O Que Jesus Disse? O Que Jesus Não Disse? Quem Mudou a Bíblia e Por Quê. Bart D. Ehrman.
Bart D. Ehrman · 2019-01-18 · Jesus, Interrupted. Revealing the Hidden Contradictions in the...
Transcript of Bart D. Ehrman · 2019-01-18 · Jesus, Interrupted. Revealing the Hidden Contradictions in the...
Bart D. Ehrman
Jesus imZerrspiegel
Die verborgenenWidersprüche in der Bibelund warum es sie gibt
übersetzt vonGerlinde Baumann
Gütersloher Verlagshaus
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Titel der Originalausgabe:Jesus, Interrupted. Revealing the Hidden Contradictions in the Bible
(and Why We Don’t Know About Them)© 2009 by Bart D. Ehrman; published by arrangement with HarperOne,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC
1. AuflageCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
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Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlagmotiv: Rembrandt, ChristuskopfSatz: Satzweise, Föhren
Druck und Einband: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany
ISBN 978-3-579-06496-3
www.gtvh.de
Inhalt
Vorwort 13
Kapitel I
Ein historischer Anschlag auf den Glauben 17
Studierende lernen die Bibel kennen 18
Probleme mit der Bibel 23
Von der Universität auf die Kanzel 30
Die historisch-kritische Methode akzeptieren 34
Kapitel II
Eine Welt voller Gegensätze 38
Ein Beispiel zu Beginn: Der Tod Jesu bei Markus und Johannes 42
Widersprüche zwischen den Darstellungen von Jesu Geburt
und Leben 49
Die Geburt Jesu 49
Die Genealogie Jesu 56
Andere Widersprüche beim Leben Jesu 60
Widersprüche in den Passionsgeschichten 64
Die Auferstehungsgeschichte 69
Andere Unterschiede in den Passionsgeschichten 72
Widersprüche in Hinblick auf das Leben und die
Schriften des Paulus 76
Fazit 82
Kapitel III
Jede Menge unterschiedlicher Ansichten 85
Ein Beispiel zu Beginn: Der Tod Jesu bei Markus und Lukas 88
Jesu Tod bei Markus 90
Jesu Tod bei Lukas 91
Die Pointe 94
Einige wichtige Unterschiede zwischen Johannes
und den synoptischen Evangelien 96
Inhaltliche Unterschiede 96
Unterschiede in der Gewichtung 99
Unterschiede in der Lehre Jesu 102
Die Wunder Jesu 108
Einige wichtige Unterschiede zwischen Paulus und den Verfassern
der Evangelien 112
Paulus und Matthäus zu Heil und Gesetz 112
Mehrere andere unterschiedliche Sichtweisen im
Neuen Testament 120
Warum starb Jesus? 120
Wann wird Jesus zum Sohn Gottes, zum Herrn und zum Messias? 122
Hat Gott über die Unwissenheit der Götterbildverehrer hinweg-
gesehen? 123
Ist der römische Staat eine Macht des Bösen oder des Guten? 125
Fazit 127
Kapitel IV
Wer hat die Bibel geschrieben? 128
Wer hat die Evangelien geschrieben? 129
Vorbemerkungen: Die Evangelien als Augenzeugenberichte 129
Die Verfasser der Evangelien 132
Das Zeugnis des Papias 135
8 Inhalt
Die Bezeugung durch Irenäus und andere 138
Gibt es Fälschungen im Neuen Testament? 140
Pseudepigrafie in der Antike 142
Die pseudepigraphischen (gefälschten) Paulusbriefe 152
Wer schrieb die anderen Bücher des Neuen Testaments? 164
Fazit: Wer hat die Bibel geschrieben? 167
Kapitel V
Lügner, Verrückter oder Herr?Den historischen Jesus entdecken 169
Unsere frühen Informationsquellen über Jesus 173
Die mündlichen Traditionen 175
Andere Quellen für die Rekonstruktion des Lebens Jesu 179
Kriterien dafür, die Glaubwürdigkeit des historischen Materials
festzustellen 183
Jesus als apokalyptischer Prophet 188
Die Lehren Jesu 188
Was Jesus tat 195
Exkurs: Die Auferstehung und andere Wunder im Leben Jesu 204
Kapitel VI
Wie wir zur Bibel gekommen sind 214
Der »Original«-Text des Neuen Testaments 216
Die Entstehung des Schriftenkanons 223
Die wilde Vielfalt der frühen Kirche 225
