwilligkeit und Passividit gehoren enger zusammen als man
denkt« (0., S. 1999; R., S. 206). Ineiner Zeit dergroBen Verherr-
lichungen von »Avantgarden« (literarische oder politische) er-
kennt Gramsci also die Bedeutung der organischen Verkntipfung
von Avantgarde und Masse, die der ersten einen dauerhaften hi-
storischen EinfluB vermittelt und der zweiten Raum gibt fur aktive
Initiative und Wachstum. Er unterstreicht wegen der Grenzen derAvantgarde die Tatsache, daB, »um dauerhafte Geschichte zu ma-
chen, die -Besten. nicht ausreichen, es bedarf der breitesten und
zahlreichsten national-volksttimlichen Kriifte« (ibidem; R., S.207).
Fiihnmgskriifte
»Um Ftihrungskrafte herauszubilden ist diese VorkUirung grund-
legend: will man, daB es immer Regierte und Regierende geben
soli, oder will man Bedingungen schaffen, unter denen die Not-
wendigkeit des Bestehens einer solchen Unterscheidung ver-
schwindet?« (0., S. 1752; MACH., S. 21) Der FUhrer, der sich fur
42
die erste Alternative entscheidet, befiehlt, fuhrt aber nieht. Derje-
nige, der die zweite wahIt, befiehlt nicht, sondern fuhrt, Der au-
thentische Fuhrer last sich durchaus nicht mit einem Machthaber
gleichsetzen, weil er gieichzeitig ein theoretisches Programm aus-
zuarbeiten hat. Andererseits kann ein Machthaber, der tiber kein
plausibles theoretisches Programm verfiigt, tiber kurz oder lang
die Macht verlieren. Darum also »kann die Herausbildung von
Fuhrungskraften nieht dort vonstatten gehen, wo es an theoreti-
scher, doktrinarer Tatigkeit der Parteien mangelt« (0., S. 387;
P. P., S.78). In solchem Fall ist Fuhrung nur Befehl und wahrt so-
lange, wie die anderen gehorchen. Unterdessen wird die intellek-tuelle Hierarchie durch die Burokratie ersetzt (0., S. 388; P. P., S.
79). Nieht zufallig definiert Gramsci den FUhrer durch die Formel
»Spezialist + Politiker« (vgl. das Stichwort); wird von dem intel-
lektuellen Spezialisten gefordert, auch Politiker zu sein, so wird
von dem intellektuellen Politiker ebenfalls veriangt, auch Spezia-
list zu sein. Nur so kann vermieden werden, daB Politik wieder zu
burokratischer Macht und zu formalem Wissen wird, wahrend die
Kultur fortfahrt, »reales Wissen« ohne Macht zu sein.
FUrst ,* modemer
»Der moderne FUrst (... ) kann nur ein Organismus sein« (0., S.
1588; MACH., S. 6), aber das heiSt nieht, daS ein beliebiger Or-
ganismus der moderne Furst sein konnte. Er »muS und kann n~r
der Verkiinder und Organisator einer intellektuellen und morali-
schen Reform sein« (0., S. 1560; MACH., S. 9) auBer der politi-
schen; denn die politische Reform, die er zu erjullen hat, muS in
die Tiefe gehen. Also nur »der FUrst nimmt inGedanken den Platz
der Divinitat und des kategorischen Imperativs ein, er wird die Ba-
sis eines modernen Laizismus und einer kompletten Verweltli-
chung des ganzen Lebens und aller sittlichen Beziehungen« (0., S.
1561; ibidem). Urn also das ganze Leben zu verweltlichen, muB
der moderne FUrst verweltlicht werden. Ansonsten besteht das Ri-
• IIprincipe, ein Begriff, den Gramsci ausdem gleichnamigen Hauptwerk Nic-
colo Machiavellis iibernimmt (Anm. d. Red.)
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siko, daB der Fiirst umgeben bJeibt von theoJogisehem Denken
und abstraktem Asthetizismus und er den VerweJtJiehungsprozeB
nur bremst. Man erinnere sieh, daBGramsci wahrend seiner Ma-
ehiaveHi-Studien bemerkt, daB »>Ftirst<sieh im modernen Spraeh-
gebraueh in -politische Partek ubersetzen JieBe« 0., S. 662;
MACH., S. 114). Es besteht aJsodie Gefahr, daB aueh die poJit i-
sche Partei wieder zu einem feudaJen Fiirsten wird: zu dem einzi-
gen, dem es nicht geJingt, die Fuhrung in der Gesehiehte zu tiber-
nehmen.
Gedank en Gr ams cis
Man miiBte etwas sehaffen »ftir ewig«.
In jedem im Entstehen begriffenen AugenbJiek gibt es einen
Kampf des RationaJen mit dem IrrationaJen.
In der PoJitik den Massen die Wahrheit zu sagen, ist eine poJiti-
sehe Notwendigkeit.
Ein Dummkopf kann nieht begreifen, daB er dumm ist.
Das Individuum ist kein Atom, sondern die gesehiehtliehe Indi-
viduaJisierung der gesamten GeseUschaft.
1st irren nieht mensehJieh?
Nieht das Denken aJs soJehes, sondern das, was man wirkJieh
denkt, eint oder seheidet die Mensehen.
AUes ist PoJitik.Die Natur des Mensehen ist die Geschiehte.
Ideen sind dann groB, wenn sie aktuaJisierbar sind.
Ohne Leidenschaft wird keine Geschiehte und Politik gemaeht.
Die Natter beiSt den SeharJatan oder besser gesagt, der Dema-
goge ist das erste Opfer von Demagogie.
Es ist einfaeher, eine Armee aufzusteUen aJs Offiziere heraus-
zubiJden.
Wenn die Eicheln eine IdeoJogie bes8Ben, dann ware das eben
die, sieh mit Eichen sehwanger zu fiihlen.
Die SeeJe rettet sieh nieht durch blofses Reden. Man braueht
Taten und wie!
Fiir die ProJetarier ist es eine Pflieht, nieht ungebiJdet zu sein.
Leidensehaftlieh zu sein, bedeutet, die Gabe zu besitzen, die
44
Leidensehaften der anderen zu entziinden.Man verdammt die Vergangenheit als Ganzes, wenn es einem
nieht geJingt, sieh von ihr zu unterseheiden. .
Zwei Sehriftsteller reprasentieren dasselbe soziale Moment,
aber der eine ist ein Kunstler, der andere nieht.
Aueh das Studium ist ein sehr anstrengendes Handwerk.
Der Kleinbiirger kann nieht aus seiner Haut.
Mangel an Selbstkritik bedeutet Unwillen, die Ursae~e.n des
Ubels zu beseitigen, und das ist ein Zeiehen groBer polit ischer
Schwache,Eine neue Entdeekung, die unwirksam bleibt, hat keinen Wert.
Die Belagerung ist in der Politik gegenseitig. .
Die Gegenwart enthalt die gesamte Vergangenhelt. .
Jeder Meister ist immer Schuler und jeder Schuler Meister.
Wissen ist Macht.Wenn ein Ratsel auftaueht, handelt es sieh nieht urn »uner-
kennbare« Dinge, sondern einfaeh urn unbekannte.
Die Freiheit maeht die Mensehen frei.
Intransigenz ist notwendige Folge von Charakter.
Eine Wahrheit ist fruehtbar, wenn es Anstrengung gekostet hat,
sie zu erobern.Marx hat das Vorhersehbare vorhergesehen.
Die Spaltung der mensehJiehen .Gattung kan~ nicht lange ~~-
dauern. Die Mensehheit neigt zur inneren und auBeren Verelm-
gung. . . .Wer nieht imstande ist, Hypothesen aufzustellen, wrrd me em
Wissensehaftler sein.In der Abwertung der Vergangenheit steekt eine Rechtferti-
gung der Niehtigkeit der Gegenwart. ..Das AlltagsbewuBtsein istein schreeklieher Sklavenhandler des
Geistes.
Gefiingnis
»Das Gefangnis ist eine so feine Klinge, daB sie das Denken voll-
standig zerstort.s (0., S. 1126; P. P., S. 165). Aber das Denken
kann noch sehiirfer sein und das Gefiingnis zerstoren, wenn es Ge-
sehiehte wird.45
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Gegenwar t aIs Gesch ichte
»Gegenwart als Geschichte« bedeutet nicht nur die Relativitat
und Vorlaufigkeit der Gegenwart, d. h. Kritisierbarkeit der Ge-
genwart. Eine andere Bedeutung ist die, wie sie in einem Gedan-
ken von Gramsci ausgesprochen wird: »Die Gegenwart umfaBt
die gesamte Vergangenheit.« Die Kritisierbarkeit der Gegenwart
heiSt also nicht nur »Diskutierbarkeit« und »Widerrufbarkeit«
der Gegenwait. Es bedeutet auch die Notwendigkeit, die Kritik an
der Vergangenheit in die Kritik an der Gegenwart miteinzubezie-
hen und somit die Kritik an der Gegenwart innerhalb einer umfas-senden historischen Dimension zu vertiefen. Ohne diese Dimen-
sion bleibt die Kritik an der Gegenwart partiell, inadaquat und
unaktuell. Wenn es wahr ist, daS die Geschichte die Gegenwart ist,
dann ist es ebenfalls wahr, daB die Gegenwart Geschiehte ist.
Gramsci bemerkt nochmals, daS die Gegenwart »au6er ihrer
-Uberwindung. eine Kritik an der Vergangenheit« ist (0., S. 137;P. P., S. 5)
G eist des Bruchs
Ein von Sorel abgeleiteter Begriff (0., S. 2288; R., S. 242), den
Gramsci als »fortgeschrittene Errungenschaft vom Bewu6tsein
iiber die eigene historische Personlichkeite (0., S. 333; P. P., S.
229) definiert. Bei Sorel ist dieser Geist des Bruchs der Arbeiter-
klasse aber nieht mit moralischer und asthetischer Selbstgenugtu-
ung und auch nicht mit lsolationismus belastet. 1mGegenteil, der
Geist des Bruchs »muS dahin tendieren, sich iiber die Protagoni-
stenklasse hinaus auszudehnen bis hinein in die potenziellen
B~ndn.isklassen« (ibidem). Seine Qualitat besteht in der Fahig-
kelt , die alte Welt dadurch zu zerstoren, daB ein anderer histori-
scher Block aufgebaut wird, der die neue und die vergangene Zivi-lisation und Kultur fiihrt.
46
,. ,
Geme inden
Die von Gramsci durchgefiihrte Untersuchung iiber die Ge-
schichte Italiens beleuchtet die Tatsache, daB eine der Ursachen
fiir den Verfall der Gemeinden und der versaumten rechtzeitigen
nationalen Einigung darin begrundet liegt, daS eine okonomische
Klasse (die aufsteigende Bourgeoisie) »sich keine eigenen Intel-
lektuellen schaffen und folglich zwar eine Diktatur, aber keine
Hegemonie auszuiiben verstand.« (L. C., S. 481) Daraus folgt ei-
nerseits, daB die Gemeinden auf dem Niveau »eines syndikalisti-
schen Staates« verharrten, »der nicht imstande war, diese Phase zuiiberwinden und zu einem integralen Staat zu werden, worauf Ma-
chiavelli vergeblich hingewiesen hat« (ibidem). Auf der anderen
Seite formierte sich in Italien keine national-volkstiimliche Kultur
und die italienischen Intellektuellen blieben »Kosmopoliten.,
keine nationalen Intellektuellen« (0., S. 133).
Ge om e trie un d R a ftin esse
Der grolsartige Gedanke Gramscis, (0., S. 1505; M.S. , S. 144)
wonach der einfache Mensch fiihlt und der Intellektuelle weiS, so
daB das zentrale Problem eben darin besteht, die Einfachheit des
Fiihlens zur Systematik des Denkens aufsteigen und die Komple-
xitat des Wissens zur Unmittelbarkeit des Fiihlens (durch das
»Begreifen«) herabsteigen zu lassen, entwickelt auf originelle
Weise den Pascalschen »Unterschied zwischen geometrischem
Sinn und Feingefiihl« weiter. Aber Gramsci bestimmt die soziolo-
gische und damit historische Grundlage dieses Unterschieds.
Auch wenn dies ein Unterschied der »geistigen Veranlagung« ist,
ist es doch keine rein geistige Differenz. Sie kann daher nur in dem
MaSe aufgehoben werden, in dem die einfachen Menschen zu In-
tellektuellen und die Intellektuellen zuPolitikem werden. Die Po-
litik ist die Sphare des ersten Zusammentreffens zwischen Geo-
metrie und »Feingefiihl«. Das ist wesentlichfiir die Politik selbst,
die ohne »Geometrie« indie Ungradlinigkeit von Empirismus und
Instrumentalisierung verfiele und ohne »Feingefiihl« sich in rei-
nen Intellektualismus und Abstraktheit verfluchtigt. In Wahrheit
47
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'j / " "
. .
~bt .e~,~"'pin der Politik keine Geometrie ohne Feingefiihl und
' " ' ~ehl.Peingeftihl ohne Geometrie. Pascal konnte schreiben: »Es ist
seIten, daB Geometer feinsinnige Gemuter und die feinsinnigen
Gemuter Geometer sind«, denn er dachte nicht tiber Politik nach,bzw. wenn man sowill, die politische Dimension war noch nicht indas Leben eingedrungen.
Geschiehte , e thisch-pol it ische
»Die ethisch-politische Geschichte ist eine willktirliche und me-
chanische Hypostase des Moments der Hegemonie« (0.,S. 1222;
M.S., S. 233), aber das heiBt nicht, daBeine ethisch-politische Ge-
schichte nicht moglieh sei. (vgl. Katharsis). Also: die ethisch-poli-
tische Geschichte existiert nicht als Hypostase sondem als histori-
sche Funktion materieller Beziehungen. Man kann auch sagen,
daB die soziale und wirtschaftliche Geschichte notwendigerweise
zu einer ethisch-politischen Ebene aufsteigt und der historische
Materialismus eben der Versuch ist, die historische Notwendigkeit
des Obergangs von der soziokonomischen Ebene zur ethisch-poli-tischen zu erklaren.
Gesellsch~ biirgerliche
Der Ausdruck (societa civile) wird bei Gramsci nicht in derselbenBedeutung wie bei Marx verwendet (ftir den die biirgerliche Ge-
sellschaft die privatistische biirgerliche Gesellschaft ist, die in ihrer
Atomisierung und Entpolitisierung negativ betrachtet wird); son-
dem Gramsci betrachtet sie in einem weiteren Sinne, der Artiku-
lationsformen der modernen sozialen Organisation umfaBt, die
nicht bereits direkt politische sind. So ist ein positiver Gebrauch
des Begriffs moglich: z. B. wenn Gramsci von der »Reabsorbie-
runge der politischen Gesellschaft in die biirgerliche Gesellschaft
spricht, (0.,S.662; MACH., S. 115) ruckt die biirgerliche Gesell-
schaft aufgrund ihrer okonomischen, aber auch kulturellen
Merkmale der »geregeIten Gesellschaft« schon naher,
48
GeseUschaft , M assengeseUschaft
»Die Massenbildung hat die Individuen sowohl in ihrer individuel-
len Oualifikation als auch inihrer Psychologie standardisiert« (W.,
S. 1520; INT., S. 11). Nichtsdestoweniger verdammt Gramsci die
Massengesellschaft durchaus nicht. Er arbeitet vielmehr ~aftir, a~
ihr eine Massenzivilisation zu machen. Diesem Zweck dienen die
Kritik an der Trennung zwischen Regierten und Regierenden und
die Forderung zur Vereinigung von Intellektuellen und einfachen
Leuten gleicherma.Ben.
Gesel lschaft , gerege lt e
Das ist die Gesellschaft, die zur Selbstbestimmung fahig ist und
deshalb keinen politischen Staat mehr benotigt, (0.,S. 882; M. S.,
S. 92) die kommunistische Gesellschaft.
Gewalt
Marx sprach davon, daB GewaIt die Lokomotive der Geschichte
sei.Aber was ist GewaIt imSinne der Geschichte? Marx ist esauch
gewesen, der davon sprach, daB »die Waffe der Kritik allerdings
nicht die Kritik der Waften ersetzen kann, die materielle GewaItmuB gestutzt werden durch materielle Gewalt, aile in auch die
Theorie wird zur materiellen GewaIt, sobald sie die Massen er-
greift.« (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einlei-
tung, MEW 1,S. 385; Berlin (DDR), 1972) Demnach gibt es auch
eine theoretische GewaIt: genau die, die Gramsci analysiert, wenn
er den Staat nicht nur als Form der Zwangsherrschaft untersucht,
sondem auch als Fuhrung auf Basis von Konsens. Dieser Diskurs
laBtsichjedoch nicht verallgemeinem, denn die GewaIt in der Ge-
schichte ist eine gesellschafdiche Kraft, d. h., daB in der Geschichte
jedes Gewaltverhiltnis immer eine Komponente minimalen K~n-
sens' aufweist. Gramsci schreibt: »Das entscheidende Moment Je-
der Situation bildet die dauerhaft organisierte und auf lange Dauer
bereitstehende Kraft, die sich, wenn die Situation als giinstig beur-
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teilt wird, vorwartsbewegen laBt (und die Situation erweist sich
nur dann als gunstig, wenn eine so1cheKraft vorhanden ist)« (0.,
S. 1588; MACH. S., 60). Die wesentliche Starke ist also durchaus
keine reine Kraft oder Gewalt. Vielmehr ist sie die Starke, die sich
aufgrund eines langes ideellen und praktischen Biindnisses durch-
gesetzt und konsolidiert hat. Hieraus folgt ebenfalls, daBdie »giin-
stigen Situationen« sich nicht einfach mittels eines reinen Kraftak-
tes herstellen lassen. Vielmehr bilden sie sich heraus aus einem
Gesamtzusammenhang miteinander vermittelbarer Momente im
Sinne des» Konsens«. So konnen scheinbar gesicherte, mit Gewaltbeherrschte Situationen aufgrund eines Mangels an Konsens aus-
einanderbrechen, wahrend ungunstige, von einem starken Gegner
beherrschte Situationen mittels eines breiteren Konsens aufge-
brochen und verandert werden konnen. »Die starken Glieder« in
der Kette des kapitalistischen Systems z. B. (denen Lenin die
»schwachen Glieder« als die gunstigere Situation entgegensetzt),
lassen sich von den unterdrtickten Klassen schwachen, wenn es ih-
nen gelingt, die Hegemonie und den gesellschaftlichen Konsens zu
erobem. Hierin wird Gramsci zum ersten Theoretiker des Sozia-
lismus im Westen und ebenso zu einem Kritiker der Theorie der
gewaltsamen Revolution. Wie Paul Valery sagte, liegt die Schwa-
che der Gewalt darin, nur an die Gewalt zu glauben.
Gewal tenteDung1m Prinzip der Gewaltenteilung faSt sich »die gesamte liberale
Ideologie« zusammen (0., S. 752., MACH., S. 107). Dieses Prin-
zip fixiert in der Tat eine Unterscheidung der Funktionen, die die
Einheit der Macht verhindert und als Instrument fur das Primat der
Biirokratie tiber den Volkswillen fungiert. Diesem Prinzip setzt
Gramsci ein anderes entgegen: »Einheit des Staates bei Unter-
scheidung der Gewalten« (ibidem). Danach solIEinheit der Macht
die Unterscheidung von Funktionen nicht unterdrticken und letz-
tere nicht zum Primat der Burokratie absinken. Ein so1cher Staat
reprasentiert sowohl ein Maximum an Demokratie wie die Anna-
herung an den Sozialismus.
50
Gleichgiiltigkeit
Es gibt einen groSartigen Artikel des jungen Gramsci, der in »La
citta futura« vom 11. Februar 1917 mit dem Titel »Die Gleichgul-
tigen« veroffentlicht wurde. Er beginnt folgendermaBen: »Ich
hasse die Gleichgiilt igen. Ich glaube wie Friedrich Hebbel, daB
>Leben heiSt, Partei ergreifen« Menschen als so1che- auBerhalb
des Gemeinwesens - kann es nicht geben. Wer wirklich lebt, kann
nur Citoyen sein und Partei sein. Gleichgiiltigkeit ist Wille?losi~-
keit, Parasitentum, Feigheit , nicht Leben, Darum hasse ich die
Gleichgiiltigen. Gleichgiiltigkeit ist das tote Gewicht in der Ge-
schichte« (S. G., S.78). Das bedeutet jedoch nicht, daS Gleichgul-
tigkeit kein Gewicht in der Geschichte hatte. 1m Gegentei1:
»Gleichgiiltigkeit ist mit Macht in der Geschichte tatig. Sie ist pas-
siv tatig, aber sie ist tatig. Und das ist das Fatale: sie stellt das dar,
worauf man nicht zahlen kann, was die Programme durcheinan-
derbringt, die bestens aufgebauten Plane verdreht; sie ist das Bru-
tale, das sich gegen die Intelligenz auflehnt und ihr die Gurgel ab-
dreht«; wenn die Intelligenz nicht ihr eigenes Gewicht in der Ge-
schichte organisiert und fundiert.
Gr o8 e In teU e ldu eU e
Die von Gramsci in der Polemik gegenuber dem »groSen Intellek-tuellen«, fur den der »laizistische Papst« Benedetto Croce gewiS
beispielhaft ist, verwandten Ausdrticke miissen genau prazisiert
werden. Gramsci ist der erste italienische Denker, der das Herauf-
kommen einer Massengesellschaft, in der auch die Modelle der
traditionellen kulturellen Organisation einer Veranderung unter-
worfen werden, wahmimmt. In einer so gestaIteten Gesellschaft
»trifft die Funktion der groBen Intellektuellen allerdings, wenn sie
intakt bleibt, auf ein viel schwierigeres Milieu, urn sich zu behaup-
ten und zu entwicke1n: auch der groBe IntellektueUe muS sich ins
praktische Leben sturzen, ein Organisator der praktischen
Aspekte in der Kultur werden, willer die Fiihrung beibehalten; er
muS sich einer Demokratisierung unterwerfen, aktueller sein: der
Renaissancemensch ist in der modemen Welt nicht mehr moglich,
51
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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seit in immer betrachtlicherer Anzahl Massen von Menschen aktiv
und direkt an der Geschichte beteiligt sind« (0., S. 689; P. P; S.
37f). Gramsci polemisiert also gegen das Desinteresse gegenuber
der praktischen Massenorganisierung moderner Kultur und nicht
gegen den groBen Intellektuellen als solchen. Ein solches Desin-
teresse reproduziert nicht nur die fur den italienischen Intellektu-
ellen typische traditionelle Isolierung, sondern auch die Bindung
des Intellektuellen an die traditionellen Machtgipfel, wie es genau
in der Renaissance der Fall war. Gramsci kritisiert daran, wie man
weiB, die Trennung vom Yolk und gewiB nicht die »intellektuelle
GroBe«. Das muB in aller Deutlichkeit gesagt werden, auch urnunredliche Nachsicht gegenuber einer sogenannten »Massenkul-
tur« zu vermeiden oder gar gegenuber einer »Wissenschaft, die
mit den Massen gemacht wird«, die gegen die intellektuellen Kri-
terien der Wissenschaft unternommen wird.
Hegemon i e
Fur eine Theorie der Hegemonie gibt es drei wesentliche Bezugs-punkte:
1. Die Vorherrschaft einer gesellschaftlichen Gruppierung
manifestiert sich auf zwei Arten, als »Herrschaft« oder
Zwang und als »Intellektuelle und moralische Fuhrung«
oder Konsens (0., S. 2010; R., S. 87).
2. »Eine gesellschaftliche Gruppe herrscht tiber die gegneri-
schen Gruppen (...) und fuhrt die Gleichgesinnten und Ver-
biindeten.« (ibidem)
3. »Eine soziale Gruppe kann und muB bereits vor der Mach-
tergreifung fiihrend sein.« (ibidem)
Heuche le i
»Eines der deutlichsten und augentalligsten Merkmale des italie-
nischen Charakters ist die Heuchelei. Heuchelei in allen Lebens-
formen: im Familienleben, im politischen Leben, in den Geschaf-
ten«, schrieb Gramsci im »Avanti« (in der piemontesischen Aus-
52
gabe) am 5. Marz 1917 in dem Artikel »Caratteri italianie (S.G.,
S. 93). Diese italienische Heuchelei ist ziemlich bekannt, und tiber
sie ist viel von gewissen mittelmafsigen, auslandischen Kulturkrei-
sen gearbeitet worden, die in unangebrachter Weise von »Machia-
vellismus« daherschwatzten. Gerade Machiavelli scheint der erste
groBe Kritiker unserer Heuchelei zu sein, wenn man bedenkt - wie
Gramsci anmerkt - daB diese Heuchelei »in volliger Abhangigkeit
zum Mangel an Freiheit steht« und somit inerster Linie zum Man-
gel an nationaler Einheit und Unabhangigkeit, Die Schwache un-
serer politischen Freiheit liegt in dem unfreien Charakter unserer
gesellschaftlichen Beziehungen und der »polizeigefarbte Verstandin den sozialen Beziehungen driickt jedem moralischen Befrei-
ungsversuch die Luft ab« (S.G., S. 94). Es geht Gramsci also dar-
urn, die gesellschaftlichen Beziehungen zu verandern, urn den
Charakter der Italiener zu verandern. Gleichzeitig geht es darum,
der sozial-politischen Revolution ein fundiertes BewuBtsein ihrer
eigenen moralischen Werte zu vermitteln.
H is to ris ch er B lo ck
Nach Gramsci »bilden Basis und Uberbau einen shistorischen
Block- « (0.,S. 1501., M. S., S.47). Daraus folgt, daB die Abhan-
gigkeit des Uberbaus von der Basis nur logisch, nicht chronolo-
gisch ist und daB in der Realitat das eine wie das andere Momenteinen einheitlichen Organismus bilden, der nur aus Grunden der
Erkenntnis zerlegt werden kann und dessen begriffliche Zerle-
gung zum Zwecke erneuter Zusammenfiigung dieser Einheit in
der Breite all seiner Beziehungen zu geschehen hat. In dem histo-
rischen Block, wie er sich in einer gegebenen Epoche darstellt,
»sind die materiellen Krafte der Inhalt und die Ideologien die
Form«, aber diese Unterscheidung ist »rein didaktisch, denn die
materielle Gewalt ware ohne die Form nicht begreifbar und die
Ideologien eine Schrulle ohne die materiellen Krafte« (0.,S. 869;
M. S., S.59). Es geht darum, den historischen Block als Ganzes zu
erklaren und auf die Simplifizierung zu verzichten, die »Funktio-
nalitat« der Ideologien gegentiber den materiellen Kraften zu de-
nunzieren.
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H is to ris ch er M a te ria tismus
Eine wesentliche Bestimmung Gramscis des historischen Materia-
Iismus lautet: »Das ist der historizisti sche Begriff von Realitat, der
sich von jegIichem Rest an Transzendenz und Theologie befreit
hat, auch in ihrer letzten spekulativen Verkorperunge (0., S.
1226; M. S., S. 238). Kritiker und Junger werden gebeten, ihr Au-
genmerk zu lenken auf die letzte spekulative Verkorperung der
Transzendenz und Theologie. Es konnte sich auch urn die klassi-
sche deutsche Philosophie handeln.
H ocbm ut der Partei
»Nichts ist lacherlicher und gefahr licher als der -Hochmut von Na-
tionen-, von der Vico spricht.« (0., S. 1732; MACH., S. 28)
Gramsci legt hier nahe, auf der einen Seite eine erkennbare
Grenze zu ziehen zwischen dem Geist der Partei oder der DiszipIin
der Partei einerseits und dem Hochmut der Partei andererseits.
Gramsci fugt sogar hinzu, daB der Hochmut der Partei »schlimmer
ist als die Aufgeblasenheit von Nationen ( . .. ), weil eine Nation
ganz einfach existiert. Aufgrund der Tatsache, daB sie existiert,
wird es immer moglieh sein - und sei es nur mit gutem Willen und
unter Heranziehung von Zeugnissen - zu belegen, daB ihre Exi-
stenz voller GroSe und Bedeutung ist. Die Partei dagegen kann
nicht aus eigener Kraft bestehen« (0., S. 1734., MACH., S. 30).
Und er folgert daraus: »Es gilt, dem >Hochmut< der Partei mit
Verachtung zu begegnen und die Selbstherrlichkeit durch kon-
krete Tatsachen zu ersetzen. Wer umgekehrt konkrete Tatsachen
durch Hochmut ersetzt oder eine PoIi tik der SelbstherrIichkeit be-
treibt, ist gewiB geringer Ernsthaftigkeit zu verdachtigen« (0., S.
1735., MACH., S. 31). Man beachte bitte, wie wenig an» Volunta-
rismus« bei Gramsci zu finden ist!
54
J .
I
Hypos ta se (We se ns ve rk ehnmg )
Es gibt nicht nur die Hypostase im Sinne der VerdingIichung des
Geistigen, sondern auch im Sinne der Personifizierung des Mate-
riellen: »Die -Vergott lichung- der Materie im vulgaren Materia-
Iismus ist auch eine Form von -Hypostase. « (0., S. 451). Und da
die Hypostase eine »willkiirliche Abstraktion« darstellt (ibidem)
besteht das Problem darin,historische Abstraktionen zu entwick-
len, eingebettet in eine klar gegIiederte Untersuchung des Basis-
Uberbau-Verhaltnisses. Kurz, es handelt sich darum, in den Ge-
schichtswissenschaften die Abstraktionen von Hypostasen in Hy-pothesen umzuwandeln, wie das in den Naturwissenschaften ge-
schieht.
Ideologie
»Man sollte -die Ideologies, die Doktrin nicht als etwas Kunstli-
ches und mechanisch Ubergestulptes verstehen (wie ein Kleid auf
der Haut, anstatt wie die Haut, die ganz organisch aus dem Innern
des biologisch-lebenden Korpers geschaffen wird), sondern sie ist
historisch zu begreifen« (0., S. 337; MACH., S. 409). Was die
Ideologietheorie betrifft, ist Gramscis Position also der zu seiner
Zeit gangigen entgegengesetzt, die sparer von Stalin in seiner be-
riihmten Behauptung »der Uberbau wird deshalb auf der Basis er-
richtet, urn ihr zu dienen « (Marxismus und Fragen der Sprachwis-
senschaft) theoretisiert werden wird, gerade so, als handle es sich
urn ein mechanisches oder gar intentionales Verhaltnis. Gramsci
hingegen reagiert mit seiner Ideologiekritik auf die Tendenz, die
die Analyse von Ideologie (und Kultur) auf die Untersuchung ih-
res soziologischen Aquivalents reduziert (eine Tendenz, die eine
gewisse marxistische Stromung in zweideutige Obereinstimmung
mit der »Wissenssoziologi~« treibt). Gramsci nimmt in der Tat an,
daB »Ideologien alles andere sind, als Illusionen und Schein« (0.,
436). DaB Ideologie sich als falsches Bewu8tsein« herausstellen
kann, schIie8t keinerlei Wahrnehmungstauschung ein und ist im
wesentlichen kein psychologisches Faktum, sondern ein sozusagen
theoretisches Faktum, namlich der Mangelhaftigkeit intellektuel-
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ler Fundierung der Erfahrung. Ideologiekritik sollte deswegen al-
les andere als »Denunziation« sein, sie muB zu einer immanenten
(theoretisehen) Kritik werden, die in der Lage ist, die historisehen
Wurzeln der Begriffe voneinander zu unterseheiden. In diesem
Sinne ist »Ideologie = wissensehaftliche Hypothese« (0., S. 507)
sofern die Theorie dureh die reale Entwicklung der Gesehiehte
verifizierbar ist und verifiziert (oder kritisiert) wird.
.Ignoranz
»Die Bourgeois konnen selbst in der allergro6ten Mehrheit unge-
bildet sein: die biirgerliehe Welt lauft dennoeh weiter. Sie ist so
eingeriehtet, daB eine Minderheit von Intellektuellen, Wissen-
sehaftlern und Akademikern ausreieht, urn die Geschafte weiter-
laufen zu lassen. Ignoranz ist auSerdem ein Privileg der Bourgeoi-
sie genauso wie das dolce far niente und die Denkfaulheit. ( . .. )
Die Bourgeois diirfen aueh ungebildet sein, die Proletarier nieht.
Fur Proletarier ist es eine Pflieht, nieht ungebildet zu sein ... «(S. G., S. 72 f)
Individua6smus
»Individualismus ist blofes animalisehes Unpolitiseh-Sein.« (0.,
S. 1755; MACH., S.24) d. h. vulgarer, maskierter Konformismus;denn mensehenwiirdige Politik ist Solidaritat und Gesellschaft-liehkeit. .
Individuum
Das Individuum »ist aueh der Sehnittpunkt seiner Lebensbedin-
gungen« (0.,S. 1337; M. S., S. 41)Auch, niehtnur. Denn das In-
dividuum, sei es nun gesellschaftlieh bestimmt, ist durehaus Indi-viduum. Das sollte festgehalten werden!
56
InteUektueUe
Die Analyse des Intellektuellen von Gramsci ist viel zueinseitig als
rein soziologisehe Analyse verstanden worden: als Analyse der so-
zialen Rolle der Intellektuellen. Das ist jedoeh nur eine Seite der
Analyse Gramscis. Sie mu6 verkniipft werden mit der Analyse, die
Gramsci iiber das intellektuelle Moment in Politik und Gesehiehte
entwickelt, was wohl den umfassendsten und aueh relevantesten
Aspekt darstellt. Es ist zwar riehtig, daB Grams~ die.Intelle~.tue.l-
len als soziale Sehieht bestimmt, aber der Begriff wird bestandig
mit der Zielriehtung erweitert, jede eindeutige soziale Grenzzie-
hung zu verlieren. So sehreibt Gramsci, daB »~nter In~ellekt~ellen
nieht nur die im allgemeinen mit dieser Bezeichnung intendierten
Sehiehten zu verstehen sind, sondern allgemein die gesamte so-
ziale Sehieht, die organisatorisehe Funktionen im weiteren Sinne
ausiiben« (0., S. 2041; R., S. 124). Wie bekannt, laBt sieh an an-
derer Stelle lesen, daB »alle Mensehen Intellektuelle sind« (0., S.
1516; INT. S. 7). Hier wird offenkundig nieht nur auf eine gesell-
sehaftliehe Sehieht verwiesen, sondern auf die intellektuelle Ta-
tigkeit als solehe. Gramsci selbst prazisiert, daB »nie~t aile Men-
sehen eine intellektuelle Funktion in der Gesellschaft innehaben«,
in dem Sinne, daB sieh historiseh »spezifisehe Kategorie~ zur Aus-
iibung intellektueller Funktionen« (ibidem) herausbilden. Es
seheint klar, daB zwischen der Funktion der Intellektuell~n und der
intellektuellen Funktion untersehieden werden mu8: zwischen ge-sellschaftlieher Kategorie, die bestimmt ist dureh Arbeitsteilung
und dem, was die typisch intellektuelle Tatigkeit ausmaeht, nam-
lieh Kultur als »allgemeine Arbeit« (Marx). Darum bemerkt
Gramsci: »Diese Untersuehung iiber die Gesehichte der Intellek-
tuellen wird keinen ssoziologischenc Charakter haben, sondern
AnlaB geben ftir eine Reihe von Aufsatzen zur Kulturgesehiehte
und der Geschichte der politischen Wissenschaften« (0., S. 1515;
INT., S.6). Entlang dieser Linie arbeitet Gramsci. die ~ktiv~Ro!le
der Kultur in der Geschichte wieder auf und bleibt nicht 10WIS-
senssoziologie oder in soziologiseher Erklarung des Intellektuel-
len als Funktionar des Oberbaus verhaftet. Hiermit erobert
Gramsci in der marxistisehen Tradition, die lange Zeit von sozio-
logischem Reduktionismus beherrscht war, eine tatsachlich theo-
retisehe Dimension von Kultur zuruck.
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Italien
Bei Gramsci findet sich die erste klar umrissene und umfassende
Analyse der italienischen Geschichte als Geschichte eines origina-
ren Zusammenhangs von verfriihter und verspaterer Entwicklung.
Italien reprasentiert in der Tat diese absolut einzigartige Wider-
spriichIichkeit in der modernen Geschichte: es ist das Land, das
mit der gro8ten Verfruhung elementare Formen der biirgerIichen
Gesellschaft herausbildet (protokapitalismus im wirtschaftlichen
Bereich, experimentelle Wissenschaft, polit ische Theorie, lustiz,
laizistisches Denken, Nationalsprache, gehobene Literatur, mo-derne Malerei, moderne Musik, fortgeschrittene okonomische
Techniken) und ist trotzdem (mit Deutschland) das Land, das mit
der gropten Verspdtung seine biirgerliche Entwicklung abschIie8t,
das Land, das erst 1861 die Einigung auf der Ebene eines Natio-
nalstaates erlangt. Gramsci gibt auSergewohnliche Anregungen,
urn diese Schere der ungleichzeitigen Entwicklung des modernen
Italiens zu beurteilen. Er erkennt vor allem, daB diese Schere so-
wohl Ursache als auch Auswirkung der Beschranktheit der itaIie-
nischen Bourgeoisie ist und weist darum auf die Notwendigkeit
hin, jegliche schematische Korrelation zwischen Basis und Uber-
bau zu durchbrechen und die konkrete Dynamik der einzeInen hi-
storischen Blocke zu iiberpriifen. »Die ital ienische Bourgeoisie
des MittelaIters wuBte nicht aus der korporativen Phase herauszu-
kommen, urn in die politische einzusteigen« (0., S. 658; MACH.,
S. 111), so daB nach dem Scheitern der Bestrebungen im 16.1ahr-
hundert die Geschichte Italiens in politischer Dekadenz, unfahig
ein breit angelegtes und kraftvolles Konzept zu m Ausdruck zu
bringen, und in kulturellem Kosmopolitismus versackte. Die Poli-
tik 100te sich somit von jegIichem geistigen U niversalismus und die
Kultur von jeglicher politischer Verankerung abo In der Politik
und im moralischen Leben wurde Italien das Opfer eines »Parti-
kularismus ala Giucciardini* und in der KuItur verfoIgte es einen
kosmopolitischen Universalismus, der sehr bald zu Abstraktheit
und Rhetorik degenerierte. Die Intellektuellen losten sich immer
mehr von historischer, politischer Konkretheit und die Politiker
• vgl, die Note unter dem Stichwortpartikular (Anm. d. Red.)
58
von allgemeingiiltigen Idealen. Aber so wenig schicksalsbestimmt
die Trennung zwischen Intellektuellen und den einfachen Leuten
auf der Ebene der Theorie ist, so wenig ist es auch die Spaltung in
»geistlich« und »weltlich« in der Geschichte Italiens (0., S. 690;
P.P., S. 39); unter der Voraussetzung, daB das kuIturelle kosmo-
politische BewuBtsein nicht nur ein negatives Phanom~n bleibt,
wenn es mit den Grenzen, die der gegenwartige NatIonalstaat
aufweist, konfrontiert ist und vorausgesetzt, daB sich in der ita lie-
nischen Politik eine tragende Kraft finden lieBe, die sich von der
Bourgeoisie unterscheidet. Das ist das moderne Proletariat, des-
sen Internationalismus sich mit der universe lien italienischen Tra-
dition neu verbindet : »Eine europaische Funktion innezuhaben,
das ist das Merkmal des italienischen -Geni ese vom 15. lahrhun-
dert bis zur franzosischen Revolution« (0., S. 360; INT., S. 75),
»die italienische Tradition lebt dialektisch im arbeitenden Volk
weiter«, »das italienische Volk hat -nationak das gro8te Interesse
an einer modernen Form kosmopolitischen BewuBtseins« (0., S.
1988; R., S. 83), »die >Mission<des italienischen Volkes besteht in
der Wiederaufnahme des romischen und mittelalterlichen kosmo-
politischen Denkens, aber in seiner modernsten und fortg~schrit-
tensten Form« (0., S. 1898; ibidem). Die zur Verallgemeinerung
drangende Form unserer Kultur kann sich heute an einem politi-
schen Trager festmachen, der sie zu einem wirklich nationale.n
Bindeglied machte, wahrend der Internationalismus der Arbei-
terldasse immer mehr das Bediirfnis nach einem kulturellen Hin-tergrund als Ausdruck eigenen, modernen kosmopolitischen
Denkens verspiirt. Aus diesem Grunde kann die Frage, »mu8 P ? -litische Bewegung, die zur nationalen Einheit und zur Herausbil-
dung des italienischen Staates fiihrte, notwendigerweise im Natio-
nalismus und militaristischen Imperialismus miinden?« (0., S.
1987; R., S. 82) mit nein beantwortet werden. Mit Gramsci laBt
sich durchaus sagen, da8 »dieser Ausgang anachronistisch und
unhistorisch ist« (ibidem) und er kann und mu8 durch einen sozia-
listischen Entwicklungsweg ersetzt werden.
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Italien, das verlorene
Man weiB, wie genau Gramsci den staatIichen EinigungsprozeB
von Nationen und insbesondere den der italienischen Einigung
beobachtet hat. Es ist ebenso bekannt, daB Gramsci die Unfahig-
keit der poIitischen Krafte (die der Bourgeois sowie die des Vol-
kes) des Risorgimento kritisierte, die Einigung unter Beteiligung
der Volksmassen zu vollziehen. Die Einigung Italiens hat sich sehr
spat vollzogm, erst als sich bereits wichtiges substaatIiches Erbe
angehauft hatte und sie von oben, ohne allgemeinen und authenti-
schen Antrieb vonseiten des Volkes, verwirklicht wurde. FolgendeFrage scheint von daher legitim und auch verallgemeinerbar: »Hat
der itaIienische Einheitsstaat wahrend seiner Herausbildung die
poIitisch-kulturellen Funktionen als -Erbe. tibernommen, die die
vorherigen Kleinstaaten eingefuhn hatten oder hat es unter die-
sem Gesichtspunkt schwere Verluste gegeben?« (0., S. 1661;
RS., S. 85) Gramsci gibt auch einige Beispiele unter besonderer
Berticksichtigung der internationalen Beziehungen, wenn er
schreibt: »Es ist z. B. offensichtIich, daB die Beziehung Piemonts
(mit dem Konigreich Savoyen) zu Frankreich etwas anderes war
als die Beziehung ItaIiens (ohne das Konigreich Savoyen und Niz-
za) zu Frankreich; dasselbe wird auch von der Schweiz und der
S~ellung Genfs gesagt; ebenso ftir das Konigreich Neapel. Der
EmfluB des NeapoIitanischen im ostlichen Mittelmeerraum die
Beziehungen mit RuBland und England waren andere als die itali-
e~s« (ibidem; R, S. 85 f). Aber die Beobachtung laBt sich, sagten
wir, verallgemeinern. Die »diplomatische« und »savoyische« Ei-
nigung ItaIiens hat auf der einen Seite einen breiten Antrieb zur
Vereinheitlichung vonseiten des Volkes verhindert (man bedenke
nur die nach der Einigung aufgetretenen Schwierigkeiten mit den
sprachIichen Problemen) und auf der anderen Seite hat diese
Form der Einigung eine ganze Reihe kultureller Momente des na-
tiona len »Erbes« fiir »unbrauchbar« erklart, Was ist von den gro-
Ben Traditionen des »Miizenatentums« der kleinen Hofe in das
»Vermogen« der itaIienischen Nation eingegangen? Wurden sie
nicht von der miIitaristischen »Kultur« Savoyens tiberrollt? Was
ist von der guten osterreichischen Verwaltung in der Lombardei
und im Veneto oder nur von der Verwaltung der Loreana im na-
60
tionalen Denken iibrig geblieben? Wo ist die »orientalische« Tra-
dition Venedigs geblieben? Was ist aus der europaischen intellek-
tuellen Tradition Mailands geworden? Urbino, Parma, Mantova,
Modena gehorten lange Zeit zum florentinischen Kapital: was ist
von dem politischen Geist, der die bedeutenden ktinstlerischen
und kulturellen Traditionen befruchtet hat, zurtickerobert wor-
den?
Jakobinismus
Gramsci ubernimmt den Begriff des Jakobinismus im ubertrage-
nen Sinne. Er bezeichnet damit einen »politisch energischen, reso-
luten und fanatischen Menschen, weil er auf fanatische Art und
Weise von der wundertatigen Tugendhaftigkeit seiner Ideen tiber-
zeugt ist« (0., S. 2017; R, S. 93). In dieser Bedeutung betont der
Begriff des Jakobinismus »die destruktiven Elemente, die ihre Ur-
sache im HaB gegentiber Feinden und Gegnern haben, mehr als
die konstruktiven, die daher rtihren, sich die Forderungen der
Massen zueigen gemacht zu haben; das sektiererische Elemen~,
die Geheimbiindelei der kleinen Gruppe, den ungebremsten Indi-
vidualismus mehr als das nationalpolitische Elements (ibidem; R,
S. S. 93f). In diesem Sin ist der Jakobinismus das Merkmal. einer
Form von Politik, die sich in allen politischen Bewegungen wieder-
findet. Er kennzeichnet eine Politik, die an der Verwandlung vonRegierten in Regierende kein Interesse hat. Er ist das verborgene
Gesicht der Politik als Befehl: die von Demagogie umhtillte Ver-
achtung der Volksmassen.
Katharsis
Der grundlegende Beitrag Gramscis zur marxistischen Kultur-
theorie kann in dem zusammengefaBt werden, was er als »Kathar-
sis« definiert. Katharsis verweist auf »den Ubergang vom rein
okonomischen (oder egoistisch-Ieidenschaftlichen) Moment zum
ethisch-politischen, d. h. die hohere Verarbeitung der Basisstruk-
tur zur Uberbaustruktur, die sich im Bewu8tsein der Menschen
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vollzieht.« (0.,S. 1244; M.S., S. 48) Nach der primaren methodi-
schen Operation einer Reduktion auf das Okonomische schlagt
~ram~Cl. emeut das groBe Problem des» Wiederaufsteigens« auf
die gelstlg-kulturelle Ebene vor. So hort der historische Materia-
lismus auf, an die Stelle des Geistigen bloB das Okonomische an
die Stelle von Philologie nur die Anatomie zu setzen und wird'so-
mit zur historisch-materialistischen Rekonstruktion der Kultur und
der Oberbauten. Die Epoche des Reduktionismus nimmt so ein
~nde: »Man wird wohl kaum sagen konnen, daB die Haut (oder
el?e Art. geschic~tlich vorherrschender physischer Schonheit)
reme IlluslOnen seien und nur das Skelett und die Anatomie Reali-tat besaBen. Trotzdem hat man lange Zeit Ahnliches behauptet«
(0., S. 1321; M.S. S.294). Es wird auf konstruktive Weise und
damit definitiv belegt, daB »die Philosophie der Praxis die
ethisch-politische Geschichte nicht ausschlieBt« (0., S. 1208;
M.S., S.217). »Die ethisch-politische Geschichte« sieht heute al-
~erdings nicht mehr ab »von dem Konzept des historischen Blocks
10 welchem soziookonomischer Inhalt und ethisch-poli tisch~
Form konkret zusammenflieBen, wenn man die verschiedenen hi-
storischen Epochen rekonstruiert. (0., S. 1237; M.S., S. 250)
Kausalitiit
Gramsci sieht den Unterschied zwischen dem »aufgeklarten All-
tagsbewuBtsein« (»buon senso«) und der »Folklore« »nicht nur in
der Tatsa~he, .d~ das AlltagsbewuBtsein (senso comune) _ sei es
auch nur implizit - das Kausalitatsprinzip zur Anwendung bringt
sondem in der viel beschrankteren Tatsache, daB namlich das All~
tagsbewuBtsein die richtige Ursache iiber eine Reihe von Ein-
schatzungen ermittelt«. (0., S. 1334; M.S., S. 29) Ein systemati-
s~her Ge?anke stellt sich ein als ein scireper causas: und verliertsich als em scire per fines."
• lat . Wissen tiber Ursachen . - Anm. d. Red.
.. lat. Wissen tiber Zwecke. - Anm. d. Red.
62
f'
Klassen
Die Klassentypologie Gramscis geht weit iiber die traditionelle
hinaus, die lediglich die herrschende und die unterdriickte Klasse
gegeniiberstellt. Eine Klasse aber kann nach Gramsci herr-
schend-ftihrend, herrschend-nichtftihrend, oder »regierend« (0.,
S. 1358) sein, beherrscht-untergeordnet und beherrscht-fuhrend.
Konfonnismus
Die btirgerliche Gesellschaft ist durch einen Individualismus ge-
kennzeichnet, der sich aufgrund der chaotischen Beziehungen in
passive Unterordnung der Masse unter die groBen Individualita-
ten (okonomische, politische, intellektuelle) verkehrt: »Die Ten-
denz zum Konformismus ist in der gegenwartigen Welt verbreite-
ter und tiefergehender als in der Vergangenheit: die Standardisie-
rung von Denk - und Handlungsweisen erreicht nationale oder so-
gar kontinentale AusmaBe« (0., S. 862; MACH., S. 185f). Mehr
noch als in der Vergangenheit zeigt sich heute die Notwendigkeit
des kritischen Geistes in der Kultur.
Korporativismus
.. .ist das verengte Verstandnis, das jede soziale Klasse kenn-
zeichnet, die sich als unfahig erweist, sich dem Problem einer all-
gemeinen Entwicklungsrichtung der Gesellschaft zu stellen. Der
Korporativismus der btirgerlichen Klasse besteht in der Unfahig-
keit, die Anspriiche der Arbeiterklasse zu begreifen. Der Korpo-
rativismus der Arbeiterklasse ist der Operaismus."
• Eine auf die Betriebsperspektive und die Interessen der Fabrikarbeiter be-
schriinkte Arbeiterpolitik. - Anm. d. Red.
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KorruptionlBetrug
Korruption/Betrug ist »kennzeichnend fiir bestimmte Situatio-
nen, in denen es schwierig ist, eine Hegemonialfunktion auszuu-
ben, und ein Kraftakt zuviele Gefahren mit sich bringt« (0., S.59;
MACH., S. 129). Gramsci betrachtet KorruptioniBetrug als
»Entnervung und Lahmung des Gegenspielers oder der Gegen-
spieler, die mit der normalerweise stattfindenden Amterjagd der
Fuhrungskrafte verkntipft ist, oder im Faile drohender Gefahr
ganz offen stattfindet, urn Unruhe und Unordnung in den Reihender Gegenspieler zu stiften«. Aber Gramsci kannte noch nicht
jene zellformige Art der Korruption oder Massenbetrug, die viele
christdemokratische Regierungen nach dem Zweiten Weltkrieg
kennzeichnete.
KosmopoHt ische s Bewu8t se in
Die verspatete nationale Einigung Italiens hat der italienischen
Kultur eine kosmopolitische Orientierung gegeben, mit der sie be-
reits aufgrund ihrer doppelten Tradition, namlich der romi schen
und der katholisch -mittelalterlichen belastet war. Aber dieses kul-
turelle kosmopolitische Bewu6tsein bedeutete ebenfalls eine ge-
ringe Anfalligkei; fur nationalistischen Fetischismus, so daB »das
italienische Yolk dasjenige ist, das sich -nationak gegenuber demInternationalismus am interessiertesten zeigte (0., S. 1190), inso-
fern »der Nationalismus in der italienischen Geschichte ein ana-
chronistischer Auswuchs darstellte (ibidem). Allgemeiner gespro-
chen heiSt das, daB »>dieKulture tiber viele Jahrhunderte hinweg
die einzige -nationale. Au6erungsform Italiens gewesen ist« (0.,
S. 1361). »Zur Zeit des Romischen Imperiums und wahrend des
Mittelalters erduldete Italien auf Grund seiner -kosmopol inschen.
Funktion auf passive Weise die internationalen Beziehungene
(0., S. 589; R., S. 159), obwohl, von einem kultureUen Gesichts-
punkt aus betrachtet, »ltalien tiber viele lahrhunderte eine inter-
national-europaische Funktion innehatte e (0., S. 360; INT., S.
74). Darum also geht Gramsci davon aus, daB auf der einen Seite
»das italienische, kosmopolitische Bewu8tsein nur Internationa-
64
~
lismus werden kanne (0., S. 1190), d. h. Sozialismus und auf der
anderen der Sozialismus sich in Ita lien als Internationalismus in
eine bestimmte nationale Kulturtradition einfiigt.
Krise
Es gibt eine ausgezeichnete Definition Gramscis tiber die Krise:
»Die Krise besteht darin, ( . .. ) daBdas Alte abstirbt und das Neue
noch nicht entstehen kann« (0., S. 311f; P.P., S.48). Das ist eine
Definition die eine ganze Kulturtheorie umfaBt, d. h. eine klar
umrissene'Theorie der Basis-Oberbau-Beziehungen. Sie hat in
der Tat viele Bedeutungen:1. Die herrschende Klasse hat den Konsens verloren, bewahrt
aber noch ihre Macht. Wenn sie auch nicht mehr »fiihrend«
ist ist sie trotzdem sherrschend«.2. Die beherrschte Klasse hat zwar noch nicht die Macht er-
obert, aber bereits den Konsens: wenn sie auch noch nicht die
»herrschende« Klasse ist, ist sie trotzdem bereits die »fUhren-
dec.3. Die Dialektik zwischen Herrschenden und Beherrschten
bleibt nicht auf ein reines Kratteverhaltnis beschrankt, son-
dern kommt in dem Verhaltnis von Macht und Konsens zum
Ausdruck.
4 Die durch Konsensverlust bedingte Erosion der Macht kann. zur Offnung fur historischen Fortschri tt fUhren, vermittelt
tiber den neuen Konsens.5. Die soziale Gewalt stellte immer ein Gemisch aus e tho s und
cratos (Gewohnheit und Macht - red. Anm.) dar. Die Krise
bedingt, daB dieses Gemisch auseinanderfiillt und sich nicht
wieder neu zusammensetzt.6. Wenn das Alte abstirbt und das Neue nicht entstehen kann,
halten sich sowohl das Alte wie das Neue ohne Kultur, oder
besser: auf einer kulturellen Grundlage, die homer mehr zu
»Skeptizismus gegentiber allen Theorien, zu Allgemeinfor-
meln und zu r Nutzanwendung des rein okonomischen Faktors
(Verdienst usw.) und der Politike fuhrt, d. h. die »R~dukti~n
der am meisten entwic1celten Oberbaustrukturen auf jene, die
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der Basis angehoren« (0., S. 312; P.P., S. 49).
7. Obwohl das Neue noch nicht die Oberhand gewonnen hat,
kann es bereits »die Fiihrung iibemehmen«: es ist im Besitz
einer historisch »fertigen« Kultur, die - im Gegensatz zur al-
ten Kultur - zu den fortgeschrittensten Oberbaustrukturenaufsteigen kann.
B . In der alten Kultur ist also ein pragmatischer Reduktionismus
wirksam, der sie jeglicher Allgemeingiiltigkeit entleert (daher
auch def Konsensverlust), was mit der »Zersetzung« eines
breiten Teils der bestehenden kulturellen Struktur einher-
geht. Demgegeniiber wird die neue Kultur sich von Reduk-tionismus und Pragmatismus befreien und in die von der alten
Kultur hinterlassenen Leerstellen eindringen, indem sie sogarderen Fiihrungskrafte iibemimmt.
9. Allerdings gibt es keine »zwei Kuhuren« (wie Lenin an-
nimmt), sondem ledigIich eine Kultur, deren Fiihrungskrafte
und InhaIte im Verlauf des Geschichtsprozesses verschiede-nen sozialen Klassen entstammen.
10. Das AusmaB der historischen Reife einer gesellschaftIichen
~asse erweist sich gerade an der Fahigkeit, eine allgemeine,
nicht reduktionistische und nicht korporativistische Kulturaufzubauen.
11. DaB eine Klasse ihre Interessen also als allgemeine Interessen
prasentisn, hat durchaus nicht die »betriigerische« Bedeu-
tung, die ihr immer beigemessen worden ist. Es handelt sich
vielmehr urn eine reale, historische Fahigkeit, zur geschichtli-
chen Allgemeinheit aufzusteigen, indem die »herrschenden'
Ideen« der Epoche ausgearbeitet werden.
Kultur , europ iiis che
... ist »die einzige historisch und konkret aUgemeine« (0., S.
1825.;M.S., S. 128). Daraus ergeben sich folgende Probleme:
1. Eine Klasse kann eine allgemeine Kultur hervorbringen.
2. I~ demselben weltgeschichtlichen Zusammenhang bringen
nicht aIle Klassen eine allgemeine Kuhur hervor.
3. Die Beziehung der Klassen untereinander verzeichnet also
66
I
, j
,
,,
eine historisch allgemeine Komponente, die sie mit der Tradi-
tion des Landes und den einzelnen Regionen verbindet.
4. Wenn das wahr ist, laBt sich daraus schlieBen, daB die groBte
Starke der europaischen Bourgeoisie darin besteht, daB es ihr
noch immer geIingt, sich gegeniiber der Arbeiterbewegung die
eigene universe lie Kulturtradition (selbst wenn sie sie zu rheto-
rischen und akademisch-formalistischen Zwecken umfunktio-
niert) und die relative Ungebildetheit der Arbeiterbewegung
(Okonomismus, Korporativismus, Operaismus) zunutze zu
machen.
5. Das bedeutet allerdings auch, daB sich in Europa das Krafte-
verhaltnis Bourgeoisie-Arbeiterklasse aufgrund veranderter
(hoherer) inteUektueller und kultureller Fuhrungsqualitat in-
nerhalb der Arbeiterbewegung andern kann, aus der Fahigkeit
der Arbeiterbewegung heraus, die universelle europaische
Kultur »zu erben« und sie zu integrieren in den eigenen gesell-
schaftspolitischen IntemationaIismus.
6. Der Sozialismus kann also in dieser Krisenepoche die europa-
ische Kultur unterstiitzen und erweitem und diese universe lie
Kultur den SoziaIismus unterstii tzen und ausdehnen auf das
Niveau einer neuen hegemonialen Befahigung zur geschichtli-
chen Fiihrung.
KulturtheorieDer allgemeinen Ideologietheorie, der Lukacs und Mannheim
dann eine zweideutige Soziologie des BewuBtseins aufgepfropft
haben, stellt Gramsci die Grundziige einer klaren Kulturtheorie
entgegen, die folgendermaBen zusammengefaBt werden kann:
Auf Massenebene herrscht in der Gesellschaft eine spon tane Ph i-
losophie vor, die sich inSprache , Re l ig ion , Fo lklore und dem darin
enthaltenenAlltagsbewuptsein oder der philosophischen Folklore
ausdriickt (0., S. 1375 u, 1311; M.S., S. 3; L.V.N., S. 268). Auf
dem Hohepunkt dieser Erfassung (der Welt, A.d.O.), die noch
subaltern bleibt, wird das aufgeklarte AlltagsbewuBtsein ausgear-
beitet, dessen Ziel es ist , »die Durchschnittsmeinung zu veran-
dem«; es fiihrt allerdings immer noch bloBneue Allgemeinplatze
67
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ein. (0., S. 2270; INT., S. 183). Auf diesem Niveau interveniert
eine erste Phase vonpolitischem Bewuptsein (0., S. 1385; M.S., S.
13), das in korporativem BewuBtsein zum Ausdruck kommt oder
als KJassenbewuBtsein, das noch von ideologischem Sektierertum
do~iniert is t und deshalb noch okonomisch-defensiv oder negativ
~1~lbt (O.,~. 323; P.P., S. 17). Erstdann wird das Niveau eines po-
smven, nattonalen und hegemonialen BewuBtseins erreieht. Von
dieser politischen Ebene aus, die mit dem AlltagsbewuBtsein ver-
bunden ist (0., S. 1383; M.S., S. 11), geht man tiber zur hoherenoder systematischen Philosophie (ibidem).
Gerade die Herausarbeitung dieses Zusammenhangs erlaubt esGramsci, die Unzulanglichkeu sowohl einer reinen Ideenkritik
die das propagandistische Moment der Ideenformationen vergifst,
als auch der reinen praktischen oder politischen Verdrangung der
Herrschaft von Ideologie zu begreifen. Er erkennt sowohl die
Wichtigkeit einer immanenten und theoretischen Kritik als auch
die einer historisch-gesellschaftlichen Verdrangung von Ideologi-en.
KutscherOiege*
Das ist »jedes Individuum, das von einem kollektiven Willen ab-
sieht und nicht versucht, ihn mitzuschaffen, ihn anzuregen, ihn
auszuweiten, zu verstarken und ihn zu organisieren« (0.,S. 1663;
MACH., S. 170). Es ist derjenige, der von sich selbst zu sehr ein-
genommen ist und darum aus der Logik der Geschiehte als »ein •
-unbewaffneter Prophet., ein schwaches Licht« (ibidem) hervor-gehen wird.
• meint etwa: Wichtigtuer, Besscrwisser (Anm, d. Red.)
L · ·1Z1sten
~rams~.ist viel leicht der einzige modeme Denker, dem es gelingt,
die pohttschen und kulturellen Traditionen des Laizismus in Ita-
lien zu kritisieren. In der Tat hatte sich die zeitgenossische Kultur
des gee in ten Italiens daran gewohnt, sich auf der Kritik an der Ide-
6 8
rikalen Tradition und auch auf dem Alibi einer versaumten Re-
formation in Italien auszuruhen. DaB es sich hierbei urn eine
reichhaltige Kritik handelt, steht auser Zweifel. Hingegen ist es
ein groBer Irrtum zu glauben, daB sie fiir eine Bewertung der
grundsatzlichen Grenzen in unserer Kultur und Politik erschop-
fend ware. Ein ahnliches UrteiI bildet aber auch die Grundlage ei-
nes gewissen selbstzufriedenen Denkens von »Laizisten«. An sie
richte t sich also zu recht dieser Vorwurf Gramscis: »Die Laizisten
sind an ihrer historischen Aufgabe als Erzieher und BiIdner von
Intellektualitat und moralischem BewuBtsein des Volkes und der
Nation gescheitert. Sie konnten die intellektuellen Bediirfnisse
des Volkes nicht zufriedenstellen: eben weil sie keine laizistische
Kultur reprasentierten und weiI sie keinen modemen Humanis-
mus auszuarbeiten wuBten; einen, der imstande - wie es vom na-
tionalen Standpunkt aus notwendig - gewesen ware, sich bis in die
rohesten und ungebildetsten Schichten hinein zu verbreiten; und
weiI sie an einer antiquierten, kleinlichen, abstrakten, viel zu indi-
vidualistischen oder in Kasten eingeteilten Welt festhielten« (0.,
S. 2118f; L.V.N., S 130). Gramsci fugt hinzu: »Selbst wenn die
Laizisten gescheitert sind, hatten die Katholiken keinen groBeren
Erfolg« (0., S. 2119; ibidem). Das ist naturlich kein Trost. Hier-
aus leitet sich vielmehr die Notwendigkeit eines kulturellen Auf-
baus und autonomer Arbeiterpol itik ab, die das schafft, was Laizi-
sten und Katholiken nicht imstande waren zu tun; und es durchzu-
fuhren vermag, gerade weil sie das historische Verdienst sowohlder einen wie der anderen zu wiirdigen weill.
Leb ewesen , po 6tisches
Auch Gramsci »wiederholt« den Satz des Aristoteles, daB der
Mensch ein politisches Lebewesen sei. Die Begriindung ist jedoch
mit der Aristotelischen nieht vergleiehbar. Politisches BewuBtsein
und Verhalten haben fur Aristoteles die ausschlieBliche Bedeu-
tung naturlich-passiver Gesellschaftlichkeit, naturgegebene »Be-
stimmung« in dem Sinne, daB »wer von Natur aus auBerhalb der
staatlichen Gemeinschaft lebt ( . .. ) entweder ein AusgestoBener
ist oder tiber den Menschen steht« und »isoliert ist wie eine
6 9
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Schachfigur vom Wiirfelspiel«. Doch selbst wenn aile Menschen
gesellschaftlich integriert sind, sind nur wenige citoyens, d. h. ak-
tive politische Lebewesen: Menschen imwahrsten Sinne des Wo _
tes. Aile anderen bleiben de facto Sklaven, Nicht-Menschen. Ft r
Gramsci hingegen ist der Mensch wesentlich politisch, denn »d e
Tatigkeit bewuBter Veranderung und Fiihrung anderer Mensch n
realisiert seine -Menschlichken., seine >menschliche Natur-e ( .,
S. 1338; M.S., S. 42). Zwischen diesen beiden Auffassungen Ii gt
die allgemeine christIich-biirgerliche Einlosung (geistig-ide 11-
rechtlich) des Menschen alsdem Sohn des Vaters und als Subi kt.
Und femer gibt es den neuen, historisch-materialistischen Gedan-ken: hiemach ist der Mensch »ein >historischer Block- rein indivi-
dueller, subjektiver und objektiver oder materieller Elemente und
Massenelemente, mit denen das Individuum eine aktive Bezie-
hung unterhalt«. In der Tat wird nun die Subjektivitat oder prakti-
sche Inferioritat des anderen zumeiner theoretischen Grenze und
meine Expansion als Subjekt bedarf der Befreiung aus der prakti-
schen Subjektivitat der anderen. So wie Gramsci sagt: »Die Au-
8enwelt, also die allgemeinen Beziehungen zu verandern bedeu-
tet, das eigene Selbst zu starken, sich selbst zu entfalten« (ibidem).
Wenn bei Aristoteles politisches Verhalten ledigIich passive und
»naturalistische« GesellschaftIichkeit war so fiihrte diese Auffas-
sung in der Modeme zu einem Sprung indie Abstraktheit ethisch-
rechtlicher Gleichheit. Marxisten wie Gramsci gingen noch einen
Schritt weiter bis zur Eroberung konkreter Allgemeinheit. Der
Mensch aber muB, eben aufgrund seines Daseins als personliches
Individuum, das allgemeine Verhaltnis verandern, so daB die all- •
gemeinen Verhaltnisse weder passive, natiirIiche Au8erIichkeit ,noch abstrakte, geistige Subjektivitat bleiben: sie werden allge-
meine Verhaltnisse subjektiver Au8erIichkeit, entwickeln sich zur
Vermittlung zwischen Individuum und Gattung und zwischen gei-
stiger Haltung und konkretem Dasein.
Lenin
Gramscis Bewunderung gegenuber Lenin ist groB. In ibm erkennt
er den ketzerischen Marxisten, der »gegen das Kapital die Revolu-
70
tion« macht, Konnte man sagen, daB Gramsci ein ketzerischer Le-
ninist ist, der die Revolution gegen »Staat und Revolution« macht?
Liberal i smus
»Die gesamte liberale Ideologie mit ihren Vorziigen und Schwa-
chen last sich in dem Prinzip der Gewaltenteilung zusammen fas-
sen; und es tritt das inErscheinung, was die Ursache der Schwache
des Liberalismus sein konnte: Sie liegt in der Biirokratie, in der
Erstarrung des die Gewalt ausubenden Fuhrungspersonals, das abeinem bestimmten Punkt zur Kaste wird. Daher die vom Volk er-
hobene Forderung nach der Wahlbarkeit aller Amter, eine Forde-
rung, die extremen Liberalismus und gleichzeitig seine Auflosung
ausdriickt.« (0., S. 752; MACH. S. 107) Zusatz: 1.Der Libera-
lismus hat nicht nur »Schwachen«, sondem auch »Stiirken«. 2.
Gerade durch die Entwicklung einer dieser Starken bis zum Ex-
trem, d. h. die allgemeine Wahlbarkeit der Amter, kann der Libe-
ralismus in Richtung auf den Sozialismus iiberwunden werden. 3.
Urn den LiberaIismus zu iiberwinden, muBder Sozialismus die Bii-
rokratie iiberwinden, d. h. die Erstarrung der personlichen Fiih-
rung. 4. Der Sozialismus siegt, wenn er die Demokratie maximal
entfaltet und vor allem, wenn er sie dann aufrecht erhalt.
Lorianismus
»Das ist die Mentalitat, die gekennzeichnet ist durch -Uneinheit-
lichkeite, durch Fehlen von historischem, systematischem Denken,
durch Nachlassigkeit in der Durchfiihrung wissenschaftlicher Ar-
beiten, durch Fehlen kultureller ZentraIisierung, durch ethische
Verweichlichung und Nachgiebigkeit im Bereich wissenschaft-
lich-kultureller Tatigkeit usw.« (0., S. 2321; INT., S. 215). Wenn
auch die Bezeichnung von dem Namen des Italieners Achille Loria
abgeleitet ist, so ist der Lorianismus nicht ausschlieBIich ein itaIie-
nisches Phanomen: »Jede Nation hat den ihren« (0., S. 2325;
INT., S. 219). Es verwundert also nicht, daB er zwar existiert, ihm
aber nicht immer kritisch »Einhalt geboten« wird, urn ihn anzu-
71
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feehten (0.,S. 2326; INT., S. 220). Als Vertreter des Lorianismus
fuhrt Gramsci Enrico Ferri, Alberto Lombroso, Arturo Labriola,
Filippo Turati, Guglielmo Ferrero, Luigi Einaudi, Paolo Orano
und andere an. Doeh soUteman berueksiehtigen, daB Gramsei inden 30er Jahren sehrieb.
LuftschJoB-Imperialismus
So definierte Gramsci (0.,S. 45) den italienisehen Imperialismus
und beurteilt ihn folgendermaBen: »dem itaIienisehen Imperia-
Iismus fehIte eine reale Basis, die durch >Leidensehaftliehkeit< er-
setzt wurde. Italien hatte nieht nur kein Kapital zu exportieren,
sondem muBte fur die ureigensten Bedurfnisse auf ausIandisches
Kapital zurUekgreifen.« Und somit exportierte es Rhetorik; und
naturlich aueh die anderen elenden Methoden eines jeden Impe-
rialismus: Terror, UnterdrUekung, Too. Der italienisehe Imperia-
lismus war also nieht nur ein Sehurken-Imperialismus, wie Lenin
ihn bezeiehnete, sondem aueh ein MOchtegem-Imperialismus.
Mi innlid te Vorhe rrscha ft
Mit der Feststellung, daB »die -Vorherrschan des Mannes. nur in
gewissem Sinne mit der Herrsehaft einer Klasse vergliehen werden
kann« (0.,S. 302) steUt Gramsci das bekannte Urteil Engels rich-tig, wonaeh der Mann die Frau beherrsehe wie der Kapitalist denProletarier.
»Karl Marx ist fur uns ein Meister in geistiger Lebenstiitigkeit und
nieht der FUhrer mit der Rute«. (S.G., S. 220). Aus diesem Grun-
de, selbst wenn »Marx intellektueU ein historisches Zeitalter ein-
leitet, das wahrseheinlieh Jahrhunderte andauert, d. h. bis zum
Versehwinden der politischen Gesellschaft und zum Beginn der
selbstbestimmten Gesellschafre (0., S. 882; M.S., S.92), dart man
72
ruhig sagen, daB »auch er manehmal schlief«. (S.G., S. 328).
Marxismus
»Der Marxismus hatte zwei Aufgaben: erstens modeme Ideolo-
gien in ihren differenziertesten Formen zu bekampfen und die
Volksmassen aufzuklaren, deren kuIturelles Niveau mittelalter-
lieh war.« (0.,S. 422) Wahrend einer ganzen Epoehe aber hat der
Stalinismus diese beiden Aufgaben entstellt, indem er den Mar-
xismus zur Kritik an den krudesten der modemen Ideologien undzur Verherrliehung folkloristiseher MassenkuItur veranlaBte.
Aber aueh bei Lenin wurde die KuIturtheorie dureh die Idee in
Frage gestellt, daB der biirgerliehen Kultur eine .so~alisti~e~e
(volkstumliche) KuItur entgegenzusetzen sei. In Wirklichkeit ist
die burgerliehe KuItur auf der einen Seite deswegen nieht einfaeh
Klassenkultur, aueh nieht in beschrankten Aspekten, weil sie in
der Lage ist, einheitliehe (in der Wissensehaft) und allgemeine
Komponenten (in Kunst, Philosophie usw.) zum Ausdru~k ~u
bringen, aueh historiseh allgemeine. Und auf der anderen Seite ist
sozialistisehe Kultur kein instinktmaBiges Produkt der subalter-
nen Klassen, sondem intellektuelle Verarbeitung, die rationaler
VermittIung und kultureller Kontinuitat bedarf. Der »Bruch« er-
eignet sieh imwesentliehen dadureh, daB die neue Kultur an ein~m
materialistischen Modell (dem Marxismus als Gesellschaftswis-
senschaft) und an einem politischen Modell (der sozialistisehen
Befreiung) ankniipft. Es besteht also eine grundlegende Einheit
der Kultur als Form intellektueller Produktion. Als »gesellschaft-
liehe Funktion (Resultat einer Geschiehte und eines gesellschaftli-
chen Prozesses zu sein) unterseheidet sieh die neue Kultur auf-
grund dessen, daB sie die Einheit von gesellschaftlieher Theo~e
und Praxis thematisiert und theoretisiert; denn die Unterschei-
dung der Aufgaben zur gesellschaftliehen Transf~rm.ation bild~t
sie ebenso aus der eigenen Beurteilung der Geschichte heraus wie
die neuen sozialpolitischen Protagonisten. Diese interessiert al-
lerdings das bestehende kulturelle (subaIteme) Niveau durehaus
nieht, imGegenteil, die neue KuItur kampft darum »die volkstum-
liehe >Mentalitat<zu verandern« (0.,S. 1330; M.S., S. 30), indem
73
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sie iiber die Folklore und das AlltagsbewuBtsein hinausgehend
eine systematisch-wissenschaftliche Sichtweise der Welt entfaltet.
Sich als gesellschaftliche Funktion zu erfahren, bedeutet durchaus
nicht, die intellektuellen Strukturen der neuen Kultur herabzuset-zen.
Maximal ismus
»Der Maximalismus ist eine fatale und mechanische Konzeptionder Marxschen Doktrin« (C.P.C., S. 248).
Musik
In Italien, bemerkt Gramsci, ist die Literatur nie popular gewesen,
sondem die Musik. Und »die italienische Musik ist in Europa
ebenso popularwie in Italien« (0., S.807; L.V.N., S.80). 1mZu-
sammenhang mit dieser Feststellung entwirft Gramsci eine wich-
tige Argumentation und fragt sich: »warum die kiinstlerische ita-
lienische >Demokratie<zu einem musikalischen, aber nicht -litera-
rischen. Ausdruck gefunden hat« (0., S. 1136; L.V.N., S. 82).
Entwickelt man einige Andeutungen Gramscis weiter, liiBt sich
eventuell feststellen, daB die Trennung zwischen Kultur und Poli-
tik, wie sie sich aufgrund der versaumten nationalen Einigung in
Italien hergestellt hat, den italienischen »Genius« in die von derPolitik entfemtesten kulturellen Bereiche getrieben hat: die Male-
rei und vor allem die Musik. In diesen Bereichen hat es somit eine
standige kulturelle Bliite gegeben, die Italien zur »Erganzung aller
anderen Lander ( ... )« werden lieS und zur »Schopferin von
Schonheit und Kultur in ganz Europa« (0., S. 118; INT., S. 50).
Diese intellektuells »Konzentration« hat auf der anderen Seite
besonders der Musik erlaubt, zu einer originaren Fusion zwischen
kosmopolitischer Universalitat und national-volkstiimlicher Er-
oberung zu gelangen: »Verdi, Puccini, Mascagni (... ) haben keine
Entsprechungen in der Literatur« (0., S. 2253; L.V.N., S. 101).
All das hat die kiinstlerische »Berufung« der Italiener gefestigt.
Unter bestimmten Gesichtspunkten ist sie zu einer Art altemati-
74
vern Betatigungsfeld (und sogar zu einem Alibi) fiir die politi~chen
Niederlagen geworden. Dennoch bleibt die italienische MUSlkg~-
schichte eine Avantgarde in der Weltkultur ohne emste Anzei-
chen von Dekadenz, und sie konstituiert vielleicht im Verlauf der
Jahrhunderte die einzig homogene Linie in der Entwicklung der
nationalen Kultur: Palestrina, Moteverdi, Frescobaldi, Corelli,
Scarlatti Stradella, Vivaldi, Tartini, Viotti, Paganini, Clementi,
Pergole:i, Boccherini, Paisiello, Ciamarosa, Rossini, Donizzetti,
Bellini, Verdi, Puccini, Mascagni.
Nationalismus
Die versaumte Konstituierung einer rechtzeitigen nationalen Ein-
heit und einer national-volkstiimlichen Kultur hat nun das Entste-
hen eines italienischen Nationalismus durchaus nicht verhindert:
»Das ist eine nur selten gemachte Beobachtung, daB in Italien ne-
ben dem kosmopolitischen BewuStsein und dem oberflachlichen
Anti-Patriotismus immer ein ziigelloser Chauvinismus bestanden
hat der ankniipfte an den Romischen Ruhm, den Seefahrerrepu-
bliken und der personlichen Bliite von Kiinstlem und Literaten
und Wissenschaftlem von Weltruf« (0., S. 181; MACH., S. 269).
So kam es daB der italienische Nationalismus seine Basis in der
Verherrlichung universeller und kosmopolitischer Traditionen ge-
funden hat; denn der »kulturelle Nationalismus« ist »vielleicht dieeinzige Form von Chauvinismus in Italien« (0., S. 1202; P.P:, S.
16). Aber offenbar konnte ein nationalistischer Gebra~ch el~er
solchen universellen Tradition nichts anderes als rhetonsch sem.
Auf der anderen Seite muSte er sich als widerspriichlich erweisen.
Darum nimmt Gramsci an, daB der Nationalismus (Faschismus)
nicht das fatale Ende der Geschichte Italiens sei, sondem im Ge-
genteil , daS die universelle Tradition Italiens in ein »modemes
kosmopolitisches BewuStsein« der Arbeiterbewegung (0., S.
1987; R., S. 82f) einmiinden konne,
75
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National-volkst i imlich
Die Interpretation des Begriffs national-volkstiirnlicher Kultur ist
inder Vergangenheit deformiert worden, sei es durch die Arbeiten
gewisser Junger, wie durch die Arbeiten gewisser Kritiker Grams-
cis. Auf beiden Seiten hat der Begriff des national-volkstiimlichen
auf unzulassige Weise - um ihn zu verherrl ichen oder zu verdam-
men - ein spontaneistisches Moment aufgenommen, das in Wirk-
lichkeit das hisiorische Uberbleibsel von Unterdriickung und kul-
tureller Minderwertigkeit der subaltemen Klassen ist. Eigentlich
handelt es sich um ein plebejisches und d. h. untergeordnetes
Moment, bar jeder historischen Fuhrungsqualitat oder hegemo-
nialer Fahigkeit. Das hat nichts mit einer national-volkstiimlichen
Kultur zu tun, d. h. einer, die laut Gramsci imstande ist, einem hi-
storischen Block Ausdruck zu verleihen und ihn anzufiihren. Nie-
mand, so scheint mir, hat bemerkt, daB wenn Gramsci Beispiele
national-volkstiimlicher Kultur angefiihrt hat, er keine Folklore,
keine Sprichworter oder imDialekt geschriebene Poesie zitiert hat
(wie das gewisse Jiinger oder Kritiker glauben konnten), sondern
nichts weniger als die griechischen Tragodiendichter und Shake-
speare. Gramsci schreibt: »Volkstumliche Literatur im schlechte-
sten Sinne (wie Sue und seine Gefolgschaft) ist eine politisch-
kommerzielle Degenerierung der national-volkstiimlichen Litera-
tur, deren Modelle eben die griechischen Tragodiendichter und
Shakespeare sinde (0., S. 1137; L.V.N., S. 83).
Nomadentum
~~gibt auch ein politisches Nomadentum. Es kennzeichnet die po-
litischen Gruppen, die sich aus »Freiwilligen« und »Verrucktene
zusammensetzen, die keine »sozialen, homogenen Blocke« repra-
sentieren (0., S. 1624; R., S. 249) und sichihnen gegeniiber nicht
verantwortlich fiihlen. Sie arbeiten wie »Zigeunerlager und No-
maden der Politik« (ibidem), als »Avantgarden, ohne unterstiit-
zende Armee«. Sie sind »Pseudo-Aristokratene (0., S. 1676; R.,
S. 250), die zwischen nihilistischer Subversion und Machtkult
schwanken, »um ihre Zigeunerherrschaft zu verewigen« (ibidem).
76
Oft iz iersarmee
In Bezug auf die poli tische Partei schrieb Gramsci, daB »es viel
einfacher ist, eine Armee aufzubauen als Offiziere herauszubil-
den« (0., S. 1733 f; MACH., S. 29). Aber Gramsci beabsichtigte
sicher nicht zu behaupten, daB es in der modernen Welt darum
gehe, keine Armee, aber Offiziere zu schaffen. Vielmehr wollte er
zum Ausdruck bringen, daB das Hauptproblem in der Politik darin
besteht, eine Armee aufzubauen, d ie in d er L ag e ist, sich Offiziere
zu schaffen, also eine Massenpartei dazu zu befahigen, Kader aus-
zubilden.Die Formulierung »eine Offiziersarmee« scheint mir sehr ge-
eignet zu sein, um einige Punkte in der Parteitheorie Gramscis zu
beleuchten.Eine »Offiziersarmee« ist keine Armee, insofem sie nicht hier-
archisch gegliedert ist. Das »MiBverhaltnis« zwischen Kadem und
Massen ist nur vorlaufig und muB bekampft werden. Die »Nivel-
lierung« zwischen Kadern und Masse wird gefordert und dennoch
ist auch sie als solche immer nur provisorisch; denn die »Offiziere«
sollen die standige Expansion der »Armee«, d. h. die »Anwer-
bung« neuer Massen vorantreiben. Die »Offiziersarmee« hat ge-
rade die AuflOsung der »Armee« zum Ziel, d. h. die allgemeine
Homogenisierung der Massen auch auBerhalb der Partei, um die
Partei selbst und ihre Kader iiberfliissig zu machen.
Es wird deutlich, daB fiir Gramsci die wesentliche Frage in der
Parteitheorie die der Auflosung der Trennung zwischen Kader
und Masse ist, ebenso wie in der gesamten polit ischen Theorie es
ibm um die Auflosung der Scheidung in Regierte und Regierende
geht. Wahrend aile anderen Parteitheorien das Problem der politi-
schen Fuhrung aus dem Schema des organisatorischen Aufbaus
schlieBen, entwickelt die Theorie Gramscis sich in die entgegenge-
setzte Richtung: er fiihrt das Problem des organisatorischen Auf-
baus auf das der allgemeinen politischen Fuhrung zuriick.
Mit genialer Originali tat entwirft Gramsci somit die Theorie
von der »Nicht-Autonomie« der politischen Organisation, die in
der Forschung nun der historisch-theoretischen Erkenntnis unter-
geordnet wird; d. h.untergeordnet unter die Erarbeitung theoreti-
scher Fragestellungen, wie sie eine historische Situation aufwirft
77
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und unter Entwicklung funktionaler Antworten: eine historische
Theorie von Politik.
SchlieBlich resuItiert das Verhaltnis Kader-Masse in der Theo-
rie von Gramsci vor allem aus dem allgemeinen Verhaltnis Regier-
te- Regierende (so daB die Parteitheorie mit der Staatstheorie zu-
sammentallt) und dem Verhaltnis der Intellektuellen zu der einfa-
chen Masse. Die politische Theorie wird also zum Ausdruck einer
Padagogik und einer Kulturtheorie und letztendlich zu einer ein-
heitlichen Gesellschaftswissenschaft, die imstande ist, zu einer
Analyse der Trennung von KuItur und Arbeit, von Politik undOkonomie vorzudringen, urn dann ein Programm zur praktischen
Verdrangung dieser Antinomien vorzuschlagen.
Partei
»Sie ist eine staatIiche Struktur im Werden« (0., S. 320; P.P., S.
76), d. h. »ein potenzieller Staat«, ein Embryo, der sich in der
HillIe der sozialen Interessen einer K1asseentwickeIt, von denen
sie sich dann fortlaufend unterscheidet oder sogar in dem MaBe
loslost, wie die Partei sich als umfassendes fiihrendes Zentrum der
Gesellschaft setzen will. Darum, »wenn es wahr ist, daB die Par-
teien nichts als die Nomenklatur der Klassen sind, ist es ebenfalls
wahr, daB die Parteien kein mechanischer und passiver Ausdruck
dieser selben Klassen sind, sondern energisch auf diese einwirken,urn sie weiterzuentwickeIn, sie zu starken und zu verallgemeinern«
(0., S. 387; P.P., S.78). Dieser Passus von Gramsci ist noch nicht
geniigend analysiert worden, und man hat sich im allgemeinen
darauf beschrankt, die Bestimmung der Parteien als »Nomenkla-
tur der Klassen« zu unterstreichen. In Wirklichkeit wirft Gramsci
eine ziemlich klare und feingliedrige Problematik auf. SchlieBlich
ist zu beachten, daB fur Gramsci sich auch die Klassen weiterent-
wickeIn, starken und verallgemeinern, und das sollte sowohl in der
historischen wie in ihrer theoretischen Dimension bewertet wer-
den, d. h. sowohl beziiglich ihrer zeitbedingten Varianten wie auch
ihrer kultureUen Entwicklung. Dementsprechend soll ten dann
auch die Merkmale der von der politischen Partei erreichten Stufe
erkannt werden; wenn die Partei zunachst ein »intra-uterines Le-
78
ben« lebt , d. h. in den Grenzen der unmittelbaren sozial-okono-
mischen Interessen der Klasse, so iiberwindet sie dann die korpo-
rative Phase und tritt inein »extra-uterines Leben« ein, wo sie die
Formen allgemeiner Fiihrung ausarbeitet, die die K1assestarken
und verallgemeinern. In diesem ProzeB durchlauft die politische
Partei verschiedene Funktionen, von nebensachlichen und rein
praktischen bis hin zu immer autonomeren, fortgeschritteneren
und verfeinerten Funktionen. Darum ist sie tatig als »Schmelztie-
gel zur VereinheitIichung von Theorie und Praxis, verstanden aIs
realgeschichtIicher ProzeB« (0., S. 1387; M.S., S. 15).
Partei sis FDter
So lieBe sich die moderne revolution are Partei defmieren, die in
einer fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft tatig ist. Sie
arbeitet als historischer Experimentator von Weltanschauungen
und gleichzeitig als theoretische Auslese der Massen und folglich
als »Schmelztiegel zur VereinheitIichung von Theorie und Praxis,
verstanden als realgeschichtIicher ProzeB« (0., S. 1387; M.S., S.
15). So beendet Gramsci die alte Polemik, wie sie in der marxisti-
schen Tradition zwischen den Theoretikern der Partei als Avant-
garde und den Theoretikern der Partei als Teil der K1assegefuhrt
worden ist. Die Partei als Fil ter ist in der Tat sowohl Avantgarde
wie auch Teil der Masse, in dem MaBe, wie sie historische Avant-garde einerseits und theoretisch qualifizierter Teil der Masse an-
dererseits ist.Die Parteitheorie verweist somit auf die Theorie von
dem Verhaltnis Regierte-Regierende und dem Verhaltnis der In-
tellektuellen zu einfachen Menschen, flir deren Losung Gramsci
als technisches Funktionsmodell die Verfolgung eines unerhorten
Ziels voraussieht: die Aufhebung dieses verhaltnisses, d. h. das
Ende sowohl der Trennung in poli tische und gesellschaftl iche
Sphare als auch der geselIschaftIichen Teilung von Arbeit und
Kultur.
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Parte i, r evo lu ti on ire Partikular
Eine allgemeine Theorie der modemen revolutionaren Partei
sollte imstande sein, zwei grundlegende Forderungen miteinander
zu vermitteln. Die erste wurde von Marx mit folgenden Worten
zum Ausdruck gebracht: »In ihrem Kampf gegen die vereinte
Macht der besitzenden Klassen kann das Proletariat nur dann als
Klasse agieren, wenn es sich ineiner selbstandigen politischen Par-
tei organisiert, die sich allen anderen, von den besitzenden Klassen
gegriindeten Parteien entgegenstellt.« In diesem Sinn wird die
Partei zum Ausdruck der Klasse, Klassenpartei im engeren Sinne.Man konnte mit Lenin sagen, daB »in einer auf Klassenteilung ba-
sierenden Gesellschaft der Kampf zwischen den Klassen unab-
wendbar ab einer bestimmten Entwicklungsphase in politischen
Kampf umschlagt.« Also »der koharenteste und vollstandigste
Ausdruck des Klassenkampfes ist der Kampf unter den Parteien.«
Die zweite Forderung ist vor allem von Gramsci formuliert wor-
den, der den hegemonischen Anspruch der Arbeiterklasse und ih-
rer Partei gegeniiber der ganzen Gesellschaft theoretisiert.
Gramsci schreibt: »In der modemen Welt ist die Partei erst dann
im vollen Umfang eine solche - und nicht, wie es vorkommt, die
Fraktion einer grofse ren Partei - wenn sie so geplant, organisiert
und gefiihrt wird, daB sie sich zu einem Staat (einem integralen
Staat undnicht einer technisch zuverstehenden Regierung) und zu
einer Weltanschauung entfalten kann« (0., S. 1947; MACH., S.183).
Auf diesem Hintergrund entfaltet die KJassenpartei, unter
Vermittlung ihrer kulturellen Hegemonie, eine tendenzielle
»Neueroberung« der Gesellschaft, von der sie jetzt getrennt ist.
Einerseits verwandelt sich die Partei also vom poliuschen Aw-
d ru ck d er K la sse in d en p olitis ch en T ra ger d er K la sse, und anderer-
seits wird ihr autonomistischer und separatistischer Kampf auf
dieser neuen Grundlage einigender und sogar wiedervereinigen-der Kampf.
Man konnte sogar sagen, daB das ganze Werk Gramscis darauf
zielt, der Bewunderung des »Partikularen« oder dem »modemen
Guicciardismus" vieler Intellektueller, denen es so scheint, als rei-
che es aus > : z u reden- « (0.,S.1261; M.S.,S.313), eine Niederlage
zu verpassen. Vor solchen Hoben breitet sich dann der Sumpf aus,
der in aile Richtungen die »Erinnerung« Guicciardinis wiederholt:
»Schenkt denjenigen keinen Glauben, die so wirkungsvoll die
Freiheit predigen, denn fast aile, nein, vielleicht jeder hat partiku-
lare Interessen zum Gegenstand«. Aber Gramsci schlagt nicht vor,
weder diese »italienische Krankheit« noch den Aktivismus, das
»Machen um des Machens willen«, noch die immer egozentrischer
werdenden, moralischen Verdrehungen zu verbessem. Er Macht
vielmehr - wie man weiB- den Vorschlag einer intellektuellen und
moralischen Revolution, die sich mit einer politischen Revolution
koordinieren laBt, eine politische Revolution, die sofort auch in-
tellektuelle und moralische Revolution sein kann. Damit meint er
nicht, die politische Revolution bis zur Beendigung der Unterwei-
sung der Italiener aufzuschieben (wie das jeder Reformist vor-
schlagt), noch stellt er den Anspruch, die moralische Revolution
nur deshalb zu unterdriicken, weil das dringiichere Problem der
politischen Revolutionierung anstehe (wie das implizit jeder Ma-
ximalist suggeriert). Gramsci wahlt den komplexeren und lange-
ren Weg. Denn er weiB, daB imVerlauf der langen Geschichte derItaliener keine Abkiirzungen mogl ich sind.
Es ist zu bemerken, daB diese Entwicklung von der revolutionaren
Arbeiterpartei vor allem in der Ubergangsphase vom »Bewe-
gungskrieg« zum »Stellungskrieg« vollzogen wird, d. h. in der
durch die politische Demokratie vermittelten sozialen Ubergangs-
zeit. In diesem Fall nimmt die Klassenpartei auf einer soziologi-
• Francesco Guicciardini, 1483-1540; entstammte einer alten florentinischen
Kaufmannsfamilie; Rechtswissenschaftler, tiitig in der Politik, Zeitgenosse Ma-
chiavellis. Hinterlie8 vor allem historische Schriften, sein umfassendstes Werk ist
:oStoria d'Italiae,
Die Aufmerksamkeit, die er den :oPartikularenc widmet, entwickelt sich aus
der Reflexion tiber die allgemeine Anschauung: sobald sie entsteht, wird der Ent-
husiasmus unmittelbar durch das Partikulare gebremst, den groBen Planen stellt
sich somit die bittere Einsicht inderen Vergiinglichkeit entgegen. (Anm. d. Red.)
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schen Ebene expansive Gestalt an (daher die Beschuldigung von
interklassistischem Revisonismus), und ist imstande, politisch und
kulturell das gesellschaftlich Charakteristische der verschiedenen
sozialen Schichten, die mit der Arbeiterklasse verbunden sind,
herauszuarbeiten und zu verandern. In gewissem Sinne mag es
richtig sein, daB die Partei von einem »Agenten des Konflikts« zu
einem »Agenten sozialer und politischer Integration« wird, wie
das zeitgenossische Soziologen bestatigen. Aber nur insofem die
Partei eine soziale Integration, die an ein allgemeines und radika-
les Obergangsprogramm der Gesellschaft und des Staates gebun-
den ist, vorzuschlagen weill, d. h. sich auf eine sozusagen klassen-
maBige oder konfliktgeladene Interpretation der burgerlichen
Gesellschaft griindet. Aufgrund der »Konfliktgeladenheit« der
Partei kann diese sich nicht mehr als Sekte absondem und ihre
»Integrations«-Funktion nicht durch die Unterordnung unter den
Status quo losen, Gerade als Klassenpartei reprasentiert die revo-
lutionare Partei die Klasse als »Staatsgriinderin«, als Agent zur
allgemeinen Emanzipation und leitet ihr Handeln in diese Rich-
tung.
Auch in diesem Sinne laBtsich sagen, daB die Partei zum kol-
lektiven Intellektuellen der Klasse wird. Erst auf dieser Entwick-
lungsstufe ist die okonomisch-korporative Phase des Klassen-
kampfes wirklich tiberwunden. Nun erst ist das Geftige des neuen
Staates fertig, das im Faile des insurrektionalen Obergangs zum
Sozialismus nicht vorher, sondem hinterher aufgebaut werdenmuBte.Doch an diesem Punkt ist jede eindeutige Trennung zwi-
schen vorher und nachher aufgehoben. Der insurrektionale Staat
wird in Bezug auf seine allgemeine Fuhrungsfahigkeit in der Tat
verdrangt und hat sich so auf nur eine Partei reduziert, wahrend
die Partei, die als »Staatsgriinderin« auftritt, aufgrund ihrer all-
gemeinen Fuhrungsfahigkeit zum Staat geworden ist. Zum Staat
fehlt ihr jetzt nur noch das Moment der Zwangsgewalt. Allerdings
ist es ziemlich schwierig aufzuzeigen, daB der Ubergang vom In-
nehaben des Konsens binzum Besitz der Gewalt wesentlich kom-
plizierter ist als der Obergang vom Besitz der Macht hin zum Be-
sitz des Konsens.
All das beweist u. a., daB die Partei nach Gramsci keine Defor-
mation der Klassenpartei zu einer Catch-all-Partei darstellt, son-
dem ihre Transformation vom negativen Protagonisten zum posi-
tiven Protagonisten des modemen politischen Lebens.
P essim ismus - Op tim ismus
»Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens«
(0.,S.1131; P.P.,S.8): der Zweifel als Norm des Denkens, das
Vertrauen als Norm des Handelns.
Phl losoph , wirk l id tke it snaher
Da laut Gramsci »sich jeder verandert, sichwandelt in dem Ma8e,
wie sich der gesamte Bezugsrahmen andert und wandelt, inner-
halb dessen er den Schnittpunkt von Beziehungen bildet«, »ist er
wirklichkeitsnaher Philosoph und kann nicht anders als politisch
sein, d. h. ein aktiver Mensch, der seine Umwelt verandert«
(0.,S.1345; M.S.,S.34). Er ist ein Politiker, der seine Umwelt ver-
andert, urn sich selbst zu verandern, der also tiber einen Plan zur
Veranderung verftigt; d. h. ein politischer Mensch, der ebenfalls
Philosoph ist, der zum Politiker wird, urn wirklichkeitsnaher Phi-
losoph zuwerden, zum authentischen Befreier seiner selbst. Wah-
rend sich auf diese Weise jede reine Philosophie oder illusorisch-
geistige Emanzipation auflost, lost sich gieichsam jede Form tradi-tioneller Politik auf: sei esMachtpolitik, die lediglich am Befehlen
Geschmack findet, sei es Politik aus Leidenschaft, als »aufklareri-
sche Medizin der Leidenschaften« (0.,S.1308; M.S.,S.299f), sei
es die Politik aus Ergebenheit oder kirchlich-missionarische Hei-
ligsprechung des eigenen Selbst gegeniiber der Welt. Denn eigent-
lich ist Politik gerade die Vervollstandigung des Selbst in der Welt,
die Vermittlung zwischen allgemein geistiger und allgemein prak-
tischer Beziehung.