Einige außerkanonische Schriften 233
Das Ebionitenevangelium 233
Das koptische Thomasevangelium 234
Die Thekla-Akten 236
Inhalt 9
Der 3. Korintherbrief 237
Der Barnabasbrief 238
Die Petrusapokalypse 239
Die koptische Petrusapokalypse 240
Die zur Kanonbildung führenden Diskussionen 241
Der Fall des Petrusevangeliums 242
Ein früher Versuch der Kanonbildung: Der Kanon Muratori 245
Orthodoxie und Häresie in der frühen Kirche 248
Eusebius’ Ansichten über Orthodoxie und Häresie 248
Walter Bauers Bombe 249
Nach Bauer 251
Die im Konflikt verwendeten Waffen 253
Der Klerus 253
Das Glaubensbekenntnis 254
Der Kanon 255
Fazit 259
Kapitel VII
Wer hat das Christentum erfunden? 262
Ein leidender Messias 264
Christliche Sichtweisen des Messias 265
Jüdische Messiaserwartungen 265
Die Basis der christlichen Ansprüche 271
Das Christentum als eigenständige, antijüdische Religion 275
Die Religion Jesu und seiner frühen Anhänger 275
Die antijüdischen Lehren der späteren Anhänger Jesu 277
Erklärungen für die Entstehung des christlichen Antijudaismus 281
Die Göttlichkeit Jesu 284
Wann wurde Jesus zum Sohn Gottes? 284
Die Göttlichkeit Jesu in der Gemeinde des Johannes 288
Andere Wege in die gleiche Richtung 292
10 Inhalt
Die Trinitätslehre 294
Wie viele Götter? Einige Antworten 294
Zwei hetero-orthodoxe Lösungen 296
Himmel und Hölle 301
Die frühchristliche Sicht auf das Leben nach dem Tod 302
Die Wandlung der apokalyptischen Vision 305
Fazit 307
Kapitel VIII
Ist Glauben möglich? 310
Historische Kritik und Glaube 312
Geschichte und Mythos 316
Sich vom Glauben abwenden 319
Der theologische Wert der historischen Kritik 320
Warum soll man die Bibel untersuchen? 324
Anmerkungen 326
Inhalt 11
Vorwort
Im August 1978 kam ich am Princeton Theological Seminary an – gera-
dewegs aus dem College und frisch verheiratet. Ich hatte ein zerlesenes
Neues Testament dabei und viel Wissbegier, aber sonst wenig. Ich hatte
nicht immer viel Leidenschaft fürs Lernen empfunden. Wer mich fünf
oder sechs Jahre früher gekannt hatte, wäre nie auf die Idee gekommen,
dass ich eine akademische Karriere ansteuern würde. Aber irgendwann
während des Colleges hatte mich die Wissenschaft gepackt. Vermutlich
war das zuerst am Moody Bible Institute in Chicago passiert, an einem
fundamentalistischen Bibelcollege, bei dem ich mich im reifen Alter von
siebzehn Jahren einschrieb. Mein Drang zur Wissenschaft war hier aller-
dings weniger durch intellektuelle Neugier als durch religiöses Streben
nach Gewissheit geschürt worden.
Das Studium in Moody war für mich eine intensive Erfahrung. Ich
war dorthin gekommen, weil ich in der Highschool die Erfahrung der
»Wiedergeburt« gemacht hatte und zu der Einsicht gelangt war, dass ich,
um ein »ernsthafter« Christ zu werden, eine ernsthafte biblische Ausbil-
dung bräuchte. Irgendwann in meinem ersten Semester wurde ich bei
meiner Suche nach Wissen über die Bibel wirklich leidenschaftlich oder
sogar erbittert. In Moody belegte ich nicht nur jedes biblische und theo-
logische Seminar, das ich belegen konnte, sondern lernte auch alleine für
mich ganze biblische Bücher auswendig. In jeder freien Minute lernte ich.
Fast jede Woche lernte ich bei der Vorbereitung auf die Seminare eine
Nacht lang durch.
Drei solcher Jahre verändern einen Menschen. Ganz sicher schärfen
sie den Geist. Als ich den Abschluss in Moody gemacht hatte, ging ich ans
Wheaton College, um englische Literatur zu studieren. Aber meine inten-
sive Beschäftigung mit der Bibel setzte ich fort; ich belegte Seminare zur
Auslegung und gab jede Woche Bibelkurse in meiner Jugendgruppe in der
Gemeinde. Und ich lernte Griechisch, um das Neue Testament in seiner
Ursprache erforschen zu können.