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Ph il os oph , d emokratis ch er kann. Darum erhebt er »die Frage nach der Modifizierung der
Ausbildung des politisch-technischen Personals, das seine Kultur
den neuen Notwendigkeiten entsprechend vervollstandigt, und
die Frage nach der Herausarbeitung eines neuen Typus speziali-
sierter Funktionare, die in kollegialer Zusammenarbeit die bera-
tenden Tatigkeiten erganzen« (Q.,S.1532; INT.,S.127). In einer
fortgeschrittenen Gesellschaft »braucht die Fiihrungskraft ein
Minimum an allgemeiner technischer Bildung, die es erlaubt,
wenn auch nieht autonom die richtige Losung -zu schaffen-, so
doch die von Experten vorgelegten Losungen beurteilen zu kon-
nen und sich fur die zu entscheiden, die von einem -synthetischen.
Gesichtspunkt der politischen Technik aus als die richtige er-
scheint« (Q,ibidem; INT.,S.128).
So bezeichnet Gramsci den Philosophen, der »iiberzeugt ist, daB
seine Personlichkeit sich nicht auf die eigene physische Individua-
litat beschrankt, sondem eine aktive gesellschaftliche Beziehung
im Wandel der kulturellen Umwelt ist« (Q.,S.1332; M.S.,S.32);
unter der Bedingung, daB die Umweltveranderung sowohl die Ur-
sache fiir die kulturellen Veranderungen in der Vergangenheit war
als auch dieVoraussetzung fur diejenigenin der Zukunft sein wird.
Der Philosoph ist also nicht deshalb demokratisch, weil er demo-
kratische Politik betreibt, sondem weil er demokratische Politik
theoretisiert .
PotitikPotizei
Fiir Gramsci »ist die Beziehung zwischen .hoher- Philo sophie und
AUtagsbewuBtsein durch die Politik gesichert« (Q.,Ver S. 1383;
M.S., S. 11). Und da »jede Philosophie dahin tendiert, Alltagsbe-
wuBtsein zu werden« (Q.,S.1382; ibidem), kann man ebenso gut
sagen, daB die Politik die tendenzielle Vermittlung zwischen sy-
stematischer Philosophie und AlltagsbewuBtsein darstellt; in ei-
nem doppelten Sinne, daB namlich die Politik das praktische In-
teresse als Grundlage der Politik »rationalisiert«, und daB sie in
der Praxis die Allgemeinheit der Philosophie »verkorpert«. Mit-tels Politik wird also die Praxis zu Theorie und die Theorie zu Pra-
xis. In ihr verkorpert sich als »politisches BewuBtsein das
-Selbstbfstsein-, indem Theorie und Praxis sieh schlieBlich verei-
nen« (Q.,S.1385; M.S.,S.13)
»Jedes Land hat die Polizei, die es verdient« (S.G., S.69). Wiib-
rend aile ruckstandigen Menschen denken, man miisse die Polizei
verbessem, urn das Land zu verbessern, schlagt Gramsci vor, das
Land zu verandern, wenn man die Polizei verandern will. Eine Po-
lizeireform wird durch eine Reform des Landes ermoglicht.
Revolution»Die Revolution ist kein wundertatiger Akt. Sie ist ein dialekti-
scher ProzeB in der historischen Entwieklung.« (ON.,S30) Dies ist
vielleicht keine analytische und auch nieht vollstandige Bestim-
mung der Revolution, aber es ist gewiB die weiseste.
Pollt ik aIs Leidenschaft
.. .ist die romantische Auffassung von Politik, die durch Croce
Unterstiitzung findet, aber nicht die letzte. Gramsci setzt dem die
Idee entgegen, daB Politik, insofem sie in den Klassenverhaltnis-
sen verwurzelt ist und somit im Zusammenhang objektiver, histo-
rischer Verhaltnisse steht, Gegenstand der Wissenschaft sein
Revo lu tion , ita lien is ch e
»Es handelt sich also darum, daB Reform und Renaissance gleich-
zeitig stattfinden« (q.,S.892), d. h. eine in ihrer Verbreitung
wahrhafte Volksrevolution, die dennoch eine inteUektueUe GroBe
besitzt. Dem doppelten Mangel, den die Geschichte Italiens zu
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verzeichnen hat, wird folgendermaBen zu begegnen sein: mit einer
Volksrevolution und einer intellektuellen und moralischen Revolu-
tion. Aber das Problem, mutatis mutandis, steUt sich in ganz Eu-
ropa in dem MaGe, wie die Volksrevolution noch keine inteUektu-
eUe, laizistische GroBe wie z. B. in Deutschland erreicht hat und
die inteUektueUe Revolution auf einem rein moralischen oder po-
litischen Niveau, wie in Frankreich, stehengeblieben ist. Fiir Ita-
lien steUt sich dano das Problem einer authentischen Revolution,
die in die Breite und Tiefe geht, auch als ein Problem der Festigung
der Nation. D. h. es handelt sich darum, ein Yolk tatsachlich als
Nation zu vereinigeo, dem tiber Jahrhunderte die staatliche Ein-
heit fehlte und das darum gleichzeitig eine von derPolitik getrennte
Kultur und eine von der Kultur getrennte Politik hervorbrachte:
Eine abstrakt-kosmopolitische (a-nationale) Kultur und eine eng-
stimige und korporative (nicht populare) Politik. Diese fehlende
Verbindung zwischen Kultur und Politik wurde durch die fehlende
Entwicklung der Bourgeoisie tiber ihre unmittelbaren korporati-
ven Interessen hinaus hervorgerufen. Heute aUerdings ist das poli-
tische Subjekt ein anderes (die Arbeiterklasse), das an einer Fu-
sion der Nation als solidarischer Korperschaft in Bezug auf die
fundamentalen Interessen der Werktatigen interessiert ist. Und da
diese Interessen gleichzeitig getragen sind von einem Intematio-
nalismus, gerat das neue politische Subjekt in gewisser Weise in
Einklang mit den Traditioneo einer kosmopolitischen Kultur;
diese kann heute nicht nur mit der nationalen Politik uberein-stimmen, sondem soli auch wirksam werden als kulturelle Beson-
derheit: in Form allgemeiner Wirksamkeit.
Schule
»Fiir das Proletariat ist eine interessenfreie Schule notwendig«
(S.G.,S.59): denn es braucht weniger einen Beruf als Kultur.
Selbstkritik
Man sollte nie vergessen, daB es auch eine »heuchlerische Selbst-
kritik« (Q.,S.1742) gibt. Es istalso weitaus besser, Kritik sicherzu-
stellen als zur Selbstkritik zu verpflichten.
Sek tie r er is ch e s Denken
R ote P hrasen
»Das ist die Ursache, weshalb man nicht erkennt, daB die politi-
sche Partei nicht nur die technische Organisation der Partei ist,
sondem ein umfassender gesellschaftlicher, aktiver Block, in dem
die Partei die Fuhrung als notwendiger Ausdruck ist« (Q.,S.1818;
P.P.,S.89) Gramsci unterscheidet meisterhaft die tiefe Wurzel des
politischen Sektierertums im allgemeinen und die der Arbeiter-
partei im besonderen. Das »Techninizistischee, das Gramsci an-
deutet, entwickelt sich in der Tat als biirokratischer Geist in den
Regierungsparteien und als organisatorischer Aktivismus in den
revolutionaren Parteien. So finden sich in beiden Extremen Pha-nomene wie Klientelwesen, politische Schweigeverpflichtungen,
Gtinstlingswirtschaft, routiniertes Denken und auf der anderen
Seite Phanomene wie die tendenzieUe Reduktion der Politik auf
Organisierung und Militarisierung. Noch aUgemeiner stellt sich
das sektiererische Denken als Speerspitze zur Schaffuog einer ver-
falsehten »Parteikulturc dar, die die Politik gegentiber der Kultur
und die Organisation gegentiber der Politik begiinstigt. Hierin ist
eine exklusive und charismatische Auffassuog von Macht verwur-
zeit, wenn nicht gar eine Gegenkonzeption sowohl zur Demokra-
tie wie zur Wissenschaft.
»Jeder Kommuoist soUte die revolutionare Pose und oberflachli-
che rote Phrasen verabscheuen, d. h. er sollte nicht bloB Revolu-
tionar sein, soodem auch ein Realpolitiker« (P.C.,S.67) Darum
fiihrt der politische Irrealismus zur Niederlage und die oberflachli-
che rote Phrase kano Teil antirevolutionarer Diskurse sein.
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Spekulation
Speziatist + PoHtiker
sein desselben.« (S.390) Darum also unterstreicht Gramsci -
auch wenn er dem Dialekt groBe Aufmerksamkeit widmet - die
kulturhistorische Bedeutung und Notwendigkeit zur Herausbil-
dung einer einheitlichen Nationalsprache, die auf die politische
Vereinheitlichung und das kulturelle Anwachsen einer Nation
verweist. Hinter der Verherrlichung des Dialekts (vgl. das Stich-
wort »intellektuelle Theratologie«) verbirgt sich die Idee, daB das
Yolk seine folkloristische Subkultur beibehalten miisse und nicht
zu einer umfassenden, systematischen Sichtweise der Welt auf-
steigen konne: namlich zur Kultur. Sie und auch die Sprache war-
teten nur auf die Gelehrten.
In der kapitalistischen Gesellschaft verwundert die mehr oder we-
niger verbreitete Spekulation ebensowenig wie ihre Notwendig-
keit, Regelmafsigkeit, Unaufhebbarkeit und Reproduktion. Wie
Gramsci sagt, ist es eine Tatsache, daB »die Spekulation zu einer
technischen Notwendigkeit geworden ish (Q.,S.1348;
M.S.,S.344)
Das ist die bertihmte Definition des neuen Intellektuellen
(Q.,S.1551; INT.,S.22), d. h. eines Agenten allgemeiner Tatigkei-
ten (Q.,S.1523; INT.,S.14), der aber trotzdem Trager besonderer
Kenntnisse oder von wirklichem Wissen (Marx) ist. Die Formel ist
in beiden Bedeutungen zu verstehen. Spezialist + Politiker be-
zeichnet genau den Intellektuellen, der sein spezifisches Wissen
und seinen Beruf in eine allgemeine theoretische und praktische
Tatigkeit einordnet, die die intellektuelle und soziale Trennung
der Arbeit uberspringt. Spezialist + Politiker bezeichnet den poli-
t ischen FUhrer, der seine allgemeine theoretisch-praktisehe Tatig-
keit einem spezialisierten Wissen zuordnet. Also: weder Speziali-
sten als Gefangene ihrer Spezialisierung, noch Politiker als vom
wirklichen Wissen Befreite.
Staat
Dasist »Diktatur + Hegemonie« (Q.,S.811;P.P.,S.91). Aberder
Staat ist eben nicht erst Diktatur und dann Hegemonie, sondern
»mit Zwang gepanzerte Hegemonie« (Q.,S.764; MACH.,S.164).
In der Tat wird gerade dank der Hegemonie die Herrschaft errieh-
tet. So uberwindet Gramsci den Begriff des Staates als bioSes Un-
terdrtickungsinstrument oder -maschine und auc h die Vorstellung
des Staats als nur normativ-ideeller Ordnung.
Stellungskrieg
SpracheIn der Unterscheidung zwischen Bewegungs kr ie g und S te ll ungs-
krieg (Q.,S.80lf; P.P.,S.90) ist in gewisser Weise eine Untersehei-
dung zwischen zwei verschiedenen Strategien der sozialistischen
Revolution enthalten ahnlich dem Unterschied zwischen den Stra-
tegien der gewaltsamen Initiative und des »demokratischen We-
ges«. Diese U nterscheidung verweist auf die Verschiedenartigkeit
der historischen Auspragung des Ostens und des Westens
(Q.,S.866; MACH.,S83f) und auf die verschiedenenen charakte-
ristischen Merkmale der entfalteten kapitalistischen Gesellschaft,
innerhalb derer »die sburgerliche Gesellschafte zu einer sehr kom-
plexen und gegenuber kathastrophischen Erschtitterungen unmit-
telbar okonomischer Art (Krisen, Depressionen usw.) sehr wider-
»Jede Sprache ist e ine umfassende Weltanschauung« (Q.,S.644;
R,S.25). D. h. die Sprache ist nicht auf die reine Form reduzier-
bar. Der Signifikant enthalt immer ein Signifikat und verweist so-
mit auf eine zu bezeichnende Realitat und auf eine Gemeinschaft,
die kodifiziert und dekodifiziert. Schon Marx hatte in den »Grun-
drissen« bemerkt, daB »die Ideen nicht getrennt von der Sprache
existierene (S. 80) und daB darum »die Sprache selbst ebenso das
Produkt eines Gemeinwesens (ist), wie sie in anderer Hinsicht
selbst das Dasein des Gemeinwesens, und das selbstredende Da-
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standsfahigen Struktur geworden ist«. (0. ,S.1616; MACH.,S.81).
Gramsci widerspricht somit einer Verabsolutierung der Methode
gewaltsamer Revolution und macht klar, daB auch der Stel lungs-
krieg zum Sieg fuhren kann und daB er andererseits auch ein Krieg
ist, ja sogar ein Krieg, der »enorme Opfer von unzahlbaren Bevel-
kerungsmassen« fordert und ebenso »eine unerhorte Konzentra-
tion der Hegemonie« (0.,S.802; P.P.,S.90).
Struktur
StentereUo*
Der Begriff der »Struktur« kann eine Losungsformel der »Uber-
bau«-Problematik nur unter der Bedingung sein, daB er sich selbst
innerhalb eines verifizierbaren Gegenstands auflost und nicht in
Philosophie verkehrt wird: z. B. in ein »Ntitzlichkeitsmoment des
Geistes« (Croce) oder in einen Idealtypus von Kapitalismus, der
als rein geistige, »sinnhafte« (Weber) Organisation begriffen wird.
Denn »wenn der Begriff der Struktur -spekulativ- aufgefasst wird
( . .. ), wird er sicherlich zu einem -heimlichen- Gott- « (0.,S.1226;
M.S.,S.237). Urn solche Verkehrung zu vermeiden, schlagt
Gramsci richtig vor, ihn zum Gegenstand der Philologie und nicht
der Spekulation zu machen. (ibidem). In diesem Fall wird die
Struktur als bestimmte Struktur begriffen, als eine historisch-ma-
terialistisch erkennbare Konstellation. Es ist also wahr, daB der
Marxismus »die historisierende Auffassung von Wirklichkeit ist,
die sich von jeglichem Rest an Transzendenz und Theologie, auch
in ihrer letzten spekulativen Verkorperung befreit hat«
(0.,S.1226; M.S.,S.238).
»Stenterello ist der Prototyp der italienischen Bourgeoisie, eitel,
geschwatzig, hohl, der sich nicht an die bescheidene Arbeit anpas-
sen will, aber schopferisch ist in namenloser Kollektivitat, sich
immer die Zeit vertreibt mit Gitarrespiel und die GroBtaten der
Ahnen lobpreist, von denen er nichts anderes ist als eine lastige
Laus« (S.G.,S.95). In dem historischen Milieu des Stenterello,
d. h. in der italienischen Bourgeoisie, ist es verstandlich, daB sogar
»hochste Genies ( ... ), die weltweit Ruhm und Ehre erlangten,
( . .. ) nicht das Gluck hatten, eine Schule zu begriinden« (ibidem).
»Hinter der Gruft/von Machiavel lo/ruhen die Knochen/von Sten-
terello« (G.Gusti) Subversion
• stenterello ist der florentinische Hanswurst, kreiert durch den Schauspieler
Luigi Del Buono am Ende des 18.1ahrhunder ts . (Anm. d. Red.)
Strategie und T akdk
Es ist »eine negative und keine positive Haltung der Klasse«
(0.S.323; P.P.,S.17), insofern Subversion im wesentlichen reineRebellion der Unterdriickten darstellt. Darum kann sie nicht »als
Beweis von KlassenbewuBtsein« betrachtet werden: »davon ist
kaum ein Schimmer vorhanden, sondern eben nur negative Hal-
tung und elementare Polemik. Nicht nur, daB kein richtiges Be-
wuBtsein dereigenen historischen Personlichkeit vorhanden ware,
sondern es besteht nicht einmal das BewuBtsein tiber die his tori-
sche Realitat und die genauen Grenzen des eigenen Feindes«
(0.,S.323f; ibidem). Es ist interessant festzustellen, daB der un-
menschlichste Feind der Arbeiterbewegung- der Faschismus - sie
der »Subversione beschuldigt in der unterschwelligen Hoffnung,
daB sie ihre rein negative Haltung beibehalte, d. h. elementar,
subaltern und infanti l bleibe. In der Tat verbindet sich Subversion
mit einem ungenugenden BewuBtsein tiber die nationale und fiih-
Fur Gramsci »edaBt der politische Reprasentant der Klasse ganz
intuitiv gleichzeitig die Idee und den realen Verwirklichungspro-
zeB: er vedaBt den Plan und zusammen damit die -Rege ln- zur
Durchfuhrunge. Daraus leitet sich ein Zusatz ab: »jeder gro6e Po-
litiker muB auch ein gro6er Verwalter sein, jeder gro6e Stratege
ein gro6er Taktiker, jeder gro6e Doktrinar ein groBer Organisa-
tor« (0.,S.1050; P.P.,S.5f). Aber hieraus ergibt sich ein zweiter
Zusatz: daB die Taktik abhangig ist von dec Strategie, daB die
Verwaltung der Politik untergeordnet und die Organisation ein
Ausdruckder »Doktrin« ist. Ein Taktiker, der kein Stratege ist,
wird also niemals ein gro6er Taktiker sein.
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rende Rolle der Arbeiterklasse. Sie korreliert von daher mit einem
»vagen .kcsmopolitischem Bewufstsein- « (bitte die Anfuhrungs-
zeichen beachten), was auf einen »gering entwickelten nationalen
nd staatlichen Geist im modernen Sinn hinweist« (Q. ,S.325;
.P.,S.19). Subversion und vages »kosmopolitisches BewuBtsein«
werden iiberwunden auf der Grundlage von konsolidiertem natio-
nalen BewuBtsein der Arbeiterklasse und der Ausarbeitung einer
uhrungspolitik, die.die gesamte Gesellschaft betrifft, angefangen
ei den existenziellen Interessen der Werktatigen. In dieser Politik
indet die Perspektive internationaler Solidaritat der Werktatigen
ine konkrete nationale Verwirklichung: das, was Gramsci »mo-
dernes kosmopolitisches BewuBtsein« nennt. (vgl. das entspre-
chende Stichwort)
fene Gegenposition einnehmen. Aber trotz dieser radikalen Ver-
anderungen verweist das Manuskript Gramsci immer noch auf
eine richtige Untersuchungsmethode: die suditalienische Frage ist
keine korporativistische Frage fur die Bewohner des Sudens, son-
dern die zentrale Fragestellung der italienischen Geschichte, ihrer
Zerrissenheit und Widerspriiche und kann nur durch eine allge-
meine wirtschaftliche, politische und moralische Veranderung des
Landes im Rahmen organischer Solidaritat der italienischen
Werktatigen gelost werden.
•I ·I, Talentismus
S iid it al ie n is ch e Fragej
.,·1
o
t.
Gramsci zitiert diesen Satz von Hofmannsthal: »Wir haben guten
Willen, Ernst und die Logik, was mehr ist als das verwiinschte Ta-
lent, mit dem jeder Schurke begabt ist« (Q.,S.130; P.P.,S.174).
Dieser deutsche Satz wurde fast mit italienischen Bedeutungen
von Gramsci registriert. Er spricht tatsachlich von einem »Ta-
lentismus« der Italiener als einer Deformation ihres einfaltigen In-
tellektuellen, hervorgerufen durch eine nicht national-volkstiimli-
che Kultur und Unverantwortlichkeit eines Staates. Das heiSt
nicht, daB in Italien jeder Einfaltspinsel zum Schurken wird, aber
daB der Individualismus den Charakter und die Moralitiit des Ita-
lieners untergrabt.
1mAugenblick der Verhaftung 1926liiBt Gramsci ein unvollende-
tes Manuskript liegen, das erstmals im Januar 1930 in der Zeit-
schrift »Lo stato operaio« in Paris veroffentlicht wird (vgl. auch
den Ausschnitt in diesem Band). In einem Brief vom 19.Marz
1927 an Tatjana hatte Gramsci den Aufsatz als »auBerst fluchtig
und oberflachlich« erklart. In Wirklichkeit ist es die erste klar
formulierte Analyse des suditalienischen Problems als zentrale
Fragestellung der soziokulturellen Organisation immodernen Ita-lien. Nichts oder fast nichts von dieser Analyse kann heute ange-
sichts der tiefgreifenden Veriinderungen, die Italien seit dem Ende
des Faschismus durchlaufen hat, einfach iibernommen werden.
Italien ist in der Tat zu einem fortgeschrittenen Industriestaat ge-
worden, es hat eine auBerst stark entwickelte urbane Struktur an-
genommen, der alte Block zwischen Agrar- und Industriekapital
ist dem modernen Finanz- und Industriekapital-Block gewichen,
der gefestigt wurde durch das staatliche Monopolkapital. Das Ta-
gelohnerwesen ist fast verschwunden, die in der Landwirtschaft
Beschiiftigten sind stark zuriickgegangen, die Intellektuellen sind
nicht mehr reine Vermittler des Konsens fur die Fiihrungsgruppen
und sind als Schicht der Massen inden institutionellen Kanalen der
Kultur und der offentlichen Meinung tatig, wo sie haufig eine of-
o
0,
·I, ~
tit·
T heorie und Praxis
Die verherrlichte »Einheit von Theorie und Praxis« innerhalb ei-
nes bestimmten traditionellen Marxismus hatte keine andere Be-
deutung, als die Theorie auf die Praxis festzunageln. Selten bedeu-
tete sie das Gegenteil. Von daher nihrt die dogmatische Erstar-
rung der Theorie unddie Unwirksamkeit der Praxis. Gramsci fasst
den Begriff so zusammen: »i n den neuen Ausarbeitungen des hi-
storischen Materialismus steckt die Fundierung des Begriffs von
der Einhei: von Theorie und Praxis nur erst in den Anfingen: es
sind noch immer Reste von mechanischem Herangehen vorhan-
den. Noch immer wird von der Theorie als Vervollstindigung der
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Ther at oio gie , in teUek tu eUe*
Das Schone (d. h. das Lacherliche oder Dramatische, je naeh-
dem) ist dann, da8 fur diese intellektuelle Theratologie die Theo-
rie des historisehen Materialismus und des wissensehaftliehen So-
zialismus zu »etwas Kunstlichem und meehanisch Ubergestulptem
(wie ein Kleid auf der Haut und nieht wie die Haut ( ... )«
(Q.,S.337; MACH.,S.409) in Bezug auf die Bewegung wird. Wie
immer vervollstandigt der Dogmatismus den Spontaneismus und
die intellektuelle Abstraktheit den Praktizismus. Wenn Sponta-
neitat und Fuhrung nieht miteinander vermittelt sind - sagt
Gramsci (Q.,S.330; P.P.,S.37) - herrseht keine Disziplin: nieht
mal intellektuelle Disziplin.
Praxis gesproehen, beinahe wie von einer Nebensachlichkeit
usw.« (Q.,S.1042). Urn aus dieser Phase der Minderwertigkeit
herauszukommen, bleibt niehts anderes ubrig, als »den theoreti -
schen Aspekt des Theorie-Praxis-Zusammenhangs« (Q.,S.1386;
M.S.,S.14) weiter zu entwiekeln. Die Weiterentwieklung der
Theorie im Verhaltnis zur Praxis bedeutet die Entwieklung neuer
Hypothesen, zu deren Verifizierung die Praxis dienen wird.
Das ist eine neue, von Gramsci bezeiehnete »Disziplin«
(Q.,S.329; P.P.,S.71), worunter die Liebhaber intellektueller
SeheuBliehkeiten zu fassen sein sollen, eine Disziplin, der sieh in
gewissem Sinne der »Lorianismus« zugesellen konnte, Gramsci
ordnet hier den plebejiseben Kult ein, den Henri De Man fiir das
Alltagsbewu8tsein und die »Popularwissenschaft« beweist und
dann aueh »die Bewunderer der Folklore ( ... ), die ihre Konser-
vierung unterstii tzen, die mit Maeterlinek verbundeten -Magie re ,
die der Meinung sind, man miisse den Weg der Allehemie und der
Zauberei, der gewaltsam versperrt wurde, wiederaufnehmen, urn
die Wissenschaft auf ein fruehtbares Gleis von Entdeekungen zu
lenken«.
Ich wiirde aueh die Lobpreiser des Dialekts, die die Bedeutung
des kulturellen nationalen Ansteigens hin zum Ubergang zu einerSpraehe nieht begreifen, die Theoretiker der »proletarischen Kul-
tur« und der »Arbeiterwissensehaft« darunter fassen, die glauben,
daB es einen »Arbeiterstandpunkt« geben kann: also all diejeni-
gen, die nieht an die Wissensehaft und ihren materialistisehen
Charakter glauben und femer diejenigen, die in der Welt der sub-
alternen Klassen das historische Oberbleibsel ihrer intellektuellen
Subalternitat verherrliehen. Das sind diejenigen, die der Masse -
urn es mit Gramsci zu sagen - kein »theoretisches BewuBtsein zur
Sehaffung historischer und institutioneller Werte und zur Grim-
dung des Staates« geben wollen (Q.,S330; P.P.,S.73)
TotaIitiit
So haufig in der marxistischen Tradition auch auf eine Philosophie
der Totalitat mit Naehdruek verwiesen wird, soli dennoeh aueh mit
Gramsci darauf aufmerksam gemaeht werden, daB »der Philoso-
phie der Einzelheit immer eine Philosophie der Ganzheit voran-
geht« (Q.,S.1389; M.S.,S.17). Das soli die Notwendigkeit unter-
streiehen, den analytisehen Apparat des Marxschen Denkens zu-
riickzuerobern, ihn zu verifizieren, d. h. seine Fahigkeit, die mo-
derne Gesellsehaft (und Geschiehte) ohne spekulative Verstellun-
gen zu erklaren,
Transformismus
• Gemeint ist eine bestimmte Art inteJlektueJler, missionarischer Verstiegen-
heit, etwa: inteJlektueJle Quacksalberei (Anrn. d. Red.)
Das ist die besondere italienische Form der »passiven Revolu-
tion«; sie besteht aus einer »graduellen, aber kontinuierliehen und
mit (in ihrer Wirksamkeit) versehiedenen Methoden erreiehten
Absorption von aktiven Elementen aus den verbundeten Grup-
pen, aber aueh aus den gegnerischen, die als unversohnliche
Feinde ersehienen« (Q.,S.2011; R.,S.87)~ Diese Absorption
schlie8t sowohl eine aktive wie eine passive Korruption ein. Der
Transformismus kann Erfolg haben und zwar nieht nur, wenn die
herrschende Klasse korrupt ist, sondem aueh, wenn die unter-
druckte Klasse korrumpierbar ist. Darum mu8 eine aktive Revo-
lution aueh eine intellektuelle und moralische Reform sein.
94 95
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Traurigkeit schaft zum Feudalismus, vom Feudalismus zum Kapitalismus ha-
ben die Menschheit tiber lange Zeitraume hinweg ungeheure An-
strengungen gekostet. Auch heute sind inden bltihendsten kapita-
listischen Systemen Reste feudaler Wirtschaft vorhanden. Es gibt
keinen Grund, den Anspruch zu stellen, der Kommunismus dage-
gen musse sich mit dem Schlag eines Zauberstabs realisieren«
(C.P.C.,S.318)
Die moderne Welt ist voller Traurigkeit: »Die moderne Epoche ist
nicht expansiv, sie ist repressiv. Es wird nicht mehr von Herzen ge-
lacht: es wird nur gekichert und ein mechanischer Witz gerissen
von der Art Campaniles« (Q.,S.95; L.N.V.,S.119).
Oberbatifunktioniire
Das sind die Intellektuellen (Q.,S.1518; INT.,S.9).Insofern siewirklich Funktionare des Uberbaus sind, werden sie niemals Be-
amte sein; sofern es ihnen nicht gelingt, Funktionare nur des
Uberbaus zu sein, werden sie nur Beamte sein."
U nniitze O pfer
Das sind solche, die »den groSten Teil der kollektiven Katastro-
phen« verursachen (Q.,S.1753; MACH.,S.22). Opfer also ja, aber
bitte ntitzliche.
• Es handelt s ich im italienischen urn einWortspiel mit dem Begrifffunzionario
(Funktionar/Beamter). Sinn: InteIlektueIle sind entweder politische, theoretische,
kulturelle Repriisentanten oder bloBBeamte (Staatsagenten). - Anm. d. Red. Volksbiicherei
Obergang z um Soz ia lismus Das ist die »bemerkenswerteste Initiative in der modernen Zeit
fur die Volkskultur« (Q.,S.245; INT.,S.159)
Es ware mtiBig,bei Gramsci nach einer zufriedenstellenden Theo-
rie vom Ubergang zum Sozialismus zu suchen. Sein Werk ist ge-
rade darauf gerichtet, zuerst durch eine Reihe von politischen
Ausarbeitungen und dann historischen Forschungen die ursachli-chen Merkmale der italienischen Situation und der italienischen
Arbeiterbewegung zu erhellen: eine Theorie vom Ubergang zum
Sozialismus imWesten erst vorzubereiten und moglich zu Machen.
So konnte man verschiedene Phasen unterscheiden, in denen
Gramsci unterschiedliche Perspektiven der politischen Strategie
unterstreicht, die fortlaufend in der Vereinheitlichung der Arbei-
terbewegung und ihrer allgemeinen Ftihrungsrolle in dem strategi-
schen Rahmen von historischen Atempausen zusammenflieBen.
Ein Beispiel der undoktrinaren Reflektion des Obergangs: »Kein
Kommunist hat jemals den Arbeitern versprochen, das Schlaraf-
fenland in 24 Stunden zu verwirklichen; kein Kommunist hat je-
mals daran gedacht, das kommunistische System in sechs Monaten
zu verwirklichen. Die Ubergange von der Sklavenhaltergesell-
Wah lr echt, a ll gemein es
Gegen die Verleumdung der reprasentativen Demokratie als poli-tisches System, in dem die Zahl (das Quantum Stimmen) vor-
herrscht, hat die Argumentation Gramscis (Q.,S.1625;
MACH.,S.99f) noch immer ihre Bedeutung, und was fur eine! Die
Zahlen »sind ein einfacher instrumenteller Wert, sie geben ein
MaS an, eine Beziehung und sonst nichts«. Gramsci fihrt fort:
»Und was wird dann gemessen? Es wird genau die Effizienz und
die Expansions- und Oberzeugungskraft der Meinungen weniger
gemessen, der aktiven Minderheiten, der elites, der Avantgarden
usw., d. h. ihre Rationalitat oder Historizitat oder konkrete Funk-
tionalitat«. Also: »die Auszahlung der Stimmen ist die schlieSliche
Manifestation eines langwierigen Prozessese, Man versteht also,
daB die Polemik gegen die Wihlbarkeit der Elite, bemiintelt mit
Appellen fur eine »reale« oder »wirksame« Demokratie, dahin
9697
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Wahrheit
sierung heute in der Tat innerhalb des Kapitalismus institutionali-
siert ist, steht diese feste Verbundenheit zur Diskussion. Auf der
anderen Seite hat der wissenschaft liche Geist an Standhaftigkeit
verloren - bemerkt Burzio - und deswegen leidet die geistige Elite
des Westens unter dem Ungleichgewicht und der Disharmonie
zwischen kritischem BewuBtsein und Handeln. Aber Gramsci
merkt an: »In Wirklichkeit war das -kritische Bewubtsein- be-
schrankt auf einen kleinen Kreis, wenn auch hegemonial, so doch
beschrankt; der geistige >Regierungsapparat- ist auseinandergefal-
len und es gibt eine Krise. Doch diese dehnt sich aus, was zu einer
neuen, sichereren und stabileren -Hegemonie. fiihren wird«
(0.,S.84; ibidem). Die Anfechtung des elitaren Charakters des
kritischen BewuBtseins im Westen dart s ich also ihre Losung nicht
in einer Anfechtung der westlichen Kultur suchen, sondem im
Gegenteil, in deren Verbreitung, aus der die Ersetzung der Elite
durch eine gebildete Masse sich ergeben wird.
tendiert, d i egew ii h lt e E l it e, die Gramsci als »Elite per Dekret« be-
zeichnet, zu ersetzen, indem man dem Biirger »auch jenen winzi-
gen Machtanteil, den er besitzt, indem er iiber den Verlauf des
Staatslebens mitentscheiden kann«, fortnimmt. Darum weist
Gramsci die traditioneUe Entwertung des aUgemeinen Wahlrechts
und des Wahlbarkeitsprinzips im allgemeinen in der sozialisti-
schen Bewegung zuruck und beweist, daB die sozialistische De-
mokratie kein .surrogat politischer Demokratie ist, sondem ihre
Erweiterung, Expansion und Erganzung.
Es gibt eine groSartige Definition Gramscis iiber die Wahrheit in
Bezug auf die Polit ik. Sie laBt sich einer Anmerkung entnehmen,
die bezeichnenderweise »Gegen den Byzantinismus« benannt ist
(0.,S.1l33f; P.P.,S.79f) und in folgenden Worten zusammenge-
faBt werden kann: Eine Wahrheit wird aUgemein, wenn sie in ei-
nem Milieu verifiziert wird, das von dem, wo sie entstand, ver-
schieden ist, und wenn es durch sie gelingt, die Realitat verstand-
lich zu machen und sie sich in eben dieser Realitat verkorpert.
Eine solche Definition iiberwindet den rein formal-logischen
Wahrheitsbegriff und weist femer den Relativismus des unter-
scheidenden Historizismus zuriick. Die Wahrheit ist keine »by-
zantinische und scholastische Abstraktion« (ibidem). Sie ist aller-dings nicht reduzierbar auf einen falschen Konkretismus in jeder
»unwiederholbaren« Situation.
Wissenschaft
Westen
Es muB noch einmal an den Kampf erinnert werden, den Gramsci
gegen die Auffassung Missirolis fiihrte, nach dessen Meinung die
Wissenschaft auf Ideologie reduzierbar sei, was ein Ausdruck von
Autoritarismus ist (0.,S.1458; M.S.,S.67). Inmitten der revolu-
tionaren Bewegungen kommen auch immer Wellen auf, die auch
die Wissenschaft zu zerstoren drohen, aber es sind sterile Wellen
des Nihilismus. Die sozialis tische Revolution richtet sich nicht zu-
fallig nach dem wi ssenscha f tl ic hen Soz ia l ismus, demzufolge die
Revolution ohne Wissenschaft unmoglich ist.
In der Besprechung eines Artikels von Filippo Burzio anerkennt
Gramsci den Gedanken, daB die Einheit des Westens »auf drei
Stiitzpfeilem ruht: dem kritischen Geist, dem wissenschaftlichen
Geist und dem kapitalistischen Geist (vielleicht ware es besser sin-
dustrieUer Geist- zu sagen)« (0.,S83; P.P.,S269), und er fugt hin-
zu, daB »die beiden letzten fest miteinander verbunden sind«,
wenn Kapitalismus gleich Industrialisierung ist. Da die Industriali-
Wisse nsc ha ft, n eu e
Gramsci (0.,S.1423; M.S.,S.164) verweist auf drei Versuche, urn
die Wirksamkeit und die erreichte Vitalitat einer neuen Wissen-
schaft (insbesondere des Marxismus) zu verifizieren: 1. muS sie
beweisen, »sich mit den Besten der Gegentendenzen konfrontie-
ren zu konnen« und aufhoren, »die Gegner unter den diimmsten
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TeH3nd mittehnafsigsten auszuwahlen« (0.,S.1405; M.S.,S.171); 2.
»lost sie mit eigenen Mitteln die Lebensfragen, die diese gestellt
haben«; 3. »beweist sie unwiderruflich, daB solche Fragen falsche
Probleme sind«. Eine Wissenschaft ist also reif, wenn sie auf hoch-
ster Ebene diskutiert, korrigiert und Ersetzungen vornimmt. Einfi ihnmg in Gramsci
Wi ss en sc ba ft u nd Lebe n
Gramsci schreibt, daB »die Einheit von Wissenschaft und Leben
eben eine aktive Einheit ist, nur in ihr realisiert sich die Denkfrei-
heit« (0.,S.1332; M.S.,S.32). Aber diese Einheit soli weder Ein-
mischung noch Verwirrung sein. Es sollte also eine Wissenschaft
entwickelt werden, die ftir das Leben forscht, und ein Leben, das
sich als Wissenschaft verwirklicht.
»Das -Prinzip des organischen Zentralismus- ist die -Kooptation.
urn einen Besitzer der Wahrheit« (0.,S.64). Ein authentisch de-
mokratischer Zentralismus dagegen mu6 von dem Grundsatz aus-
gehen, daB es keinen Besitzer von Wahrheit gibt. Nochmal: der
organische Zentralismus »basiert auf der Voraussetzung, daB le-
diglich in Ausnahmesituationen, wenn die Leidenschaften desVolkes sich entziinden, sich die Beziehung zwischen Regierenden
und Regierten dadurch herstellt, daB die Regierenden im Inter-
esse der Regier ten handeln und darum deren Konsens -benoti-
gen-.« (0.,S.1771; MACH.,S.195) Dagegen mu6 im normalen
Leben und nicht nur in Ausnahmesituationen »nicht der passive
und indirekte Konsens zur Kernfrage werden, sondern die aktive
und unrnittelbare Beteiligung des einzelnen, selbst wenn das Auf-
losung und Tumult provozieren mag« (ibidem; MACH.,S.195f).
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102
sten Elemente des politischen Denkens Gramscis hervorzuheben,
an denen sich Meiner Meinung nach aileWissenschaftler (seien sie
Marxisten oder nicht) und aile Linder (sozialistische wie nicht-so-
zialistische) mit Gewinn orientieren konnten.
2. Ich mochte die originalsten und fruehtbarsten Elemente des
politischen Denkens Gramscis in vier Rubriken einteilen: a) das
Wesen dec Politik; b) die Regierungslehre; c) die Theorie der so-
zialisti~hen Revolution; d) die Parteitheorie. Wie man sieht, han-
delt es sich um Rubriken, die fast das gesamte Terrain des soziali-
stischen politischen Denkens und der Politikwissenscbaft im all-
gemeinen abdecken. Tatsiichlich ist das Ausma8 der Behandlungjedes dieser Themenbereiehe bei Gramsci unterschiedlich; und
tatsachlich handelt es sich dabei auch insgesamt gesehen umThe-
m~nbe~iche, d~ren Rekons~ktion nur mOglich ist durch f l e -trachthche Bemuhungen zu emer neuen systematischen Ordnung-.
vieler, mitunter nieht rusammenhingender Fragmente. Doch wie
man weiB,erfordert die gesamte intellektuelle Produktion Grams-
cis diese Miihe, da sie eher auf kritischer Anmerkung und eiliger
Reflexion als auf organischer Entfaltung und analytischer Ent-
wicklung beruht. Andererseits bedeutet der fragmentarische Cha-
rakter der Darstellung durchaus nieht, daB Gramsci sieh auf Be-
trachtungen von Grundfragen der politischen Theorie und solehen
allgemeiner Art beschrinken wiirde. Deshalb kann man sehr wohl
behaupten, daB die Modelle fUr sein Werk dessen Reievanz kei-
nesfalls einschriinken, und daB daher eine kritische Systematisie-
rung des Denkens Gramscis ihn mit Sieherheit in die Oeschiehteder politischen Wissenschaft einzuordnen erlaubt. Diese kannte
im iibrigen sehr viel fragmentarischere Denker (man denke an die
Vorsokratiker und an viele andere Grieehen). Was die Beziehung
Gramscis zur Geschichte des sozialistischen Denkens angeht, muS
man einleitend einige Punkte priizisieren.
Zunachst einmal zeichnet Gramsci sich durch eine gro8e Origi-
nalitiit nnd Autonomie des Denkens auch dort aus, wo er aus-
driicklich Texte marxistischer Autoren kommentiert. Aus diesem
Grunde wurde von einigen Seiten behauptet, Gramsci sei ein »we-
nigmarxistischerc Autor. Man braucht nicht erst auf die Diirftig-
keit einer Interpretationsweise hinzuweisen, die die Verbindung
mit dem Marxismus auf einen rein formalen Sachverhalt wie Text-
I. Das po6tische Denken Gramsds
1. Man kann nicht sagen, das geistige Werk Gramscis habe ein
gluckliches Schicksal gehabt. Der offensichtlichste Beweis dafiir
ist die Tatsache, daB wir noch immer auf eine systematische Ge-
samtausgabe warten. Zudem ist die Kenntnis Gramscis im Aus-land sehr fragmentarisch und haufig durch ziemlich zweifelhafte
Interpretationen vermittelt. Dariiberhinaus ist die Rekonstruk-
tion des Denkens Gramscis sogar in Italien besorgniserregenden
Verzerrungen ausgesetzt gewesen. Es ist zweckmiiBig,wenigstens
zwei dieser Verzerrungen aufzuzeigen. Die erste betrifft die
Uberbetonung des historisch-geisteswissenschaftliehen Moments
in Gramscis geistigem Hintergrund imVergleich rum gesellschaft-
lich-politischen. Die zweite betrifft die Miihe und die Langwierig-
keit, mit der das Denken Gramscis au8erhalb der unmittelbaren,
engen politischen Beziige aufgenommen wurde; sie lieferten es
viele Jahre lang verurteilsbetadener Aversion oder ebenso vorur-
teilsbeladener politischer Bevorzugung aus - mit dem Resultat ei-
ner im wesentlichen dogmatischen Archivierung. Es bedurfte lan-
ger, geduldiger wissenschaftlicher Arbeit, um Gramsci aus dieser
»Gefangenschaftc zu befreien, und sein politisches Denken zu ei-nem Forschungsgegenstand ru machen, der den Beeinflussungen
des unmittelbaren politischen Kampfes entzogen ist. Es eriibrigt
sichfast zu sagen, daB es nur durch diese Arbeit heute moglieh ist,
das Werk Gramscis nieht mehr bl08 in Bezug auf die politischen
Ereignisse in Italien in den Jahren des Faschismus zu lesen, son-
dem im Rahmen einer systematischen Auseinandersetrung mit
der politischen Theorie des Sozialismus und - allgemeiner - mit
der Geschichte des europaischen politischen Denkens.
In diesem Rahmen mochte ich einige Aspekte der Interpreta-
tion angeben, die geeignet sind, die signifikantesten und wichtig-
Referat , gehalten am 30. Mai 1974 an der Universitat Ljubljana
103
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verweise reduziert. Man kann ganz im Gegenteil behaupten, daB
die GroBe Gramscis gerade in der weitgehend autonomen Ent-
wicklung eines Denkens hervortritt, welches sich als von Grund
auf mit den Hauptthemen des Marxismus und des wissenschaftli-
chen Sozialismus verknfipft erweist (von der Kritik des Staates bis
hin zur Theorie der direkten Demokratie, von der Problematik der
revolutionaren Partei bis hin zur Theorie des Ubergangs). Es han-
delt sich dabei, da8 muS man hinzufiigen, um eine Verknijpfung,
die sich fiber die stetige Vermittlung einer sehr spezifischen, und
damit itaiienischen, historisch-kulturellen Problematik artikuliert,
Dies mag dem dogmatischen Interpreten ebenso begrenzt er-scheinen, wie auch die marxsche Analyse des Kapitals - ausge-
fiihrt anhand des englischen Modells - oder die leninsche Analyse
der Partei - durchgefiihrt im Feuer des politischen Kampfes in
Ru8land - als begrenzt erscheinen konnten.Oem ernsthaften In-
terpreten jedoch wird diese fortwiihrende Priisenz der italieni-
schen Geschichte und Kultur den Grad des nicht abstrakt-kanoni-
schen, sondem historisch-konkreten Wesens der tbeoretischen
Reflexion Gramscis angeben - den Grad seiner effektiven Fiihig-
keit also, ein historisches Problem zu erkl ii ren und einen politi-
schen ProblemzusammenhangaufzulOsen. Es handelt siell um eine
Fiihigkeit, die nur den groSen Denkern eigen ist.
Man muS aueh hinzufiigen, daB diesePriisenz Italiens bei
Gramsci zur Prasenz einer bedeutenden Frage wird, die bei ande-
ren Marxisten imwesentlichen marginal bleibt: die Frage der so-
zialistischen »Vennittlungc einer Nation wie Italien, in der dieEntstehung eines modemen Proletanats verbunden war mit einer
spaten Verwirkliehung der staatlichen Einheit und mit einem a~-
Berst starken Einflu8 von unterschiedlichen, oft bedeutenden -
wenn auch fast immer fiberlebten - intellektuellen, kiinstleri-
schen, kulturellen und sogar religiOsen Traditionen. Dies hat
Gramsci dazu verpflichtet, sich bei der Ausarbeitung der politi-
schen Theorie des Sozialismus mit sehr subtilen historischen Fra-
gen und Institutionen auseinanderzusetzen und den Weg filr eine
sorgf8.ltige und tiefgreifende Verwurzelung des Sozialismus in die
Geschichte eines Volkes zuerforschen, das ebenso reich an kultu-
reller Tradition und Vergangenheit wie arm an politischer Tradi-
tion und Gegenwart ist. Auch unter diesem Aspekt ist Gramsci ein
104
schwieriger Theoretiker. Und besonders deshalb ist er ein wichti-
ger Theoretiker fU r jede sozialistische Bewegung, die auf einem
hohen historischen Entwicldungsstand der burgerlichen gesell-
schaftlichen Kuhur arbeitet oder in einem entwickelten sozialisti-
schen Land, das besonders differenzierte und fruchtbare kultu-
relle Fortschritte braucht.
3. Ich werde die Gedanken Gramscis nicht analytisch nach den
vier Themenbereichen darlegen, die ich vorhin als besonders be-
deutend ftir sein politisches Denken bezeichnet habe. Ich werde
mich auf eine synthetische Darstellung der Originalitat beschriin-
ken, die Gramsci uns injedem dieser Themenbereiche inder Aus-einandersetzung mit der Tradition des sozialistischen Denkens
beweist.
Hinsichtlich des Wesens der Politik entwickelt Gramsci weni-
ger eine allgemeine Dimension der Beziehung zwischen Basis und
Uberbauals viebnehr eine direkte Auseinandersetzung mit dem
&griihder der modernen politischen Wissenscbaft (Machiavelli ,
Und auf dieser historisch sopriizlsen u 0 ge ittenen Ebene
gelangt er zur ldentifikation der Hauptfrage der Politik: der Frage,
ob man das Verbiltnis zwischen Regierenden und Regierten, d. h.
den Zustand der nich t nur sozialen, sondem auch politischen Zer-
rissenheit der Menschheit, erhalten oder aufheben mOehte. NatUr-
lich kann man in dieser Formulierung das Echo der marxschen
Kritik des Staates und der I en inschen Theorie vom Absterben des
Staates wiederfinden; dennoch erhellt der spezifische kulturelle
Hintergrund der 1beseGramscis vieHeicht deutlicher seine intel-lektuelle Polemik gegen die biirgerliche politische Wissenschaft.
Gramsci beschrankt sich eben nicht darauf, die These von der Krl-tik der Politik und des Staates zu proldamieren, sondem er pole-
misier t in detaiUierter und begrundeter Weise gegen die herr-
schenden ehtaren Konzeptionen der Politik, indem er die Thea-
rien von Mosca, Michels und Pareto kritisiert, viele Jahre bevor
diese zu Ikonen der amerikaniscben po li ti ca l sc ience wurden.
Gramsci verdeutlicht vor aDem die Unfihigkeit dieser Theorien,
die grundlegende historische Ursache der »indirektenc Leitung
der Gesellschaft zu erkUiren, sowie ihre Unfahigkeit, eine Alter-
native anzugeben, die sieh von der substantiellen Unterdruckung
jeder, auch der formalen Demokratie unterscheidet. Andererseits
105
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sieht Gramsci auch die Grenzen einerTheorie des Sozialismus, die
sich auf die Betonung des »formalenc Charakters der politischen
Demokratie beschriinkt und schlicht und einfach seine »Erset-
zunge durch die okonomische oder soziale Demokratie vor-
schlagt. Fur Gramsci dagegen wird die Transformation der politi-
schen Leitung selbst zum wesentlichen Moment der sozialistischen
Transformation. Sie muS zu einer kontrollierten und integrierten
Leitung werden, in der das rein funktionale, »technische« und
provisorische Verhaltnis zwischen Regierenden und Regierten
taglich neu hergestellt wird. Nur sowird der Sozialismus zu einer
umfassenden, d. h. auch politischen Alternative zur biirgerlichenGesellschaft: nicht zu einem Sozialismus im Namen des Volkes,
sondem zu einem Sozialismus durch das Yolk. Damit verdeutlicht
Gramsci die sozusagen intellektuelle und moralische Komponente
der Politik; wobei er nicht nur zu verstehen gibt, daB der grund-
satzlich neuartige Charakter der sozialistischen politischen Theo-
rie in der Proklamation der Moglichkeit und der Notwendigkeit
liegt, die Spaltung zwischen Staat und Gesellschaft aufzuheben,
sondem auch, daB diese Aufhebung zu einem unmittelbaren ope-
rativen Element eben der revohrtionaren politischen Praxis wird.
Und dies nicht etwa, weil Gramsci davon triiumte, ganz unvermit-
telt in den Kommunismus der sich selbst regelnden Gesellschaft
»hineinzuspringene, sondem weil er auch die Instanz der Aufhe-
bung der Spaltung zwischen Regierenden und Regierten in einen
politischen Stimulus umsetzt zur Zusammensetzung und zur de-
mokratischen Kontrolle der regierenden Gruppe und zum An-wachsen der Fahigkeit zur Selbstregierung innerhalb der regierten
Gruppe.
So entsteht fUr Gramsci ein politisches Handeln, das taglich
wirkt, und es wirkt nicht nur fUrdie Aufhebung der Herrschaft ei-
ner Klasse iiber die andere, sondern auch und sofort fUrdie Ver-
wirklichung einer neuen Form der Politik, einer neuen Beziehung
zwischen Regierenden und Regierten, Fuhrenden und Gefiihrten.
Dieses Handeln bringt heute auch innerhalb der revolutionaren
Bewegung die nicht utopischen, sondem operativen politischen
Voraussetzungen fU r die vollstandige Emanzipation der Men-
schen hervor. Das ist die Form der intellektuellen und moralischen
Revolution als grundlegendes Moment der politisch-sozialen Re-
106
volution. Und, so mochte ich hinzufugen, darin besteht fU r
Gramsci die Konstruktion einer politischen Praxis, die kulturell
und geistig »reich« ist, weil sie fortwahrend durch die eigenen all-
gemeinen Ziele befruchtet wird und von daher niemals auf prag-
matischen Instrumentalismus reduzierbar ist. Gramsci gibt diesem
Modell reicher, entwickelter und »kultivierter« Politik auch einen
grofsartigen Namen: er nennt sie »Politik als Geschichte«, d. h.
Politik, die von Geschichte befruchtet ist, die fiihig ist, Geschichte
hervorzubringen, die Fesseln der Konjunkturen abzuwerfen und
zumNiveau der permanenten Fuhrung einer Nation aufzusteigen.
4. Fiir Gramsci moB sichalso auch die Revolution als eine srei-che«, entwickelte, »kultiviertec politische Praxis darstellen, in der
es unmoglich und in jedem Fall schwerwiegend und gefiihrlich ist,
die Mittel von den Zielen zu trennen, die elementaren von den
komplexen Ebenen, die Basis vom Uberbau, die sozio-okonomi-
sche Problematik von der politisch-kulturellen. Dieser Reichtum
und diese Dichte und Geschlossenheit der gesamten praktisch-
theoretischen Mitgift der Revolution weisen im iibrigen ein spezi-
fisches,politisches Merkmal auf. Es geht Gramsci gar nicht darum
der sozialistischen Revolution einen humanistischen Anstrich zu
geben, der sie schoner und akzeptabler machen soli. Es geht statt-
dessen genau darum, die Revolution schon heute zu machen -
noch bevor sie vollendet wird -, weilsiein den Liindem mit fortge-
schrittener historischer und kultureller Entwicklung nicht anders
gemacht werden kann und nicht anders gemacht werden darf, als
durch die Befreiung der gesamten Kultur im Sozialismus.Aus diesem Grunde richtet Gramsci seine Aufmerksamkeit bei
der russischen Revolution hauptsachlich auf die Art und Weise,
wie Lenin die siegreiche Vollendung einer umfassenden histori-
schen Aktion gelingt, und nicht auf die einzelnen Formeln, in de-
nen diese Aktion sich aktikulierte. Daher redet er von der Not-
wendigkeit, die Erfahrungen der russischen Revolution ins i tal ie-
nische zu ubersetzen, aber nicht im Sinne des Versuchs, eine russi-
sche Ware italienisch zu verpacken, sondern im Sinne der Herstel-
lung eines italienischen Produkts, welches aus einer einheitlichen
Aktion entstehen soli, mit der ein anderes Yolk und eine andere'
Nation fUrdie gemeinsame Geschichte der so~ialistischen Revolu-
tion gewonnen wird. So wird fU r Gramsci die Revolution in dem
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MaBe italienisch werden, wie I talien revolutionar wird. Der Inter-
nat ionalismus wird niemals das Konstrukt eines sektiererischen
Zirkels sein, der mit einem Ukas die Nation abschafft. Er wird da-
gegen der allgemeine Endpunkt eines Transformationsprozesses
jeder einzelnen Nation und jedes Volkes sein, der sich aus ihrer
Geschichte ergibt.
Aus diesem Grunde ist das Problem der Geschichte Italiens fur
Gramsci von.gro6em Interesse und nimmt breiten Raum ein -
nicht nur das Problem seiner politischen Geschichte, sondem auch
das der kulturellen, geist igen und moralischen Geschichte. Es geht
fur die Revolutionare nicht bloB darum, das soziale Umfeld ihrespolitischen Handelns zu kennen; es geht stattdessen darum, sich
als organischer Bestandteil eines historischen Prozesses zu fUhlen,
dessen Fuhrung sie nicht aufgrund einfacher Machtanwendung
und administrativer Verfiigungen ubernehmen sollen, sondem
aufgrund einer realen Fahigkeit zur Ubernahme der geistigen
Fuhrung und der Fuhrung der Menschen: der Fahigkeit, die
Gramsci Hegemon i e nennt.
Dies hebt die Bedeutung nieht nur der Kultur in der Politik her-
vor, sondem auch die des Konsens im Klassenkampf. Bei Gramsci
verliert der Klassenkampf jeden Rest von Okonomismus und De-
terminismus. Denn der Klassenkampf kann sich nur dann auswei-
ten und siegen, wenn es ihm gelingt den Ko rp orat iv ismus - so
nennt es Gramsci - der einzeinengesellschaftlichen Gruppen zu
durchbrechen, und wenn er zum historischen Programm der Ar-
beiterklasse im Dienste der gesamten Gesellsehaft einer NationI wird, die dadurch von der Zerrissenheit durch das Eigentum und
\
von der Last der Ausbeutung befreit wird. Man versteht nun auch
die gro6e Relevanz der Rolle der Intel1ektuellen ftir Gramsci. Es
handelt sich dabei wchlgemerkt keinesfalls um eine privilegierte
Rolle. 1m Gegenteil ! FUr Gramsci besteht die authentische. r e _ ' l Q _ -
lutj~~U~kty_e_11m_d_arhl~~_~jp~i!~~;~~-Ni~eay-
d~r!(~I~!I!1.lI!~t_~er_Selbsthestimmung zu schaffen, das gerade die
Aufhebung des Unterschieds zwischen Intellektuellen und einfa-
£~~~!Ui~!:, In ci~;Lind~~ mit hOhem kulturellen
Entwicklungsstand ist die historische Rolle der Intellektuellen be-
sonders bedeutend. Sie sind namlich der »Zement« des Konsens
mit der fi ihrenden Klasse, der Transmissionsriemen der Hegemo-
108
nie und nicht nur der Befehlsgewalt, die von der herrschenden
Klasse ausgeht. Die revolutionaren Intellektuel1en, die sich von
den alten Institutionen losen , werden zu den Vermittlem einer an-
deren Hegemonie, der Hegemonie der Arbeiterklasse, und daher
zum »Zement« einer anderen okonomischen, politischen und kul-
turellen Gruppierung, oder, wie Gramsci sagt, eines anderen hi -
storischen Blocks.
Der Klassenkampf ist also etwas ganz anderes als ein blo6er
Kampf okonomischer Krafte. Er muB sich auf die Ebenen der Po-
litik und der Kultur ausdehnen und zu einer differenzierten histo-
rischen Strategie gelangen, die tief in der Vergangenheit verwur-zeit ist und die theoretischen Fragen seiner eigenen Zukunft auf-
zeigt. Nur so wird es moglich sein, die Gegenwart stetig und be-
harrlich zu verandem.
5. Die Partei ist das Instrument dieser gro6en historischen
Strategie. Und da sie fur eine gro6e historische Strategie entwor-
fen ist, darf sie - so Gramsci - nicht schlicht und einfach im Licht
der Taktik gesehen werden. Sie moB sozusagen ein nicht-instru-
mente lles Instrument sein, ein nicht-korporativer Teil (der Gesell-
schaft; Anm. d. Ubers . ) , der fahig ist , eine kurzfr ist ig und langfri -
stig, im Tagesgesehehen wie in der historischen Perspektive sieg-
reiche Poli tik zu verwirklichen. Die Partei muB ein inteUektuelles
Intrument sein, oder besser ein Mittel, das das Ziel, fur.das sie ar-
bei tet, vorwegzunehrnen sucht und indem MaSe reproduziert, wie
es dies Ziel wirksam im alltiglichen Leben verwirklicht.
Die Partei ist fO r Gramsci so etwas wie ein »intell igenter Filter«zwishen der Polilik und der Geschichte, oder, wenn man will, zwi-
schen d e r M a ss e und den Fiihrem, zwischen den einfachen Leuten
und den Intellektuellen. Dieser »Fi lter« hat selbs t eine his torische
Struktur und eine historische Dynamik. 1m Unterschied z u r le m n-
schen Partei, die fU r eine historisch i irmere und weniger differen-
zierte Gesellschaft entworfen wurde, fiihlt s ich die Partei Oramscis
vor allem als Tochter einer Geschichte und einer Kultur. Noch be-
vor sie sich als SchOpfer der Zukunft versteht, versteht sie sich als
Ergebnis einer Vergangenheit: s ie untersucht daher die Charakte-
ristika dieser Vergangenheit in der GewiBheit, sie nur so iindem zu
konnen, Der Platz, den Gramsci dem Berufsrevolutionar in der
Par tei einraumt, ist geringer al s der, den Lenin ihm zuweist. Und
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das nicht, weil Gramsci eine entschlossene Avantgarde, die sich
ausschlie8lich der Revolution widmet, nicht fUrnotig hielte, son-
dem gerade weil die geistige Triebkraft der Revolution in einer
Geschichte und einer Kultur, die differenziert und fUr die neue
Geschichte und die neue Kultur verfugbar sind, au8erhalb der
Partei schon weitgehend vorhanden ist.
So kann die Partei mehr Erfahrungen und mehr Menschen in
sich aufnehmen, als es die kleine leninistische Kaderpartei tun
konnte. Aber sie ist sozusagen gerade wegen dieser Fahigkeit, in
einer anderen Gesellschaft zu wirken, eine leninistische Partei;
und auch wegen ihrer Fahigkeit, Teile der Masse an sichzu ziehen,urn sie in neue FUhrer der Masse zuverwandeln - urn also das Ver-
haltnis von Fuhrern und Masse genau in dem Augenblick, in dem
sie es herstellt, zu uberwinden. Auf diese Weise wird die Partei zu
einer Maschine, die nichts schwerfalliges oder mechanisches an
sich hat, da sie eben ein gefugiger, dehnbarer und beweglicher
Mechanismus ist, standig in der Lage, sich selbst urnzuformen und
das Niveau der Politik innerhalb und au8erhalb der Partei zu ver-
andern,
Eine derartige Partei ist naturlich eine kritische Partei, fahig,
sich selbst und ihre eigenen Aktivitaten zu kontrollieren, und fa-
hig, sich ftir die Achtung der Vemunft einzusetzen und damit der
Versuchung dessen, was Gramsci den »Hochmut der Partei«
nennt, zu entgehen. Solch ein Hochmut ist niemals ein Zeichen
von Klugheit, sondem nur Unwissenheit. Und die Partei der Re-
volution mu8 vor allem klug sein. Gramsci beschreibt sie als »kol-lektiven Intellektuellen«, innerhalb dessen die intellektuelle Aus-
arbeitung der Politik Ergebnis einer kollektiven Aktivitiit ist, bei
II der die Mitglieder des Kollektivs niemals zu voller Ubereinstim-
t. \ mung miteinander gelangen, die sie aber auch nie zu einer un-
Iiiberwindbaren Divergenz fiihrt. Aile lemen dabei: umso weniger
besteht die Notwendigkeit etwas zu lehren. Aber die Partei ist na-
turlich keine Akademie. Diese Aktivitat ist eine Funktion des po-
litischen Kampfes, aber - wie wir gesehen haben - eines differen-
zierten, einfallsreichen und »kultivierten« politischen Kampfes
fU r eine gro8e Strategie, die den Konsens sucht und vielfaltige
Bindungen herstellt.
Die Partei ist ein rationales Wesen, an dem nichts mystisches
110 .
oder charismatisches ist. Sie ist die Partei, die auf einem hohen
Entwicklungsstand der intellektuellen Kultur entstanden und be-
stimmt ist, zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen, wenn sie sich
dieser Aufgabe wiirdig zeigt. Sie besitzt keinen Ewigkeitsanspruch
und mu8 ihre Berechtigung jeden Tag aufs neue vor der Arbeiter-
klasse und dem Yolk beweisen. Sie ist nicht blo8 die Avantgarde
der Massen, denn sie kristallisiert deren Exponenten und deren
Bewu8tsein heraus, und sie ist auch nicht nur ein Teil der Masse,
denn sie besitzt eine koharente Weltanschauung und ein systema-
tisches Verstandnis der Wirklichkeit. Sie ist kein Fetisch, keine
Sekte, keine Kirche, keine Armee, keine Mafia, keine Korpora-tion, sondem die rationale Negation jeglichen Fetischs, jeglicher
Sekte, jeglicher Kirche und jeglicher Korporation. Sie ist das hi-
storische Produkt eines gro8en Transformationsprozesses der
modemen Gesellschaft hin zu den Horizonten einer neuen Ge-
schichte.
Als historischer Organismus von Menschen, als authentische,
muhsam errichtete und kluge Konstruktion der Klasse in ihrer hi-
storischen Verbundenheit mit einer Nation und einer Kultur ar-
beitet sie fUr den Intemationalismus und den kulturellen Fort-
schritt: fur jeden »modemen Kosmopolitismus«, wie Gramsci es
nennt, in dem wir aile frei sind, wenn wir gleich sind, und in dem
wir aile gleich sind, wenn wir frei sind.
1mHerzen der differenziertesten geistigen Kultur entstanden,
ist Gramscis Denken alles andere als ein intellektuallistisches, so-
phistisches Denken. Er vergaS nie den operativen Charakter derpolitischen Theoriebildung. 1mubrigen bezog Gramsci die Anre-
gung fU r sein intellektuelles Schaffen aus der realen Situation Sar-
diniens und Italiens, eines Landes, in dem immer ein tiefer Bruch
zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Niveau der Kultur
und dem Niveau des konkreten Lebens bestanden hat.
Die von Gramsci entwickelte Perspektive zielt auf die Uber-
windung dieses Bruchs: darauf, Italien Intellektuelle zu geben, die
fest mit der Wirklichkeit und dem Yolk verbunden sind, und dar-
auf, dem Klassenkampf eine bewu8te intellektuelle Fuhrung zu
geben.
Aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte konnen wir bereits
schlie8en, da8 diese Oberwindung des Bruchs zwischen Kultur
1 1 1
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und Realitat groBe Fortschritte gemacht hat. Aber naturlich haben
wir noch vieIzu tun, um das Erbe Antonio Gramscis aufzuarbeiten
und zu entwickeln. Wie ich eingangs sagte, handelt es sich dabei
um ein fur aile auBerst fruchtbares Erbe. Und nun fUgeich hinzu,
daB es sich dabei um ein fur die Italiener au6erst bedeutendes
Erbe handelt. Denn Gramsci war im Dunkel der faschistischen
Tynannis das groBte und uberzeugendste Symbol fU r die Unbe-
zwingbarkeit des Intellekts und der Freiheit, fur die Lebenskraft
der besten Traditionen unserer Geschichte. Er bleibt fur die Welt
ein Zeuge der italienischen Kultur: der bedeutendste unserer
Epoche.
112
D . E in e n eue theoretischeOrient ienmg
1. Bei der Beurteilung des Werkes Antonio Gramscis war man
lange Zeit vor allem um den Nachweis dessen bemiiht, was als der
»Leninismus Gramscis« definiert wurde - vielleicht, um die Kon-tinuitat der marxistischen Tradition ins rechte Licht zu riicken.
Wahrscheinlich waren die Absichten, die man damit verfolgte, fU r
die damalige Zeit gerechtfertigt, aber sie haben gewi8 keine be-
deutenden Friichte getragen. 1m iibrigen entsprachen sie der In-
terpretationslinie einer »Kontinuitat« des Marxismus, die heute
nicht nur in eine Krise geraten ist, sondem dariiberhinaus guten
Gewissens als irrefuhrend bezeichnet werden kann. Der Begriff
der »Kontinuitate fugte sich namlich in den geistigen Hintergrund
einer »orthdoxen« Vision eines kodifizierten Marxismus, von dem
weniger authentische Neuerungen als vielmehr illustrative Emp-
fehlungen zuerwarten waren. Es schien so, aIsob man sich, um ein
guter Marxist zu sein, vor aHem wiederholen miisse.
Die Zeiten haben sich glucklicherweise geandert, und es ist
nicht mehr notig »Orthodoxie« zufordem, weil- ganz imGegen-
teil- gerade die Haresie zur Verkorperung der Kreativitat einesDenkens wird, das der Dimension der Wissenschaft und der der
Kritik wiedererobert wurde, und weil die marxistische Tradition
sich gerade durch wichtige Korrekturen der friiheren Dogmatis-
men und durch die Wiederherstellung eines kritischen Kontakts zu
allen Bereichen der modemen Kultur weiterentwickelt hat.
2. Bei einer annahernden Wertung Gramscis als marxistischen
Denker wird man also nicht vom traditionalistischen Standpunkt
dessen ausgehen, der nach dem »Leninismus Gramscis« fahndet
oder nach dem Marxismus Gramscis«. Man wird vielmehr davon
ausgehen mUssen, was Gramsci der marxistischen Tradition der
Zuerst veroffentlicht in der Unita vom 24. April 1977
113
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zweiten und dritten Internationale an neuem, originalen und auch
an kritischem gebracht hat. Nur so wird man verstehen konnen,
warum seine Stimme so kraftvoll in unsere Epoche und zu den
neuen Generationen dringt.
Gehen wir noch einmal von der Frage aus, worin die Originali-
tat Gramseis besteht; jedoch nicht mit dem au6erst banalen An-
spruch, darin nur eine originelle .. , Auslegung von bereits gehei-
ligten Walvheiten zu sehen, sondem mit der Absicht, den »intel-
lektuellen Mechanismusc aufzudecken, der Gramsci dahin fUhrt,
die lange Reihe der »traditioneUen Wahrheiten« aufzubrechen.
Bei dieser Betrachtungsweise stellt sich meiner Meinung nach so-fort heraus, daB jeder Versuch, die Originalitat Gramscis in seinen
konkreten politischen Weisungen zu suchen, verfehlt ist. Bei ei-
nem groBen politischen Denker ist das politische Programm in
Wirklichkeit immer da s Ergebnis einer Analyse, und folglich eines
theoretischen Mechanismus. Die Originalitat Gramscis dennoch
auf dem Gebiet des konkreten politischen Programms zu suchen,
fiihrt zu dem fatalen SchluB, das theoretische Hinterland sei irre-
levant oder »au8erhalb« der Analyse geblieben; d. h. es sei nur
passiv von der Tradition libemommen worden, die »Kreativitat«
Gramscis sei ganz der politischen »Intuitione unterworfen gewe-
sen, und schlieBlich seien ausgerechnet in den politischen Weisun-
gen die auch fiir uns, die Nachkommen, giiltigen Elemente aufzu-
finden.
Und darum, so fiirchte ich, hat die Debatte uber Gramsci sich
allzuoft auf seine politische Aktivitat konzentriert; aber ebendarum ist die theoretiscbe Forschung sehr oft vom byzantinischen
Disput urn einzelne, ausgewahlte politische Themen (der Rate-
staat, der Primat des »Principe« [»Oer Furst« nach Machiavelli; d.
Ubers.], die verfassungsgebende Versammlung) oder urn einzelne
isolierte Begriffe (die Hegemonie, die Partei) beherrscht worden.
Was gefehlt hat, war Meiner Meinung nach ein einheitlicher Ver-
such, den systematischen roten Faden der Reflexion Gramscis
uber die Politik zu finden, und d. h. das einheitliche theoretische
Fundament: das Fundament, das moglicherweise wichtige politi-
sche Losungen aufgezeigt hat, die dennoch au6erhalb des spezifi-
schen historischen und politischen Kontexts, in dem sie entstan-
den, kaum von Bedeutung sind. Wichtiger, und sogar wesentlich,
114
ist gerade der Mechanismus, der sie hervorgebracht hat, und den
man in Bezug auf die politischen Phanomene - mangels einer sy-
stematischen theoretischen Darstellung - nur rekonstruieren
kann, indem man Gramscis Analyse des Staates rekonstruiert.
Aber Gramsci gibt uns bekanntlich nicht einmal eine vollstandig
ausgearbeitete Staatstheorie. Er gibt uns jedoch eine betrachtliche
Anzahl theoretischer Anmerkungen, die zusammengenommen
aile auf eine komplexe und hinreichend geschiossene Analyse ei -
ne s Staates, und d. h. des italienischen Staates, abzielen. Hier liegt
also ein hochst interessanter Forschungsgegenstand vor: ein mo-
demer Staat, der auf historischer Ebene hinreichend systematischanalysiert wurde. Das, so mochte ich gleich hinzufiigen, war bei
keinem der »Klassiker des Marxismus« gegeben.
Und hier liegt auch ein erster Grund fiir eine differenzierende
Betrachtungsweise. Warurn gibt uns Gramsci im Unterschied zu
den anderen marxistischen Denkem eine systematische Analyse
der historischen Entwicklung des italienischen Staates und der ita-
lienischen GeseUschaft? Der Pedant, der nur mit seinen eigenen
Pedanterien argumentiert, antwortet natiirlich, die Forschungen
Gramscis seien lediglich das Produkt der italienischen historisti-
schen Tradition. Und er irrt, weil er nicht beachtet, daB Gramsci
damit beginnt, die Geschichte Italiens zu erforschen, um die Ursa-
chen firr das politische Scheitem der Arbeiterbewegung und fiir
die Entwicklung des italienischen.Staates in den Faschismus zu re-
konstruieren. Hier verbinden sich die historischen Grande mit ei-
nem politischen Grund, hinter dem, Dum verschleiert, eine be-deutende theoretische (wissenschaftliche) Frage steht: »MuB die
politischeBewegung, die zur nationalen Einigung und zur Entste-
hung des italienischen Staates fUhrte, notwendigerweise in den
Nationalismus und in den militaristischen Imperialismus einmiin-
den?«
So paradox es auch scheinen mag, wenn man bedenkt, daB
Gramsci als politischer FUhrer unterlag, die Antwort ist negativ:
»Die italienischen Traditionen sind kosmopolitische und der Fa":
schismus kann nicht ihr Endpunkt sein. Und dennoch hatte
Gramsci bei seiner Beruteilung der Geschichte Italiens gerade im
Kosmopolitismus die Grenze filr die Entwicklung unserer Nation
gesehen: »Die wesentliche Tatsache besteht fU r Italien gerade in
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I/\ der intemationalen und kosmopolitischen Funktion seiner Intel-
1 \ lektuellen; diese ist Ursache und Wirkung der Desintegration der
I Halbinsel seit dem Zusammenbruch des Romischen Reiches bis
l1870«; und »bei den Italienem verhinderte die Tradition der ro-
mischen und mittelalterlichen Universitat die Entwicklung der na-
tionalen (biirgerlichen) Krafte jenseits der rein okonomischen und
kommunalen Ebene«, tiber die man nur durch die Konstitution ei-
nes Staates,·d. h. einer in der Nation institutionalisierten Politik,
hinauskommen konnte.
In diesen wenigen Zitaten scheint mir das theoretische Motiv
der historischen Untersuchung Gramscis und auch die politischeKonsequenz daraus schon vollstandig umrissen. Gramsci scheint
uns namlich zu sagen, daB ein neuer (sozialistischer) Staat das logi-
sche Ergebnis unserer Tradition sein musse, obwohl faktisch lange
Zeit nicht einmal ein burgerlicher Staat bestanden habe und ob-
wohl faktisch (zunachst) der Faschismus gesiegt habe. Offensicht-
lich mochte Gramsci uns auch sagen, daB die kosmopolitischen
Traditionen eine Kraft ftir den Aufbau eines Staates darstellen -
wenn es sichurn einen neuen Staat handelt, einen anderen als den,
den die italienische Bourgoisie gestalten konnte und der im Fa-
schismus endete. Aber dieser neue (sozialistische) Staat musse
nicht nur in Bezug auf den burgerlichen Staat neu sein, sondem
auch in Bezug auf den traditionellerweise von der Arbeiterbewe-
gung konzipierten Staat, der faktisch dem Faschismus unteriag.
3. Es ist bereits deutlich, daB Gramscis historische Untersu-
chung von einer impliziten theoretischen Hypothese ausgeht, dieauf der Grundlage einer zweifachen Kritik formuliert wird: einer
Kritik an der Tradition des burgerlichen Staates und einer - ange-
deuteten - Kritik an der entstehenden sozialistischen Tradition
(der die in mancher Hinsicht besorgniserregende Erfahrung des
ersten »realen« sozialistischen Staates offenbar nicht fremd war).
Es ist eine theoretische Hypothese, die sehr wenig mit der histori-
stisch-idealistischen Tradition zu tun hat; sie erhalt ihre AnstoBe
vielmehr aus den konkreten politischen Erfahrungen der Gegen-
wart, urn deren historische Motive aufzufinden und sie also auch
durch eine »tiefgriindigere« Reflexion als die der blofsen politi-
schen Analyse tiberwinden zu konnen. Es scheint mir nicht tiber-
trieben, wenn man in dieser Vorgehensweise Gramscis eine theo-
116
retische Analyse der modemen Politik anhand der Aufdeckung ih-
rer historischen Struktur sieht. Dies istmuta ti s mu tandi s der intel-
lektueUen Vorgehensweise von Marx analog, der die theoretische
Struktur der modemen Wirtschaftsgeschichte sucht, und auch der
Vorgehensweise Lenins, der in der russischen Geschichte die
Kennzeichen eines allgemeinen Systems okonomischer Gesetz-
miiBigkeiten sucht.
Aber der Beitrag Gramscis wird gerade durch einen Unter-
schied bedeutsam (wenn Gramsci nur einen formal analogen Bei-
trag geleistet hatte, so ware dies nichts weiter als eine Widerho-
lung). Und der Unterschied liegt gerade inder Tatsache, daBer diebeiden Analysen von Marx und Lenin als gegeben voraussetzt und
sich weder auf die theoretische Erforschung des Kapitalismus,
noch auf die historische Erforschung eines Kapitalismus konzen-
triert. Er untersucht stattdessen die Grunde dafiir, daBes dem ita-
lienischen Kapitalismus - dem friihesten in Europa - nicht gelang,
jene wesentliche Stufe des Nationalstaates zu erreichen, die von
dem spateren englischen Kapitalismus und sogar von der servilen
russischen GeseUschaft, recht schnell erreicht wurde. Und so
kommt Gramsci darauf, genau das zu untersuchen, was weder
Marx noch Lenin untersucht hatten: die historischen Ursachen,
die die Vollendung der kapitalistischen Erfahrung in okonomisch
entwickelten Landern bremsen konnen, und andererseits die theo-
retischen Grunde, die das Entstehen eines neuen Staates dort be-
schleunigen konnen, wo die nationale Einigung lange Zeit aus-
blieb, obwohl alle historisch-wirtschaftlichen Voraussetzungengegeben waren.
Deutlich nimmt mit dieser Orientierung der Untersuchung die
Vorstellung oder Hypothese Gestalt an, der italienische Staat
weise eine eigene, spezifische Besonderheit auf, obwohl er - wie
andere Staaten - ein kapitalistischer Staat ist; und diese Beson-
derheit liege nicht nur in der unterschiedlichen Entwicklung der
Wirtschaft, sondem in der unterschiedlichen Struktur der Bezie-
hung zwischen Herrschenden und Beherrschten. Wir werden hier
namlich mit einem Staat konfrontiert, der erst spat und »ohne na-
tionale Kultur« entstand, und daher mit einem Staat, in dem es
eine h er rs ch en de , a be r n ic ht f U hr en de Klasse gibt. Darin liegt die
Schwache des italienischen Staates; aber dies ist auch die Voraus-
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setzung fur einen bedeutenden historischen Vorteil der Arbeiter-
klasse, wenn sie nur zu begreifen vennag, d a jJ s ie zu r fUhrenden
K lasse w erden m ujJ, w dhren d sie n och die b eh errschte K la sse ist.
Daraus ergibt sich, daB es - da es eine (Klassen- )herrschaft
ohne Hegemonie (Kultur) geben kann - moglich ist, die histori-
sche Bewegung und den Staat selbst dann zu fiihren, wenn man
beherrscht wird - wenn man nur dieHegemonie, d. h. Kultur, hat.
Hier erscheint der Staat Gramsci also nicht mehr nur als Unter-
druckungsmaschinerie, oder als bloBes »Werkzeug zur Ausbeu-
tung der unterdriickten Klassee". Obwohl Gramsci keine syste-
matische Theorie ausarbeitet, Iiefert er uns das Material, aus demwir schlieBen konnen, daB der Staat aujJer einer repressiven Ma-
schinerie eine politisch-rechtliche Ordnung ist, die die Einheit der
Gesellschaft nicht nur durch das Monopol der Gewalt, sondem
auch durch die Setzung von ideeUen Werten und moralischen For-
derungen aufrechterhiilt, die sich auf die geistige Vennittlung der
historisch-okonomischen Notwendigkeiten griinden und auch auf
die Fahigkeit, einen breiten Konsens zu dieser Vermittlung zu
schaffen. Die Macht erobem, heiBt also auch den Konsens er-
obern; und den Konsens erobem, heiBt auch die Macht erobem!
Diese Komplexitiit der Analyse des Staates ist ganz neu in der
Geschichte der marxistischen Kultur, sowie auch das Interesse an
der Verkntipfung zwischen Staat und Nation neu ist. Nattirlich
hatte es an Hinweisen in diese Richtung nicht gefehlt (ich denke
dabei an Schriften von Marx tiber Deutschland und Frankreich
und auch an einige Schriften von Lenin, Trotzkij oder Bauer);aber diese Hinweise waren Randbemerkungen geblieben, denn
das tiberwiegende Interesse an der okonomischen Analyse hatte
die Erforschung des Staates auf Erkenntnisse tiber die Anatomie
der Gesellschaft reduziert, und das Skelett war ohne Fleisch und
Blut geblieben.
Ais besonders bedeutsam erweist sich in diesem Rahmen die
Neufonnulierung der Beziehung zwischen Staat und Nation.
Diese Beziehung war in der marxistisehen Literatur traditionel-
lerweise nur dtirftig abgehandelt worden; sie blieb beschriinkt auf
• Lenin, Staat und Revolution, Kap. 1,3. in: Lenin Werke, Bd. 25, S.403; Ber-
lin: Dietz 1960
die Forderung nach dem »Selbstbestimmungsrecht der Volker«,
die zwar wichtig war, jedoch nur die traditionelle btirgerliche For-
derung nach nationaler Unabhangigkeit erganzte. Diese Forde-
rung wurde besonders fur die Arbeiterbewegung in den Vielvol-
kerreichen (RuBland, Osterreich-Ungam) zu einem Hauptanlie-
gen, sie liel3aber jede tiefgriindigere Analyse der Beziehung zwi-
schen Nationalstaat und nationaler Kultur, und damit zwischen
Arbeiterbewegung und nationaler Kultur auBer Betracht.
Gramsci dagegen betrachtete diese Beziehung als wesentlich zum
Verstandnis der »Konsistenz« des alten historischen Blocks und
zur Auffindung des »Zements« des neuen historischen Blocks.Und in dieser »komparativen Analyse« der Hegemonien gewinnt
gerade die Kulturkonkurrenz und die den groBen historischen
Auseinandersetzungen immanente geistige Konfrontation unmit-
telbaren politischen Vorsprung. So ubertragt eine strikt politische
Notwendigkeit (die Notwendigkeit, den neuen historischen Block
aufzubauen, urn den a1ten zu zerstOren) ein Gewicht und eine au-
tonome und primare Bedeutung auf die Kultur als dem wicbtigsten
Feld, auf dem - in den entwickelten Staaten des Westens - die
ideelle Macht eines Staates wachst. Unter diesem Gesichtspunkt
konnte man sagen, Gramsci bentitze die leninsche Theorie der
»Revolution in den schwachsten Kettengliederne und deute sie
urn, denn er erkennt die Moglichkeit, daB es auch in den entwik-
kelten Staaten (eben Italien) »schwache Kettenglieder« gibt, uod
daB - allgemeiner ausgedrUckt - auch ein »starkes Kettenglied«
»geschwacht« werden kann, wenn die herrschende Klasse in ge-ringem Grade fiihrend ist, und wenn vor allem die beherrschte
Klasse kultureU fiihrend wird.
4. Aus diesem Grunde wird Gramsci zum Theoretiker der Re-
volution im Westen. Indem Gramsci der Arbeiterbewegung das
Programm einer geistigen Revolution und einer kulturellen Aus-
einandersetzung vorlegt, verweist er gieichzeitig auf die folgenden
beiden Probleme: a) mit der traditionellen Konzeption dersdie-
nendene Kultur ebenso zu brechen wie mit der nicht weniger tra-
ditioneUen »populistischene Konzeption der »zwei Kulturen«
(der btirgerlichen und der proletarischen Kultur); denn die Kultur
ist die Fahigkeit zur historischen Universalisierung der Klassen-
herrschaft, so daB der Niedergang einer K1assesich in der zuneh-
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menden Diskrepanz zwischen ihrer Politik und ihrer Kultur voll-
zieht, wiihrend der Aufstieg einer neuen Klasse sich als kulturelle
»Katharsis« oder Oberwindung des okonomischen Reduktionis-
mus vollzieht; b) das Niveau der sozialistischen Politik bis zur Her-
stellung eines direkten Kontakts mit Kultur und Wissenschaft zu
heben - in der Annahme, daB die ihnen inharente Universalisie-
rung sie nunmehr gegen die Engstirnigkeit der Partikularinteres-
sen der Bourgoisie einnimmt, und sie an die Seite der Arbeiter-
klasse stellt, deren Emanzipation alsKlasse sich dabei aufdie univer-
salistisdte Fuhrung der Gesellschaft und der Menschheit ausdehnt.
In diesem Rahmen ruft die neue Beziehung zum Staat, wie ichsagte, die nationale Kultur hervor. Dies geschieht in doppelter
Hinsicht. Zuerst kritisiert Gramsci die Unfahigkeit der italieni-
schen Kultur, zu einer nationalen Kultur zu werden, die einen Na-
tionalstaat konstituieren kann; er klagt sie der »Flucht« in den
Kosmopolitismus an, womit sie sich jener Aufgabe der nationalen
Einigung entziehe, die keine (burgerliche) politische Kraft erful-
len konnte. Dann aber greift Gramsci den unerme8lichen Reich-
tum einer kosmopolitischen Kultur wieder auf, nun da ein Prota-
gonist der politischen Einigung geboren ist (die Arbeiterbewe-
gung), und da die wahre, die tragische Schwiiche wenn schon, dann
in der okonomistischen Beschrankung, imkorporativen Sektierer-
tum und in der Subalternitat gegenuber der engstimigen, nationa-
listischen Bourgoisie liegt.
Die Wiederherstellung einer Beziehung zur italienischen Kul-
tur wird also fur die italienische Arbeiterklasse bedeuten, ihre Un-teriegenheit zu uberwinden, der Bourgoisie ihre letzten histori-
schen Fahigkeiten zur »FUhrung« zu nehmen und die italienische
Nation endlich wirklich zu einigen. Sie wohlgemerkt unter dem
Banner einer Bewegung zu einigen, die nicht nur national, sondem
intemationalistisch ist, und die deshalb ein besonderes Motiv zur
Verschmelzung mit der kosmopolitischen Kultur der Italiener ha-
ben miiSte. Die Nation unter der geistigen Fuhrung der Arbeiter-
klasse zu schaffen, wiirde also bedeuten, das, was es in unserer
Kultur an positiven Werten gegeben hat, zu entdecken. Es wird
auch bedeuten, im Geiste des sozialistischen Intemationalismus
tiber die biirgerliche Nation hinauszugehen, oder, wie Gramsci
sagt, im Geiste des »modemen Kosmopolitismus«.
120·
m.Un iver saH tiit und PoH tik
1.In der Diskussion tiber das politische Vermachtnis Gramscis ist
meines Erachtens eine vereinfachende und verkurzte Auffassung
daruber aufgekommen, inwiefem eine Beziehung zwischen unse-
rer Zeit und Gramsci besteht.In den polemischen Auseinandersetzungen tiber die Politik der
KPI ist oft - und nicht ohne Grund - darauf hingewiesen worden,
daBviele politische Positionen der Partei Gramscis wohl kaum tat-
sachlich und direkt auf das politische Denken Gramscis zuriickge-
fiihrt werden konnen 1.Dies trifft zu auf die Beziehung zwischen
Arbeiterbewegung und politischer Demokratie, auf den Pluralis-
mus der politischen Kriifte, auf die Konzeption des neuen Staates
und auf viele Aspekte der Partei selbst. Meiner Meinung nach ist
der Versuch, zwischen den heutigen politischen Positionen der
KPI und den konkreten pol itischen Weisungen Gramscis eine
vollstiindige oder auch nur annahernde Obereinstimmung zu ent-
decken, vergeblich und nicht durchfiihrbar. Daruberhinaus ist die-
ser Versuch meiner Meinung nach nicht besonders sinnvoll.
Bedenkt man die tiefgreifenden versnderungen, die unsere
Epoche von der Zeit Gramscis trennen, so wire eine derartige
weitgehende oder g ar totale Obereinstimmung in der Tat iiu8erst
merkwiirdig.Aber moB man - wie so oft gefordert wird - darum nun schlie-
Ben, zwischen der heutigen Politik und Gramsci sei wirklich tiber-
haupt keine Beziehung moglich? Solch eine Schlu8foigeruDg ist,
wie ich meine, nur die Umkehrung jener, die bis vor kurzem durch
einen Historismus vertreten wurde, der die veranderten poli-
tisch-historischen Bedingungen als AnIaB zur Rechtfertigung aller
theoretischen Unterschiede nahm. Wenn vorher ein schlechter
Referat in: Po li ti ca e s tor ia in Gramsc i, Protokolle des Internationalen Kongres-
ses zur Gramsci-Forschung (Florenz, 9.-11. Dezember 1977), Bd. 1,Materialien,
Rom, Editori Riuniti, 1977. .
121
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Historismus empfahl, jegliches theoretische Erbe zu akzeptieren,
soweit es die historisch veranderlichen, konkreten polit ischen
Entscheidungen nicht beeinflusse, soist meiner Meinung nach je-
ner Historismus nieht weniger schlecht, der jegIiches Erbe zu-
riickweist, das nicht zu konkreten politischen Obereinstimmungen
fiihrt,
Fiir die eine wie fur die andere Richtung hatte also die Theorie
nur eine dienende Funktion fur die praktische Politik. Mehr noch:
die Theorie hatte an und fur sich keine andere Dimension als die
der Legitimation der berei t s ge tro ffenen politischen Entscheidung:
in Form der bloBen feierlichen Dekoration, die das politische Pro-
gramm mit Doktrinarismus garniert, oder in der ebenso doktrina-
ren Form, in der die Theorie nur die Proklamation einer politi-
schen Doktrin ware, die auf die historische Praxis anzuwenden ist.
Ich bestreite nicht, daB diese beiden Varianten der traditionel-
len historischen VorsteUung von der Beziehung zwischen Theorie
und Praxis auf eine betraehtliche kultureUe Tradition zuruckgrei-
fen konnen. Ich bestreite auch nicht, daB sie - obwohl sie meiner
Meinung nach auf jene Ideologie zuriickgehen, die ich als die offi-
zielle Ideologie des europaischen Historismus bezeichnen werde-
auch in der marxistischen Tradition fest verwurzeIt sind.
Gerade deshalb scheint es mir jedoch gerechtfertigt, die Bezie-
hung zwischen Theorie und Praxis kritisch zu iiberdenken. Dies
kann nieht imRahmen der traditioneUen Hermeneutik geschehen,
die sich insgesamt auf eines dieser beiden Parameter stUtzt: auf das
Primat der Politik als intuitive Willensentscheidung und auf d ieDenunzierung jeder theoretischen, wissenschaftlichen Analyse
der Gesellschaft und auch der Politik als reine, abstrakte Utopie,
als Ablenkung und Plucht vor der poIitischen »Konkretheit«.
Diese beiden Modelle der Interpretation sind aUesandere als
einander entgegengesetzt; vielmehr erscheinen sie komplementar.
2. Ich mochte dies kurz an zwei Beispielen beweisen, die
scheinbar sehr weit auseinanderliegen: das erste betrifft die Be-
ziehung zwischen Theorie und Praxis in der pragmatischen, auf
unmittelbare Niitzlichkeit gerichteten Konzeption des stalinischen
Marxismus, das zweite Max Webers Konzeption der Idealtypen.
Weder die eine noch die andere Konzeption kann die Dimen-
sion einer authentischen GeseUschafts- und Politikwissenschaft
122
erreichen, oder sie kann diese nur verbal proklamieren, ohne eine
effektive begriffliche Differenzierung zu leisten, die man wirklich
wissenschaftlich nennen kann. Bei Stalin (und in jener stalinschen
Version des Marxismus, die auch Lukacs beeinfluBte, und die so-
gar bei Sartre und AIthusser noch weiterlebt) wird der Theorie
kein spezifischer, autonomer wissenschaftlicher Raum zugestan-
den, so daB niemals sie diejenige ist , die die Polit ik begrundet,
sondern im Gegenteil sie durch die Politik begriindet wird",
Wenn man tiber die sooft wiederholte Formel der »Einheit von
Theorie und Praxis« nachdenkt, wird man sehen, daB sie niemals
etwas anderes bedeutet hat, a ls eine standige Ermahnung derTheorie, nicht von der polit ischen Praxis abzuweichen und dort
ihre Nahrung zu suchen. Wenn die Anspielung auf Althusser ge-
wagt scheinen mag, soerlaube man mir daran zu erinnern, daBdie
Definition der Philosophie und der Theorie im aUgemeinen als
t he o re ti sc h e P rax i s seine Defmition ist'.
Auf dieser Linie der Interpretation liegen zwei miteinander
verbundene fatale SchluBfolgerungen: die Theorie ist durch die
Polit ik vorgezeichnet und beherrscht; denn die Politik ist der
Kampf der Klassen und daher wird die Philosophie oder Theorie
immer auf die am Kampf beteiligten Klassen zuruckgefuhrt und
sie scheint so im Zeitalter der Moderne gespalten ineine burgerli-
che Philosophie und eine Arbeiterphilosophie4• In dieser doppel-
ten SchluBfolgerung wurzelt die Negation jeder wissenschaftli-
chen Dimension der Theorie und daher auch die AusschlieBung
der theoretischen, wissenschaftIichen Begriindbarkeit der Politik.Ich mochte betonen, daB ich mit der Kritik dieser Position kei-
neswegs die historische Wechselbeziehung.ausklanunem mochte,
die aus der modemen Philosophie groBenteils eine Philosophie
der Bourgeoisie macht: biirgerlich ist sozusagen der historische-
soziale Bezug der Kategorien, ein Bezug, dessen Erkenntnis die
komplizierte Aufgabe des modemen Denkens ist .
Das Problem liegt woanders. Es geht darum nieht zu glauben,
eine Philosophie konne 8 u S dem einfachen Grunde, daBihre be-
deutendsten Vertreter soziologisch gesehen der biirgerlichen
Klasse angehoren, als biirgerlich bezeichnet werden, oder auf-
grund der Tatsache, daBsie lntellektuelle Betrachtu~g~weisen ~-
wuBt und ausschlie81ich »im Interesse der BourgeOlsle« erarbei-
123
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Wenn wir diese beiden weitverbreiteten Konzeptionen des
»Klassen-«charakters der Theorie zuruckweisen, werden wir den
Zugang zu einem ganz neuen Problem eroffnen, Man kann es fol-
genderweise zusammenfassen: in jeder Epoche reiht jede Klasse
sich selbst in die geistige Tradition ein, indem sie die groBen Pro-
bleme des Lebens und der Welt auf der Ebene der Erkenntnis auf-
greift, und im modemen Zeitalter wiederholt die Bourgeoisie
diese Bemtihung und gelangt dabei zu einer sehr ungewohnlichen
und problematischen Konstruktion.
Es gelingt ihr namlich eine Form der Erkenntnis zum Ausdruck
zu bringen, die in Bezug auf die physische, natiirliche Welt exakt,weil methodologisch unanfechtbar ist; doch sie unterlaBt es ganz-
oder scheitert zumindest darin - eine Wissenschaft von der Ge-
schichte zu begriinden, die die gleichen Merkmale methodologi-
scher Unanfechtbarkeit aufweist.
Der »Klassencharakter« der Bourgeoisie hindert sie also iiber-
haupt nicht an der Entwicklung einer exakten Naturwissenschaft,
was eben als Beweis der Moglichkeit betrachtet wird, daB auch die
Bourgeoisie in Bezug auf die Theorie zu wissenschaftlich giiltigen
Ergebnissen gelangen kann",
Wenn wir - wie oben geschehen - ausschlieBen, daB das Versa-
gen der Bourgeoisie in der Gesellschafts- und Geschichtswissen-
schaft einfach durch einen »Utilitarismus« der biirgerlichen Kul-
tur bedingt sei (und wieso sollte die Bourgeoisie Interesse allein an
einer wissenschaftl ichen Erkenntnis der Natur haben und nicht
auch an einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Geschichte?),moB man folgem, daB die biirgerliche Kultur sehr wohl danach
strebt, eine Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft zu begriin-
den, und daB sie diesbeziiglich mit realen Problemen und realen
Schwierigkeiten in der begrif flichen Ausarbeitung konfrontiert ist.
Nicht zufallig ist das gesamte Werk von Marx, der die grundlegen-
den Voraussetzungen fiir eine einheitliche Gesellschafts- und Ge-
schichtswissenschaft entwirft, eine intensive, kritische Auseinan-
dersetzung (jedoch kritisch im umfassenden Sinne des Wortes) mit
den Exponenten der modemen burgerlichen Kultur: Smith, Ri-
cardo, Hegel, Kant und Feuerbach. Wenn Marx' Losungen sich
auch radikal von denen der klassischen biirgerlichen Denker un-
terscheiden (und dies geschieht nicht immer und auch nicht hun-
124 .
dertprozentig), so nimmt er tatsachlich die von diesen Denkem
erarbeiteten Fragen wieder auf und setzt sich mit ihnen auseinan-
der. Marx' Neuerung ist eine methodologische Neuerung, der es
an impliziten und manchmal expliziten Verweisungen auf die an-
deren Denker nicht fehlt . Es scheint mir auch nicht richtig, wenn
man Marx' Neuerung dadurch beschreibt, da8 man behauptet, sie
bestehe im Bekenntnis zum »Standpunkt der Arbeiterklasse«.