Als engagierter bibelgläubiger Christ war ich sicher, dass jedes Wort
der Bibel von Gott inspiriert oder eingegeben worden war. Vielleicht war
das der Grund für mein intensives Studium. Dies war das Wort Gottes,
die Kommunikation des Weltschöpfers und Herren über alles, das an uns
einfache Sterbliche gerichtet war. Selbstverständlich gab es nichts Wichti-
geres im Leben, als dies gründlich zu kennen. Zumindest galt das für
mich. Ein besseres Verständnis der Literatur insgesamt würde mir auch
beim Verstehen dieser speziellen Literatur helfen (darum mein Studium
der englischen Literatur); dass ich es auf Griechisch lesen konnte, ermög-
lichte mir, die tatsächlichen Worte des Verfassers zu verstehen.
Bereits in meinem Seminar als Erstsemester in Moody hatte ich be-
schlossen, dass ich Professor der Bibelwissenschaften werden wollte. In
Wheaton merkte ich, dass ich im Griechischen ziemlich gut war. Also
war der nächste Schritt praktisch schon entschieden: Ich würde im Neuen
Testament promovieren, und zwar über einen Aspekt der griechischen
Sprache. Mein heißgeliebter Griechischprofessor in Wheaton, Gerald
Hawthorne, führte mich in das Werk von Bruce Metzger ein, des besten
Kenners der griechischen Bibelhandschriften im Land, der am Princeton
Theological Seminary unterrichtete. Also bewarb ich mich in Princeton,
auch wenn ich nichts – wirklich gar nichts – darüber wusste, als dass
Bruce Metzger dort unterrichtete und ich dorthin gehen musste, wenn
ich ein Fachmann für griechische Bibelhandschriften werden wollte.
Vermutlich wusste ich doch etwas über Princeton – nämlich dass es
keine evangelikale Institution war. Je mehr ich in den Monaten vor mei-
nem Umzug nach New Jersey über Princeton erfuhr, umso nervöser wur-
de ich. Von Freunden erfuhr ich, dass Princeton ein »linkes« Seminar war;
dort waren sie nicht der Meinung, dass die Bibel wirklich und wörtlich
von Gott eingegeben sei. Die größte Herausforderung für mich würde
nicht die rein wissenschaftliche sein; in den vorangegangenen Semestern
war ich gut genug gewesen, um zum Promotionsstudium zugelassen zu
werden. Die größte Herausforderung würde die sein, an meinem Glauben
an die Bibel als dem inspirierten und irrtumslosen Wort Gottes festzu-
halten.
14 Vorwort
So kam ich also ans Princeton Theological Seminary: Jung, arm und
voller Leidenschaft – und dafür gewappnet, es mit all den Linken und
ihrer verwässerten Sicht auf die Bibel aufzunehmen. Als guter evangelika-
ler Christ war ich bereit, alle Angriffe auf meinen Bibelglauben abzuweh-
ren. Auf alle offenkundigen Gegensätze hatte ich eine Antwort, und jeden
möglichen Widerspruch im Wort Gottes konnte ich auflösen, sei es nun
im Alten oder im Neuen Testament. Ich wusste, dass ich noch viel zu
lernen hatte, aber ich war nicht bereit zu lernen, dass mein heiliger Text
irgendwelche Fehler enthielt.
Manchmal läuft es nicht wie geplant. Was ich dann in Princeton lern-
te, brachte mich dazu, meine Sicht der Bibel zu ändern. Ich änderte meine
Sicht nicht aus freien Stücken – ich tat es unter lautstarkem Protest. Ich
betete deswegen (sehr viel), rang (heftig) damit und leistete mit aller
Kraft Widerstand. Gleichzeitig war mir klar, dass ich mich ganz der
Wahrheit verpflichten müsste, wenn ich mich wirklich an Gott halten
wollte. Es dauerte lange, bis ich erkannte, dass meine frühere Sicht auf
die Bibel als die irrtumslose Offenbarung Gottes komplett falsch war.
Ich hatte die Wahl: Entweder konnte ich an den Ansichten festhalten, die
ich als falsch erkannt hatte, oder ich konnte dem folgen, was ich als wahr
erkannt hatte. Letzlich hatte ich nicht die Wahl: Wenn etwas wahr war,
dann war es wahr; wenn nicht, dann nicht.