Denn meines Erachtens ist es vielmehr so, daBihm die Darstellung
der neuen Theorie des Sozialismus durch eine umfassendere Kri-
tik an der Theorie und auch an der Praxis der modemen Gesell-
schaft gelingt. 1miibrigen ist die Abgrenzung eines wissenschaftli-chen Sozialismus zu jeder anderen sozialistisch-utopischen »Dok-
trine gerade durch die Anerkennung der Existenz objektiver Ge-
setze der Gesellschaft und der Geschichte moglich, und erst deren
Erkenntnis kann Anweisungen zur Transformation in Richtung
auf den Sozialismus legitimieren.
Unter diesem Blickwinkel moB man feststellen, daB bei Marx
die Kritik an der spekulativen Methode der traditionellen Philo-
sophie der Formulierung der politischen Perspektive eines wissen-
schaftl ichen Sozialismus - zumindest logisch, wenn nicht auch
chronologisch - vorausgeht, und daB es Marx gerade durch eine
neue, in ihrer Grundstruktur umrissenen, Gesellschafts- und Ge-
schichtswissenschaft moglieh wird, daraus eine politische Theorie
abzuleiten, die als wissenschafdicher Sozialismus bezeichnet wer-
den kann.
1mGegensatz zu der Meinung, die durch die Tradition des sta-linischen Marxismus vertreten wurde, war der wissenschaftIiche
SoziaIismus nicht die Anwendung eines historischen Materialis-
MUS auf die modeme Gesellschaft - eines historischen Materialis-
mus, der soverstanden selbst nur die simple Anwendung eines en-
zyklopadischen dialektischen Materialismus war. Der wissen-
schaftliche Sozialismus war inWahrheit die richtungsweisende po-
litische Schlu8folgerung aus einer historisch-kritischen Analyse
der modemen Gesellschaft: es war eine Politik, hinter der eine be-
griindete wissenschaftliche Forschung stand.
Das Beispiel Webers dient einem anderen Zweck. Es soli zei-
gen, daBdie revolutionare Bedeutung von Marx in der Skizzierung
der Grundlagen fiir eine wisenschaftliche Darstellbarkeit der hi-
125
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storisch-sozialen Kategorien liegt; also in der PostuIierung der
»Idealtypen«, von denen Weber spater spricht, als eine nicht nur
ideale Typologie , sondem eine, die selbst Ausdruck einer Typolo-
gie realer historisch-sozialer Organismen ist und gegliedert wird.
Aus der Perspektive Webers findet die Darstellung der histo-
risch-sozialen Kategorie niemals objektive Entsprechungen, an
denen sie sich erproben. Denn Weber glaubt nicht, die modeme
btirgerIich~ Kultur sei Ausdruck des realen sozialen Organism us,
den wir Kapitalismus nennen, sondem im Gegenteil, wir wtirden
durch die Anwendung des Idealtypus den Tatsachen und Ereignis-
sen des modemen Zeitalters - die an und fur sich zusammenhang-lose lndividualitaten, ohne irgendeine historisch-objektive Ge-
setzmafsigkeit bleiben - einen ordnenden und schopferischen Sinn
zuschreiben.
FUr Weber gibt es also keine bti rgerl ich-kapitalistische Gesell-
schaft, sondem eine Kultur, die sie erschafft und ordnet",
Die historische Gegentiberstellung findet also niemals zwischen
sozialen Organismen, sondem zwischen Kulturen statt.
Daher ist die historische Gegenuberstellung letztendlich eine
Gegent ibers tellung unterschiedl icher Polit ikfonnen, die als kultu-
relle Synthesen, oder besser als Strukturen des Willens aufgefaBt
werden. So wird bei Weber die tradit ionelle idealistische Konzep-
tion der Politik als eine blo8e Sache der Entscheidung, als eine
Angelegenheit von Leidenschaften* theoretisch systematisiert.
Und wenn wir den verschiedenen poIitischen Tendenzen einen
Namen geben, der nicht ihre Ableitung von einer krit isch-wissen-schaftlichen Perspektive und ihre Verkntipfung mit der Funk-
tionsweise der sozio-okonomischen Organismen bezeichnet, son-
dem hauptsachl ich die ethisch-kul turelle Orient ierung, so verste-
hen wir, wie es moglich ist von der btirgerlichen Kultur zu reden,
wenn man aIle realen Bezuge aus ihr entfemt und den Akzent auf
ausschIieBIich ethisch-pol itische Elemente, und sogar auf i rratio-
nale Schemata gesetzt hat.
Zu bedenken ist, wodurch diese kul turanalyt ische und uberdies
»kulturologische« Betrachtungsweise sich von jener eines be-
stimmten Marxismus unterscheidet, der im Stalinismus seine Voll-
endung findet.
• vgJ.das Stichwon Polink als Le idenschaft inTeil II dieses Buches - ADm. d. Red.
126·
Auch in diesem Marxismus ist die Rede von den »zwei Kultu-
ren«, die einander nicht aufgrund kritisch-wissenschaftlicher Pa-
rameter gegentibergestellt werden, sondem oft aufgrund von
deutl ich ir rationalen Kri terien, die durch rein polit ische Entschei-
dungen bestimmt sind, also ausschIieBlich durch das subjektive
Bewu8tsein.
Man denke an die Begrif fe »sozialist ische Kultur«, »Klassenin-
stinkt«, »Arbeiterwissenschaft«, »Arbeiterbewu8tsein«, Begriffe,
mit denen sich wohlgemerkt auch bedeutende Denker wie Lukacs
auseinandergesetzt haben.
3. Gegenuber dieser geistigen Tradition stell t das Werk Grams-cis ein wichtiges kritisches Reagenz dar. Es gentigt, hier an seinen
Entwurf einer Theorie der Kultur zu denken, in der Alltagsbe-
wuBtsein, autgeklarter Alltagsverstand und kritische Philosophie
mit wichtigen Nuaneierungen voneinander abgesetzt sind; in der
die Folklore beispielsweise - die zwar hinsicht lich der Moglichkeit
einer kritischen Funktion einen eigenen positiven Wert gewinnt-
hinsichtlich der systematischen Bildung dennoch weiterhin als
eine subalteme kulturelle Formation beurteilt wird. NatUrIich
werden durch dieses kulturelle Schema Gramscis die kritisch-ra-
tionalen wissenschaft lichen Elemente stark privilegiert, wahrend
die zuvor genannten Begriffe, die im »italienischen Marxismus«
soviel Raum eingenommen hatten, t iberprtif t und negativ beurteilt
werden".
Ich mochte hier nieht leugnen, daB auch in Gramscis kritisch-
rationalem Entwurf einige widersprt ichliche Aspekte vorhandensind. Es gentigt ein Hinweis auf die zweideutige Position, die das
Denken Gramscis insgesamt gegentiber der Wissenschaft ein-
nimmt9.
1m gro8en und ganzen jedoch scheint es so, als habe der in den
Gefcingnisheften fonnulierte Kulturbegriff entschieden mit dem in
den zwanziger und drei8iger Jahren gangigen Marxismus gebro-
chen und auch die alten Verbindungen mit Bergson, Sorel und
Croce korrigiert. Wie dem auch sei - auch wenn dieser Bruch nicht
vollstandig ware und die bisher erwahnten Fragen bei Gramsci nur
angedeutet und nicht direkt ausgesprochen wUrden, so ist es mei-
ner Meinung nach wesentlich, daB sie wiederaufgenommen, ent-
wicke It und wieder in den traditionellen Marxismus eingebracht
127
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werden. Denn dadurch wiirde der kritische Hinweis erheUt, den
man aus dem Vergleich zwischen der »kulturologischene Frage-
stellung des italienisch-deutschen Historismus und der »okonomi-
stischen« Fragestellung einer gewissen marxistischen Tradition,
zwischen dem Interesse an der historisch-nationalen Besonderheit
und dem Interesse an der logisch-systematischen Modellkonstruk-
tion historisch-sozialer Idealtypen herauslesen kann'", Gerade
durch diesen Vergleich entdeckt Gramsci die kritische Dimension
wieder, die"es schon dem jungen Marx gestattete, eine Vennitt-
lung zwischen der idealistisch-spekulativen und der vulgarmate-
rialistischen Tradition herzusteUen.4. Die Rekonstruktion einer Theorie der Kultur kann von der
Klassenanalyse der Gesellschaft wichtige Anregungen erhalten,
speziell hinsichtIich dreier Themen, die Gramsci besonders ausge-
fuhrt hat: die Theorie der Hegemonie, die sicherlich die bekannte-
ste ist; das Verhaltnis zwischen Kultur und Politik; und die Theo-
rie, die ich die historische Theorie der menschlichen Universalisie-
rung nennen mochte.
Zum ersten Thema ist sehr viel gesagt worden. Ich mochte dem
nur hinzufugen, daB die Theorie der Hegemonie sich bei Gramsci
ineine Konzeption der Geschichte und der Politik einfiigt, die sehr
viel fruchtbarer als die traditioneUerweise in der Geschichte der
Arbeiterbewegung vertretene Konzeption ist. Denn gerade die
Vorstellung der Hegemonie, d. h. die VorsteUung der Notwendig-
keit, eine allgemeine Fuhrung der GeseUschaft zum Ausdruck zu
bringen, gewahrt der Politik Gramscis einen wissenschaftlichenund kultureUen Hintergrund, der dem aktivistischen Primat der
Politik und auch der Reduktion der Politik auf blo8en Willen, Lei-
denschaft, Eigennutzigkeit oder gar Instinkt ein Ende setzt.
Gerade weil ein entwickelter politischer Organismus es verste-
hen muS, mit der gesamten GeseUschaft in Verbindung zu stehen,
dart er seine Politik nicht mehr nur an den traditioneUen subjekti-
yen Faktoren ausrichten und auch nicht nur an den objektiven
Teilfaktoren (okonomisch-korporative Interessen), sondem an
einem Problemhorizont, der die gesamte GeseUschaft miteinbe-
zieht, und der daher ihr grundlegendes historisch-objektives Ter-
rain enthullt (ein Terrain, das durch eindeutig-wissenschaftliche
Forschungen »meSbar« und gleichzeitig als »Experimentierfeld«
128
zur Verifikation geeignet ist).
Hieraus ergibt sich die neue Verkniipfung zwischen Politik und
Kultur, die durch Gramsci entdeckt wird: die Unmoglichkeit und
sogar extreme Schadlichkeit nicht nur der Trennung, sondem auch
der Identifizierung von Politik und Kultur und auch der politi-
schen Fiihrung der Kultur und der »Parteilichkeitc der Wissen-
schaft. Gerade die Tatsache, daB Gramsci die Politik »bereichert«,
indem er sie auf die nicht nur das zufillige Tagesgeschehen umfas-
sende Konzeption einer »Politik als Geschichte« orientiert, zeigt
die Moglichkeit einer wissenschaftlichen Begriindung der Politik
auf, die ausgehend von den Interessen und vom zufalligen Tages-geschehen dennoch dahin kommen muS, das Problem der allge-
meinen, universe lien und langfristigen Fuhrung anzugehen.
Auf dieser Ebene bringt Gramsci das marxsche Leitthema der
wissenschaftlichen Erkennbarkeit der Geschichte wieder ein,
wenn man die Geschichte als Folge von Ereignissen auffaBt, die im
Rahmen von Tendenzen und Institutionen - die in der Funktions-
weise spezifischer sozialer Organismen ihren Ursprung haben -
eine »Gesetzmabigkeite enthalt. Hier taucht der schon traditio-
nelle Einwand der angeblichen Unmoglichkeit einer »wertfreien
Wissenschaft« auf. Eine derartige Infragestellung beinhaltet je-
doch zunaehst gerade die Negation jeder »gesetzmii8igen« Struk-
turierung der verschiedenen Gesellschaftsformationen und damit
auch der gro8en Zeitabschnitte der Geschichte; sie entsteht daher
notwendigerweise auf dem Terrain einer idealistischen Konzep-
tion der Geschichte (und der Politik). Es ist auch leicht einzuse-hen, daB die Behauptung der Unmoglichkeit einer wertfreien Wis-
senschaft oder der Notwendigkeit einer »Parteilichkeit« der Wis-
senschaft und der Kultur im allgemeinen - eine Behauptung, die
auch in der Tradition der sozialistischen Theorie so hiiufig anzu-
treffen ist - bezeichnenderweise mit dem Anspruch des histori-
schen Materialismus, eine wissenschaftliche Erkenntnis der gesell-
schaftlichen Entwicklung hervorzubringen, kollidiert; sie orien-
tiert sich eher am Anspruch der »verstehenden Soziologie«, die
sich als eine von der Feststellung historischer GesetzmiBigkeit un-
abhiingige und stattdessen nur auf »Wertentscheidungen« und
»Kulturentscheidungen« gegriindete Erkenntnismethode ausgibt.
Auf diesem Weg kommt der historische Materialismus in Wirk-
129
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lichkeit auf die bescheidensten Zielsetzungen der Wissenssoziolo-
gie und der Sozialpsychologie herunter.
5. Die wichtigste Fragestellung jedoch, die man dem Werk
Gramscis entnehmen kann, ist vielleicht die dritte: jene Fragestel-
lung, die eine Beziehung zwischen Aktivitaten und Forderungen
der Klasse und der Ftihrung der Gesellschaft herstellt , indem sie
ein Verhaltnis historischer Vermittlung der Nation und auch ein
VerhiHtni~ der Universalisierung umreiBt.
Diese beiden Verhaltnisse hatten in der Geschichte des Mar-
xismus traditionell niemals eine besondere Entwicklung erfabren.
Die Aufhebung des Nationalstaates war in der marxistischenTradition zuunbestimmt einfach als Absterben des Staates, das an
die Verwirklichung eines hohen okonomischen Produktionsnive-
aus gebunden ist, formuliert worden, wahrend die »nationale Fra-
ge« nur unter dem Aspekt des »Selbstbestimmungsrechts der
Volker« gestellt wurde; d. h. unter einem theoretischen Neben-
aspekt, der die Vollendung des Prozesses der weltweiten Ausbrei-
tung des Nationalstaates voraussetzte, den die Bourgeoisie in den
entwickelten Landern eingeleitet hatte.
Yom historischen Standpunkt gesehen handelte es sich dabei
gewiBurn einen in der Tradition der Vielvolkerstaaten und vor al-
lem des russischen und des osterreich-ungarischen Reiches beson-
ders relevanten theoretischen Aspekt; aber die Frage der Bezie-
hung zwischen Arbeiterklasse und Nation erreichte keinesfalls ein
kulturelles Niveau von allgemeiner Bedeutung oder gar die Ebene
der Metapolitik".Sogar das Problem der Nationalsprache blieb, nebenbei be-
merkt, lange sekundar; es tritt sehr viet sparer bei Stalin in Er-
scheinung, wahrend Gramsci es bereits friihzeitig und sehr diffe-
renziert sah.
Insgesamt kann man feststellen, daB Gramsci die Ebene, auf
der der Kampf der Klassen und der Nationalstaat sich treffen, aus
einer viel umfassenderen Perspektive enthullt, und vor allem auf
einer Ebene, auf der die Nation als ein Phanomen nicht nur oko-
nomischer oder politischer, sondern auch kultureller Formierung
gewertet wird.
Er erkennt niimlich, daB der Kampf der Klassen, wenn er sichin
130
einer »nicht erstarrtene" Gesellschaft entwickelt, zum Kampf fur
die Formierung historischer Blocke mit einer politischen und kul-
turellen Fuhrung wird, die im Staat ein Niveau institutioneller
Strukturierung erreichen, das durch einige wesentliche Faktoren
bestimmt wird. Erstens vollzieht sich die in der modernen zivilen
burgerlichen Gesellschaft ausgedruckte Notwendigkeit der Rege-
lung eines eigenstandigen oder politischen Bereichs - einer Spha-
re, die den gesamtgesellschaftlichen Mechanismus mit dem dop-
pelten Band der Macht und des Konsens zusammenhalt - inner-
halbvon Formen, die durch die Fiihigkeit der herrschenden Klasse
zur Assimilation, Variation, Weiterentwicklung und Verbreitungeines kulturellen Erbes gestaltet werden; sowird dies Erbe zur er-
sten Ebene nationaler »Universalisierung« der Klasse, und es er-
ganzt dann auch die zweite Ebene der »Universalisierunge des
Klassenstaats (der burgerlichen Nation) imRahmen der allgemei-
nen Geschichte aUer modemen Staaten.
Zweitens besteht kein Zweifel daran, daB der Herrschafts-
druck, den die herrschende Klasse im modemen Nationalstaat
ausubt, in diesem Rahmen eine direkte Proportionalitat zu Fakto-
ren aufweist, die nicht mehr ausschlie8lich okonomisch (GroBe
und Reichtum des Binnenmarktes) und auch nicht ausschlie8lich
»synchron« (die von der zur Zeit herrschenden Klasse ausge-
druckte Kultur) sind. In Wirklichkeit enthalten diese Faktoren
auch politische und kultureUe, sowie historische Elemente, d. h.
Elemente, die mit dem, was Lenin das »nat ionale Erbe« nannte, in
Verbindung stehen.Diese Faktoren sind die Grundlage fiir das KriifteverJrijltnis zwi-
schen den verschiedenen Klassen - und das hei8t ftlr das histori-
sche Verhaltnis zwischen herrschenden und subalternen Klassen-
und fU r die Gestaltung des herrschenden historischen Blocks.
Schon Lenin hatte bekanntlich das Thema des» Kriifteverhiiltnis-
sese ins Zentrum der revolutionoren Aktion und der Politik g e -
riickt. Dennoch blieb dieses Verhaltnis immer noch einem aus-
schlie8lich politischen Bezugsrahmen verhaftet, und darin spielte
vor allem die taktische Fahigkeit der politischen Parteien (beson-
ders der revolutionaren Arbeiterpartei) und der Aspekt der Ge-
• im Orig.: J O n o n gelatinosae, nicht-gallertartig - Anm. d. D .
131
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waltaustibung eine bedeutende Rolle. Gramsci dagegen beginnt
mit der Untersuchung (und der Darstellung) der strategischen Fa-
higkeit als einer Fahigkeit, kulturelle Triebkraft der Parteien, der
Klassen und des Staates zu werden 12. Man muS jedoch betonen,
daS die Originalitat dieses Werkes nur erfaSt werden kann, wenn
man es von allen noch vorhandenen Spuren eines Kulturinstru-
mentalismus befreit: Parteien, Klassen und Staaten werden nur
dann Fortsehritte machen, wenn sie langfristig »treibende Kraft«
sein konnen; langfristig erhalt die Instrumentalisierung der Kultur
keinen Spielraum und sie fiihrt zu nichts.
Daraus folgt auch bei dieser Vorgehensweise, daB die authenti-sche und grundlegende Neuerung Gramscis - der Aspekt, den
man weiterentwickeln muS - in der Wiedereinfiihrung der Auto-
nomie imRahmen einer neuen Vision der Konvergenz von Kultur
und Politik sowie in der Darstellung auch der Politik als Objekt
kritisch-wissenschaftlicher Erkenntnis liegt.
Wenn dies wahr ist, so begreift man auch, daB die Rolle der Ar-
beiterbewegung in den einzelnen Landern sozusagen durch die hi-
storisch-kulturelle Umwelt, in der sie jeweils operiert, geformt
wird und das heiSt durch die historisch-strategische Aufgabe, die
ihr mit den spezifischen intellektuellen Komponenten der Klas-
senherrschaft, mit dem historisch-kulturellen Niveau des Staates
vorgegeben wird.
So ist das Interesse Gramcsis an der Geschichte, an der Tradi-
tion der italienischen Gesellschaft und an ihrer Kultur zuerklaren;
doch soistvor allem die Beachtung zuerklaren, die der Beziehungzwischen den Ebenen der kulturell-ideellen Universalisierung und
den Ebenen der politisch-korporativen Ftihrung geschenkt wird.
Wie mir scheint, zeigt das Studium des Einmtindens der natio-
nalen Geschichte in den Faschismus fur Gramsci zwei sehr origi-
nale Fragestellungen auf: a) wie und warum geht die universalisti-
sche und au6erst vielfaltige italienische Kultur auf der Ebene des
Staates mit einer au6erst beschrankten und einseitigen politischen
Ftihrung einher? b) wie und warum gelingt esnicht einmal einer im
okonomischen und politischen Bereich sehr universellen Klasse -
dem Proletariat - sich mit den Traditionen einer so universellen
Kultur wie der italienischen zu verbinden, und warum isoliert sie
sich im »Arbeiterkorporativismus«, im Okonomismus und Maxi-
132-
malismus und »verliert« dabei den Staat, d. h. die Fahigkeit die ge-
samte Gesellschaft der Nation zu fuhren?
Eine Antwort auf diese beiden Fragen Gramscis ist anschei-
nend seine Analyse der Grenzen der Aktionspartei im Risorgi-
mento und auch seine Analyse der »Abstraktheite, die imKosmo-
politismus und imUniversalismus der italienischen Kultur und der
italienischen Intellektuellen liegt; eine Antwort darauf ist aber
auch die heftige Kritik der Beschranktheit des Kampfes der Arbei-
ter, seiner kulturellen Armut und seiner mangelnden nationalen
Reichweite.
Aus diesen Analysen ergibt sich im wesentlichen die Feststel-lung einer Diskrepanz zwischen der universalistischen Kultur der
Italiener und der Politik des burgerlichen Staates. Diese Diskre-
panz ist sicherlich der Grund fur die politische Unfruchtbarkeit
oder »Abstraktheite der italienischen Kultur. Die Politik des bur-
gerlichen Staates jedoch ist aufgrund dieser Diskrepanz ohne jede
Offnung zum Yolk und oboe historische Reichweite, und tendiert
somit stark zur Anwendung von Zwang und zur gewaltsamen Un-
terdruckung. Aus den selben Grunden scheint Gramsci der Arbei-
terbewegung die umfassende Operation einer Weiterentwicklung
der kulturellen Tradition vorzuschlagen, die so beschaffen sein
muS, daB sie die italienische Bourgeoisie in der Fiihrung des na-
tionalen Staates ablOsen kann. Diese Operation ist nur dann mog-
lich, wenn es der Arbeiterklasse gelingt, ihren Korporativismus zu
tiberwinden, und damit ihre eigenen Interessen nicht nur als Ter-
rain der Befreiung der Klasse zur Geltung bringt, sondem auch alsLeitlinie zur Vereinheitlichung und Ftihrung der Interessen eines
gesamten historischen Blocks.
6. Aus den Gedanken Gramscis tiber die Beziehung zwischen
der Kultur und den subaltemen Klassen kann man, wenn man sie
durch die weiteren Gedanken tiber die Geschichte Italiens und die
Funktion, die die Kultur darin gehabt hat, erganzt, die grundle-
genden Elemente einer allgemeinen Theorie der Kultur ableiten-
und das heiSt einer allgemeinen Theorie der historisch determi-
nierten Beziehung zwischen okonomisch-korporativen Interessen
(oder Klasseninteressen im engeren Sinne) und den intellektuel-
len Projektionen, in denen die Intellektuellen einer Klasse histo-
risch nach ihrer eigenen Universalisierung streben.
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Der Entwurf einer derartigen allgemeinen Theorie der Kultur
ist nieht nur ein Versueh, in der Naehfolge Gramscis eine histo-
risch-materialistische Anthropologie zu skizzieren, obgleieh dies
angesiehts des Mangels anthropologiseher Ausfiihrungen im tradi-
tionellen Marxismus von groBer Bedeutung ware. Er ist die Lo-
sung eines poIitiseh auBerst relevanten Problems, des Problems
der systematischen Verknupfung von PoIitik und Kultur.
Ausgehend von den hier angefiihrten Gedanken Gramscis ist
eine synthetisehe Erfassung jener Theorie der Kultur moglich, auf
die ieh bei Gramscis Problem der Abstufung von AlItagsbewuBt-
sein, aufgeklartem AlItagsverstand und kritischer Philosophiehingewiesen habe. Es handelt sieh jedoeh urn eine Abstufung, die
weiterer Spezifizierungen bedarf; in den Gefangnisheften sind
dazu implizit wiehtige Aspekte angegeben, die bisher nieht weiter-
entwiekeIt wurden. Bei einer differenzierten Interpretation kann
der Begriff der kritisehen Philosophie das sogenannte Klassenbe-
wu8tsein in seinen unterschiedIiehen Ausdrueksformen als korpo-
ratives BewuBtsein, als poIitisehes BewuBtsein und als politisches
Bewu8tsein der Hegemonie beinhalten, in dem bereits die grund-
legenden Merkmale einer kritischen Philosophie im eigentliehen
Sinne zur Wirkung kommen.
Man muS auch annehmen, daB die in der marxistisehen Tradi-
tion tiberlieferte Verbindung von politisehem Bewu8tsein und kri-
tiseher Philosophie, die aufgefaBt wurde als ein Proze8 der tiber-
wiegend deduktiven Ubertragung der »ideologischene Aspekte
auf die PoIitik, in der kritischen Reflexion Gramscis beachtliehenWidersprueh hervorgerufen hat. Eben dies veranlaBte ihn zu dem
Versueh, auf induktivem Wege - dureh genau festgelegte histori-
sche Untersuchungen, vor allem der italienischen Geschiehte - zu
Verallgemeinerungen zu kommen, fur die es in der marxistisehen
Tradition keine bedeutenden Vorbilder gibt.
leh denke dabei an jenen - bisher kaum jemals analysierten und
deshalb problemreiehen - theoretischen Ansatz, der sieh zu der
synthetischen Formel »Universalitat + Politik« verdiehtet; in die-ser Formel faBtGramsci das Programm einer Revolution zusam-
men, die wirklieh dazu fabig ist, die Widerspriiehe der italieni-
schen Geschiehte aufzuheben.
1m Grunde genommen verurteilt Gramsci nieht so sehr und
134·
aueh nieht nur (dies wird haufiger betont) eine Spaltung zwischen
Kultur und Yolk, zwischen Intellektuellen und PoIitik, als viel-
mehr die kompakte und fest verankerte Prasenz einer nicht-politi-
sehen (nicht-nationalen) Kultur und einer Politik, die unfahig ist,
sieh nicht-korporative Perspektiven zu geben, d. h. Perspektiven,
die sieh mit einer historisch-universellen Problematik verbinden
konnen.
Dieser theoretisehe Ausgangspunkt stellt eine spezifische Be-
stimmung dar, wenn Gramsci wiederholt darauf hinweist, daB Ita-
lien eine Revolution braueht, die die intellektuelle-universelle
Kraft der Renaissance hat und das Yolk (oderdie Politik) erfassenkann wie die Reformation.
Bei genauem Nachdenken seheint es also so, daB Gramsci den
nicht-popularen Charakter der Renaissance und der italienischen
Kultur im allgemeinen ebenso kritisiert wie die bezeiehnende kul-
turelle Armut einer poIitischen Reform, die noch auf religiosen
Begriindungen beruhte. Doch vor allem scheint er dem zuzustim-
men, daB eine moderne Revolution des Volkes nieht ohne univer-
selle intellektuelle - weltgeschichtliche" - Perspektive sein kann,
da ja eine authentische intellektuelle UniversaIisierung nieht um-
hin kann, politisch das Yolk miteinzubeziehen (was historisch nur
auf der Gestalt einer Nation als Staat basieren konnte).
W8hrend aber die zweite Passage tiber die Trennung von Kul-
tur und Politik, die sicherlieh eher aufiallt, simplifiziert worden ist,
wobei die Kultur tendenziell auf die Politik zureehtgestutzt wurde,
wurde die erste Ausfiihrung vielleieht nieht einmal registriert, zu-mindest in dem Sinne, daB man die Intention Gramscis, die Not-
wendigkeit einer »universeUenc Beziehung zur Politik hervorzu-
heben, kaum aufgezeigt hat.
Wabrend die Kritik der sogenannten »Abgetrenntheite der
Kultur von der Politik weite Verbreitung fand, hat man also nieht
gesehen, daB Gramsci in WirIdiehkeit nieht nur eine politischere
Kultur sondern aueh eine universelle PoIitik fordert.
Meiner Meinung naeh geniigt hier der Verweis auf die Kritik
des korporativen BewuBtseins; denn die von Gramsci vorgetra-
gene Kritik geht sehr wohl tiber die Renaissance hinaus und be-
• deutsch im Original, Anm. d. O.
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trifft zum Beispiel auch die Politik der Aktionspartei, die Politik
des savoyischen Staates und auch die Politik der sozialistischen
Partei, vor allem weil es ihr an »Universalitate mangelt, oder an
jener verbindenden und historisch bestandigen Fiil iigkeit, die sich
nicht aus der blo6en Befriedigung korporativer Klasseninteressen
ergibt, und die daher in einer wirklichen Fahigkeit, die Politik vor-
anzutreiben, verwirklicht werden muS.
Unter diesem Blickwinkel mii6te man vielleicht Gramscis Ana-
lyse des Intellektuellen uberdenken; man hat sie bisher vorwie-
gend soziologisch aufgefaBt, d. h. als eine Analyse der sozialen
und politischen Funktion der Intellektuellen insofem sie die Ver-mitt ler des Konsens sind. In Wirklichkeit riskiert eine derart ig ein-
seitige Lekture die Verminderung des Einflusses der Kultur auf
die Politik und verunmoglicht daher das umfassende Verstandnis
der Formel Gramscis »Universalitat + Politik«.
Es ist wahrscheinlich notwendig, Gramscis Analyse der Intel-
lektuellen durch die Ansatze zu einer wirklichen und eigentl ichen
Kritik der Politik zu erganzen, die man hier und dort in den Ge-
fiingnisheften entdecken kann. Wir stehen dann einem gro6en
theoretischen Problem gegenuber: dem Problem der Beziehung
zwischen der Darstellung der Politik und Okonomie in der histori-
schen Entwicklung und der Darstellung der intellektuell-kulturel-
len Ebene. Wiilirend das Interesse sich aus der ersten Perspektive
auf die Bemiihungen und die Techniken zur Zementierung der hi-
storischen Blocke und der staat lichen Formationen konzentriert,
wiirde unter dem zweiten Gesichtspunkt ein anderes Problem inden Vordergrund geruckt: das Problem des universellen Beitrags,
den jeder historische Block innerhalb bestimmter sozio-politi-
scher Strukturen und unter der Fiihrung einzelner Klassen zum
allgemeinen historischen Fortschri tt, zur Entwicklung des histori -
schen materiellen und geistigen Erbes der Menschheit leistet.
Unter diesem Gesichtspunkt ware es also auch moglich, die hi-
storisch-universelle Tragweite der Kultur des bii rgerlichen Zeital-
ters wiederzugewinnen, insofem sie unter bestimmten histori-
schen Voraussetzungen fii liig war, die historische Universalisie-
rung einer bestimmten Entwicklungsstufe zu verwirklichen, die
dann angeeignet und weitgehend »unverzichtbare war. Wie man
weiS, enthielt bereits das Kommunistische Manifest von 1848 ei-
136·
nen Hinweis auf diesen zweiten Gesichtspunkt der modemen Ge-
schichte, den Marx besonders beachtete, als er sich mit Smith, Ri-
cardo und Hegel auseinandersetzte.
Man versteht nun, daB die Wiedergewinnung der histo-
risch-universellen Ebene nicht zur Uberwindung, sondem zur
Prazisierung der grundliegenden These fuhrt, daB »die Geschich-
te ... Geschichte von Klassenkampfene ist.
Man sollte sie namlich ungefahr so lesen: die Geschichte ist
nicht die Geschichte der Ideen, die die Gesellschaft und die sozia-
len Auseinandersetzungen produzieren, sondem die Geschichte
der sozialen Auseinandersetzungen und der Gesellschaften, diedie Ideen produzieren.
So gesehen verliert die These, daB die Geschichte Geschichte
von Klassenkampfen ist, die Bedeutung, die sie oft gehabt hat, daB
die Geschichte nur Geschichte der Klassen sei, und daB die Ge-
schichte der Ideen umso mehr ein funktional-instrumentelles An-
hangsel der Klassenkampfe sei. Eben dieser Auffassung ent-
stammt genau gesehen die Uberzeugung, daB die Kultur sich in
zwei Kulturen, die burgerliche und die Arbeiterkultur spalten
kann.
Dies ware eine Spaltung, die nicht nur die historische Epoche in
der die Kultur hervorgebracht wird, kennzeichnen wilrde, d. h. ih-
ren konkreten historischen Bezug oder die soziologischen Merk-
male ihrer Exponenten, sondem sie ware auch eine mechanische
Beschreibung der begriff lichen Darstellung. Zudem wird deutl ich,
daB in diesem Falle eine eigentliche und unabhangige kulturelleFragestellung aufhoren wiirde, einen spezifischen Sinn zu haben:
sie ware namlich nur ein abhangiger, untergeordneter und instru-
menteller Aspekt der Politik. Die Kultur ware daher auf die Poli-
tik »reduzierte.
Aus der Perspektive, die hier angedeutet wird, scheint es je-
doch so, daB Gramsci mit der Notwendigkei t einer Universalisie-
rung der Politik eine hohere Stufe der Betrachtung anstrebt, um
sowohl die Poli tik als auch die Klassen und die gesellschaft lichen
Formationen beurteilen zu konnen: ihre Fihigkeit , die Geschichte
kulturell voranzutreiben, oder ihre Fahigkeit, Kriterien und Per-
spektiven der historischen Universalisierung des Menschen zu
formulieren und zu konkretisieren. Daraus wilrde sich notwendig
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die Aufgabe ergeben, die Genesis selbst dieser Frage der Univer-
salisierung zu untersuchen, und zwar als ein spezifisches Problem
der Feststellung der Ursachen und der Formen fiir die allgemeine
Erweiterung der - historisch-okonomischen - Erfahrungswelt ,
und daher des spezifischen Werts der Kultur als Erkenntnis, Kunst
und Wissenschaft.
7. Nur die modeme Bourgeoisie schafft eine authentische und
gleichzeitig laizistisch-universalistische Kultur, denn diese Kultur
ist aufgebaut auf der Hypothese der Gleichstellung aller Glieder
der Menschheit, und weder hat die Natur irgendeinen durch die
Zivilisierung nicht iiberwindbaren Unterschied zwischen ihnen
festgelegt, noch hat Gott seine Gnade unter sie verteil t.
Durch die Bourgeoisie wird die Universalisierung des Indivi-
duums zum ersten Mal mit der Entwicklung der gesamten Gattung
verkniipft. In der klassischen Welt war dies wegen der je nach Ge-
burt unterschiedlichen Zuordnung zu strukturell versehiedenarti-
gen Spharen naturgemii.8 ausgeschlossen: es gab Freie und Skla-
yen. Die Menschheit als solche gab esnicht, zumindest insofem die
natiirliche Bestimmung des Menschen nicht geniigte, um ihn zu ei-
nem Glied der Menschheit zu machen. Es bedurfte stattdessen der
Eingliederung des Individuums in einen sozio-politischen Kon-
text, der wegen seiner gesamten historischen Tradition besonders
dazu geeignet war, da s Individuum seiner »niedrigerene Pflichten,
und das heiSt im wesentlichen der korperlichen Arbeit, zu entzie-
hen. Daher war die Kultur fur den Menschen die konkrete Emani-
pation, der unbeschwerte GenuB des Lebens und die tiefe Lebens-freude; denn die Emanzipation bestand in der Befreiung von der
korperlichen Arbeit und der ausschlieBlichen Hinwendung auf die
geistige Arbeit.
Aber auf diese Weise war die geistige Arbeit genaugenommen
nicht Arbeit, d. h. eine Tiitigkeit fUr alle, ein universalistischer
Beitrag des Individuums, da sie ja die Spaltung der Menschheit in
Freie und Sklaven voraussetzte und bestatigte. Einerseits war die
Tatsache, daB ein Teil der Menschheit dazu verurteil t war zu die-
nen, die Voraussetzung fUrdie vollstandige Freiheit eines anderen
Teils der Menschheit, und andererseits war sie das theoretisch be-
statigte Ergebnis der intellektuellen Aktivitat weniger. Die Kultur
war also die freie Welt der Freien, die andererseits die Unmog-
138 .
lichkeit einer allgemeinen Freiheit fiir Aile sanktionierte.
Insgesamt zeichnet die Freiheit der antiken Welt sich alsodurch
eine gro8e Eintracht und Harmonie aus, an der die Gesamtheit der
Menschen jedoch keinen Anteil hat. Man begreift nun, daB die
Kultur der antiken Welt daher dazu verurteil t ist , auf eine Klas-
senkultur beschrankt zu bleiben, in der der geringe Beitrag der in-
dividuellen PersOnlichkeiten auf der geringen Zahl der Menschen
beruht, die tatsachlich an der geschichtlichen Bewegung teiihaben.
Dies alles tritt in der Erscheinung eines groBen, harmonischen
Zusammenschlusses der Welt der Freien auf, die jedoch indiesem
ZusammenschluB immer noch die halbnaturwiichsigen und kri-tisch-verstandesmabig ungelosten Aspekte einer Gemeinschaft
beinhaltet, die durch die Natur und naturgemiB geformt ist , und
daher nicht vollstandig von den Auseinandersetzungen der Ge-
schichte differenziert ist.Die Harmonie der griechischen Kunst und Literatur ist noch
von diesen naturalistischen Wesensmerkmalen durchtrankt, und
die asthetisehen Ideale des Griechen beruhen noch auf der Vor-
stellung einer Gesamtheit der Menschen; diese gewinnt eher einen
Vorteil aus der Harmonie und aus der Abstimmung einiger Teile
untereinander als aus individuellen, personlichen hochst kreativen
Beitragen der einzelnen Teile als solche. Es fehlt die Vorstellung
eines unendlichen Potentials, das ~ als unbegrenzte Folge von
Menschen als Subjekten - ftir die Menschheit verfiigbar ist; statt-
dessen herrscht die Vorstellung, nur einige wenige Menschen
seien die Urheber intellektueller und historischer AnstoBe, Sub-jekte. Somit beruht die politische und asthetische Universalisie-
rung auf der Gestaltung der gegenseitigen Beziehung derjenigen
Subjekte, die die Natur von den anderen unterschieden hat, und
auf der ausgleichenden Harmonie des geistigen Schaffens dieser
Subjekte.Es besteht also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der
Zugehorigkeit zur herrschenden Klasse und allgemeiner zwischen
Frei-Sein und Mensch-Sein, zwischen der naturgegebenen Frei-
heit von der Sklaverei und der Urheberschaft intellektuellen und
moralischen Lebens.
In der klassischen Welt fehlt die konkrete Moglichkeit - und
folglich auch die Vorstellung - der Einheit der Menschheit, ihrer
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urspriinglich in der Erkenntnis vorhandenen und ihrer in der Zu-
kunft moglichen historischen Vereinigung, Die Vorstellung eines
Aile vereinigenden Schopfers fehlt ebenso wie die Vorstellung des
Strebens aller Menschen nach einem vereinigten Ideal; in dem
Ma8e wie das politische Gebaude der Polis und der Civitas ausein-
anderbricht, bringt die historische Zersplit terung der Menschheit
die Frage nach der potentiellen Bedeutung (oder des Hervortre-
tens) jedes einzelnen Menschen als Subjekt hervor. Und endlich
fehlt - wie auch im Mittelalter - die Moglichkeit, daB eine be-
herrschte Klasse zur fiihrenden Klasse wird.
So reift mit der Auflosung des antikes politischen Gebaudesgleichzeitig die Entwicklung zweier Instanzen zur Einigung der
Menschheit, das Romische Recht und der christliche Monothe-
ismus. Gleichzeitig mit der Entwicklung dieser beiden Instanzen
kommt es zum Fortschritt der Vorstellung, daB die Gleichheit aller
Indiviuen moglich ist, und daB die Teilung in Regierende und Re-
gierte ihrem Wesen nach unnaturlich ist. .
1m Romisehen Recht gerat die Gleichstellung der Menschen
noch in Konflikt mit der Sklaverei; doch die wachsenden Bedurf-
nisse der Warenzirkulation durchbrechen diese Grenze und be-
dingen eine Reihe von Hypothesen tiber die Gleichberechtigung
der Menschen, einschlie8lich der Sklaven. Man denke vor allem an
die Regelung des »Pekulium«* und an die Tatsache, daB auch
Sklaven offentliche Antter ubemehmen konnten, und man denke
auch an die weltlichen Implikationen des romischen Stoizismus.
Dennoch kann diese Struktur menschlicher Gleichwertigkeitsich nicht als herrschende Struktur durchsetzen, sie bleibt auf ein-
zelne Bereiche des Privatlebens beschrankt, sie setzt sichalso nichtals allgemeine offentliche Struktur durch.
Die historische Grenze des Romischen Rechtes ist also genau
diese Unfilhigkeit, ein offemliches Recht zu schaffen, das ein lex
generalis omnium verwirklichen kann und eine Welt vor dem Ge-setz gleicher Rechtspersonen.
Was den weltlichen rechtlichen Institutionen nicht moglich ist,
ist jedoch - nach der Oberwindung der Anfangsschwierigkeiten _
• Vermogen, (urspr. Vieh), das auch Sklaven besitzen konnten und dessen Fixie-
rung im romischen Recht ihnen eine sonst fehlende Moglichkeit der (beschriink-ten) Teilnahme am Geschiiftsleben erlaubte. - Anm. d. D .
140 .
dem abstrakten System der monotheistischen, auf die Schopfung
bezogenen christlichen Religion moglich. Die Vorstellung, daB je-
der einzelne Mensch in der Welt endlich ist, reduziert immer mehr
die Bedeutung der weltlichen, d. h. der konkret erfahrenen Unter-
schiede, wahrend sie die abstrakte Identitat der Subjekte - der
Seelen - betont. Aber all dies beinhaltet, daBes ziemlich unerheb-
lich ist, ob man der gesellschaftlich herrschenden Elite angehort,
doch es beinhaltet auch die grundlegende Bedeutungslosigkeit je-
der gesellschaftlichen Fragestellung und jeder politischen Strate-
gie, eben deshalb, weil die Einigung der Menschheit weder die
Aufgabe einer Klasse, noch die eines Staates oder einer Kultur
sein konnte.
1m Gegenteil: die real existierende Welt des praktischen Le-
bens verknochert in ihren konkreten Differenzen, die als hierar-
chische Pluralitat des Dienens fur eine metapolitische Strategie
zur Einigung der Menschheit aufgefaBt werden: das Diesseits hat
nur dann einen Sinn, wenn es im Dienste des Jenseits steht. Hier
wird der gro8e Vorteil des Christentums gegenuber der antiken
Weltauffassung deutlich: jedes einzelne Individuum wird ebenaLs
solches zumindest insofern aktiviert als es eine Seele hat, und die
Menschheit kann endlich als Gesamtheit der real existierenden
Wesen gedacht werden, wenn diese auch sozusagen nur als ab-
strakte Inhaber einer Seele zahlen, Somit wird endlich die
Menschheit entdeckt, wenn sie auch nur mit einem urspriinglich
gottlichen Erbe versehen wird, das sie dann verlor, und das sie nur
im Himmelreich wiedergewinnen kann. Die Menschheit ist ge-
naugenommen eine Projektion der irdischen Wesen ins Jenseits,
und so ist esbereits moglich, universe lie Aufgaben und universe 1 -
les ethisch-politisches Handeln zu denken, wenn diese auch nur
dadurch eine allgemeine Bedeutung erlangen, daB sie sich selbst
nur als von der Religion abhangige Artikulierungen begreifen.
8. Der historisch-ideelle Gesichtskreis der modernen Bour-
geoisie stellt einen tiefen Bruch mit diesen vorneuzeitlichen~-
schauungen uber den Menschen dar: seine Voraussetzungen sind
im wesentlichen die folgenden: 1.gegen die antike Welt wird die
christliche Idee hochgehalten, daB die politischen und sozialen
Organismen keine Organismen der Natur, sondern kiinstliche
Schopfungen der Menschen sind; 2. gegeniiber der christ lichen
141
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Idee, daB diese Einrichtungen mit dem gottlichen Willen ausge-
stattet seien, wird darauf bestanden, daBes sichhierbei imGegen-
teil urn weltliche und vertragliche Einrichtungen der Menschen
handelt, die ihrer Natur nach von einer unzerstorbaren autono-
men Subjektivitat begabt sind.
So wird erst moglich die Unterstellung einer Universalisierung
des menschlichen Willens in den beiden qrosen Systemen a) der
weltlichen Ethik, auf deren Grundlage die individuelle Entschei-
dung sich ailsuniverseller kategorischer Imperativ darstellt, b) der
gesetzlichen Ordnung, in der die universeUe VeraUgemeinerung
ihre groBte Verwirklichung in der GleichsteUung aller als gleicheSubjekte vor dem Gesetz findet, das von allen abhangt und fur aIlegleich ist.
Auf diese Weise bleiben die Unterschiede zwischen den Indivi-
duen zwar bestehen, aber sie setzen nicht mehr die formelle Dis-
kriminierung der menschlichen Gattung in zwei Abteilungen (die
Herrschenden und die Beherrschten) voraus und ebensowenig die
christliche Vertagung jeglicher universeller Neugestaltung aufsJenseits.
Auf der Ebene der politisch-juristischen Abstraktion, die die
typische Sphare der biirgerlichen Vereinheitlichung der Welt ist,
werden einige Aspekte menschlicher GleichsteUung moglich: 1.
aIle Burger desselben Nationalstaats konnen als gleiche Besitzti-
telhalter jedweden Rechts und jedweder Pflicht aufgefaBt werden;
2. im Bereich der geseUschaftlichen Produktionsverhalmlsss _
also unabhangig von den besagten poIitisch-staatlichen Unter-schieden - konnen sich aUe Menschen als gleiche Besitzer der
Menschen- und Eigentumsrechte verstehen; 3. unter einem zu-
nachst programmatischen Aspekt konnen aUe Individuen, unab-
hangig von ihrem Eigentiimerstatus, als Subjekte der »gro.6en«
Freiheiten betrachtet werden: der Freiheit des Wortes und des
Denkens, der Freiheit von Not, der Freiheit der Person.
Diese verschiedenen Aspekte der Gleichstellung der Menschen
stellen andererseits Ebenen dar, die jeweils in ziemlich unter-
schiedlichen Verhaltnissen zu r praktisch-institutioneUen Realitat
stehen; diesbeziiglich ist der unterschiedliche Grad ihrer Verwirk-
Iichung positiv oder negativ vorgegeben durch die uniiberwindli-
che nationale Souveranitat der Staaten. Von diesen Aspekten
142
menschlicher GleichsteUung ist der zweite zweifellos der meist-
garantierte; hinter ihm wirkt das modeme Eigentumsrecht glei-
cherma.6en auf den, der eine Fabrik betreibt, wie auf den, der sei-
nen eigenen Korper anwendet. Aber es ist klar, daB dieser Aspekt
der Gleichheit nur verwirklicht wird, indem die gesell ige Ungesel-
ligkeit (Kant), die sich in der modemen biirgerlichen Gesellschaft
der einander bekampfenden Privaten etabliert, als unveranderbar
und der »menschlichen Natur« eigentiimlich postuliert werden.
Freilich stiitzt sich diese eher fiktive Gieichstellung der Menschen
alsgleiche Eigentilmer (ihrer selbst oder von Dingen) zugleich auf
die Anerkennung der gle ichen Moglichkei t, in der Welt zuexpan-dieren, die eigenen Bediirfnisse zu befriedigen und »das Glucke zu
erlangen. AUe sind Subjekte und Eigentiimer oder Menschen su i
iuris: sie sind, um mit Kant zu sprechen, Menschen gleicher Wiir-
de, angesichts derer die wahmehmbaren Unterschiede zu ver-
nachliissigen sind. Wenn das auch noch wenig ist, so ist es doch
schon etwas Wesentliches. In der Tat werden die wahmehmbaren
Unterschiede jetzt zwar als unverriickbar, unveranderbar und un-
aufhebbar vorausgesetzt, aber sie werden trotzdem tendenzieU in
ihrer Bedeutung negiert. Ihre Bedeutsamkeit ist vollig an die Tat-
sache gebunden, daB das Subjekt als Person sich als gesondertes
Subjekt betrachtet, das nur auf die abstrakte oder moralische Uni-
versalisierung an sich Anspruch erhebt. Wenn sich das Subjekt in
privates Subjekt und SttulISburger verdoppelt, so ist es ebenso
wahr, daB der Staatsbiirger auf das Privatsubjekt Druck ausiiben
kann, daB die Politik auf die Wirtschaft EinfluS nehmen kann, daBdie juristische Gleichheit theoretisch nicht das Auftauchen der so-
zialokonomischen Gleichheit verhindem kann. SchlieSlich sieht
ein ganzer Kreis von Subjekten (das modeme Proletariat oder die
Klasse derer, die bloBEigentiimer ihrer selbst, aber Produzenten
d er D in ge sind) eben darin die Erlangung des Gliicks.
Der universalistische Antrieb, zu dem die von der Bourgeoisie
reprasentierte Welt fahig ist, geht nicht tiber diese auffallige
Grenze der Ambiguitat hinaus: wir mussen gleich sein, weil wir
konkret zu ungleich sind, aber wir durfen nicht derart gleich sein,daBwir dasjenige aufheben, welches uns so verschieden macht und
eben deshalb unsere bloB abstrakte GleichsteUung notig macht!
Die Gleichheit ist gleichzeitig das notwendige Modell sowohl der
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Universalitat als auch der nicht ausloschbaren Utopie, die alIer-
dings in die Grenzen der Ethik, des Rechts und der Politik ver-bannt wird.
1mburgerlichen ZeitaIter, bemerkte Marx, wird die Geschichte
zu universellen Geschichte. Entsprechend entsteht auch die »Idee
zu einer allgemeinen Geschichte in weItburgerIicher Absicht«
(Kant). Das Ende der formellen Privilegien, die Angleichung der
ethisch-juristischen und politischen MogIichkeiten stellt die Ge-
sellschaft tier individuellen Konkurrenz vor das Problem der Uni-
versalisierung. Auch Kant, der groBe Theoretiker des modernen
IndividuaIismus und der abstrakten Gleichheit, mu8 schreiben:»Am Menschen (als dem einzigen vernunftigen GeschOpf auf Er-
den) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch
seiner Vernunft abgezieIt sind, nur in der Gattung, nicht aber im
Individuum vollstandig entwickelne'". Auch fur Kant bestebt die
Kultur »in dem geseIlschaftIichen Wert des Menschen« 15, aber
dieser gesellschaftliche Wert des Menschen wird allein und aus-
schlie8lich alsmoralischer Wert aufgefaSt. Die wabre Grenze der
vollen gesellschaftlichen Entfaltung des menschlichen Wesens be-
steht gerade in der Unfiiltigkeit, dem gesellschaftIichen Charakter
eben der praktiscnen, von den Menschen produzierten We1te
Rechnung zu tragen. Die gesamte klassische, fur Kant zeitgenossi-
sche Okonomie dreht sich in ihrem Bemiihen genau urn das Pro-
blem des Arbeitswerts, um aus der groBen Antinomie des burger-
lichen Denkens herauszukommen: der Mensch ist ein soziales We-
sen, aber seine Gesellschaftlichkeit wird praktisch verunmoglichtdurch die Dominanz des Privateigentums, sei es bei der Beherr-
schung der Natur, sei esbei der Konstruktion der gesetzlichen Au-
tonomie des Individuums, sei es bei der moralischen EntfaItung
der Freiheit. Nicht zufallig stellt sich Kant die Gesellschaft als ei-
nen Wald vor, in dem jeder Baum »dem anderen Luft und Sonne
zu benehmen suchte, sodaS sie »einander notigen, beides uber sich
zu suchen und dadurch einen schonen geraden Wuchs bekommen;
~!att daS die, weIche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre
Aste nach Wohlgefallen treiben, kriippelig, schief und krumm
wachsene 16.Man begreift, da8 die Universalisierung in Wirklich-
keit auf Selektion reduziert ist: »Alle Kultur und Kunst, welche
die Menscbheit ziert, die schonste gesellschaftliche Ordnung sind
144
Friichte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genotigt wird sich
zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der
Natur vollstandig zu entwickeIn» 17. Diese a bg ed ru ng en e K un st ist
das moderne Nationalstaatsrecht: Kunst des Zwangs. Die natur-
wiichsige Freiheit der biirgerlichen Gesellschaft wird durch diese
Kunst diszipliniert, die dann auch die Weltbiirgerschaft der Staa-
ten regiert, die sie ebenso standig entzweit. Fur Kant ist jedoch
(wie fUrMarx!) das, »wasdie Natur zur hochsten Absicht hat, ein
allgemeiner weltbUrgerlicher Zustand«, aber das, was konkret
moglich ist, ist nur ein »ktinftiger gro8er Staatskorpere 18.
Ersteres bleibt das Modell, an dem sich die Praxis der erschei-nenden Existenz der Staaten immer orientiert, ohne es jemals zu
erreichen; ihr Wesen ist aber durch das Wesen der abstrakten und
zwangsweisen Regelung der naturwUchsigen und unaufhebbaren
Ungesellschaftlichkeit der biirgerlichen Eigentiimergesellschaft
vorgegeben.
Aber hier deutet sich eine gefahrliche Spannung an, die zu ei-
nem Bruch fuhren mUfl : in die eine Richtung driingt die geistige
Entdeckung der theoretischen Notwendigkei: einer Universalisie-
rung der Existenz, welche die sozialen, politischen und juristischen
Unterschiede des Eigentums, des Staates und des Rechts uber-
windet, urn in den erscheinenden historischen Institutionen das
»gesellschaftIiche Wesen des Menschen«, aus dem die Kultur be-
steht, zu verwirldichen. In die andere Richtung driingt bingegen
das (klassische) verkehrte Vorurteil, daB Eigentum, Staat und
Recht - die echten Hindernisse einer wirksamen universalisti-schen und kosmopolitischen Ordnung - unverriickbar seien, weil
sie der »schlechten« Natur der Menschen entsprechen. Und zwar,
wohlgemerkt, der schlechten Natur der assoziierten Menschen
(der GeseUschaft), da jedes einzeIne Individuum fU r sich genom-
men ja im Gegenteil bereits ein universeUer Wert sei. Hinter der
Rousseauschen Kritik der Zivilisation kommt schon der modeme
Skeptizismus gegenuber dem Leben in der Gesellschaft, die pri-
vatistische Neigung des modernen Robinson zum Vorschein.
Darin besteht der Bruch: die Kultur driingt in eine Richtung,
die (biirgerliche) GeseUschaft in eine andere. Wenn die (biirgerli-
che!) Kultur sich konsequent universalistisch entwickeIt, driingt
sie in Richtung einer Beseitigung aUer praktischen Hindernisse
145
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und anerkennt inwachsendem Ma8e deren nieht naturgegebenen,
sondern historisch-kunstlichen Charakter (die abgedrungene
Kunst von Kant), uberdenkt noch einmal kritisch deren Grundlage
und Berechtigung. Aber dergestalt kommt sie mit den Institutio-
nen der etablierten Gesellschaft in Konflikt, wahrend zugleich die
etablierte Gesellschaft mit der Kultur kollidiert . Die Kultur for-
dert die Weltbiirgerschaft und kritisiert die Gesellschaft; die (bur-
gerliche) Gesellschaft weist die Weltbiirgerschaft zuruck und for-
dert eine'auf ihren unabdingbaren Notwendigkeiten - Eigentum,
Staat und Recht - zurechtgestutzte Kultur.
Das biirgerliche Zeitalter gerat notwendig in diese Antinomie:
es produziert immer mehr Kultur aber eben auch immer mehr
Zerstorung der Kultur. Es ist kein Zufall , daB das Vaterland von
Kant auch das Vaterland Hitlers ist .
9. Lesen wir nun Gramsci: »Das Absterben der alten Ideolo-
gien verwirklicht sich als Skeptizismus gegenuber allen Theorien
und allgemeinen Formeln sowie als Hinwendung zum rein oko-
nomischen Tatbestand (Gewinn etc.) und zur Politik - nieht nur im
Sinne faktischer Realpolitik (wie das immer der Fall ist), sondern
zu einer in ihren unmittelbaren Au8erungen zynischen Polit ik
(... ) . Aber diese Reduktion auf Okonomie und Polit ik bedeutet
genaugenommen Reduktion der hoheren Uberbaustrukturen auf
die mehr zur Basis gehorigen, bedeutet also die MOglichkeit und
Notwendigkeit der Herausbildung einer neuen Kultur.e 19Und mit
noch gro8erer Prazision: »Die ruckschrittlichen und konservati-
yen sozialen Gruppierungen kehren immer mehr zu ihrer anfiing-lichen okonomisch-korporativen Phase zuruck, wahrend die fort-
schrittlichen und erneuernden Gruppierungen sich noch in ihrer
anfanglichen, ebenfalls okonomisch-korporativen Phase befin-
den.«lo Um die schone Metapher von Gramsci anzuwenden: das
»Geistigee entfemt sich vom »Irdischen«, sci es weil das Geistige
gegen das - um es so auszudrucken - Irdiseh-Geschaftliche und
Irdisch-Imperiale der Bourgeoisie sich auflehnt, sei es auch, weil
das Irdische selbst das Geistige zuruckweist, das auf der Suche
nach Universalitat ist.l1
1st hier nicht mit gro8er Feinheit ein wahres und wirkliches hi-
storisches Gesetz erfaBt und, im besonderen, die Tendenz unserer
Epoche der allgemeine Krise der biirgerlichen Welt? Die Krise be-
146.
steht gerade in der Tatsache, daB das Alte abstirbt und das Neue
noch nicht ins Leben treten kann. Und, wohlgemerkt, das Alte
stirbt, weil seine praktische Struktur sich von seiner theoretischen
Struktur ablest , weil die Welt seiner Interessen mit der Welt der
Kultur und der bereits proklamierten Universalitat zusammen-
stoBt.Das Neue kann deshalb nicht heraustreten, weildas neue hi-
storische Subjekt - die Arbeiterklasse - noch in seiner okono-
misch-korporative Enge »verpuppt« ist, auf die sieh ihrerseits die
herrschende Klasse selbst mehr und mehr zuruckzieht. Die allge-
meine Bedrohung, die sich ftir die heutige Zeit abzeichnet, ist die
eines allgemeinen okonomisch-korporativen Niedergangs aller,d. h. die Gefahr einer allgemeinen Zersetzting und eines allgemei-
nen Zusammenbruchs der Kultur, der Zivilisation selbst. Und
dazu tragt die Unfahigkeit der Bourgeoisie, an den von ihr selbst
formulierten historischen Aufgaben der Universalisierung festzu-
halten, erheblich bei, ebenso aber die noch unzureichende Fahig-
keit der Arbeiterklasse, von ihren klassenma6ig begrenzten Auf-
gaben zu den universellen historischen Aufgaben aufzusteigen, die
uneingelost blieben und die nur sie kraft ihrer eigenen praktisch-
sozialen Struktur iibemehmen kann. 1m »Aufgabenverzeiehnis«
ihrer eigenen Klassenemanzipation sind eingetragen: die Kritik
des Eigentums, des Staates und des Rechts, die intemationalisti-
sche Solidaritat und die allgemeine Vereinigung in der Weltbiir-
gerschaft der Arbeiter. Die praktischen Klasseninteressen enthal-
ten also objektive Elemente der Universalit it ; Gramsci deckt sie
auf - wie schon der junge Marx -, aber mit gro8erer Scharfe (diedurch unsere Zeit der Krise vorgegeben ist) spricht er ein neues
Verhaltnis zwischen Klassenemanzipation und allgemeiner
Emanzipation aus. Er sieht namlich, daB in den entwickelten Ge-
sellschaften die sozialistische Revolution nur als zunehmende
AuflOsung eines herrschenden historischen Blocks zum Durch-
bruch kommen kann, eines historischen Blocks, der durch histo-
risch-allgemeine Werte der groBen europaischen Kultur (nach
Gramsci der einzigen bistorisch und konkret universellen Kultur)
gefestigt ist; daher ist hier die sozialistische Revolution einzig in
der Form des fortschreitenden Aufbaus eines anderen histori-
schen Blocks moglich, der in der Lage ist , diese Werte durch die
Gestaltung eines neuen Verhaltnisses zwischen Kultur und Klas-
147
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sen zu assimilieren. Das wird um soeher moglich, als die Ablosung
der biirgerlichen Korporativinteressen von der btirgerlichen uni-
versalistischen Kultur wiihrend der laufenden Krise stattfindet
und gleichzeitig die Arbeiterbewegung ihr eigenes klassenkorpo-
rativistisches Sektierertum kritisiert (Lenin: der Linksradikalis-
MUS als Kinderkrankheit im Kommunismus; die sektiererische
Selbstisolierung des italienischen Proletariats als Voraussetzung
fiir den Siegdes Faschismus; der Stalinismus als Beleg des im Sek-
tiererturri angelegten Masochismus). Es handeIt sich also nur dar-
um, die Uberwindung der Unreife und des Infantilismus der neuen
KJasse, ihr »extra-uterines« Wachstum zu beschleunigen, das dieKJassedazu bringen muS, die Aufgaben der Universalisierung an-
zugehen. PoIitisch besteht das Problem also darin, ein positives
Projekt der Umgestaltung zu entweden, das einen fur die ganze
Gesellschaft annehmbaren Gesamtaufbau vorschlagt; im kulturel-
len Bereich handeIt es sich darum, auser einer wirksamen Orien-
tierung der Kultur an hermeneutische Zwecke, auch eine Rekon-
struktion und ein Programm ethisch-poIitischer Geschichte aus-
zuarbeiten (»Die Philosophie der Praxis wird daher die Verkiir-
zung der Geschichte auf bloBethisch-politische Geschichte als un-
passend und willktirIich kritisieren, ohne diese jedoch auszu-
schlieSen «22.) Wiihrend sichdie Kultur oder Universalirar von den
praktischen Interessen der Bourgeoisie ablest, verbindet sie sich
noch nicht mit den praktischen Interessen der Arbeiterklasse.
Daraus ergibt sich nicht nur eine praktische, sondem auch eine
moralische und geistige Krise, in der das Schicksal der Arbeiter-klasse und das der Gesellschaft gemeinsam aufs Spiel gesetzt sind.
Sollte die Verbindung nicht verwirklicht werden, bleibt die Arbei-
terklasse in den »starken Kettengliederne des kapitalistischen Sy-
stems unterlegen, weil sie nicht die Kraft hat, sie mit einer umfas-
se~den ~ult~n:llen Eroberung zu schwachen. Aber gleichzeitig
bliebe die gelstIge Kultur der modernen Welt ihrer konkreten und
politisch-sozialen Bezugspunkte beraubt und versanke immer
mehr im Labyrinth der Entfremdung und Verzweiflung in der
Trennung der Geschichte. Der leichtere Sieg in den »schwachen
Kettengliedem« kann diese »Flucht« der entwickelten Gesell-
schaft nicht ausgleichen. Von daher ergibt sich die Wichtigkeit der
»Katharsis« in der Geschiehte der Arbeiterbewegung, d. h. des
i. !'t:
148.j,
L
»Ubergangs von der bioS okonomischen (oder egoistisch-Ieiden-
schaftlichen) Aktivitat zur ethisch-politischen Wirksamkeit«,
namlich zur »hoheren Verarbeitung der Basisstruktur zur Uber-
baustruktur im BewuStsein der Menschene+'. Aber diese Kathar-
sis,von der nunmehr sowohl der klassenpolitische Sieg der Arbei-
ter als auch das Uberleben der KuIturgesellschaft (»Sozialismus
oder Barbarei«) abhangt, ist etwas ganzlich anderes als eine bloSe
Anstrengung im Sinne eines politischen Voluntarismus oder einer
blofsen Erweiterung der Btindnisse. Es ist imGegenteil die Fahig-
keit, das eigene Sektierertum zu kritisieren und den praktischen
Kampf auf das Niveau der Allgemeinheit zuheben, also die Fahig-keit, universalistische Probleme und Losungen anzugehen und
auszuarbeiten! Es handelt sich um ein theoretisches und kulturel-
les Wachstum, das sich als Kritik an der egoistisch-leidenschaftli-
chen Enge der sozialistischen Tradition entfalten muS, sowohl am
okonomistischen Reduktionismus der theoretischen Tradition als
auch an der arbeiterfixierten, operaistisch-aktivistischen Tradi-
tion der praktischen Politik. Da es sich nicht schlicht und einfach
um eine Ausweitung der Btindnisse, sondem um eine Vertiefung
des Wissens um die theoretisch-historischen Mechanismen, die die
Arbeiterpolitik mit der Universalitat verbinden, handeIt, muS die
Kritik unter dem zweiten Aspekt notwendig ineine neue Krit ik de r
Grenzen der Po /i ti k als reine Interessenvertretung oder als instink-
tive, leidenschaftliche Korporativpolitik einmtinden. Die wissen-
schaftlich-rationale Grundlage des modemen Sozialismus muS
wiederentdeckt werden, das heiSt, die Politik auf die Analyse derkapitalistischen Gesellschaft in allen ihren Spharen stiitzen: von
den Basisstrukturen zu den Uberbaustrukturen, vom okono-
misch-egoistisehen zum ethisch-politischen Wirkungszusamme~-
hang.
Hier begreift man die emeuemde Tragweite, die das Denken
von Gramsci in der Geschichte des Marxismus erlangt: Gramsci
geht das Problem an, von der ausschlieBlichen Erforschung der
Anatomie (der Okonomie) zum Studium aller historischen Ge-
staltungen iiberzugehen (»Sicherlich kann man nieht sagen, daB
vom menschlichen Korper die Haut (und auch ein historisch vor-
hemchender Typ physischer Schonheit) bloBIllusionen seien und
nur das Skelett und die Anatomie Realitat besa8en - trotzdem hat
149
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man lange Zeit Ahnliches behauptere>, Das erfordert eine unmit-
telbare kritische Revision des traditionellen Modells mit dem man
simplerweise die »Einheit von Theorie und Praxis« interpretiert
hat: ein Modell, in dem immer und allein die Theorie zur Einheit
aufgerufen wurde, niemals die Praxis, denn »man spricht von der
Theorie als >Erganzung< oder >Anhangsel< der Praxis, von der
Theorie als Dienstmagd der Praxis«l5. Es handelt sich hingegen
gerade heute - in der Krise - darum, den »theoretischen Aspekt
der Verbindung Theorie-Praxis« zu verstarken, denn: »auf dem
-praknschen, Element der Verbindung Theorie-Praxis zu insistie-
ren (... ),bedeutet eine historisch relativ primitive Phase zudurch-laufen, eine noch okonomistisch-korporative Phase. «16 Das
schlie8t sowohl die Kritik des politischen Pragmatismus ein, als
auch die Kritik einer traditionellen Tendenz des vulgiiren Marxis-
mus, der sichmit dem blo8en Hinweis auf die »Funktionalitat« der
Ideen fur die Welt der Interessen begniigte; darin entblo8t sichdie
Unfiihigkeit, sich mit den Hohepunkten der biirgerlichen Tradi-
tion zu messen: »Man gewinnt den Eindruck (. .. ), als wolle man
nur gegen die schwacheren oder vieUeicht die schwscbsten Posi-
tionen karnpfen (. .. ), urn leicht verba Ie Siege zu erhalten (denn
von realen Siegen kann man nicht sprechenje-", Hier scheint
Gramsci wieder jenen Wettst rei t i iber die Hohepunkte des geistigen
Lebens vorzuschlagen, den Marx in theoretischer Polemik mit
Smith, Ricardo und Hegel sah und nicht etwa blo8 in ideologischer
Polemik, bei der es nur darum geht, das cui prodest der theoreti-
schen Aussagen aufzuzeigen, sondem in echten wissenschaftli-
chen Disku~ionen zur Ermittlung der theoretischen Tragweite
der ~bstr~tionen und Kategorien vermittels der Verifizierung ih-
rer hlstonsch-reaJen Trager. Nicht zufallig nimmt Gramsci die
~tik der spekulativen Philosophie wieder auf, zeigt die Gefahr
emer dogmatischen Verkn&:herung des historischen Materialis-
mus auf und weist eine (leider nicht unbetrachtliche) marxistische
Tradition ZUIiick,die den historischen Materialismus in eine be-
~heidene Sozialpsychologie oder, mehr noch, in eine approxima-tive Wissenssoziologie verwandeIt hatte. .
10. Gramsci entdeckt auf diese Weise wieder, daB der Marxis-
~us mit dem P~mat des Kiassenkampfes iiberhaupt keine Reduk-
non der Geschichts auf die Bereiche der Okonomie und Politik
150
I
L
behauptet, sondem in diesen Bereichen den praktischen und poli-
tischen Schliissel zur theoretischen und praktischen Artikulation
einer wirksamen Universalisierung des Lebens des Menschenge-
schlechts sucht.
Aber worin kann diese Universalisierung bestehen? Wesentlich
in der praktischen Beseitigung jeglicher Spaltung des sozialen
Gemeinwesens, handele es sich urn okonomische oder politische
Spaltungen, und daher in der praktischen Einigung der gesamten
Menschheit unseres Planeten." Wir begegnen auch hier, im Pro-
gramm des wissenschaftliehen Kommunismus einer Perspektive
der Kr it ik t ie r Po li ti k - nicht nur der Politik als geistiger, sondemals institutioneller Dimension der Existenz, d. h. der modemen
Politik als Sphare der Staatlichkeit. Es handelt sichsicher nicht urn
eine Perspektive, die gewisserma8en die einigende Potenz des
Staates in Frage stellte - die Italien aUerdings lange fehlte -, son-
dem die im Gegenteil die potentieUe Fahigkeit der Menschheit
maximal verwirklicht, indem die staat l ichen Grenzen der moder-
nen politischen Vereinigung programmatisch iiberwunden wer-
den. Kurzum, die Kritik der Politik wird entworfen als Kritik des
Nationalstaats gerade im Namen jenes Vereinigungsprogramms,
das der Nationalstaat auferlegt: wenn der Nationalstaat tatsaeh-
lich ein Niveau der Vereinigung ist, das durch das Streben zur
Oberwindung der korporativen Partikularinteressen notwendig
geworden ist, - warum in aller Welt konnte der nationalstaatliche
Korporativismus nicht ebenfalls iiberwunden werden?
Aufgezeigt werden soU,daB die traditionelle marxistiscbe Vor-aussage des »Absterbens des Staatese in der gramscianischen
Sicht der »Universalisierung« der Politik eine voUig neue Trag-
weite eriangt. Was in der Vergangenheit blo8 die doktrinire An-
wendung eines marxistischen »Kanons« war, erscheint nun als ein
Anspruch innerhalb der Politik selbst, soweit sie sich als echte
Einheitsstiftung und Oberwindung des Partikularismus versteht.
Jetzt kommt es dazu, daB das Absterben des Staates gleichzeitig
bedeutet: Uberwindungdes nationalen Marktes, der nationalen
Grenzen, Entwurf einer weltweiten Vereinigung der menschli-
chen Gattung und besonders das Ende der Spaltung in Regierende
und Regierte, IntellektueUe und einfache Menschen.
Gerade die letztgenannten Entsprechungen zeigen, wie die Kri-
151
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rtik der Politik sieh als Universalisierung der Politik erweist, soweit
diese nieht aussehlieBlieh als Macht begriffen wird. In dem MaSe
wie sie das, wassie aUgemein von sieh behauptet, wirklieh sein will,
d. h. Vereinigung und Universalisierung desMensehengesehleehts
muB sich die Politik als Uberwindung der Staats-Herrschaft pra-
sentieren, deshalb aueh als Uberwindung des Nationalstaats und
des Machtmonopols; sie muB als ubernationale Vereinigung und
konsensstiftende Funktion des Gemeinwesens verwirklieht wer-
den. Aber gerade von dieser Seite her muB die Politik ineine kul-
tureUe Perspektive eingefiigt werden und sieh 1000nvon den insti-
tutionell-reprasentativen Determinierungen (Funktion der mo-
dernen bourgeois-geschaftlichen biirgerliehen Gesellschaft) wie
aueh von dem elitaren zwangsstaatliehen Charakter (Funktion der
»Unmoglichkeit« einer eehten Gemeinsehaft in der modernen
Welt der »natiirliehenc Dissoziation und der bloB »kiinstlichenc
Vereinigung). .
Es scheint, daB nur in dieser Perspektive die teehnisehe und
praktische Uberwindung des traditioneUen burgerlichen Natur-
reehts plausibel wird, die Uberwindung der Gegeniiberstellung
der Sphare des »Naturreehtsc des Menschen und der kunstlichen
Sphare des »Sozialvertragesc mit seinen »Garantienc. Jetzt ver-
wandelt siehin derTat jedes »Naturreeht« in konkrete historisehe
Anspruche und jede »Garantiec kann nieht mehr darauf be-
schrankt bleiben, eine rein formal-juristische Garantie zu sein,
sondern muB als historisch-konkretes Muster fungieren, das von
der praktischen Existenz her durehfiihrbar ist.
Das Ende der schon klassischen Entgegensetzung von Natur-
reeht und positivem Recht bietet sieh dar als Aufbau eines inte-
grierten Gemeinwesens, indem die Existenz nieht dureh den oko-
nomischen Partikularismus und die U niversalitat nieht dureh die
juristisch-politische Abstraktheit begrenzt wird.
Das ist eine authentische Wiedergewinnung der marxistischen
Forderung naeh »Absterben des Rechtse. Wiihrend in der tradi-
tioneUen Fassung das Absterben des Staates und das Recht als ab-
schlieSende historische Sehritte erschienen, d. h. nur al s Remltat
und ScbluSfolgerung eines wirtschaftlichen Entwicklungsprozes-
ses (der Leninsche Aufbau der »okonomischen Grundlagen filr
das Absterben des Staatese'"), erseheint die Vberwindung der na-
152 .
tionalen und zwangsstaatliehen Ende - ohne die konkrete histori-
sche Aufeinanderfolge der sozialen Prozesse zu verletzen - in der
neuen Siehtweise von Gramsci schon im voraus als theoretiseher
Ansprueh der Universalisierung der Politik, als gesellschaftliehes
Leben des Gemeinwesens oder, wenn man so will , als kulturell-
geistige Forderung, die in nieht mehr doktrinarer Form das be-
sehleunigt, was vorher nur als eherne Konsequenz der okonomi-
schen Praxis erschien.l''11. Es ist fast i iberfli issig darauf hinzuweisen, daB bei dieser
neuen Siehtweise die untersehiedliehe Bedeutung hervortritt, die
die Frage der Subjektivitat in der allgemeinen Dialektik des »hi-
storisehen, gattungsmii6igen Klassenindividuumse " annimmt.
Hatte man diese Dialektik in der Vergangenheit hauptsaehlieh
aus einer verengenden Perspektive betraehtet, die die Universali-
sierung des Menschen leugnete solange noeh die Klassenspaltung
bestehe, und die daher das historische Problem auf den bloSen
okonomisch-politisehen Klassenkampf »reduziertec, so kann man
nun der Geschiehte wieder ihren vollen Wert zumessen - als Ge-
sehiehte der Klassenkampte. in der sieh zusatzlich ein historiseher
ProzeB der Zivilisierung der Menschheit entwiekelt; und damit
kann man zur gleichen Zeit die Moglichkeit zum historisch kon-
kreten GenieSen des Universalismus der Kultur gewinnen.
Die elitare Abgehobenheit der traditionellen Kultur wird also
nieht zu einem Vorwand, um die mensehliehe Universalisierung
notwendigerweise auf den St. Nimmerleins- Tag der Verwirkli-
chung des Kommunismus aufzuschieben. Nun wird niimlieh - ge-rade weil sie fiir eine kritische Erweiterung der gegenwiirtigen Po-
litik des sozialen Wandels historisch notwendig ist - eine ganz em-
zigartige Hypothese moglich: die intellektuelle und kultureUe
Universalisierung wirkt zugunsten einer Klassenpolitik, wenn es
sieh dabei um die Politik einer Klasse handelt, die nicht an die ein-
engenden Institutionen des Marktes und der Nationalstaaten ge-
bunden ist, und die stattdessen eine kosmopolitisch-internationa-
listische Dimension reflektiert.Wenn die Arbeiterklasse also aueh zunachst eine »okonomisti-
sebec Spannung der menschliehen Verhaltnisse fermentiert , so
bringt ihr politisches Waehstum einen ganz neuen, »fruehtbarenc
Klassenstandpunkt zur Reife: einen Klassenstandpunkt, der aus
153
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rI
der Universalitat jedweder kultureUen (auch abstrakten!) und
wissenschaftlichen Hervorbringung einen Vorteil ziehen kann, in-
sofern er die historische Fahigkeit zur Oberwindung des utilitari-
stischen merkantilen und nationalistischen Partikularismus be-
sitzt.
Je starker man die »politische« Notwendigkeit eines Kampfes
um die Fuhrung eines neuen historischen Blocks entwickelt, umso
groBer wird fUr die Arbeiterklasse die Notwendigkeit und die
Nutzlichkeil der Ausweitung der polit ischen Dimension auf die
Universalitat der Kultur. Gerade indem Augenblick, indem - wie
Gramsci feststellt - die Bedurfnisse der burgerlichen Herrschaft
sich von der Universalitat der Kultur und der Wissenschaft ablo-
sen und sich auf rein okonomisch nutzliche Interessen verengen,
registriert man fur die Arbeiterklasse die Notwendigkeit einer au-
thentischen »Katharsis«, die vom okonomisch-korporativen Re-
duktionismus zu historisch verallgemeinerten Interessen ftihrt.
Auf diese Weise wird die Abgehobenheit der elitaren Darstel-
lung der Kultur durch die Erweiterung der Politik krit isiert , und
dieser Vorgang vollzieht sich als Uberwindung der traditioneUen
politisch-technischen Beschranktheit der Macht.
Eine doppelte Abtrennung, und nieht nur eine einzige, wird
also durch eine revolutionare Politik, die auf potentiell revolutio-
naren Interessen beruht, krit isiert und tiberwunden. Die Tren-
nung der inteUektueUen Arbeit von der gesellschaftlich-histori-
schen Welt des Nationalstaates, die sich auf den nach unterschied-
lichen Berufen geteil ten Arbeitsmarkt grundet, und die Abge-trenntheit einer korperlichen Arbeit, die in untereinander ver-
sehiedene Berufe aufgegliedert ist, und nur durch die professionel-
len Techniken der »Anwendung« mit dem aUgemeinen Gebaude
des Wissens verbunden ist.1n diesem theoretischen Rahmen wird,
wie wir bereits festgesteUt haben, die Rolle der IntellektueUen neu
tiberdacht. Sie konnen nicht mehr nur als »Vermittler des Kon-
sens« aufgefaBt werden, d. h. als soziale Schicht, und dies umso
weniger als sich die Vermittlung des Konsens in der MassengeseU-
schaft durch die Massenmedien voUzieht, d. h. durch institutiona-
lisierte Kanale, in denen die Intellektuellen sich nurmehr als un-
tergeordnete Werkzeuge der Vermittlung fuhlen.1n Wirklichkeit
verlieren die Intellektuellen dort, wo sie die soziale Funktion der
..
I'
l'154 .
Vermittlung des Konsens ausuben, jede inteUektuelle Autono-
mie; und dort, wo sie sich diese Autonomie erhalten konnen, ver-
lieren sie nicht nur jegliche Funktion fiirdie Vermittlung des Kon-
sens, sondern sie werden sogar zu den Organisatoren des sozialen
Dissens. Dieser Prozef betont immer starker die intellektuelle Ta-
tigkeit als solehe und bringt sie in einen objektiven Gegensatz zu
der sozialen Funktion, die der Schicht der IntellektueUen zuge-
dacht ist. Stattdessen entwickelt sich eine Obereinstimmung der
intellektuellen Arbeit mit den produktiven industriellen Arbeits-
ablaufen, in die sich ein wachsender Anteil intellektueller (wissen-
schaftlicher, technischer, kultureller) Tatigkeiten organisch ein-
fugt.Die Proletarisierung der Intellektuellen, die Massenkultur, die
produktive Wirkung der Wissenschaft - die einigen als raffiniertes
Instrumentarium einer modernen »Barbarisierung« erscheinen-
erweisen sich aus dieser Perspektive imGegenteil als Glieder eines
lebendigen Wachstums der neuen historischen Gemeinschaft der
Menschheit, als eine integrierte Gemeinschaft einer inteUektuel-
len Arbeit, die die gesellschaftliche Praxis der Produktion be-
fruchtet, und einer produktiven, praktischen Arbeit, die sich orga-
nisch mit Kultur und Wissenschaft verbindet.
12. GewiS konnte Gramsci diese praktischen Entwicklungen
zur Einigung nicht voraussehen; doch es war sein unzweifelbares
und einzigartiges Verdienst, auf dem historischen Hintergrund ei-
ner agrarisch-industriellen Gesellschaft das historische und so-
zio-politische Gewicht der intellektuellen Arbeit zu erschlieBenund zu betonen, der die heutigen gesellschaftlichen Entwicklun-
gen eine unmittelbare Basis schaffen. Um esmit Gramscis Worten
zu sagen: die Notwendigkeit der Formel »Universalitat + Politik«_ d. h. einer Revolution, die die geistige Kraft der Renaissance hat
und gleichzeitig das Volk erfassen kann wie die Reformation - er-
halt heute konkrete soziale AnstoBe aus dem Proze8 produktiver
Vereinigung der geistigen mit der korperlichen Arbeit (d. h. der
Klasse der InteUektuellen mit der Arbeiterklasse), sowie aus den
Forderungen der revolutionaren Politik nach einer kulturell-wis-
senschaftlicben Bereicherung.Nunmehr - so kann man sagen - merkt eine universalistiscbe
Kultur (oder eine Kultur im Geiste der Renaissance), daB sie sich
155
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r
immer enger mit der »aIlgemeinen Klasse« der Produzenten ver-
binden muB,weil die partikularistische Klasse der Besitzer ihr In-
teresse an der Universalisierung nach und nach »verliert«; und zur
gleiehen Zeit bemerkt eine Reform fur das Yolk die Notwendig-
keit, zu einer geistigen Kraft (oder einer Kraft im Geiste der Re-
naissance) zu werden, weil die korporative Klassenbeschranktheit
(des Okonomismus) auch die Emanzipation der Arbeiterklasse
bremst. Die Kultur stellt fest, daB ihre universe lie Aufgabe immer
mehr der praktisehen Verwirklichung bedarf, wahrend die prakti-
sehe Emanzipation einer immer starkeren Entwicklung in Rich-
tung auf eine freie universe lie Subjektivitat bedarf. Die Verknup-
fung dieser beiden Aufgaben entsteht ebenso sehr aus einem spe-
zifischuniversalistischen Moment der KuItur, wie aus einem spezi-
fisch »effektivistischen« Moment der Politik und schlieBlich auch
aus einem konkreten gesellschaftlichen Bedurfnis, das durch die
neuen Strukturen des Produktionsprozesses des technologischen
Zeitalters zum Ausdruck kommt. Eben diese Verkntipfung be-
dingt die tiefgreifende Krise der Tradition der Aufklarung (der ra-
tionalistisch-abstrakten Kultur), der Tradition, in der die Politik
nur eine Technik der Macht ist , und der jiingsten Versuchungen
der Technokratie. Wabrend also insgesamt die Bourgeoisie ihre
(begrenzte) historische Aufgabe der Universalisierung erfullt, in-
dem sie auf der Basis einer Kultur, die von der Politik abgetrennt
ist , und einer Polit ik, die von der Kultur abgetrennt ist , vorgeht,
geht die Arbeiterklasse auf der Basis einer Kultur vor, die die Poli-
t ik vermitteIt , und auf der Basis einer PoIitik, die die KuItur ver-
mittelt.
Wenn also eine Theorie der Kultur nur auf einer historischen
Theorie der Klassen aufgebaut werden kann, so ist es genauso
richtig und bedeutsam, daB eine historische Theorie der Klassen
nur auf einer Theorie der sozialen Verhaltnisse als eines histori-
schen Verhaltnisses zur Natur aufgebaut werden kann. Das hei8t,
die historische Existenz und selbst das Wesen der Klassen werden
aus dem historischen Verhaltnis, das die Menschheit gegentiber
der Natur entwickelt, bestimmt. Und genau dieses VerhiiItnis-
das sich zunachst alsmater ielles Verhiil tnis , d. h. als Verhaltnis in
der produktiven Bearbeitung der Natur entwickeIt - ermoglicht
die physische Reproduktion der Menschheit in ihren historischen
156
Auspragungen und verleiht ihnen gleichzeitig die spezifische Kon-
figuration sozialer Klassen, also menschlicher Gruppierungen, die
sich nach einem besonderen und einzigartigen sozialen Modell
produktiver Aktivitat physiscb reproduzieren.
Dennoch: wenn diese primare Beziehung zur Natur sichalsma-
terielles Produktionsverhaltnis ausdrtickt, so erfordert und be-
stimmt seine Reproduktion selbst die Reproduzierbarkeit des so-
zialen ModeIls, und daher eine Reihe politischer Institutionen und
eine Reihe begrifflicher Darstellungen, die gleichzeitig alshistori-
s ches Resul ta t und als l ogi sches Pr inz ip des materiellen Systems
der Produktionsverhaltnisse fungieren. Eben aus diesem Grunde
produzieren und reproduzieren sich die Produktionsverhaltnisse
innerhalb eines eigenen institutioneIl-kultureIlen »Gehduses«,
dessen Widerstandsfabigkeit und Reproduzierbarkeit sich mit der
komplexen Fahigkeit (die der soziale Organismus historisch be-
weist) verbindet, die Niveaus der »bewu8ten« (eben politisch-kul-
turellen) Entwicklung in Gleichgewicht zu jenen der »unbewuB-
ten« (okonomiseh-materieIlen) Entwicklung des historischen Sy-
stems der Klassen zu halten.Daher erseheint eine Theorie der Klassen, die bei den »unbe-
WuBten« Niveaus stehenbleibt, hoehst »reduktionistisch«, doch
ebenso eine Theorie der Klassen, die aIle diese Niveaus in Stufen
des vollendeten Bewu8tseins verwandelt, und die damit den Insti-
tutionen immer weniger die Eigenschaft eines »Instrumentse der
Klassenherrschaft und den begriffIichen Darstellungen immer
weniger die Eigenschaft einer »Klassenkulture zuerkennt.Aus diesem zweiten Blickwinkel versteht man, daB die au8erst
trugerische Illusion reifen konnte, nach der man der sberrschen-
den KuItur« eine »Kultur der Beherrschten« gegeniiber stellen
musse (so als ob diese - im Gegenteil- nieht blo8 ein degradiertes
Residuum der ersteren ware) und so auch insbesondere die Illu-
sion, daB man der biirgerlichen Kultur eine Arbeiterkultur gegen-
uberstellen miisse. Eine derartige Betrachtungsweise laBt voll-
standig die objektiven Bestimmungen der historiehen Entwick-
lungen au8er Aeht, durch die die kulturellen Systeme hervorge-
bracht werden; zudem flihrt sie zum Beispiel notwendigerweise
wieder zur Negation der Moglichkeit einer wissenschaftl ichen
Konstruktion des gesellschaftlichen BewuBtseins als ein BewuBt- ,
157
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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r
sein von den materiell-objektiven Beziehungen zur Natur, die als
solche verifiziert werden konnen. Aber sie moB dieser - bereits
von der ideologischen Tradition des biirgerlichen Zeitalters pro-
klamierten - Negation der Gesellschaftswissenschaft auch die Ne-
gation der Naturwissenschaften hinzufiigen, die das biirgerliche
Zeitalter prompt in dem Moment verkundete, wo die Geschichte
als die Geschichte der Klassenkampfe jeden »unbewuBten« oder
materiell-objektiven Aspekt aufsog, und daher - allgemeiner ge-
fa8t - die (physische) Natur selbst zerstorte.
Aber diese Zerstorung der Objektivitat ist gleichzeitig auch die
Zerstorung der Moglichkeit einer Universalisierung der Mensch-
heit.
Wenn es wahr ist, daB wie Marx sagte, »ein nicht objektives
Wesen kein Wesen ist«, dann kann nur ein objektives Wesen da-
nach streben, sich als subjektives Wesen zu entfalten, und daher
sein theoretisches Wissen und auch seine praktische Beherrschung
aller Bereiche der natiirlichen Objektivitat zu erweitem. Uberdies
konnte Marx, gerade weil er diese Objektivita t als allgemeines
Feld der Wesen und auch der menschlichen Wesen anerkannte,
eine wissenschaftliche Erklarung der Geschichte, einen Histori-
schen Materialismus entwerfen. Und damit hatte er der entste-
henden a ll gemei ne n K la ss e des modemen Zeitalters ein geistiges
Ziel gewiesen: die Vervollkommnung der Begriindung einer wis-
senschaftlichen Erkenntnis der Welt, und daher auch die Univer-
salisierung des Wesenmerkmals des Menschen: das Denken.
Wenn dies die Aufgabe des Menschen als Arbeiter seinkann, so
bedeutet dies, daB endlich eine Vereinigung der praktischen, intel-
lektuell noch mangelhaften, mit den theoretischen, noch praktisch
begrenzten, Fahigkeiten moglich ist. Eine derartige Vereinigung
scheint die spezifische Aufgabe und das universe lIe Ziel der kom-
menden historischen Epoche des Kommunismus zu sein.
Da8 diese Vereinigung sich bereits heute als ein wesentlicher
Ausdruck des politischen Kampfes der Arbeiterklasse darstelIt,
verdeutlicht den besonderen Wert der Klassentheorie Gramscis.
In dieser Theorie ist nicht nur eine herrschende, nicht-fuhrende
Klasse moglich, d. h. eine Klasse, die historisch keine reale Fahig-
keit zur hegemonialen Fiihrung eines historischen Blocks besitzt,
sondern auch eine fiihrende, nicht-herrschende Klasse, d. h. eine
158
Klasse, die historisch bereits die Fahigkeit zur Fuhrung eines
neuen historischen Blocks mit Hilfe des Konsens besitzt (ohne
uber die herrschende Macht im Staat zu verfugen).
Unsere Epoche scheint genau die Epoche zu sein, in der die
Strategie des Konsens, d. h. die Eroberung des Konsens fiir einen
universalistischen Entwurf, der auf die eigenen Klasseninteressen
gegriindet ist, ftir diese Klasse - in den »starken Kettengliedem«
der Geschichte - nicht nur zueiner spezifischen siegreichen politi-
schen Strategie unter vielen wird, sondem zu jener Strategie, die
die Klasse zum Siegfiihrt. Denn diese Strategie driickt einen »alI-
gemeinen« Entwurf aus, der in der Lage ist , die anderen sozialen
Schichten von der herrschenden Klasse zu losen, und deshalb eine
neue universalistische Ordnung herzustelIen, die nunmehr auf die
bewu8te Vermittlung auch der okonomischen Interessen gegriin-
det ist. Dank einer theoretischen Entwicklung, die durch die engen
Grenzen der okonomisch-korporativen Interessen notwendig
wurde, wird also die Emanzipation der Arbeiterklasse sc ho n a b
heute auch als universelle menschliche Emanzipation entworfen
und verwirklicht. Dadurch wird Foigendes deutlich: wenn ein er-
stes grundlegendes Moment der moralischen Entfremdung aller
Menschen, insofem sie vollstandig vereinzelte Individuen einer
aufgelosten Gattung sind, von der okonomischen Ausbeutung
durch einige wenige Menschen abhangt und nicht aufgehoben
werden kann, ohne daB diese Tatsache iiberwunden wird, so be-
darf die praktische Oberwindung der okonomiscnen Ausbeutung
(wegen eines zweiten - aber nicht sekundaren - Moments) der po-litischen V erm ittlung , in der auf der E bene der K ultu r die organi-
sche Vereinigung der gesamten Menschheit, und daher auch der
th eo re tis ch e P ro ze fJ d er A ufh eb un g d er E ntf re md un g heranreifen
moB.
Anmerkungen
1 Diese polemischen Bemerkungen gehen gro8tenteils von der doktriniiren
Annahme aus, daB die Politik einer sozialistisch-marxistisch orientierten Partei im
wesendichen darin bestehen miisse, einen Gesetzeskanon »anzuwendenc, und
nieht darin, die (politischen) Kimple und die Analysen voranzutreiben. Bezeich-
nenderweise deckt diese Annahme sieh mit jener eines gewissen, sieh hanniickig -
159
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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behauptenden dogmatischen Marxismus. Ich habe diese Posi tionen in me inem
Buch »Crisi ideale e transizione al socialismo«, Rom 1977 kritisiert, auf das ieh
hiermit verweise.
1Die Grund lagen dieser Tradi tion sind in der Theone der l deologie zu suchen,
do rt, wo die Ideologiekriti k dennoeh in die Beg riindung ei ner »Theorie der Wahr-
heite einmunden muB. Aus dieser Tradition erwiichst also der sonderbare SchluB,
im Unterschied zu allen anderen Ideologien und au s dem einfachen Grunde, daB er
d ie Ideo logie einer f ort schri tt li ehen und nieht d ie e iner ausbeu tenden Klas se i st , se i
der Marxismus k e in fa ls ch es Bewup lS e in sondem eine wi ss en s ch a fd i ch e I d eo lo g ie .
Man beachte, daB insbesondere L.Althusser ( »Lenin und die Philosophie« , Rein-
bek 1977) und Adam Schaff (»Geschi eh te und Wahrheit«, Wien 1970 ) auf dieser
L in ie l iegen . In "Wirk li ehkei t s teht d ie se In te rp re ta tion der Wis sens soziolog ie
Mannheims naher als dem marxschen Denken. Es gen tigt darauf hin zuweisen, daB
die se I nterp re ta tion , indem sie den »wissenschaft li eben« Charakter der Ideo logie
auf den Kl assen charakter des Prol et ariats g riindet, folgende Verwieklungen er-
zeugt: 1) sie macht den Verweis auf den Klassenunterschied zum Kriterium der
Wissenscha ft li chke it , obwohl d ie Klassenunter schiede selbs t e rst untersueht wer -
den mt is sen; 2 ) s ie ver te id ig t e inen sozialen Determini smus durch d ie Proklama-
tio n (und die darauffolgende Negi erung) ei ner dureh Proletarier (Marx? Engel s?
Lenin? ) her vorgebrach ten Theorie; 3 ) bei ihr er Denifini tion der Wis senschaf t un-
ter li iB t s ie jede e rfo rderl iche Angabe e iner wis senschaft1iehen Methode und pro-
k lamier t t iberd ie s den P rimat der Ph ilosophie (e iner neuen Philosoph ie ) t iber d ie
(N atur-) Wissenschaft.
3 L.Althusse r, a. a.O. S. 51. Althusse r s chre ib t - wobei e r t ro tz e in iger Beden-'
ken die gesamte Kultur auf Polit ik reduziert: »Und an der Macht sind di e philoso-
ph ischen Gedanken des Bu rgertums. Auch in der Phi losophie ist die Maehtfrage
ent sche idend, Ta ts ach li ch i st d ie Ph ilosophie in letzter I ns tanz Politik«.
4 Man beachtenebenbei, daB die ser Prima t der Klass en bei der E inschi it zung
der Kultur beinhalt et , daB die Kultu r die Klassen nicht u ntersch ei den konne, daB
sie also keine vollendete wissenschaftliche Klassenanalyse erbringen konne, die so
beschaffen ist, daB sie den, der sie durchfuhrt, dazu veraniaBt, sich von seiner
Kl asse abzuwenden und sich auf die Sei te der fo rtschrittl ichen Klasse zu st el len!
Marx hat s chon im »Kommunistischen Manifestc genau das Gegenteil vorausgese-
hen. Andererseits muB man auch daran erinnem, daB das sKapitalc in Bezug auf
die Kl assen diesen Standpunkt beibehiil t und daB Marx selbst geschrieben hatte,
daB JOdieKlass en wiede r e in lee re s Wort s ind, wenn ich die Elemente nicht kenne,
auf denen sie beruhen, Z. B. Lohnarbeit , Kapital etc. e (Karl Marx , Grundrisse zu r
Kritik der poli tischen Okonomie, Berl in (DDR) 1953, S.21)
5 Diese unzul ii ss ige Akzen tu ie rung des» Klasseninter ess ese in der Kul tu r f iihr t
zu e iner Abwertung des »unbewuBteno: und zu einer Uberbewertung des intentio-
n al en Moment s, d. h. des pol itisch en Moment s, i n der begriffli chen Darstellung.