Im Lauf der Jahre habe ich Leute kennen gelernt, die sagten: »Wenn
mein Glaube nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, ist das Pech für die
Tatsachen.« Diese Haltung kam für mich nie infrage. In den folgenden
Kapiteln möchte ich erklären, warum die Bibelwissenschaft mich dazu
brachte, meine Ansichten zu ändern.
Die hier präsentierten Informationen sind nicht nur für Forscher wie
mich wichtig, die ihr Leben der ernsthaften Forschung gewidmet haben.
Sondern auch für alle, die sich für die Bibel interessieren – ob sie sich nun
als gläubige Christen sehen oder nicht. Meiner Meinung nach macht das
einen Unterschied. Ob man nun an Christus glaubt – auf fundamentalis-
tische, evangelikale, gemäßigte oder linke Weise – oder nicht: In jedem
Fall ist die Bibel in der Geschichte unserer Kultur das wichtigste Buch.
Vorwort 15
Wenn man sie zu verstehen versucht, dann ist das eine der wichtigsten
intellektuellen Reisen, auf die man sich in unserer Gesellschaft begeben
kann.
Manche von denen, die dieses Buch lesen, sind vielleicht mit den hier
präsentierten Informationen nicht sehr glücklich. Ich möchte Sie nur da-
rum bitten, dass Sie auf dieser Reise das tun, was ich getan habe: Sehen Sie
sich diese Informationen unvoreingenommen an, und seien Sie bereit zur
Veränderung, wenn Veränderung ansteht. Wenn Sie dagegen nichts an
diesem Buch schockiert oder verstört, dann möchte ich Sie nur darum
bitten, sich zurückzulehnen und es zu genießen.
Ich schulde einer Reihe sorgfältiger und verständnisvoller Leserinnen
und Leser sehr großen Dank dafür, dass sie den Entwurf zu diesem Buch
durchgeackert haben und – ich hoffe, nicht umsonst – energisch darauf
bestanden haben, dass ich es an einigen Stellen ändere, um es zu verbes-
sern: Dale Martin von der Yale University und Jeff Siker von der Loyola
Marymount University; meine Tochter Kelly Ehrman Katz; meine Stu-
denten Jared Anderson und Benjamin White; ein verständnisvoller Kor-
rekturleser sowie Roger Freet, mein sehr kluger und hilfsbereiter Lektor
bei HarperOne.
Die Texte der Hebräischen Bibel (des Alten Testaments) stammen aus
der New Revised Standard Version sowie die des Neuen Testaments ent-
weder aus der New Revised Standard Version oder von mir; die Kirchen-
väterzitate des Originals sind ebenfalls meine eigenen Übersetzungen.
Ich widme dieses Buch meiner zwei Jahre alten Enkelin Aiya, die in
jeder Hinsicht perfekt ist.
In der deutschen Übersetzung wurden die Zitate im Text – wenn nicht an-
ders vermerkt – aus dem amerikanischen Original übersetzt. Die deutsche
Übersetzung des Buches ist gegenüber dem amerikanischen Original an
einigen Stellen leicht gekürzt.
16 Vorwort
Kapitel I
Ein historischer Anschlag auf den Glauben
In der Geschichte der westlichen Zivilisation ist die Bibel das meist-
gekaufte, am häufigsten gelesene und am höchsten geschätzte Buch. Es
ist aber wohl auch das Buch, das von theologisch nicht vorgebildeten
Menschen am gründlichsten missverstanden wird.
Die bibelwissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen zwei-
hundert Jahren bedeutende Fortschritte beim Verstehen der Schrift ge-
macht. Diese Fortschritte basieren auf archäologischen Entdeckungen,
auf Fortschritten in unserer Kenntnis der antiken hebräischen und grie-
chischen Sprache, in denen die Bücher der Heiligen Schrift ursprünglich
verfasst waren, und auf tiefgehenden und gründlichen historischen,
sprachlichen und textlichen Untersuchungen. Es handelt sich um ein ge-
waltiges wissenschaftliches Unternehmen. Allein in Nordamerika be-
treiben tausende von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf die-
sem Gebiet ernsthafte Forschung. Deren Ergebnisse werden regelmäßig
und seit Langem den Studierenden an den Universitäten gelehrt, ange-
henden Pastoren und Pastorinnen, die sich auf ihren Dienst in der Ge-
meinde vorbereiten.