Ein typiseher Ausd ruck dieser Tendenzen ist die Redukti on des Rechts auf die Po-
litik, also die MiBachtung jeden Unterschieds zwischen Schuld und Vorsatz im
Verhalten des Einzelnen, die soweit fUhrt, daB der politische Irrtum in einen
Rechtsbruch umschl iigt ( si ehe me ine Stud ie : I I p en si er o g iu ri di co s ov ie ti co , Rom
1969).
6 Was den geschlos senen Ausdruek e iner Gese ll scha ft s- und Gesch ieht swis-
senschaft verhindert, i st etwas ganz anderes al s das »K18sseni nteresse«: es ist der
tiefverwurzelte h i sto ri s che ldeal i smus , der nur durch ei ne immanente Kriti k korri-
g ie rt werden kann, d ie fi ih ig i st , e inen konsequen ten Hi st or is ch en Ma le ri al ismus
bervorzubringen: genau diese Aufgabe nimmt Marx in Angriff.
160
7 Siebe dazu Max Weber, Die »Objekt ivitiit e sozialwissenschaft1ieher Er-
kenntni s, in: der s. , Soziolog ie , Wei tgesch ieht li ehe Ana lysen, Po li tik, Stut tgart
1964. Weber verdeut licht d en »u topisch ene Charakter seiner Id ealt ypen, denen
keine konkre ten h istor is ch-sozialen Organ ismen entsprechen, durch d ie sie veri fi -
zier t werden konnen : a .a .O. S.239f f. Doch der Histor is che Mater ia li smus wir d zu
einem ganz iihniiehen Ergebnis kommen, wenn sein e Begriffe losgelast von jeder
Oberpri ifung an h istori schen Organ ismen konst ru ie rt und ine ine r neuen a llgeme i-
nen Phil osophi e der Geschichte hypostasiert werden. So bemerkt Gramsci zwar,
daB »die ethisch-polit iscbe Geschiehte (Croces) eine willkiirl iebe und mechanische
Hypos ta se des Moments der Hegemonie i st e ( I I ma le ri aJ i smo s to r ie o e l a f il os of ia di
Benede"o Croce (Der His to ri scbe Mate rial ismus und die Philosophie Benedet to
Croces), Rom 1977, S. 233;-Quademidelearcere (Gefiingnisbefte), Turi n 1975,
S. 1222), aber er weist auch auf die Gefah r einer spekulati ven Umkehrung der Phi-
l osoph ie d er Praxis hin. So schreibt er z. B.: »Wenn der Begri ff der Strukt ur ,spe-
kulativ< aufgefaBt wird, so wird er mit Sieherheit ein >heimlicher Gotte; abe r er dar f
ger ade n ieht speku la tiv aufgefaBt werden , sondem histor is ch a ls Ensemble der so-
zialen Beziehungen, innerhalb deren die realen Menschen sieh b ewegen und ti tig
s ind, a ls Ensemble objek tiver Bedingungen , d ie mi t den Methoden der ,Sprachwis-
s enschaf te unter such t werden mUssen , und n ieht m it denen der >Spe1 tu la tion<. Als
ein »Bestimmtes«, das gewiS auch >wahrc ist, das jedoch vor allem in seiner >Be-
stimmtheit< untersucht werden muB, bevor es in se iner> Wahrheit< untersucht wer-
den kanne ( II m at er ia Ji sm o st or ie o . .. , a.a.O., S .2 3 7;- Qu ad er ni d el c ar ee re , a.a.O.,
S. 1226 ). Man sieht nun, da B die »Wahrhei te hier die Schluflfolprung aus einem
Pro zeB anal ytisch er Ermitt lung ist, u nd nicht umgekehrt! Denn andemfalls »ten-
d ie rt auch d ie Philosoph ie der Praxi s dah in , e ine I deolog ie im schlechtesten Sinne
zu werden , d . h . e in dogmati scher Kanon abso lu te r und ewige r Wahrhe it ene (Mo-
t er ia li sm o s to ri co . .. , a .a .O., S. 11 8 ;- Qu ad er ni de l c ar ce re , a.a .O., S . 1489) . Dieser
Gef ahr kann man nur entgehen, wenn man die Ant ithe se zwischen» Ta ts achenur-
t ei l« und »Wertur te il e (d . h . zwischen Wis senschaft und Ideo logie) auf1Os t, in der
Max Weber noch befangen war: »Die Kausa lana lyse l ie fer t kein e inziges Wer tu r-
teil, und ein Werturt ei l i st niemals eine kausale Erklirunge. Werturteile auf der
Bas is von Kausa lana lysen e rstel len - d ies beweist d ie Notwendigke it eine r kausa-
l en Geschich tswis senscha ft . d . h . einer h is to ri sch-ma te riel len Begri indung der Ka-
tegorien.
8 In diesem Zusammenhang ist meiner Meinung nach die Diskussion tiber
Gramsci s Auffa ssung der Folklore s ehr wieh tig (s iebe dam: A.M. Cirese,lnteUe-
t ue li ,/ ol kl or e, i rs st in to di elasse, Turin 1976; und Gramsc i: am e f o lk lo re , Hrsg. v .
G .Pre st ip ino, Rom 1977). E in er ster Anhal tspunkt fUr di e AuffU1lUDg Gramscls ist
f olgendes Z itat : »Die Posi tion der Ph ilosophie der P raxi s bef inde t s i o o imWider-
sprueh zu der katho li schen: d ie Ph ilosophie der P raxi s i st n ich t darauf gerieh te t,
den >einfachen Leu t ene ihre primi tive Philosoph ie des gew6hnl ichen Antagsbe-
wuBtse ins zu lass en , sondem darauf , s ie zu e iner hoher en Lebensansehauung zu
fUhrene ( II m a te ri al is mo st or ic o . .. a .a .O., S. 12f.;-Quadernidelcarcere, a .a .O., S .
1384). Und man beachte die Prilisierung Gramscis, daB JOdieBeziehung zwischen
shohere« Philosophie und AlltagsbewuBtsein >politisch< garantier t wirde ( I I ma te -
nolisma s to ri co . .. a .a .O., S. 11; -Quaderni de l cercere a .a.O. , S . 1883). Die spez i-
fi sche Bedeu tung dies er PI :i zi si erung l iegt darin, daB »das BewuBtse in , zu e iner be-
s timmten hegemonia len Kra ft zu gehoren (das pol it ische BewuBtsein a lso), das er -
s te Stad ium e ines umfassender en und fort schri tt liOOen (Se lbst -) BewuBtseins i st , in
dem Theor ie und Praxis s ieh endlieh vereinigene ( II m a le ri al is mo s to ri eo . .. , a.a.O.,
S. 13; - Qu ad er ni d el c ar ee re , a .a .O., S. 1385). Die Poli tik i st a lso e ine Bri icke fU r
161
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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den Entwicklungsproze8 des kritischen BewuBtseins, aber nicht mehr!
9 Siehe dazu den guten Essay von P.Rossi, A nt on io G ra ms ci s ul la s ci en za m o-
derna, in: Cri tica marx ista , Nr. 2,Miirz-April1976 (jetzt auch in: I mm ag in e d ell a
scienza, Rom 1977), der zu Recht eine positive Bilanz des Verhiiltnisses Gramscis
zur Wissenschaft aufstellt,
10 Meiner Meinung nach unternimmt Gramsci nun imwesendichen zwei mit-
einander verbundene wesendiche Schritte: er kritisiert den historischen Idealismus
und seine :tKulturologie« ausgehend vom Primat der Struktur, und kritisiert dann
den Okonomismus des Vulgi irmarxismus, indem er die Rekonst rukt ion der
ethisch-politisehen Geschichte vorschliigt.
11 Diese F~tstellung gilt fU r den gesamten Marxismus der II. und III. Intema-
tionale: fUrLenin, fU r Rosa Luxemburg, filr Kautsky, fUrRenner und fUr Stalin.
12 Siehe: N ot e s ul M a cc hi av ell i, s ul la po/inca e s ul lo S ta to modemo (Anmer-
kungen zu Macchiavelli , zur Poluik u nd z um m od em en Staat) , Rom 1977, S.55ff;-Q u ad er ni d el carcere, a.a.O., S. 1583ff. Doch man muB sich hier die gesamte Dar-
stellung des Hegemoniebegriffs und des Staatsbegriffs bei Gramsci vergegenwiirti-
gen.
U Siehe z, B.: Q u ad er ni d el carcere, a.a .O., S .424. Man muB hier an den i iu-Berst zutreffenden Ausspruch Gramscis erinnem: :tDer Marxismus hatte zwei
Aufgaben: erstens die modemen Ideologien inihren differenziertesten Ausdrucks-
formen zu bekiimpfen, und zweitens die Volksmassen, deren kulturelles Niveau
mittelalterlich war, aufzukliiren« ( Q ua d er ni d el c ar ce re , a.a.O., S. 422). Hier wird
sehr gut verdeudicht, daB die Kritik der modemen Ideologie nicht »aufkliirerische
und die Unterstiitzung der Volksmassen nicht »populistisch« is t ,
14 Immanuel Kant, I de e z u e in er a li ge me in en G es ch ic ht e i n w elt bu rg er li ch er
Absicht, in: Kan t' s g e samme lt e S chr if te n , hrsg. v. d. Koniglich Preu8ischen Akade-
mie der Wissenschaften, Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin 1912, S. 18.
15 a.a.O., S. 21.
16 a.a.O., S. 22.
17 a.a.O., S. 22.
18 a.a.O., S. 28. Diese Antinomie zwischen moralischem WeltbUrgertum und
politiscber Staatlichkeit wird spiiter in der hegelscben Konzeption der kosmiseh-hi-
storischen Funktion, die die einzelnen Staaten zugeordneten VOlkernach und nach
iibemehmen, in bedeutender Weise systematisch erfaBt.
19 P as sa to e p re se nt e ( Ve rg an ge nh ei t u nd G eg en wa n) , Rom 1977, S. 48f .; -
Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S. 312.
20 P a ss at o e p re se nt e, a .a .O ., S. 39; - Quademi del carcere, a.a.O., S. 690.
21 P a ss ot o e p re se nt e, ebenda; - Qu ad er ni d el c ar ce re , a.a.O., S. 691.
22 I I m I lt er ia ii sm o s to ri co , a .a .O., S. 235; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.
1224.
23 I I m at er io Ji sm o s to ri co . .. , a.a .O., S . 48; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.
1244.
24 I I m I lt er ia ii sm o s to ri co . .. , a.a .O., S .294; - Qu ad er ni d e l c ar ce re , a.a.O., S.
1321
25 I I m at er ia li sm o s to ri co . .. , a.a .O., S. 14; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.
1386.
26 I I m ar er io Ji sm o s to nc o . .. , a.a .O., S . 15; - Q u ad em i d el c ar ce re , a.a.O., S.
1386f.
27 I I m ate ria li sm os to ri co .. . , a.a.O., S. 1 6 3 f. ;- Qu ad er ni d el c ar ce re , a.a.O., S.
1423.
28 Hier bleibt dasProblem einer nicht-nivellierenden, also einer die individuel-
162
lenPersonlichkeiten bereichemden Struktur, die diese - in Bezug auf die produkti-
yenTiitigkeiten -egalitiire Gemeinschaft haben mii8te, ausgespart. Es handelt sich
hierbei um eine wichtige Fragestellung, in der die marxsche Gemeinschaft (der
Kommunismus) derjenigen Rousseaus und der Utopisten kritisch gegeniiberge-
stellt wird.29 siehe: W.I. Lenin, Staat und Revolution, Kap. V (Die okonomischen Grund-
lagen fUrdas Absterben des Staates), S. 470ff., in: Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin
(DDR) 1960.30 Man kann zu Recht behaupten , daB Gramsci auf diese Weise jene Forde-
rung nach der Gemeinschaft, (im Original deutsch - Anm. d."O.),die ein grundle-
gendes Moment des marxschen Denkens gewesen, und dann spiiter durch die im-
mer weitere Vertagung auf die Zei t des »Aufbausc des zweiten Stadiums des
Kommunismus verkiirzt worden war, in eigenstiindiger Form wiedergewinnt. Da-
bei handelt es sich natUrlich um eine ideelle Wiedergewinnung, die das Modell
praktisch-ckonomischer Abstufungen in keinster Weise aufhebt.
31 Ich sehe hier einen Zusammenhang zwischen der Fragestellung Gramscis
und der des fri ihen Marx. Es handelt sich um die angedeutete »Kritik der Polit ike
als Prinzip einer politiscben FUhrung und auch politischer Institutionen, die fiihig
sind, den entfremdeten und entfremdenden Charakter der Politik soweit wie mog-
li ch bewuBt zu kontrol li eren . A1lgemeiner kann man sagen, daB Gramsci den
Aspekt der Subjektivit ii t als BewuBtsein im komplexen Rahmen der Aufhebung
der Entfremdung aufiOst. Ich betone hier vor allem die (natiirlich indirekte) Wie-
deraufnahme der Frage des »Gattungswesens« des Menschen, das Marx in den
O k on om is ch -P hil os op hi sc he n M a nu sk ri pt en a us dem Jahre 1844, (in: MEW, Er-giinzungsband I, Berlin DDR) erliiutert, in dieThematikderder Politikbeigefiigten
Universalitiit. Damit gelingt es Gramsci, die praktische Revolution so anzulegen,
daBsie sofort zum Ferment einer intellektuellen und moralischen Revolution wird
(und nicht umgekehrt), also eine die Erafremdung a u fh eb en de P o li ti k zu entwer-
fen; diese Polit ik kann die Entfremdung nicht nur deshalb aufheben, weil sie auf
das zukiinftige Ziel der praktischen Uberwindung der Ausbeutung gerichtet ist ,
sondem vor a1lemauch deshalb, weil sieschon heute die kritisch-bewuBte Rekon-
struktion der Subjektivitiit ist, die Eroberung einer ku lt u reUen Pe r sp e kt iv e bereits
impolitischen Kampf, und also di e Uberwindung nicht nur der :tabgebobenen KuI-
ture, sondern auch der :tabgehobenen Politik«, d. h. allgemein gefaBt der geistigen
Entmenschlichung, von der der fri ihe Marx spricht, und der »Immoralitiit, MiBge-
burt, Hebetismus der Arbeiter uDd der Kapitalistenc (Okonomisch·Phiiosophi-
sc he M an us krip te ... , a.a.O., S. 524). Man kann diese Penpektive eher einlesen,
wenn man sich die mansche Kritik des :t.noch ganz roben ulld gedankenlosen
Kommunismuse (ebenda, S.534) vor Augen hilt, von dem man sagen kann, daBer
, . .. . indem er die PersOnlichkeit des Menschen iiberall negiert , . . nur der konse-
quente Ausdruck des Privateigentums, welches diese Negation iste, ist (ebenda, S.
534). Marx kritisiert an diesem rohen Marxismus einige Merkmale, an denen man
durch einen Vergleich die Bedeutung des Beitrags Gramscis zur »Verfeinerung«
des Kommunismus ermessen kann: den allgemeinen Neill, die Nivellierungssucht
und schlie8lich wohlgemerkt die :tabstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung
und der Zivil isatione (ebenda, S.535). Die Gemeinschaft, die daraus entsteht und
die Marx weiterhin kritisiert, ist nur »eine Gemeinschaft der Arbeite, oder :tdie
Gemeinsclwft als der allgemeine Kapitaliste (ebenda, S. 535). Die Universalitiit,
von der Gramsci spricht, deckt sich also mit dem marxschen Kriterium dafiir, in-
wieweit der Mensch in seinem g es el ls cl wj tl ic he n V er hi il tn is l ur N a tu r (dessen un-
mittelbarster Ausdruck das VerhiiItnis des Mannes zur Frau ist) sals Gattungswe-
163
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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sen, a J s Mensch s iehgeworden ist und erfaS t hate (ebenda, S .535); d .h . mi t dem
Kriterium dafiir , . . .. in(wie)weit das Bedurfnis des Menschen zum menschlichen
Bedurfnis, inwieweit also der andere Mensch a1sMensch zum Bediirfnis geworden
ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleieh Gemeinweisen ish, (eben-
da, S.535), und eben dies bedeutet Universalit ii t. Indem Gramsci also die unmit-
telbare Wirkung der Kultur auf die revolutioniire Politik bloblegt, verdeutlieht erin
gewisser Weise - sowie Marx - , , . ... wie die Losung der theoretischen Gegensiitze
selbst nur auf eine praktische Art, nur durch die praktische Energie desMenschen
moglich iste, und , . .. . ihre Uisung daher keineswegs nur die Aufgabe der Erkennt-
nis, sondern eine wirkliche Lebensaufgabe ist, welehe die Philosophie nieht losen
konnte, eben W4; i l sie dieselbe nur als theoretische Aufgabe faStee (ebenda, S.
542). Und er verdeutlieht auch, wie unter dieser Voraussetzung die Uisungauch
eine Aufgabe des Bewu8tseins, der Philosophie und der Kultur ist . Damit deckt
Gramsci den tiefen Sinn der letzten marxschen These zu Feuerbaeh auf: wenn diePhilosophen die Welt nur interpretiert haben, wiihrend es darum geht, sie zu ver-
i indem, so kann man die Welt n ieht ver iindem, ohne s ie zu in terpretieren; und
wenn man sie interpretiert, urn sie zu veriindern, soist auch die Interpretation eine
Art der Veriinderung. Die Theone kann die Praxis sieherlieh nieht ersetzen, doch
wenn sie dies begriffen hat, so wird sie selbst zu einer Aufgabe der Emanzipation
des Menschen.
164
TeD 4
Gramsd original
. . ' $
5/8/2018 Cerroni U 1979 Gramsci-Lexikon 1-192 - slidepdf.com
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D ie s iiditaH e nisc he F ra ge
Einige Gesicbtspunkte der Frage des Siidens
Die Veranlassung zu den folgenden Bemerkungen hat die im "Quarto
State"! vom 18. September erlolgte Veroltentlirhung eines mit Ulen-
spiegel gezeiehneten Artikels tiber das Problem des Sildens gegeben,
dem die Redaktion der Zeitschrif t e ine etwas sonderbare Einleitung
vorausgesehickt hal Ulenspiegel weist in seinem Artikel auf das neueste
Bueh von Guido Dorso ("Die Revolut ion des Slidens", Verlag Piero
Gobetti, Turin 1925) hin und spielt auf das Urteil an, da a Dorso uber
die Einstellung unserer Partei zu der Fruge des Sndene gegehen hat.
Die Redaktion des "Quarto Stato", die verktmdet, s ie bestehe aus ,Jun-
gen Leuten, die das Problem des Sudens in seinen allgemeinen Umris-
sen (lie!) ,,'Pollkommen beherrschen", protestiert in ihrer Einleitung ge-
schlossen dagegen, daB der Kommunistisehen Partei irgendwelche "Ver-
dienste" zuerkannt werden konnten. Soweit ist die Sache nicht schlimm.
Die jungen Leute vom "Quarto Stato"haben 'zu jederZeit und an jedem
Ort dem Papier noch ganz andere Ansichten und Proteste aufgenotigt ,
ohne daB sich das Papier dagegen aufgelehnt hitte. Dann aber fugen
diese , jungen Leute" wortl ich hinzu: "Wir haben nieht vergessen, daB
die Zauberlormel der Turiner Kommunisten lautete: den GroBgrund-bcsitz unter das l indl iche Proletariat verteilen. Diese FormeI ist mi t
jeder gesunden und realist ismen Auffassung des Problems des Sndens
absolut unvereinbar." Und bier mnssen die Di~ zurechtgeri ldtt wer-
den, denn "zauberhaft" ist bier nur die Fredlheit und der oberOiehliehe
Di lettanti smus der "jungen Leute", die sich beim "Quarto Stato" ala
Schriftsteller beUitigen.
Die "Zauberlormel" ist eine reine Erfindung. Die "jungen Leute" vom
"Quarto Stato" mussen eine sehr geringe Meinung von ihren hoehgehil-
deten Lesem haben, wenn sie es riskieren, die Wahrhei t mit so wor t-
reicher Dreistigkeit auf deo Kopf zu stellen. Vor mir li~ ein Exemplar
des "Ordine Nuovo" (vom 3.Januar 1920) . in dem der Standpunkt der
Turiner Kommunisten zusammengefaBt ist:
"Die Bourgeoisie des Nordens hat Siiditalien und die Inseln unter-
166
jocht und hat sie zu einer ausgebeuteten Kolonie herabgewfirdigt. Wenn
das Proletariat des Nordens sich-selbst von der kapitalistischen Sklaverei
befreit , wird es auch die Bauemmassen des Sildens befreien, die unter
der Knechtschaft der Banken und des parasitaren Industriekapitals des
Nordens leben. Die wirtschaftl iche und polit ische Wiedergeburt der
Bauem ist nieht in einer Verteiloungder unbebauten und schlecht be-
bauten Landereien zu suchen, sondem in der SolidariUit des Industrie-
proletariats, das seinerseits die Solidaritit der Bauem braucht, das daran
interessiert ist , daB der Kapitalismus nicht aus dem Grundeigentum
wirtschaftlich wiederersteht und daB Siiditalien und die Inseln nicht zu
einer miliUirischen Basis der kapitalistischen G~enrevolution werden.
Durch die Erzwingung der Arheiterkontrolle in der Industrie wird das
Proletariat die Industr ie auf die Produktion von Landmaschinen, von
StofJen und Schuhwerk sowie von elektrischer Energie fur die Bauem
orientieren; es wird verhindem, daB die Industrie und die Banken die
Bauem weiterhin ausbeuten und sie als Sklaven ihren Geldschranken
untcnverfen. Dadurch, daB die Arbeiter die Autokratie in der Fahrik zer-
trtimmern, den Unterdriidtungsapparat des kapitalistischen Staates zer-
tri immem und den Arbeiterstaat errichten, der durch Gesetz die Kapi-
talisten zur niitzlichen Arbeit zwingt, werden sie aile Ketten zerbrechen,
die den Bauem an sein Elend und an seine Verzwei8ung fesseln. Indem
das Proletariat die Arheiterdiktatur erriehtet und die Industriebetriehe
und die Banken in der Hand hat, wird es die ungeheure Macht der
staatlichen Organisation dazu verwenden, die Bauem in ihrem Kampf
g~n die Grundbesitzer, gegen die Natur, gegen das Elend ~ unter-
stiitzen. Es wird den Bauern Kredite geben, Genossenschaften grunden,
die Sicherheit der Person und des Besitzes gegen die Auspl1inderer
garantieren, es wird oftentliche Mittel fiir Melioration und Bewilsserungzur Verfugung stellen. All das wird es tun, weil es in seinem eigenen In-
teresse liegt, die landwirtschaftliche Produktion zu steigem, wei l es in
seinem eigenen Interesse liegt, die Solidaritat der Bauemmassen zu ge-
winnen und zu erhalten, weil es in seinem eigenen J nteresse liegt, die
industr ie lle Produktion auf niitz liche Arbeit f iir den Frieden und fur
briiderliche Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen dem Nor-
den und dem Siiden zu orientieren."
Dies ist im Januar 1920 ge!!chrieben worden. Seitdem sind siehen
Jahre vergangen, und wir sind auch politisch urn sieben Jahre ilter ge-
worden. Manche Gedanken konnten heute besser ausgedrildtt werden.
Die Periode unmittelbar nach der Eroberung der Staatsmacht, die durdt
die einfache Arbeiterkontrolle fiber die Industr ie charakterisiert ist ,
konnte und muBte besser von den nachfolgenden Perioden untersehie-
167
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den werden. Aber hier ist vor allem festzustellen, daB der Grundgedanke
der Turiner Kommunisten nicht die "Zauberformel" der Aufteilung des
Gro/lgrundbesitzes gewesen ist, sondern der des politisehen Biindnisses
zwischen den Arbei tern des Nordens und den Bauern des Sudens, urn
der Bourgeoisie die Staalsmacht zu entreiBen. Nicht nur das, gerade die
Turiner Kommunisten (diebetonten, daB die Aufteilung des Bodens der
solidarischen Aktion der beiden Klassen untergeordnet sei) warnten vor
dem Wunderglauben an die schematische Verteilung des GroBgrund-
besi tzes. In dem gleichen Artikel vom 3..Ianuar 1920 heiBt es: "Was
erreicht ein ariner Bauer, wenn er sich eines unbebauten oder schlecht
bebaulen Landstiicks bemiichtigt7 Ohne Maschinen, ohne Wohnung an
der Arbeitssti it te, ohne Kredi t bis zur Zeit der Ernte, ohne genossen-schaft liche Organe, die die Ernte aufkaufen (wenn er die Ernte erlebt ,
ohne sichvorher an dem stiirksten Strauch in den Wiildern oder aneinem
noch nicht vullig verkriippelten wilden Feigenbaum auf dem unbebauten
Land erhiingt zu haben) und ihn vor den Klauen der Wucherer bewah-
ren k6nnen - was kann ein armer Bauer ohne dies alles durch die
Landbesetzung erreichen 7" Und trotzdem waren wir filr die sehr reali-
stische und keineswegs "zauberhafte" Formel: Das Land den Bauern!
Aber wir wollten, daB sie in eine allgemeine revolutionii re Aktion der
beiden verbiindeten Klassen unter der Fiihrung des Industrieproletariatseingefiigt wiirde.
Die Schreiberlinge vom "Quarto Stato" haben die den Turiner Kom-
munisten zugeschriebene "Zauberformel" frei erfunden. Damit haben
sie bewiesen, wie wenig ernst sie als Publizisten zu nehmen und wie
bedenkenlos solche intellektuel len Quacksalber s ind. Auch dies sind
politische Momente, die gewichtig und folgenschwer sind.
1m prole tarischen Lager haben die Turiner Kommunisten ein un-
bestreitbares "Verdienst" gehabt : Sie haben die Vorhut der Arbeiter-
kJasse auf die Frage des Sildens aufmerksam gemacht und diese Frage
als ein wesentliches Problem d"l' nationalen Politik des revolutioniiren
Proletariats aufgeworfen. In diesem Sinne haben sie praktisch dazu bei-
getragen, die Frage des Sildens aus der Phase der Vnbestimmtheit , des
Intellektualismus, des sogenannten Konkretismus herauszuheben und
in eine neue Phase ilbeJ7JUfilhren.Jetzt wurde das revolutionlire Pro-
letariat von Turin und Mailand der Vorkiimpfer in der Frage des Sudens
slatt der Giust ino Fortunato, Gaetano Salvemini, Eugenio Azimonti
und Arturo Labriola, um nur die Namen der Gotter zu nennen, die den
"jungen Leuten" vom "Quarto Stato" besonders teuer sind.
Die Turiner Kommunisten hatten sich konkret die Frage der "Hege-
168
monie des Proletariats" gestellt, das heiBt die Frage der sozialen Basis
der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaats. Das Proletariat kann
in dem MaBezur filhrenden und herrschenden Klasse werden, wie esihm
gelingt, ein System von Klassenbilndnissen zu schafJen, das ihm gestat-
tet, die Mehrheit der werktAtigen Bev6lkerung gegen den Kapitalismus
und den bilrgerlichen Staat zu mobilisieren; und dies bedeutet in Italien,
unter den realen, in ltalien bestehenden Klassenverhiiltnissen, in dem
MaBe, wie es ihm gelingt, die Zustimmung der breiten biiuerlichen Mas-
sen zu erlangen. Aber die Bauernfrage in Italien ist geschichtlich bedingt,
sie ist nicht die "Bauern- und Agrarfrage im allgemeinen"; in Italien bat
die Bauernfrage infolge der bestimmten italienischen Tradition, infolge
der bestimmten Entwicklung der italienischen Geschichte zwei typische
und besondere Formen angenommen, die Frage des Sudens und die
Frage des Vatikans. Will also das italienische Proletariat die Mehrheit
der Bauernmassen erobern, so muB es sich diese beiden Fragen vom so-
zialen Gesichtspunkt aus zu eigen machen, muB es die von ihnen ver-
t retenen Klassenforderungen verstehen, muB es diese Forderungen
seinem revolutionii ren Ubergangsprogramm einverleiben und unter
seine eigenen Kampllorderungen aufnehmen.
Das erste Problem, das die Turiner Kommunisten zu losen hatten, be-
stand darin, die poii tische Richtung und die allgemeine Ideologie des
Proletariats selbst als eines nationalen Elements, das in der Gesamtheit
des staatlichen Lebens existiert und unbewuBt dem EinDuB der Schule,
der Presse, der bilrgerl ichen Tradition unterliegt, zu verindern_ Ea
ist bekannt, welche Ideologie von den Propagandisten der Bourgeoisie
in der ralf iniertesten Form unter den Massen des Nordens verbreitet
worden ist. Danach ist der Suden die Bleikugel, die schnellere Fortschritte
in der zivilisatorischen Entwicklung ltaliens verhindert, sind die Sild-linder biologisch minderwertige Wesen, sind sie durch natilrliche Be-
stimmung Halbbarbaren oder v611igeBarbaren; wenn der Snden rildt-
standig ist, so tragen nicht das kapitalistische System oder irgendeine
andere geschichtliche Vrsache die Schuld daran, sondern die Natur, die
die Si idliinder als Faulpelze, Dummkepfe, Verbrecher und Barbaren
geschafJen hat und dieses ihr stiefmiltterliches Los nur dadurch mildert,
daB plotzlich und ganz vereinzelt groBe Geister aultauchen, die wie die
einsamen Palmen in einer durren und ururuchtbaren Wuste sind. Die
Sozialist ische Par tei war zu einem groBen Tei l der Vermittler dieser
biirgerlichen Ideologie unter dem Proletariat des Nordens. Die Soziali-
stische Partei gab ihren Segen zu der gesamten "meridionalistischen"
Literatur der Clique von Schriftstellern der sogenannten positiven Schule, .
zu den literarischen Erzeugnissen der Ferri, Sergi, Niceforo, Orano und
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ihrer kleineren Nachahmer, die in Artikeln, Skizzen, Novellen, Ro-
manen, in Reisebesmreibungen und Erinnerungsbilmem in versehie-
denen Fonnen immer das gleiehe Lied sangen. Nom einmal diente die
"Wissenschaft" dazu, die Annen und Ausgebeuteten zu treten, aber
diesmal kleidete sie sim in sozialisti scl te Farben und erhob den An-
spruch, die Wissensmaft des Proletariats zu sein.
Die Turiner Kominunisten traten dieser Ideologie energisclt entgegen,
gerade in Turin, wo die Erzlihlungen und Smilderungen der Veteranen
des Krieges gegen das "Rliuberunwesen"l im Suden und auf den Inseln
die Haltung una den Geist des Volkes stArker beeinOuBt hatten. Sie
reagierten energism und praktism und erreiehten konkrete Ergebnissevon groBter gescltichtlimer Tragweite. Gerade in Turin gelang es
ihnen, Ansiilze zu der kiinftigen Losung des Problems des Sudens zu
schaffen.
Ubrigens war es schon vor dem Kri~ in Turin zu einem Vorfall ge-
kommen, der im wesentlichen die gesamte Tatigkeit und Propaganda
der Kommunisten in der Nachkriegszeit vorwegnahm, Ais im Jahre 1914
durch den Tod des Abgeordneten Pilade Gay der IV. Wahlbezirk
der Stadt frei und die Frage des neuen Kandidaten gestellt wurde, maehte
eine Gruppe der sozialistischen Sektion, der die kiinftigen Redakteure
des "Ordine Nuovo" angehorten, den Vorsmlag, Gaetano Salvemini als
Kandidaten aufzustellen. Salvemini war damals der radikalsteExponent
der bauerliehen Massen des Sudens. Er stand aullerhalb der Sozialisti-
schen Partei, ja, er filhrte gegen die Partei eine sehr energisehe und ge-
fiihrliche Kampagne; deon seine Behauptungen und Beschuldigungen
riefen unter den werktiitigen Massen des Sudens nieht nur gegen Leute
wie Turati, Treves und d'Aragona, sondem auch gegen das Industr ie-
proletariat in seiner Gesamtheit Hall hervor. (Viele der Kugeln, die diekoniglichsn Garden in den Jahren 1919, 1920, 1921 und 1922 gegen die
Arbeiter nbfeuerten, waren aus dem gleichen Blei gegossen, das dazu
diente, die Artikel Salveminis zu drurken.) Trotzdem wollte diese Tu-
riner Gruppe Salvemini Untersti itzung zusichem, und zwar in dem
Sinne, wie er ihm von Genossen Ottavio Pastore, der sich naeh Florenz
begab, urn Salveminis Zustimmung zu der Kandidatur zu erreichen,
voigetragen werden sollte. "Die Arbeiter von Turin wolleneinen Ab-
geordnelen filr die Bauem Apuliens wiihlen. Die Arbeiter von Turin
wissen, dall bei den allgemeinen Wahlen von 1913 die Bauem von Mol-
Ietta und Bitonto in der ilbergroBen Mehrheit f iir Salvemini gewesen
sind; der administrative Drurk der Regierung Giolitt i und die Brutali-
taten der Ordnungshiiter und der Polizei haben es den apulischen
Bauem unmoglim gemaeht, ihrem Willen Ausdrurk zu verleihen. Die
170
Arbeiter von Turin verlangen keinerlei Verpfiichtungen von Salvemini,
weder in bezug auf die Partei noch in bezug auf das Programm oder hin-
sichtlich der Fraktionsdisziplin im Parlament. Wenn Salvemini gewiihlt
isl soIl er sich an die apuli schen Bauem halten, nicht an die Turiner
Arbeiter, die die Wahlpropaganda nach ihren Prinzipien betreiben und
sieh durch die politische Tatigkeit Salveminis in keiner Weise gebunden
fublen werden."Salvemini wollte die Kandidatur nicht annehmen, obwohl er durch
den Vorschlag stark beeindruckl, ja erschiittert war (damals sprach man
nom nicht von kommunistischer "Arglist" , und die Verkehrsfonnen
waren noch korrekt und angenehm). &schlug Mussolini als Kandidaten
vor und verpOichtete sieh, nach Turin 2JU kommen, urn die Sozialistisehe
Partei im Wahlkampf zu unterst iitzen. Tatsichlich fiihrte er im Ge-
werkschaftshaus und auf der Piazza Statuto zwei groBartige Versamm-
Iungen durch, auf denen die Massen ihn als den Vert reter der Bauem
des Sudens, die nom abscheulicher und brutaler unterdriirkt und aus-
gebeutet wurden als das Proletariat des Nordens, sturrnisch begriillten.
Die in diesem Vorfall potentiell enthaltene Orientierung, die nur des-
halb nieht zu weiterer Entwirklung gedieh, weil Salvemini es nimt
wol lte, wurde von den Kommunisten in der Namkriegszeit wieder-
aufgenommen und in die Tat umgesetzt. Wir wollen an die hervor-
steehendsten und bedeutsamsten hierher gehOrigen Tatsaehen erinnem.
1mJahre 1919 entstand die Vereinigung ,Junges Sardinien", aus der
sich spdter die Sardisehe Aktionspartei entwirkelte . Das ,Junge Sar-
dinien" wollte aIle Sarden auf der Insel und auf dem Festland in einem
regionalen Block zusammenfassen, der auf die Regierung einen heil-
samen Drurk ausiiben sollte, urn 21 U erreiehen, daB die den Soldatenwiihrend des Krieges gemamten Versprechungen gehalten wurden. Der
Organisator der Vereinigung auf dem Festland war ein gewisser Pro-
fessor Pietro Nurra, ein Sozialist, der heute sehr wahrseheinlieh zu den
"jungen Leuten" gehort, die im "Quarto Stato" allwomentlim der For-
sehung neue Horizonte eroffnen. Mit der Begeisterung, die jede neue
Miiglimkeit hervorruft, Orden, Pfriinden und Medaillen einzuheimsen,
sehlossen sich Rechtsanwiilte, Lehrer und Beamte der Vereinigung an.
Die Griindungsversammlung, die von den in Piemont lebenden Sarden
naeh Turin einberufen worden war, verlief dank der grollen Zahl der
Erschienenen sehr eindrurksvoll. Es waren zumeist anne Leute, Men-
sehen aus dem Volk ohne Titel und Wiirden, Handarbeiter, kleine Rent-
ner ehemalige Karabinieri, ehemalige Gefiingniswiirter, ehemalige Zoll-
be:mte, die die versmiedenartigsten kleinen Geschiifte betrieben. Sie aIle
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rbegeisterte der Gedanke, wieder einmal unter Landsleuten zu sein und
Reden iiber ihre Heimat anzuhoren, an die sic sich nach wie vor durch
unziihlige Bande der Verwandtschaft, der Freundschaft, der Erinnerung,
des Leids und der HolTnung gebunden fiihlten - der HofJnung, in ihre
Heimat zuriickzukehren, aber in eine gliicklichere und reichere Heimat,
die ihncn ein wenn auch beschcidenes Auskommen bieten wiirde.
Die sardischen Kommunisten, genau acht an der Zahl, erschienen
ebenlalls in der Versammlung, legten der Versammlungsleitung einen
Antrag vor und baten, ein Korreferat halten zu diirfen. Nach dem leiden-
schaftlichen, sch~ungvoUen und mit aller Anmut und allen Bluten der
heimatlichen Redekunst venierten Vortrag des offiziellen Referenten,nachdem die Zuhorer in Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit
und an das im Kriege von den sardischen Regimentern vergossene Blut
geweint und sich bis zur Veniickung begeistert hatten bei dem Gedan-
ken an einen geschlossenen Block aller edlen Sohne Sardiniens, war es
sehr schwierig, das Korreferat an den Mann zu bringen. Selbst die groB-
ten Optimisten sahen, wenn nicht ein Lynchgerieht, so doch mindestens
einen Spaziergang zurn Polizeipriisidium voraus, nachdem man vor den
Konsequenzen des "edlen Zoms der Menge" bewahrt worden wire. Das
Korreferat erregte zwar gewaltige Verwunderung, wurde aber aufmerk-
sam angehlSr t. Nachdem einmal der Bann gebrochen war, wurde es
rasch, aber methodisch, seinem revolutioniiren SchiuB zugefiihrt. Die
Alternat ive: "Seid ihr armen Teufel von Sarden fii r einen Block mit
den Herren aus Sardinien, die euch ruiniert haben und die ortlichen
Statthalter der kapitalistischen Ausbeutung sind, oder seid ihr fiir einen
Block mit den revolutioniiren Arbeitern des Festlands, die jegliche Aus-
beutung abschafJen und aIle Unterdruckten befreien wollen?" - diese
Alternative wurde den Anwesenden eingehimmert. Die getrennte Ab-
stimmung wurde ein ungeheurer Erfolg: auf der einen Seite ein Grilpp-
chen von auffnllend gekleideten Damen, von Beamten im Zylinder, vor
Wut und Angst fahlen Geschifts leuten neost einigen vierzig Polizei-
spitzeln, die der allgemeinen Zustimmung den letzten SchlifJ geben
sollten, und auf der andern Seite die ganze Schar der armen Teufel und
der Frauchen im Feiertagsgewand rings urn den kleinen kommunisti-
schen Kern. Eine Stunde spater wurde im Gewerkschaftshaus der Sa",
dische Sozialistische Bildungskreis mit 25 6 Mitgliedern gegrilndet; die
Grilndung des "Jungen Sardinien" WlUrdeauf unbestimmte Zeit vertagt
und fand niemals statt,
Dies war die politische Basis fiir die Aktion, die unter den Soldaten
der fast vollstindig aus Sarden zusammengesetzten Brigade Sassari
172
durchgefiihrt wurde. Die Brigade Sassari war an der Unterdriickung der
Turiner Aufstandsbew~ng vom August 1917 beteil igt gewesen; man
war sicher, daB sie sich niemals mit den Arbeitern verbrudern wiirde,
weil ja jede Unterdriickung HaBgefiihle hinterli8t, die sichin der Menge
auch gegen die Unterdriickungswerkzeuge richten und in den Regimen-
tern durch die Erinnerung an die unter den SchusseDder Aufstindischen
gefaUenen Soldaten genihrt werden. Die Brigade wurde von einer Menge
Herren und Damen empfangen, die den Soldaten Blumen, Zigarren und
Obst schenkten. Kennzeichnend fiir die Mentalitit der Soldaten ist fol-
gender Bericht eines Gerbereia~beiters aus Sassari , der zu den ersten,
versuchsweise vorgeschickten Propagandatrupps geMrte: "Ich nlihertemich einem Biwak auf der Piazza X (die sardischen Soldaten biwakierten
in den ersten Tagen unter freiem Himmel wie in einer eroberten Stadt)
und begann ein Gespriich mit einem jungen Bauem, der mich freundlich
begrilBt hatte , weil ich, wie er selbst , aus Sassari stammte. ,Wozu seid
ihr nach Turin gekommen?' ,Um auf die Herren zu schie8en, die bier
streiken. ' ,Aber die Streikenden sind keine Herren, sie sind Arbeiter
und anne Teufel .' ,Hier sind aUe Herren, sie t ragen aUe Kragen und
Schlips. Sie verdienen 30 Lire tiglich. Ich kenne anne Teufel und wei8,
wie sie gekleidet sind. In Sassari, ja, da gibt es viele arme Teufel; wir
Erdarbeiter sind aUearm und verdienen 1,50 Uiglich.' ,Aber ich bin auch
Arbei ter und bin arm.' ,Du bist ann, weil du aus Sardinien bist ,' ,Aber
wenn ich mi t den anderen streike, wirst du dann auf mich schie8en?'
D~ Soldat dachte einen Augenblick nach, dann legte er mir eine Hand
auf die Schulter und sagle: ,H6re, wenn du mit den andem streikst,
bleib zu Hause!'"Das war der Geist der uberwiegenden Mehrheit der Brigade, der nur
ganz wenige Bergarbeiter aus dem Revier von Iglesias angeharten. Unddoch wurde die Brigade nach wenigen Monaten, am Vorabend des Ge-
neralstreiks vom 20. und 21. Juli, aus Turin abgezogen. Die llteren Sol-
daten wurden entlassen, und der Verband wurde in drei Teile auf-
getei ll Ein Drittel wurde nach Aosta, ein Drittel nach Triest uad ein
Drittel nach Rom verlegt. Der Abzug der Brigade erfolgte ganz plDtz-
lich, mitten in der Nachl Keine elegante Menge bejubelte sie auf dem
Bahnhof. Ihre Lieder klangen zwar noch immer kriegerisch, hatteD aber
nicht mehr denselben Inhalt wie bei der Ankunfl
Sind diese Vorfille ohne Folgen geblieben? Nein, sie haben Ergeb-
nisse gezeitigt, die noch heute in der Tiefe der Volksmassen weiter wir--
ken. Sie haben fur einen Augenblick ein Licht entzundet in KDpfen, die
nie in dieser Richtung gedacht hatten und die doch beeindruckt und
grilndlich umgefonnt worden sind. Unsere Archive sind zerstreut wor-
173
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den; viele Papiere haben wir selbst vernichtet, urn keine Verhaftungen
und Verfolgungen hervonurufen. Aber wir erinnern uns an Dutzende
und Hunderte von Briefen, die aus Sardinien bei der Turiner Hedak-
tion des "Avanti" eingingen; es waren oft Gemeinschaftsbriefe, und oft
waren sie von allen ehemaligen Angehorigen der Brigade Sassari aus
einem bestimmten Dorf unteneichnet. Auf unkontrollierten und unkon-
trolIierbaren Wegen griff die von uns verfochtene poli tisehe Haltung
urn sich. Die Bildung der Sardischen Aktionspar lei wurde dadurch in
der. Basis star~ beeinflnfh, und man konnte in diesem Zusammenhang
an Interessante und bedeutungsvolle Episoden erinnem.
Die letzte dolwmentierte Auswirkung dieser Aktion stammt aus dem
Jahre 1922, als 300 Karabinieri der Cagl iari-Legion zu dem gleichenZweck wie einst die Brigade Sassari nach Turin gesehickt wurden. Die
Redaktion des "Ordine Nuovo" erhielt damals eine von einem sehr
groBen Teil dieser Karabinieri unteneichnete Prinzipienerkliirung, in
der unsere Auffassung der siiditalienischen Frage ihren Widerhall fand
und die die entscheidende Probe auf die Richtigkeit unsererOrientierungwar.
Das Proletariat muBte sich in dieser Richtong orientieren, urn ihr
poli tische Wirkungskraft zu verleihen; das versteht sich von selbst .
Keine Massenaktion ist moglieh, wenn die Masse selbst nicht iibeneugt
ist von den Zielen, die sie erreichen wil l, und von den anzuwendenden
Methoden. Urn als Klasse herrschen zu konnen, muB das Proletariat
aile ziinftlerischen Uberreste, aile Vorurteile oder Einschliige syndikalisti-
scher Art abstreifen. Was bedeutet dies? Es bedeutet, daB nieht nur die
zwischen den einzelnen Berufen bestehenden Unterschiede iiberwunden
werden miissen, sondem daB die Arbeiterklasse, urn das Vertrauen und
die Billigung ihrer Haltung durch die Bauem und gcwisse halbproletari-
sche Schichten der stiidtischen Bevolkerung zu gewinnen, manche Vor-
urteile und egoistische Tendenzen iiberwinden muB, die in ihr bestehen
konnen und tatsiichlich bestehen, auch wenn der' Berufspartikularismus
in ihren eigenen Reihen verschwunden ist, Der Metallarbeiter, der Holz-
arbeiter, der Bauarbeiter usw. miissen nieht mehr nur als Proletarier
als Metallarbeiter, als Holzarbeiter, als Bauarbeiter usw. denken, son-
dem sie miissen noch einen Schr it t weitergehen. Sie miissen als Mit-
glieder einer Klasse denken, die die Bauem und die IntelIektuellen
fiihren will, einer Klasse, die nur dann siegen und den Sozialismus auf-
bauen kann, wenn die groBe Mehrhe~ dieser sozialen Schichtell sie
unterst ii tzt und ihr folgL Wenn das nicht erreicht wird, wird das Pro-
letariat nicht die fiihrende Klasse, und diese Schichten, die in Italien die
174
Mehrheit der Bevolkerung bilden, bleiben unter biirgerlicher Fuhrung
und ermogliehen es dem Staat, dem Ansturm des Proletariats stand-
zuhalten und ihn zu brechen.
Nun, das, was in der Frage des Si idens gesehehen ist , beweist, daB
das Proletariat diese seine Pfliehten verstanden hat. Zwei Vorfiille sind
hier zu erwiihnen. Der eine hat sich in Turin abgespielt, der andere in
Reggio Emilia. also in der Hochburg des Reformismus, des Korporativis-
mus, des Klassenegoismus der Arbeiterschaft . wie zum 'Beispiel die
Meridionalisten" ihn in ihrer Propaganda unter den Bauem des Sudens"aufweisen.
NaCh der Besetzung der Fabriken machte die Direktion der Fiat-
Werke den Arbei tem den Vorsmlag. den Betrieb in genossensehaft-
Iicher Form wiederaufzunehmen. Die Reformisten waren natiirlich da-
fiir. Es drohte eine Wirtschaftskrise. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit
iingstigte dieArbeiterfamilien. Wenn dieFiat-Werke ein genossenschaft-
Iicher Betrieb wurden, hiitte von der Belegschaft und besonders von den
politisch aktiveren Arbeitem, die uberzeugt waren, daB sie auf der Ent-
lassungslisle standen, eine gewisse Sicherheit in bezug auf ihre SteUung
erreicht werden konnen.
Die unter kommunistischer Flihrung stehende sozialistische Sektion
griff energisch in die Frage ein. Den Arbeitem wurde gesagt: Ein groBer
Betrieb wie die Fiat-Werke kann von den Arbeitem als Genossenschaft
nur iibemommen werden, wenn diese gewill t s ind. sieh in das System
der biirgerlichen politischen Kriifte. das heute Italien beherrscht, ein-
zuordnen. Der Vorschlag der Fiat-Direktion l iiuft auf die pol it ische
Konzeptio~ Giolittis hinaus. Worin besteht diese Konzeption? Schon
vor dem Kriege konnte die Bourgeoisie nieht mehr ungestort regieren.
Der Aufstand der sizilischen Bauem im Jahre 1894 und der Maili inderAufstand von 1898. waren das ezpenmentum crucis der italienischen
Bourgeoisie. Nach dem.blutigen Jahrzehnt von 1890 bis 1900 muBte die
Bourgeoisie auf eine allzu exklusive, allzu gewaltsame, a l Jzu unmittel-
bare Diktatur verzichten; denn die Bauern des SQdens und die Arbeiter
des Nordens erhoben aich SleichuitiS. wenn auch nieht koordiniert,
gegeo sie. 1m Degen Jahrhundert leitete die herrschende Klasse eine
neue Poli tik ein, eine Poli tik der Klasseabundnisse, dee pol it iseheo
Blockbildungen unter den Klassen. das heiBt die Poli tik der burger-
lichen Demokratie. Sie hatte die Wahl: entweder eine auf das flame
Land orientierte Demokratie, das heiBt ein Biindnis mit den Bauem des
SQdens, eioe Politik der ZoWreiheit, des allgemeinen Wahlrechts, der
Dezentralisierung der Verwaltung. der niedrigen Preise fur Industrie-
produkte, oder eio Industriebloek der Kapi talisten und der Arbei ter-
175
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klasse, ohne allgemeines Wahlrecht, mit SchutzzoIlen, mit Beibehaltung
der Zentralisierung des Staates (was die Herrschaft der Bourgeoisie Uber
die Bauem, speziell im Suden und auf den Inseln ausdrUckte), mit einer
Politik der Reformen in bezug auf die Lohne und die gewerkschaftlichen
Freiheiten. Sie entschied sich nieht zufil lig fUr diese zweite Lesung;
Giolitti verkorperte die Herrschaft der Bourgeoisie, die Sozialistische
Partei wurde das Instrument seiner Politik. Wenn man genau zusieht, so
vollzogen sich in dem Jahrzehnt von 1900 bis 1910 tiefgreifende Krisen
in der soe ia l i s t igchen Bewegung und der Arbeiterschaft: Die Masse rea-
gierte spontan gegen die Politik der refonnistischen FUhrer. Es entstand
der Syndikalismus, der der instinktive, elementare, primitive, aber ge-
sunde Ausdruck der Reaktion der Arbeiterschaft gegen den Block mit
der Bourgeoisie und fUreinen Block mit den Bauern, in erster Linie mit
den Bauern de. Sadens, ist. Genauer gesagt, ist der Syndikalismus sogar
in gewissem Sinne ein schwacher Versuch der von ihren fortsehrittliehe-
ren Intellektuellen vertretenen Bauem des SUdens, die FUhrung Uber
das Proletariat zu gewinnen. Wer bildet den fUhrenden Kern. des italieni-
schen Syndikalismus? Was ist c1asideologische Wesen des italienischen
Syndikalismus? Der fUhrende Kem des Syndikalismus besteht fast aus-
schlieBlich aus SUditalienem: Labriola, Leone, Longobardi, O,ano. Das
Wesen der Ideologie des Syndikalismus ist ein neuer Liberalismus, der
energischer, aggressiver, kimpferischer ist als der traditionelle. Wenn
man genauer zusieht, sind eszwei Grundmotive, mit denen die folgenden
Krisen des Syndikalismus und der allmiihliche Ubergang der syndikali-
stischen FUhrer ins bUrgerliche Lager zusammenhingen: die Auswan-
derung und der Freihandel, zwei Motive, die eng mit dem Meridionalis-
mus zusammenhingen. Aus der Tatsache der Auswanderung erwichst
Enrico Corradinis Auffassung der nproletarischen Nation"; der Krieg inLibyen erscheint einer ganzen Schicht von Intellektuellen ais der Be-
ginn der Offensive der "groBen proletarischen Nation" gegen die Welt
des Kapitalismus und der Plutokratie. Eine ganze Gruppe von Syndi-
kalisten geht zum Nationali llmus aber, oder vielmehr die Par tei der
Nationalisten wird urspriinglich von ehemals syndikalistischen Intellek-
tuellen gebildet (Monicelli, Forges-Davanzati, Maraviglia). Labriolas
Buch ..Geschichte eines Jahrzehnts" (des Jahrzehnts von 1900 bis 1910)
ist der typischste und charakteristischste Ausdruck dieses gegen Giolitti
gerichteten sUdlichen Neoliberalismus.
In diesen zehn Jahren erstarkt und entwickelt sich der Kapitalismus
und konzentriert einen Teil seiner Energien au f die Landwirtschaft der
Poebene. Der kennzeichnendste Zug dieser zehn Jahre sind die Massen-
streiks der Landarbeiter der Poebene. Unter den Bauem des Nordens
176
vollzieht sich eine tiefgreifende Umwilzung; es kommt zu einer starken
Klassendifferenzierung (die Zahl der Tagelohner steigt gemiB der Volks-
ziihlung von 1911 um 50 Prozent) , und ihr entspricht eine Umfonnung
der politischen Stromungen und der geistigen Haltung. Die christliche
Demokratie und der Mussolinismus sind die beiden bemerkenswertesten
Ergebnisse der Epoche: Die Romagna wird zum Priifstein fii r diese
beiden neuen Richtungen; der Tagelohner scheint die soziale Haupt-
person im politischen Kampf geworden zu sein. Die soziale Demokratie
in ihren links orientierten Organen (die "Azione" aus Cesena) und auch
der Mussolinismus geraten schnell unter den EinOuB der "Meridionali-
sten". Die "Azione" aus Cesena ist eine Bezirksausgabe der "UnitA'"
Gaetano Salveminis. Der von Mussolini geleitete "Avanti" wird langsam,
aber sicher zu einem Tummelplatz fUr die syndikalist ischen und meri-
dionalistischen Schriftsteller. Fancello, Lanzillo, Panunzio und Ciccotti
werden seine stiindigen'Mitarbeiter. Salvemini selbst Macht keinen Hehl
aus seinen Sympathien fiir Mussolini, der auch ein Liebling von Prezzo-
linis"Voce" wird. Jedermann erinnert sichnoch, daBMussolini, als eraus
dem "Avanti" und aus der Sozialistischen Partei aussehied, inWirklichkeit
von dieser Kohorte von Syndikalisten und Meridionalisten umgeben war.
Die bemerkenswerteste Auswirkung dieser Periode im revolutioniiren
Lager ist die Rote Wochevom Juni 1914; die Romagna und die Marken
sind das Zentrum der Roten Woche. 1m Lager der biirgerlichen Polit ik
ist die bemerkenswerteste AQswirkung der Gentiloni-Vertrag. Da die
Sozialistische Partei unter der Einwirkung der lindlichen Bewegungen
in der Poebene seit1910 zurTaktik der Unversohnlichkeit zuriickgekehrt
war, verliert der von Giolitti gestiitzte und repriisentierte Industrieblodt
seine Schlagkraft. Giolit ti n immt eine Schwenlwng vor. An die Stelle
des BUndnisses zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklas88 trittdas Biindnis zwischen der Bourgeoisie und den Kathol iken, die die
Bauernmassen Nord- und Mittelitaliens vertreten. Durch dieses Bund-
nis wird die konservative Partei Sonninos vollig vernichtet. Nur in Sad-
ita lien erhil t s ich eine sehr kleine Gruppe um Antonio Salandra. Wiih-
rend des Krieges und in der Nachkriegszeit kommt es zu einer Reihe
-von au.8erordentlich wichtigen Umschichtungsprozessen innerhalb der
Bourgeoisie. Salandra und Nitti waren die ersten heiden Retrierungs-
chefs aus dem Siiden (abgesehen natiil"lichvon den Sizilianem wieCrispi,
-der der tatkriftigste Vertreter der biirgerlichen Diktatur im 19. Jahr-
hundert war). Sie suchten den Block der Industr iebourgeoisie mit den
Agrariern des Siidens zu verwirklichen, Salandra auf konservativem
Boden, Nitti auf demokratischem (unterstiitzt wurden sie beide tatkrif-
t ig vom "Corriere della Sera", das heiBt von der lombardischen Textil-
(
I
, I
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industrie). Schon wiihrend des Krieges suchte Salandra die technischen
Kriifte der staatlichen Organisation zugunsten des Siidens auszuweeh-
seln, suchte er die Giolitt i ergehenen Beamten durch neues Personal zu
ersetzen, das den neuen politischen Kurs der Bourgeoisie verkdrpem
sollte. Erinnert euch an die Kampagne, die die "Stampa" hesonders in
den Jahren 1917 und 1918 fiir eine enge Zusammenarheit zwischen den
Anhiingern Giolittis und den Sozialisten fiihrte, um die "Apulisierung"
des Staates zu verhindern. Diese Kampagne der "Stampa" wurde von
Francesco Ci~cotti geleitet, das hei8t, sie war faktiseh ein Ausdruck des
zwischen Giolitt i und den Reformisten hestehenden Abkommens. Es
ging um einen nicht geringen Einsatz, und die Anhiinger Giolitt is he-gannen schlie8lich in ihrer erhitterten Verteidigung die einer Partei der
Gro8hoorgeoisie gesteckten Grenzen zu uherschreiten; sie gingen his
zu jenen antipatriotischen und defiitistischen Manifestationen. an die
wir uns aIle noch erinnem. Heute ist Gioli tti abermals an der Macht,
ahermals vertraut die Gr08hourgeoisie sich ihm an, weil sie angesichts
der sti irmischen Bewegung der Volksmassen von panischer Furcht ere
fii lI t ist , Giolit ti will die Turiner Arbeiter zli .hmen. Zweimal hat er sie
geschlagen, hei dem Streik vom vergangenen April und hei der Beset-
zung der Fabriken, heide Male mit Hille des Allgemeinen Gewerkschafts·
hundes, das heiBt mit Hille des' korporativen Reformismus. Er glauht
die Stunde gekommen, wo er die Arbeiter in das hi irger liche Staats-
system eingliedem kann. In der Tat, was wird geschehen, wenn die
Fiat-Belegsehalt die Vorsrhliige der Direktion annimmt? Die gegen-
wiirt igen Industr ieaktien wurden Ohligationen werden, das heiSt, die
Genossenschaft mii8te den Ohligationsinhabem unabhiingig vom Um-
satz eine feste Dividende zahlen. Die Fiat-Betriehe wiirden auf jede
Weise von den Kreditinstituten geschrOpft werden, die in der Hand derBourgeoisie hleihen wiirden, in deren Interesse es liegt, sich die Arheiter
gefiigig zu Machen. Die Belegschaft mii8te sich wohl oder iihel an den
Staat hal ten, der "den Arhei tem zu Hille kommen" wiirde, niimlich
durch die Arheiterabgeordneten, durch die Unterordnung der politischen
Partei der Arheiterschaft unter die Regierungspolitik. Das ist Giolittis
Plan in voller Aktion. Das Turiner Proletariat wiirde nicht mehr als un-
ahhiingige Klasse existieren, sondem nur als ein Anhiingsel des burger-
lichen Staates. Das Klassenziinftlertum hiitte triumphiert, aber das Pro-
letariat hli tte seine Stellung und seine Aufgahe als Leiter und Fiihrer
eingehiiBt; es wiirde den Massen der iirmeren Arheiter als privilegiert
und den Bauem als ein Ausheuter vom gleichen Schlage wie die Bour-
geoisie erscheinen, weil die Bourgeoisie, wie sie es immer getan hat, den
Bauel'Jlmassen die privilegierten Arheitergruppen als die einzige Ur-
178
sache ihrer Leiden und ihres Elends darstellen wiirde.
Die Fiat-Belegschaft akzeptierte unseren Standpunkt fast einmiitig,
und die Vorschliige der Direktion wurden abgelehnt. Aher dieser Ver·
such konnte nicht der letzte sein. Das Turiner Proletariat hatte in einer
ganzen Reihe von Akt ionen hewiesen, daB es einen sehr hohen Grad
polit ischer Reife und Fahigkeit erreicht hatte . Die Techniker und die
Betriehsangestellten konnten 1919 ihre Lage nur verbessem, weil sie
von den Arheitem unterstiitzt wurden. Urn die Agitation der Techniker
zu unterhinden, srhlugen die Untemehmer den Arheitern vor, sich selhst
neue Schicht- und AbteiluIl6sleiter zu wahlen. Die Arheiter lehnten den
Vorsrhlag ab, ohwohl sie geniigend Griinde zum Konflikt mit den Tech-
nikem hatten, die stets in den Handen der Untemehmer ein Werkzeug
der Bedriickung und Verfolgung gewesen waren. Damals entfesselten
die Zeitungen eine wiitende Kampagne, um die Techniker zu isolieren,
indem sie deren hohe Gehiilter, die his zu 7000 Lire monatlich hetrugen,
in den Vordergrund riickten. Die Facharheiter unterstiitzten die Agita-
tion der Hilfsarheiter, denen es nur so gelang, sichdurchzusetzen. Inner-
halh der Fabriken wurden aIle Privilegien und Vorteile, die die qua l i f i -
zierteren Kategorien zum Nachteil der weniger qualifizierten genossen,
abgeschaflt, Durch diese Aktionen erwarh die proletarische Vorhut sich
ihre soziale Vormachtstellung; auf dieser Basis entwickelte sich die Kom-
munistische Partei in Turin. Aber au8erhalb Turins? Nun, wir wollten
die Frage absichtlich stellen, und zwar gerade in hezug auf Reggio
Emilia, wo der Reformismus und das Klassenziinftlertum am stiirksten
konzentriert waren.
Reggio Emilia war stets die Zielscheihe der "Meridionalisten" ge-
wesen. Wenn Camillo Prampolini einmal sagte: "Italien ist in Nordlan-
der und Sudlander geteilt", so war dies gewissermal3en der priignan-teste Ausdruck des wutenden Hasses, der unter den Siiditalienem gegen
die Arheiter des Nordens herrschte . In Reggio Emilia lag das Prohlem
ahnlieh wie in den Fiat-Werken. Ein Gr08hetrieh sollte als genossen-
schaft licher Bet rieh in die Hande der Arheiter uhergehen. Die orts-
ansiissigen Reformisten waren hegeistert iiher das Ereignis und posaun-
ten es in ihren Zeitungen und in ihren Versammlungen in die Welt
hinaus, Ein Turiner Kommunist· hegab sich nach Reggio, ergrifJ in der
Betriehsversammlung das .Wort, verhreite te sieh iiher den gesamten
Komplex der Frage des Nordens und Siidens, und es geschah ein "Wun·
der": Die Arheiter lehnten mit iiherwiiltigender Mehrheit die reformisti-
sche und ziinftlerische These ab. Es erwies sich, daS die Reformisten
nicht den Geist der Arheiter von Reggio verkdrperten; sie verklirperten
nur ihre Passivitiit und andere negative Zuge. Auf Grund der hemerkens-
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werten Konzentration von Organisatoren und Propagandisten in ihren
Reihen, die uber eine gewisse berufsmaBige Tuchtigkeit verfugten, war
es ihnen gelungen, ein polit isches Monopol zu schafJen und auf diese
Weise die Entwicklung und Organisation einer revolutionaren Stro-
mung zu verhindem; aber die Anwesenheit eines flihigen Revolutionlirs
genugte, sie matt zu setzen und an den Tag zu bringen, daB die.Arbei-
ter von Reggio tapfere Kampfer sind und nieht mit Regierungsfuttergemlistete Sehweine.
Im April 1921 wurden 5000 revolutionare Arbeiter von den Fiat-
Werken entlassen, die Betriebsrilte wurden abgesehafJt und die Real-
lohne gesenkt. In Reggio Emilia gesehah vermutlieh etwas XhnIirhes.
Die Arbeiter wurden also gesehlagen. Aber ist das Opfer, das sie gebrarht
hatten, vergeblieh gewesen? Wir glauben das nieht, wir sind vielmehr
sirher, daB es nieht vergeblirh gewesen ist. GewiB ist es srhwierig, eine
ganze Reihe graDer Massenereignisse anzufilhren, die die unmittelbare
und bIitzartige Wirksamkeit dieser Aktionen beweisen konnten. Was
Obrigens die Bauem betr iRt, so sind derart ige Feststellungen immer
sehwierig und beinahe unm6gIieh; noeh sehwieriger sind sie hinsirhtIiehder Bauemmassen des Sildens.
Der Si lden kann als ein Gebiet des weitgehenden sozialen Ausein-
anderfallens bezeirhnet werden; die Bauern, die die ~oBe Mehrheit sei-
ner Bevolkerung bilden, haben keinerlei Zusammenhang untereinander
(sf!lbstvel'StlindIirh gibt es Ausnahmen, wie ApuIien, Sardinien und Si-
ziI ien, die im ~oBen Rahmen der Struktur des Sudens ihre besonderen
Merkmale aufweisen). Die Gesellsehaft des Sndens ist ein graBer agrari-
srher Block, der sieh aus drei sozialen Schiehten zusammensetzt: der
groBen gestaltIosen und zusammenhanglosen Bauernmasse, den In-
teIIektueIIen aus der kleinen und mittleren Dorfbourgeoisie sowie denGro8grundbesi tzem und den gra8en InteIIektueIIen. Die Bauem des
Sildens befinden sieh in st lindiger Glirung, aber als Masse s ind sie un-
flihig, ihren Bestrebungen und ihren N6ten einen zentralisierten Aus-
druck zu verleihen. Die Mittelsrhieht der InteUektuenen erhlilt von der
bli~er)j~en Basis die I~puIse filr ihre poIitische und ideologisehe Tlitig-
kelt. DIe Gro8grundbesltzer und die gra8en Intellektuellen zentraIisie-
ren und beherrsehen in letzter Instanz diesen ganzen Komplex von Wil-
lensAuDerungen auf politisehem beziehungsweise ideologisehem Gebiet.
Auf ideologisehem Gebiet ist diese Zentralisierung naturgemli8 wirk-
samer und prilziser. Daher nehmen MAnner wie Giustino Fortunato
und Benedetto Croce sozusagen die SchlQsselstellung im System des
SOdens ein. In einem gewissen Sinne sind sie die beiden ~68ten Fi -guren der italienisehen Reaktion.
180
Die InteIIektueIIen des Sudens sind eine der interessanteslen und
wirhtigsten sozialen Srhirhten im nationalen Leben Italiens. Urn das
einzusehen, braueht man nur daran zu denken, daB mehr als drei Ftinf-
tel der staat liehen Burokratie aus Suditalienem bestehen. Urn nun die
besondere Psyehologie der InteIIektueIlen des Sudens zu verstehen,
muB man sieh einige Tatsaehen gegenwartig haIten:
1.In allen Lsndern ist die Sehieht der InteIIektueIlen durch die Ent-
wicklung des Kapitalismus tiefgreifend umgestnltet worden. Der In-
telIektueIIe al ten Typs war das organisierende Element einer Gesell-
sehaft, deren Basis vorwiegend aus Bauern und Handwerkem bestand;
urn den Staat zu organisieren, urn den Handel zu organisieren, zuehtete
die herrsrhende Klasse einen hesonderen Typus des Intellektuellen. Die
Industrie hat einen neuen Typus des InteIIektueIIen gesrhafJen, den tech-
nischen Organisator, den Spezialisten der angewandten Wissensrhaft.
II I den GeseIIsrhaften, in denen sieh die okonomisrhen Kriifle im kapita-
Iistisehen Sinne bis zur Aufsaugung des groBten Teils der nationalen
Energien entwickelt haben, hat dieser zweite Typus des InteIlektueIIen
mit dem ihm eigenen Sinn fur Ordnung und Disziplin die Oherhand ge-
wonnen. In den Landern dagegen, in denen die Landwirtschaft noch
cine bemerkenswerte oder geradezu vorherrsrhende Rolle spielt, uber-
wiegt naeh wie vor der alteTypus; er stellt den groBten Teil der Beamten-
sehaft und iibt im lokalen MaBstah, auf dem Dorf und in der Land-
gemeinde, die Funkt ion des Vermit tlers zwischen dem Bauern und der
Verwaltung im allgemeinen aus. In St lditalien herrseht dieser Typus
mit all seinen charakteristisehen Merkmalen vor. Er ist demokratiseh
gegenuber den Bauern und reaktionlir in seiner Haltung gegeniiber dem
Grol3grundbesi tzer und der Regierung, er ist poIi tiseher Geschii fte-
macher, korrupt und unehrlich. Die traditionelle Erscheinung der politi-sehen Parteien des Siidens bliehe unverstandlich, wenn man sich nicht
den Charakter diescr sozialen Sehieht vergegenwartigte,
2. Der Intellektuelle des Sudens stammt vorwiegend aus einer Klasse,
die im Sllden noch eine groBe Rolle spielt, namlieh aus der Dorfbourgeoi-
sie. Es sind dies die kIeinen und mittleren Grundhesitzer, die keine Bauem
sind, die ihr Land nieht bearbeiten, die sichdessen sogar srhlimen wiir-
den, die aber aus dem wenigen ihnen gehOrenden Land, das sie in Paeht
oder Halbpacht gegeben haben, so viel Nutzen ziehen wollen, daB sie
standesgemliB leben, ihre Sohne auf die Universitiit oder ins Priester-
seminar schicken und ihren Tochtem, die einon Offizier oder einen
Staatsbeamten heiraten sollen, eine entsprechende Mitgift gehen kon-
nen. Von dieser Schieht ubemehmen die InteIlektueIlen eine heftige
Abneigung gegen den werktatigen Bauem, der als Arheitstier hetrachtet
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wird, das bis auf die Knochen ausgesaugt werden muB und infolge der
Ubervolkerung leicht ersetzt werden kann. Daher stammt auch das
atavistische und instinktive Gefiihl torichter Furcht vor dem Bauern und
seiner Neigung 2lU gewaltsamen Zerstonmgen, woraus eine gewohn-
heitsmiiBige raffinierte Heuchelei und eine ganz besonders raffinierte
Kunst stammen, die Bauernmassen zu betriigen und im Zaum zuhalten.
3. Da zu der sozialen Gruppe der Intellektuellen auch die Geistlichkeit
gehOrt, muB a!lf die Wesensverschiedenheiten zwischen der Geistlichkeit
des Siidens in ihrer Gesamtheit und der Geistlichkeit des Nordens hin-
gewiesen werden. 1m Norden ist der Pfarrer gewohnlieh der Sohn eines
Handwerkers oder eines Bauern; er hat demokratische Neigungen und
ist mehr mit der Masse der Bauern verbunden; moralisch ist er sauberer
als der Plarrer im Silden, der hiiufig beinahe ofTenmit einer Frau zu-
sammenlebt, und er iibt daher sein geistliches Amt in sozialer Hinsieht
vol lkommener aus, das heiBt , er hat maBgeblichen EinfluB auf die ge-
samte Tiitigkeit der Famil ien. 1m Norden ist die Trenmmg der Kirche
vom Staat und die Enteignung des Kirchenvermogens radikaler gewesen
als im Siiden, wo die Plarren und Kloster betriichtliche Immobilien und
Mobilien gerettet oder wiedergewonn~n haben. Im Siiden erscheint der
Plarrer dem Bauem a) als Gu tsverwa lter, mit dem der Bauer in der
Pachtfrage in KonOikt geri it, b) als Wucherer, der enorme Zinsen ver-
langt und das religiose Moment ins TrefTen fiihrt, urn die Pachtgebilhren
oder dieWucherzinsen mit Sicherheit einzutreiben, und c)als ein Mensch,
der den gewohnlichen Leidenschaften (Frauen und Geld) unterworfen
ist und daher als Geistlicher keinerlei Vertrauen hinsichtlich Verschwie-
genhei t und Unpar teil ichkei t einfl5Bl Die Religion spielt daher hum
eine fiihrende Rolle, und wenn der Bauer des Siidens auch aberglaubischim heidnischen Sinne ist, so ist er doch nicht klerikal. So erkliirt es sich,
daB die Volkspartei im Silden (mit Ausnahme einiger Gebiete Siziliens)
keine bemerkenswerte Stellung einnimmt und niemals i iber ein Netz
von Masseneinrichtungen und Massenorganisationen verfiigt hal Die
Einstellung des Bauem gegeniiber der Geistl ichkeit laBt sich in dem
Volkswort zusammenfassen: "Der Plarrer ist Pfarrer am Altar, drau8en
ist er ein Mens«;hwie aile anderen."
Der Bauer des Si idens is t mit dem GroBgrundbesitzer durch den In-
tellektuellen verbunden. Die Bew~ngen der Bauern, sofern sie nicht in
autonomen und unabhiingigen Massenorganisationen, sei es auch nur
formal, zusammengefaBt sind (das heiBt fiihig sind, Bauemkader b1iuer-
Iicher Herkunft zu wiihlen und die in der Bewegung verwirklichten
DifTerenzierungen und Fortschritte festzuhalten und auszubauen), wer-
182
den schlieBlich immer in den gewohnlichen Instanzen des Staats-
apparats - den Gemeinden, Provinzen, der Abgeordnetenkammer -
beigelegt, und zwar durch Vereinbarungen beziehungsweise Gruppen-
bildungen innerhalb der ortl ichen Parteien, deren Personal sich zwar
aus Intellektuellen zusammensetzt, die aber von den GroBgrundbesit-
zem und ihren Vertrauensleuten, wie Salandra, Orlando oder di Cesaro,
beherrscht werden. Der Krieg schien in diesen Organisationstypus ein
neues Element einzufiihren mit der Bewegung der ehemaligen Front-.
kiimpfer, in der die Soldaten biiuerl icher Herkunft und die Off iziere
intellektueller Herkunft einen geschlossenen Block bildeten, der in einem
gewissen Grade im Gegensatz zu den GroBgrundbesi tzem stand. Das
dauerte nicht lange, und der letzte Uberrest davon ist die von Amendola
gegriindete Nationale Union, die auf Grund ihres Antifllschismus eine
Scheinexistenz fiihrt. Immerhin muB angesichts des Fehlens jeglicher
Tradition hinsichtlich einer ausgesprochenen Organisation der demo-
kratischen Intellektuellen im Siiden auch diese Gruppe hervorgehoben
und beachtet werden, weil sie bei einer allgemeinen Veri inderung der
poli tischen Situat ion sozusagen aus einem diinnen Wasserstrahl zu
einem triiben Strom anschwellen kannte. Das einzige Gebiet, in dem die
Bewegung der ehemaligen Frontkiimpfer schiirfere Umrisse angenommen
hat und sich eine festere soziale Basis hat schafTenk5nnen, ist Sardinien.
Das ist verstiindlich, weil gerade in Sardinien die Klasse der GroBgrund-
besi tzer sehr schwach ist , hum eine Rolle spielt und nicht die alten Tra-
ditionen des festliindischen Siidens in bezug auf Kuhur, geistiges Leben
und Regierungsbeteiligung besitzt. Der von den Massen der Bauem und
Hirten ausgeiibte Druck von unten stoBt in der sozialen Oberschicht dell
GroBgrundbesitzer nicht auf eine erdriickende Gegenwirkung: die ffib-
renden Intellektuellen bekommen ihn voll zu spiiren und machen daherbemerkenswertere Schritte nach vorwiirts als die Nationale Union. Die
Situation in Sizilien unterscheidet sich sehr wesentlich von der in Sar-
dinien und im festliindischen Siiden. Die GroBgrundbesitzer treten hier
viel geschlossener und energischer auf als im fest liindischen Suden,
AuBerdem gibt es bier eine gewisse Industrie und einen stark entwickel-
ten Handel (Sizilien ist das reichste Gebiet des ganzen Siidens und eins
der reichsten in ganz ltalien). Die Oberklassen sind sich ihrer Bedeutung
fil r das nationals Leben sebr bewuBt und bringen sie zur Geltung. Si-
zilien und Piemont sind die beiden Gebiete, die dem italienischen Staat
die groBte Anzahl fiihrender Politiker gesteUt und seit 1870 eine fiber-
ragende Rolle gespielt baben. Die sizilischen Volksmassen sind fort -
schrittlicher als die des sfidlichen Festlands, aber ihr Fortschritt hat eine
typisch sizilische Form angenommen. Es gibt einen sizilischen Massen-
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sozialismus, der iiber seine besondere Tradition und Entwicklung ver-
fiigt. In del ' Kammer von 1922 war er durm etwa 20 Abgeordnete unter
den 52 auf del ' Insel gewihlten Abgeordneten vertreten.
Wir haben gesagt. da8 del' Bauer des Siidens mit dem Gr08grund-
besitzer durch den Intellektuellen verbunden ist. Diesel' Organisations-
typus ist del' im ganzen festlandisrhen Si lden und in Sizil ien am mei-
sten verbreitete. Er schafft einen gewaltigen Agrarblock, del ' in seiner
Gesamtheit als Vennittler und Aufseher des nordlirhen Kapita]ismus
und del ' groBen Banken fungiert. Sein einziges Ziel ist es, den Status
quo zu erhalten. Innerhalb dieses Blocks gibt es keinerlei Aufklirung,
keinerlei Programm, keiner]ei Drang zu Verbesserungen und Fortsehrit-ten. Wenn irgendwelrhe Ideen und Programme IProklamiert worden
sind, so haben sie ihren Ul'sprung auBerhalb des Siidens gehabt, in iIen
politischen Groppen del' konservativen Agrarier, besonders aus Toscana
die im Parlament den Konservativen des sildlichen Agrarb]ocks ass~
ziiert waren. Sonnino und Franchetti gehOrten zu den wenigen einsich-
tigen Bourgeois , die das Problem des Si ldens als nationales Problem
sahen und ein R~e"mgsprogramm fOr seine Losung entwanen. Von
welehem Gesichtspunkt gingen Sonnino und Franehetti aus? Sie gingen
von del' Notwendigkeit aus, in Siiditalien eine unabhiingige wirtschaft-
liche Mitte]sehieht zu sehaffen, die, wie man damals zu sagen pflegte, als
"offentlirhe Meinung" fungieren und der brutalen WillkOr del' Grund-
besitzer einerseits wie der Aufsllssigkeit der. annen Bauem anderseits
Zilgel an]egen soUte. Sonnino und Franehett i waren tief ersehrocken
fiber die Popu]aritllt, die die Ideen des Bakunismus aus der Zeit der
I. Internationale im Silden genossen. Diesel' Schrecken ]ieB Ii" oft in
groteske Irrtiimer verfallen. In einer ihrer Zeitsrhriften wird zum Bei-spiel darauf hingewiesen, daB ein vielbesurhtes Wirtshaus odeI' Restau-
rant in einem Done Kalabriens (wir zitieren naeh dem Gedaehtnis) sich
"scioperanti" [Zu den Streikenden. Die Red .] nenne, womit sie beweisen
wollen, wie verbreitet und wie fest eingewurzel t die Ideen del ' Inter-
nationale dort seien. Wenn das wahl' ist (und angesirhts del ' Gewissen-
haftigkeit del' Autoren mu8 man es wohl als wahl' unterstelIen) so
erklii rt es sieh viel einfarher , wenn man daran denkt , da8 es im S~den
zahlreirhe albanisehe Siedlungen gibt und daB das Wort Skipetaren
[Albanier. D ie R ed .] in den Dialekten die sonderbarsten und kuriose-
s ten Entstellungen erfahren hat (so ist zum Beispiel in einigen Doku-
men ten del' Republik Venedig von miIitirisehen "S'ciopeta"-Verbinden
die Rede). Nun waren im Siiden nicht so sehr die Theorien Bakunins
verbreitet; vielmsh- waren die Verhiiltnisse selbst derart, daB sie ver-
184
mutlieh Balrunins Theorien nahegelegt hiitten. Sieherlieh darhten die
armen Bauem des Siidens schon viel fruher an den "Zusammenbrurh",
als Bakunin an seine Theorie del' "allgemeinen Zerstdrung" darhte.
Das Regierungsprogramm Sonninos und Franrhettis erreirhte nieht
einmal die ersten Stadien seiner Verwirklirhung und konnte sie auch
nieht erreirhen. Das Verhiiltnis zwischen Norden und Siiden in del' Or-
ganisation del' Vo]kswirtschaft und des Staates ist so besrhafJen, daB die
Entstehung einer weitverbreiteten wirtsrhaftlichen Mittelklasse (was
dann die Entstehung einer weitverbreiteten kapitalistisehen Bourgeoisie
bedeutet) fast unmoll] ieh gemarht wird. Jede Akkumulation von Ka-
pita] an Ort und Stelle und [ede Akkumulation von Erspamissen wird
nnmlSf{li rhf lCmaeht durch das Steuer- und Zollsystem und dureh die
Tatsaehe, daB die kapitalistischen Besitzer del' Wirtschaften ihren Profit
nieht im Siiden in neues Kapital umwandeln, weil sie nieht aus dem
Siiden stammen, Ais die Auswanderung im 20 . Jahrhundert die bekann-
ten riesigen AusmaBe annahm und die ersten Geldsendungen aus
Amerika einzutreffen begannen, triumphierten die liberalen National-
okonomen: Del'Traum Sonninos gehe in Erfiillung. 1m Siiden vollziehe
sieh eine stil le Revolution, die langsam, abel' s ieher die ganze okono-
mische und soziale Struktur des Landes veriindem werde . Abel' de l'
Staat griff ein, und die sti lle Revolution wurde im Keim erst ickt . Del'
Staat bot Scltatzanweisungen zu festem ZinsfuB an, und die Auswan-
derer und ihre Famil ien verwandel ten sich aus Agenten del' sti llen Re-
volution in Agenten dCHStaale!!, dic diesem die finnnziellen Mittel zur
Unterstiitzung del' parasitiiren Industrie des Nordens zur Verfiigung
stell ten. Francesco Nitti , der, auf demokratis rher Ebene und fonnell
auBerhalb des siidlichen Agrarblocks stehend, als aktiver Verwirklicher
von Sonninos Programm erscheinen konnte, wurde jedoch del ' bes te
Agent des ndrdliehen KapitaJismus, um dem Siiden die letzten Erspar-
nisse zu entreiBen. Die Mill iarden, die die Banca di Sconto schluckte,
stammten fast restlos aus dem Siiden. Dievierhunderttausend Kreditoren
del'BIS waren in ibrer iibergroBen Mehrheit Sparer aus dem Siiden.
Uber dem Agrarblock fungiert im Siiden ein Block von Intellektuellen.,
del' es bisher prakt isch verhindert hat , daB die Risse im Agrarblock zu
gefiihrlich wurden und einen Erdrutsch verursachten. Exponenten die-
ses Blocks del' Intellektuellen sind Giustino Fortunato und Benedetto
Croce, die deshalb als die aktivsten Reaktioniire del ' Halbinsel betrach-
tet werden konnen.
Wir haben gesagt. daB Siiditalien ein Gebiet weitgehender sozialer
Zersetzung ist, Diese Feststellung gilt nieht nul' fiir die Bauern, sondern
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auch fi ir die Intellektuel len. Bemerkenswert is t die Tatsache, daB im
Suden, abgesehen von dem GroBgrundbesitz, einzelne Personen oder
beschr iinkte Gruppen von bedeutenden Intellektuellen iiber rcichc
Schitze an Bildung und Wissen verfi igen, wihrend es keine Organisa-
tionen der geistigen Mittelschichten gibl 1m Siiden existieren der Verlag
l.aterza und die Zeitschri ft "La Crit ics" , es gibt Akademien und kul-
turelle Untemehmen allerersten Ranges; dagegen gibt es keine kleinen
und mittleren Zeitschriften und keine Verlage, urn die sich die mittleren
Schiehten der Intellektuellen des Siidens zusammensehlieBen konnten,
Diejenigen Siidtiinder, die sich vom Agrarblock losen und die Frage des
Siidens in radikaler Weise formulieren wollten, haben bei Zeitschriften
die auBerhalb des Siidens gedruckt werden, Gastfreundschaft gefundenund sieh urn diese zusammengesehlossen. Man kann sogar sagen, daB
aile auf die mittleren Intellektuellen zuriickgehenden kulturellen Vor-
haben, zu denen es im 20 . Jahrhundert in Mit tel- und Norditalien ge-
kommen ist , einen sl1dliehen Eioschlag besaBen, weil sie von den In-
tellektuellen des Siiden8 aufs stiirkste beeinfluBt wurden. Hierher ge-
horen aile Zeitsehriften der F10rentiner InteIIektuellen, die" Voce" und die
"Unit!", die Zeitschriften der ehristlichen Demokraten, wie die "Azione"
aus Cesena, G.Borellis jungliberale Zeitschriften inEmilia und Mailand,
wie die "Patria" in Bologna oder die "Azione" in Mailand und sehl ieB-
lich Gobettis "Rivoluzione Liberale". Nun, die obersten politisehen und
geistigen Leiter aller dieser Untemehmen sind Giustino Fortunato und
Benedetto Croce gewesen. In einem weiteren Umkreis als dem des dump-
fen Agrarblocks hahen sie erreieht, daB die Formulierung der Probleme
des Siidens bestimmte Grenzen nieht iibersehritt, daB sie nicht revolutio-
nar wurde. Als Minner von feinster Bildung und reichem WisseD die in
den trber lieferungen des Si idens groB geworden waren, aher mit der
europai~en Kultur und daher auch mit der Weltkultur Fiihlung hatten,
besaBen sie aile Gaben, die geistigen Bedurfnisse der ehrlieheren Ver-
treter der gebildeten Jugend des Siidens zu befriedigen, ihre unruhigen
Anwandlungen zur Revolte g~en die herrsehenden Zustinde zu dampfen
und sie auf einer mitt leren Linie klass ischer Abgekli rtheit im Denken
und Handeln zu halten. Die sogenannten Neoprotestanten oder Kalvi-
nisten haben nieht begrifTen,daB sieh in Italien, wo eine die Massen er-
greifende religiose Reformation unter den neuzeitlichen kulturellen Ver-
hiltnissen nicht mdglieh war, mit der Philosophie Benedetto Croces die
einzige geschiehtlich mogliehe Reformation vollzogen hal Sie hat die
Riehtung und Methode des Denkens verandert und eine neue Welt-
an~chauung gesehafTen,die den KathoIizismus und aile anderen mytho-
logisehen Rel igionen iiberwunden hal In diesem Sinne hat Benedetto
186
Croce eine sehr wichtige "nationale" Mission erfiillt. Er hat die radiknl~n
Intellektuellen des Siidens von den Bauemmassen losgeldst, indem er sie
an die nationale und die europaisehe Kultur heranfiihrte, und hat sie auf
dem Wege iiber diese Kultur in der nationalen Bourgeoisie und infolge-
dessen im Agrarblock aufgehen lassen. .
Der Ordine Nuovo" und die Turiner Kommunisten konnen zwar ID
einem gewissen Sinne den Sehiehten der IntellektuelIen, auf die wir bin-
gewiesen haben, zugerechnet werden und hahen deshalb ebenfalls den
geistigen EinfluB Giustino Fortunatos und Benedetto Cro~es.erfahren,
aber sie vertreten doeh gleichzeitig einen volligen Brueh mit dieser Tra-
dition und den Beginn einer neuen Entwicklung, die bereits Friiehte ge-tragen hat und weiter Friiehte tragen wird. Sie hahen, wi~ ~ereits.~
das stiidtisehe Proletariat als die Hauptperson der neuzeitlichen italieni-
schen Gesehichte und daher aueh der Frage des Siidens herausgestelIt.
Da sie als Vermitt ler zwisehen dem Proletariat und bestimmten links-
geriehteten Sehiehten von Intellektuellen gedien~ hahen, ist. es ihnen
gelungen, deren Mentalitiit , weon nieht vollstandig, so doeh ID bemer-
kenswertem MaBe zu verandern. Dies is t, weon man es reeht iiberlegt ,
das Wesentl iehe an der Erseheinung Piero Gobettis. Er war kein Ko~-
munist und ware es wahrseheinlieh niemals geworden. aber er hatte die
soziale und gesehiehtliehe Stellung des Proletariats begrifTen und konnte
ohne diese neue Erkenntnis nieht mehr denken. Bei der gemeinsamen
Arbei t an der Zeitung hatten wir Gobetti mit einer lebendigen Welt ? tKontakt gebraeht, die er vorher nur aus Biiehern gekannt hatte. Sel~
auffallendster Wesenszug war intellektuelle Ehrlichkeit und vdllige Frei-
heit von jeglieher Eitelkeit und subaltemer Kleinlichkeit. Daher mu~te
er einsehen daB viele der iiberlieferten Ansiehten fiber das Proletanat
falschund ungereeht waren. Welehe Folgen batte fur Gobetti dieser Kon-
takt mit der Welt des Proletariats? Er war die Quelle und der AnstoB
fur eine Auffassung die wir nieht naher eror tern und ver tiefen wollen,
eine Auffassung, di~ sieh zu einem groBen Teil wieder dem Syndikalis-
mus und der Mentalitiit der syndikalistischen Intellektuellen zuwendet.
Die Prinzipien des Liberalismus werden dahei von der Eb~~~ der in-
dividuellen Phiinomene auf die der Massenphli.nomene projmert, D~s
VortreIniehe und Riihmliehe im Leben des Individuums woo auf die
Klassen ubertragen, die beinahe als KoUektiviodividuen aufg~~t wer-
den. Eine solehe Konzeption fiibrt unter den Intellektuellen, die sle ver-
treten, gewohnlieh zu reiner Betraehtung und Feststellung. ~on ~er-
diensten und Mangeln, zu der hiiBl ichen und albernen Posit ion emes
Schiedsriehters im Streit, eines Verteilers von Belohnungen und Strafen.
Gobetti ist diesem Schicksal praktiseh entgangen. Er erwies sieh als em
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Organisator des kulturellen Lehens von auBerordentlicher Kraft und
i ihte in dieser letzten Periode eine Funktion aus, die die Arheiter nicht
ubersehen und unlerschiitzen diirfen. Er schuf eine POsilion, hinter die
diejenigen Gruppen von ehrlichen und aufrechten Intellektuellen nicht
mehr zuriickgingen, die in den Jahren 1919 his 1921 empfanden, daB
das Proletariat als fiihrende Klasse der Bourgeoisie iiherlegen seinwiirde.
Immer wieder hat man manehmal in gutem Glauhen und ehrlich
rnanclunal wider hesseres Wissen und unehrlich, hehauptet, Gohetti sei
niehts ~nderes gewesen als ein getamler Kommunist, als ein Agent,
wenn nieht def Kommunistischen Partei, so doch mindestens der kom-
munistisehen Gruppe des "Ordine Nuovo". Dies ahgeschmackte Gerede
bedarf keiner Widerlegung. Die Gestalt Gohett is und die von ihm ver-Irelene Bewegung erwuchsen spontan aus dem neuen geschichtlichen
Klima Italiens; dar in hesteht ihre Bedeutung und ihre Tragweite. Von
~arleigenossen ist uns manchmal vorgeworfen worden, wir halten gegen
die Ideen der "Rivoluzione Liherale" nicht angekampft, und das konne
als ein Beweis dafi ir aufgefaBt werden, daB zwischen uns und Gohetti
eine organische Verhindung machiavellistischer Art (wie man zu sagen
p.f1egt)hestanden habe. Wir konnlen Gohetti nieht hekampfen, weil er
el.neBewegung entwickelte und repriisentierle, die, wenigslens prinzipiell,
nicht hekampft werden darf. Wer das nicht hegreift, der versteht die
Frage der Intellektuel len und die Funktion, die sie im Klassenkampf
a,~siihen, nieht. Gohetti diente uns praktisch als Verhindungsglied erstens
mit den aus der kapitalistisehen Technik erwaehsenen Intellektuellen
di.e in.den Jah~~n 19~9/1920 eine fiir die Diktatur des Proletariats giin~
stige hnke Position emgenommsn hatten, und zweitens mit einer Reihe
von Intel~ekluellen des Siidens, die aus verschiedenen Zusammenhangen
heraus die Frage des Siidens anders stell ten, als es hisher i ihlich war,
und das Proletariat des Nordens in sie hineinzogen. Von diesen Intellek-
tuellen ist Guido Dorso die hedeutendste und interessanteste Erschei-
nung. Warum hat ten wir die Bewegung der "Rivoluzione Liheralc" he-
kampfen sollen? Etwa weil sie nicht 'lUS reinen Kommunisten hestand
d~eunser Programm und unsere Lehre von A his Z annahmen? Das w~
D1.~tzu .verlangen, weil es politiseh und geschichtlich paradox gewesen
~fare. DIe Intel~ektuellen entwickeln s idl langsam, viel lqsamer als
Jed~ an~ere soZJale.Grup~e, aus Grunden ihres Wesens und ihrer g e-
schlchtllehen Funktion, Sia repriisentieren die gesamte kulturell Tra-,I" • V e aunion emes olkes, sie wollen seine g&nzeGeschichte zusammenf asd in Svnth . aen
un ID yn ese hnngen. Das gilt speziell fiir den alten Typus des In-
tellekluellen, des aus hauerlichem Boden erwaehsenen Intellektuellen.
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Dcr Gedanke, er konne in seiner Masse mit der ganzen Vergange~heit
hrechen, urn sich vorhehal tlos auf den Boden einer neuen Ideologie zu
stellen, ist absurd, absurd fiir die Intellektuellen als Masse und woh~auch
ahsurd im Hinhlick auf die Mehrheit der Intellektuellen als Einzel-
personen, trotz aller ehrlichen Anstrengungen, die sie machen und ~a~
chen wollen. Uns interessieren nundie Intellektuellen als Masse und D1~t
nur als Individuen. Es ist gewiB wichtig und niitzlich ffir das Proletariat,
daB sich einer oder mehrere einzelne Intellektuelle ZIU seinem Programm
und zu seiner Lehre hekennen, im Proletariat aufgehen, mit ~ ver-
schmelzen und sich als Teil des Proletariats f iihlen. Das Proletanat als
Klasse is t arm an organisierenden Elementen, es hesitzt keine eigeneSchicht von Intellektuellen und kann sie sich nur sehr langsam und
miihsam erst nach der Eroberung, der Staatsmacht schafIen. Aher ehenso
wichtig und nii tzlich is t es, daB es in der Masse der Intellektuel len zu
einem geschichtlich hestimmten Bruch organischen Charakters kommt,
daB sich eine Linksrichtung immodemen Sinne des Wortes als Mas~-
schicht heraushildet, das heiBt eine Ridltung, die sidl auf das revolutio-
nare Proletariat orient iert , Das Biindnis zwischen dem Prole~at und
den Bauemmassen hedarf dieser Schicht, und erst recht hedarf ihrer das
Biindnis zwischen dem Proletariat und den Bauemmassen des Siidens.
Das Proletariat wird den Agrarhlock des Siidens in dem MaBe zers~la-
gen, in dem es ihm auf dem Wege iiher se!ne Part~i g~lingen wird,
immer grol3ere Massen von armen Bauern m selhstan~en undo UII-
ahhangigen Verhanden zu organisieren; aher die Bewaltigung dieser
seiner unerliiBlichen Aufgahe hiingt mehr oder weniger auch von sein~r
Fahi k it ab den Block der Intellektuellen zu zersetzen, der die elasti-a Ig e , . B'sche aber iiuBerst widerstandsfihige Riistung des Agrarhlocks IsL ei
der Losung dieser Aufgahe ist das Proletariat von Piero Gohetti unter-
stiitzt worden, und wir denken, daB die Freunde des Verstorhenen ~uch
ohne seine Fiihrung das untemommene Werk fqrtfiihren werden. DIMes
Werk ist gewaltig und schwierig, aher gerade deshalh s1!er O~fer wert,
(auch des Lehens , wie es hei Gohet ti der Fall gewesen ist) seitens der-
jenigen Intellektuellen (und ihrer sind viele, viel mehr, als man. gla~ht)
des Nordens und des Siidens, die h~fJen haben, daB esnur zwei soziale
Krafte von wesentlicher nationaler und zukunftstriichtiger Bedeutung
giht: das Proletariat und die Bauern . ..
(Hier hricht das Manuskript ah.)
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Einzelheft DM9,-
Abo (6Hefte im J ahr)DM44,- (+ Porto)
Bruno Trentin
Arbeiterdemokratie
Gewerkschaften, Streiks,
Febrikrete: Herausgegeben. ' = ' 'I- ~~ " von Detlev
' .• .:ieiten; DMlS,-
Pietro Ingrao d P lir . nguerl A.' GramscilMassenbewegung un 0 1- 1 : ' L~~·~olP.Togliatti
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