Doch der breiten Öffentlichkeit ist diese Sicht auf die Bibel fast gänz-
lich unbekannt. Dies liegt zu einem nicht geringen Teil daran, dass die-
jenigen von uns, die ihr Berufsleben mit dem Studium der Bibel verbrin-
gen, keine gute Figur dabei machen, ihre Kenntnisse der allgemeinen
Öffentlichkeit verständlich zu machen. Auch haben viele Pastoren und
Pastorinnen, die dieses Wissen in ihrer Ausbildung erworben haben, es
nach Antritt ihres Dienstes aus verschiedenen Gründen nicht mit ihren
Gemeindegliedern geteilt (dabei sind doch die Kirchen die Orte, wo die
Bibel in erster Linie gelehrt und diskutiert wird – oder zumindest sollten
sie es sein). Im Ergebnis wächst darum bei den Menschen nicht allein die
Unkenntnis über das, was in der Bibel steht, sie tappen auch vollständig
im Dunkel über das, was die Wissenschaft in den zurückliegenden zwei-
hundert Jahren über die Bibel gesagt hat. Dieses Problem möchte dieses
Buch aus der Welt schaffen. Man kann es als meinen Versuch verstehen,
die Katze aus dem Sack zu lassen.
Die Sichtweisen, die ich in den folgenden Kapiteln vorstelle, sind da-
bei nicht meine eigenen merkwürdigen Auffassungen von der Bibel. Es
sind vielmehr die Auffassungen, die sich seit vielen, vielen Jahren bei der
Mehrzahl der ernst zu nehmenden Stimmen in der historisch-kritisch ar-
beitenden Wissenschaft an den Universitäten und Seminaren in Nord-
amerika und Europa durchgesetzt haben, auch wenn diese einer breiten
Öffentlichkeit nicht wirksam mitgeteilt wurden – einmal ganz von den
Glaubenden abgesehen, die die Bibel hochschätzen und sich vermutlich
am meisten dafür interessiert hätten. Es gilt, dies für all diejenigen, die
über das wichtigste Buch unserer Zivilisation Bescheid wissen wollen, zu
ändern!
Studierende lernen die Bibel kennen
Die meisten bibelwissenschaftlich ausgebildeten Menschen wurden in
theologischen Institutionen unterrichtet. Jedes Jahr kommt eine Vielzahl
unterschiedlicher Studierender dorthin. Viele von ihnen haben die Bibel
in ihrer Schulzeit kennen gelernt, manche sind sogar seit ihrer Kindheit
aus dem Kindergottesdienst mit ihr vertraut. Üblicherweise haben sie
sich der Bibel aber aus einer eher frommen Perspektive genähert. Sie ha-
ben sie gelesen, um zu erfahren, was sie ihnen über den Glauben sagen
kann und darüber, wie sie ihr Leben leben sollen. In der Regel haben sich
diese Studierenden nicht für das interessiert und sind dem nicht begeg-
net, was in der Wissenschaft an Problemen entdeckt wurde, wenn sie sich
der Bibel in einer eher wissenschaftlichen und historischen Weise näherte.
Andere Studierende wenden sich der Wissenschaft sehr ernsthaft zu, ken-
18 Ein historischer Anschlag auf den Glauben
nen die Bibel aber nicht besonders gut und halten auch nicht viel von der
Idee, die Bibel sei das inspirierte Wort Gottes. Diese Studierenden sind oft
Gläubige, die sich zu einem Dienst berufen fühlen – zumeist zu einem
Dienst in der Kirche, nicht wenige aber auch zu einer anderen Art sozialer
Arbeit. Im Hinblick auf die wichtigsten christlichen Denominationen
Amerikas – auf die presbyterianische, die methodistische, die lutherische
und die Episkopalkirche – würde ich einen großen Teil dieser Studieren-
den als »links« bezeichnen. Sie glauben nicht an die Irrtumslosigkeit der
Bibel und fühlen sich eher an die Institution Kirche gebunden, als dass sie
die Schrift für die Blaupause dessen halten, was sie zu glauben und wo-
nach sie ihr Leben auszurichten haben. Viele von diesen Studierenden
haben, offen gesagt, nicht viel Ahnung von der Bibel und nur eine vage
Vorstellung von ihrer religiösen Bedeutung.
So sah es in protestantischen Bildungseinrichtungen nicht immer aus.
Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte man davon ausgehen, dass Studie-
rende, die zur Universität kamen, über ein umfangreiches Wissen zur Bi-
bel verfügten, und in der Pfarramtsausbildung konnte man voraussetzen,
dass den Vikarinnen und Vikaren die Inhalte des Alten und des Neuen
Testaments in Grundzügen bekannt war. Das ist heute leider nicht mehr
der Fall. Als ich in den späten 1970er Jahren das Princeton Theological
Seminary besuchte, eine Einrichtung der prebyterianischen Kirche, muss-
ten die meisten meiner Kommilitonen eine Art Nachhilfeunterricht be-
suchen, um eine Prüfung zu bestehen, die wir als »Baby-Bibelprüfung«
bezeichneten. Getestet wurde darin das Wissen der Studierenden hin-
sichtlich der elementarsten Informationen über die Bibel: Was ist der
»Pentateuch«? In welchem biblischen Buch steht die Bergpredigt? Wer ist
Theophilus? – Lauter Dinge, die diejenigen von uns, die einen stärker
evangelikalen Hintergrund hatten, lange schon verinnerlicht hatten.
Ich vermute, dass die Mehrzahl der Studierenden im ersten Jahr ihrer
Universitätsausbildung nicht weiß, was sie von einem biblischen Seminar
erwarten sollen. Natürlich machen diese Kurse nur einen kleinen Teil des
Curriculums aus. Belegt werden müssen außerdem Seminare in Kirchen-
geschichte, in Systematischer Theologie, in Religionspädagogik, Sprech-
Studierende lernen die Bibel kennen 19
übungen, in Homiletik und Kirchenrecht. Da ist vieles in kurzer Zeit zu
bewältigen. Allerdings sollen alle Studierenden auch ein bibelwissen-
schaftliches Pro- und ein Hauptseminar besuchen. Die meisten Studie-
renden erwarten, dass diese Veranstaltungen aus einer mehr oder weniger
frommen Perspektive gehalten werden. Sie sollen ihnen, den zukünftigen
Pastorinnen und Pastoren, vermitteln, wie sie die Bibel in ihren sonntäg-
lichen Predigten auf den Alltag der Menschen beziehen können.
Diese Studierenden erwartet ein böses Erwachen. Die wichtigsten
protestantischen theologischen Bildungsstätten Amerikas sind berüchtigt
dafür, die Lieblingsüberzeugungen der Studierenden über die Bibel in
Frage zu stellen, und das selbst dann, wenn es sich bei diesen Lieblings-
gedanken nur um die nette und etwas verschwommene Meinung handelt,
die Bibel sei eine hervorragende Ratgeberin in Glaubens- und Lebens-
fragen, die respektvoll und fromm zu behandeln sei. Diese Universitäten
lehren ernsthafte, seriöse biblische Wissenschaft. Es nicht ihr Anliegen,
die Frömmigkeit zu befördern. Hier unterrichten Forscher und Forsche-
rinnen, die mit allem vertraut sind, was die deutsch- und englisch-
sprachige Bibelwissenschaft in den letzten 300 Jahren an Forschungs-
ergebnissen hervorgebracht hat. Sie brennen sehr viel mehr darauf, den
Studierenden Kenntnisse über die Bibel zu vermitteln, als ihnen bei-
zubringen, was genau in der Bibel steht. Biblische Seminare werden an
diesen Einrichtungen gewöhnlich aus einer rein wissenschaftlichen, his-
torischen Perspektive gehalten, vollkommen unabhängig davon, was die
Studienanfänger erwarten, und vollkommen unabhängig davon, was sie
zu Hause oder in der Kirche gehört haben.
Die Methode, mit der man sich der Bibel in den meisten protestanti-
schen und auch katholischen Hochschulen nähert, ist die so genannte
»historisch-kritische« Methode. Sie unterscheidet sich vollkommen von
der frommen Weise, die man in der Kirche im Umgang mit der Bibel
pflegt. Der fromme Umgang mit der Bibel fragt, was die Bibel sagt, ge-
nauer: was sie mir zu sagen hat oder der Gesellschaft, in der ich lebe. Was
lehrt die Bibel mich über Gott? Über Christus? Die Kirche? Über mein
Verhältnis zur Welt? Was lehrt mich die Bibel zu glauben? Wie zu han-
20 Ein historischer Anschlag auf den Glauben
deln? Über meine Verantwortung in der Welt? Wie kann die Bibel mir
dazu verhelfen, Gott näher zu kommen? Wie hilft sie mir, mein Leben
zu leben?
Die historisch-kritische Methode hat ganz andere Anliegen und stellt
darum ganz andere Fragen. Im Zentrum dieser Methode steht die histori-
sche Frage (daher der Name!), was die biblischen Texte in ihrem ur-
sprünglichen historischen Kontext gesagt und bedeutet haben. Wer waren
die wirklichen Verfasser der Bibel? Kann es sein (ja, es kann!), dass man-
che Verfasser mancher biblischer Schriften nicht die sind, die sie zu sein
vorgeben, oder die zu sein von ihnen behauptet wird? Das heißt: Kann es
sein, dass der 1. Thimotheusbrief nicht von Paulus geschrieben wurde
oder dass Mose nicht der Autor des Buches Genesis ist? Wann lebten die
Autoren der biblischen Schriften? Unter welchen Umständen schrieben
sie ihre Texte? Welche Dinge sprachen sie zu ihrer Zeit an? Auf welche
Weise wurden sie von den historischen und kulturellen Gegebenheiten
ihrer Zeit beeinflusst? Welche Quellen benutzten die Verfasser? Wann ent-
standen diese Quellentexte? Kann es sein, dass diese Quellentexte unter-
schiedliche Ansichten vertreten? Kann es sein, dass die Perspektiven der
Verfasser sich von denen ihrer Quellen unterschied und dass sie darüber
hinaus auch untereinander verschiedene Perspektiven vertraten? Kann es
sein, dass die Bibel, wenn sie denn aus verschiedenen Quellen schöpft,
innere Widersprüche aufweist? Und kann es sein, dass das, was die
Bücher der Bibel in ihrem ursprüngliches Kontext bedeuteten, nicht das
ist, von dem man heute sagt, dass sie es sagen wollen? Kann es sein, dass
wir in der Weise, wie wir die Bibel deuten, Worte aus dem Kontext reißen
und dadurch die Botschaft dieser Worte verdrehen?
Und was ist, wenn wir nicht einmal die ursprünglichen Texte haben?
Was ist, wenn in den Jahrhunderten, in denen die Bibel – das Alte Testa-
ment in Hebräischer Sprache, das Neue Testament in Griechischer –
immer wieder abgeschrieben wurde, die Worte verändert wurden: sei es
durch wohlmeinende, aber nachlässige Abschreiber, sei es durch sehr auf-
geweckte Schreiber, die den Text änderten, damit er das aussagte, von
dem sie meinten, dass er es sagen solle?
Studierende lernen die Bibel kennen 21
Das sind nur einige von den vielen, vielen Fragen, die die historisch-
kritische Methode aufwirft. Kein Wunder, dass Studierende sich im ersten
Semester auf die »Baby-Bibelprüfung« vorbereiten mussten, bevor sie mit
dem ernsthaften Bibelstudium beginnen konnten. Denn diese Art des
Studiums der Bibel setzt voraus, dass man weiß, wovon man spricht,
wenn man anfängt, darüber zu reden.
Einen großen Teil der Studierenden trifft die historisch-kritische Me-
thode wie aus heiterem Himmel. Sie kommen an mit der Erwartung, die
frommen Wahrheiten der Bibel zu erlernen, damit sie diese in ihren Pre-
digten weitergeben können, so wie es ihre Pastorinnen und Pastoren zu
Hause auch gemacht haben. Sie sind in keiner Weise vorbereitet auf die
historische Kritik. Zu ihrer Überraschung bekommen sie dann kein Ma-
terial für ihre Predigten, sondern werden vertraut gemacht mit all dem,
was die historisch-kritische Forschung in Jahrhunderten intensiver Arbeit
entdeckt hat. Die Bibel ist voller innerer Widersprüche, von denen viele
unvereinbar nebeneinanderstehen. Mose hat den Pentateuch (die ersten
fünf Bücher des Alten Testaments) nicht verfasst, und Matthäus, Markus,
Lukas und Johannes haben die Evangelien nicht geschrieben. Es gibt Bü-
cher, die nicht in unsere Bibel aufgenommen wurden, obwohl es Zeiten
gab, in denen sie als kanonisch galten – so zum Beispiel die Evangelien,
die angeblich von Petrus, Thomas und Maria – also Anhängern Jesu –
geschrieben wurden. Der Exodus hat vermutlich nicht so stattgefunden,
wie er im Alten Testament geschildert wird. Bei der Erzählung von der
Eroberung des Gelobten Landes handelt es sich vermutlich um eine Le-
gende. Die Evangelien widersprechen sich in vielen Punkten und enthal-
ten unhistorisches Material. Man kann kaum sicher sagen, ob Mose gelebt
hat und was genau Jesus lehrte. Die Geschichtsbücher des Alten Testa-
ments enthalten eine Fülle legendarischen Materials und die Apostel-
geschichte im Neuen Testament überliefert historisch unzuverlässige In-
formationen über das Leben und die Lehre des Paulus. Viele Bücher im
Neuen Testament wurden unter Pseudonymen verfasst – geschrieben
haben sie nicht die Apostel, sondern spätere Autoren, unter den Namen
der Apostel. Die Liste ließe sich fortsetzen …
22 Ein historischer Anschlag auf den Glauben
Manche Studierenden akzeptieren diese neue Sichtweise vom ersten
Tag an. Andere – besonders die mit eher konservativen Ansichten – sträu-
ben sich lange Zeit, sind sie sich doch ganz sicher in ihrem Wissen, dass
Gott in seinem Heiligen Buch nichts Falsches zulässt. Aber über kurz oder
lang beginnt bei vielen Studierenden – wenn ihnen immer mehr Fakten
vor Augen gestellt werden – der Glaube an die Irrtumslosigkeit und die
unbedingte historische Zuverlässigkeit der Bibel zu wanken. Es gibt ein-
fach zu viele Beweise. Die Hunderte von Unterschieden in den biblischen
Quellen miteinander in Einklang zu bringen erfordert so viel spekulative
Kraft und so viele ausgefallene Deutungen, dass es schließlich einfach zu
viel wird.
Probleme mit der Bibel
Manche Studierende kommen mit der Auffassung an die Universität, die
Bibel sei vollständig, absolut und zu einhundert Prozent irrtumsfrei. Die
Denkweisen dieser Studierenden werden durch die Erkenntnis, dass der
größte Teil der kritischen Wissenschaft eine vollkommen andere Auf-
fassung hat, regelrecht erschüttert. Wenn diese Studieren aber erst einmal
ihre Schotten öffnen, indem sie zugeben, dass es Fehler in der Bibel geben
könnte, dann wendet sich ihr Verständnis von der Heiligen Schrift radi-
kal. Je intensiver und sorgfältiger sie den Text lesen, desto mehr Fehler
finden sie. Und sie beginnen zu sehen, dass die Bibel tatsächlich einen
klareren Sinn entfaltet, wenn man ihre Unstimmigkeiten anerkennt, statt
stur darauf zu beharren, dass da keine sind, auch wenn sie einem direkt
ins Auge springen.
Selbstverständlich sind manche Studienanfänger wahre Experten,
wenn es darum geht, Unterschiede zwischen den Evangelien wegzuerklä-
ren. So erzählt zum Beispiel das Markusevangelium, dass Jesus in der
Woche vor seinem Tod die so genannte »Tempelreinigung« vollzog, in-
dem er die Tische der Geldwechsler umwarf und rief: »Heißt es nicht in
Probleme mit der Bibel 23
UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE
Bart D. Ehrman
Jesus im ZerrspiegelDie verborgenen Widersprüche in der Bibel und warum es siegibt
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-579-06496-3
Gütersloher Verlagshaus
Erscheinungstermin: Juni 2010
Die Widersprüche in der Bibel aufgedeckt - Über die Schwierigkeiten, das »wahre Leben« und die »wirkliche Botschaft« Jesunachzuzeichnen- Ein lange fälliges Buch für alle, die sich für die Bibel interessieren oder mit der Bibel arbeiten Auf dieses Buch haben Pfarrer, Lehrer und alle, die sich für die Bibel interessieren, gewartet:eine anschauliche und fesselnde Darstellung der zentralen Schwierigkeiten, vor denen wirstehen, wenn wir Leben und Botschaft Jesu nachzuzeichnen versuchen.Bart D. Ehrman legt offen, was Bibelwissenschaftler schon lange wissen: Die Autoren desNeuen Testaments haben voneinander abweichende Ansichten darüber, wer Jesus war. Sogibt es im Neuen Testament Schriften, die christliche Schriftsteller Jahrzehnte später unterden Namen der Apostel geschrieben haben. Jesus, Paulus, Matthäus und Johannes vertretenalle völlig verschiedene Religionen. Und hierbei handelt es sich nicht etwa um die eigenartigenAnsichten eines einzigen modernen Bibelwissenschaftlers. Es sind die gängigen und weitverbreiteten Einsichten kritischer Exegeten über ein breites Spektrum von Konfessionen undTraditionen hinweg.Ein aufregendes Buch mit spannenden und gut argumentierten Thesen!