Bart D. Ehrman · 2019-01-18 · Jesus, Interrupted. Revealing the Hidden Contradictions in the...

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Bart D. Ehrman

Jesus imZerrspiegel

Die verborgenenWidersprüche in der Bibelund warum es sie gibt

übersetzt vonGerlinde Baumann

Gütersloher Verlagshaus

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Premium

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Titel der Originalausgabe:Jesus, Interrupted. Revealing the Hidden Contradictions in the Bible

(and Why We Don’t Know About Them)© 2009 by Bart D. Ehrman; published by arrangement with HarperOne,

an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

1. AuflageCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010

by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist

ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagmotiv: Rembrandt, ChristuskopfSatz: Satzweise, Föhren

Druck und Einband: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN 978-3-579-06496-3

www.gtvh.de

Für Aiya,meine einzigartige Enkelin

Inhalt

Vorwort 13

Kapitel I

Ein historischer Anschlag auf den Glauben 17

Studierende lernen die Bibel kennen 18

Probleme mit der Bibel 23

Von der Universität auf die Kanzel 30

Die historisch-kritische Methode akzeptieren 34

Kapitel II

Eine Welt voller Gegensätze 38

Ein Beispiel zu Beginn: Der Tod Jesu bei Markus und Johannes 42

Widersprüche zwischen den Darstellungen von Jesu Geburt

und Leben 49

Die Geburt Jesu 49

Die Genealogie Jesu 56

Andere Widersprüche beim Leben Jesu 60

Widersprüche in den Passionsgeschichten 64

Die Auferstehungsgeschichte 69

Andere Unterschiede in den Passionsgeschichten 72

Widersprüche in Hinblick auf das Leben und die

Schriften des Paulus 76

Fazit 82

Kapitel III

Jede Menge unterschiedlicher Ansichten 85

Ein Beispiel zu Beginn: Der Tod Jesu bei Markus und Lukas 88

Jesu Tod bei Markus 90

Jesu Tod bei Lukas 91

Die Pointe 94

Einige wichtige Unterschiede zwischen Johannes

und den synoptischen Evangelien 96

Inhaltliche Unterschiede 96

Unterschiede in der Gewichtung 99

Unterschiede in der Lehre Jesu 102

Die Wunder Jesu 108

Einige wichtige Unterschiede zwischen Paulus und den Verfassern

der Evangelien 112

Paulus und Matthäus zu Heil und Gesetz 112

Mehrere andere unterschiedliche Sichtweisen im

Neuen Testament 120

Warum starb Jesus? 120

Wann wird Jesus zum Sohn Gottes, zum Herrn und zum Messias? 122

Hat Gott über die Unwissenheit der Götterbildverehrer hinweg-

gesehen? 123

Ist der römische Staat eine Macht des Bösen oder des Guten? 125

Fazit 127

Kapitel IV

Wer hat die Bibel geschrieben? 128

Wer hat die Evangelien geschrieben? 129

Vorbemerkungen: Die Evangelien als Augenzeugenberichte 129

Die Verfasser der Evangelien 132

Das Zeugnis des Papias 135

8 Inhalt

Die Bezeugung durch Irenäus und andere 138

Gibt es Fälschungen im Neuen Testament? 140

Pseudepigrafie in der Antike 142

Die pseudepigraphischen (gefälschten) Paulusbriefe 152

Wer schrieb die anderen Bücher des Neuen Testaments? 164

Fazit: Wer hat die Bibel geschrieben? 167

Kapitel V

Lügner, Verrückter oder Herr?Den historischen Jesus entdecken 169

Unsere frühen Informationsquellen über Jesus 173

Die mündlichen Traditionen 175

Andere Quellen für die Rekonstruktion des Lebens Jesu 179

Kriterien dafür, die Glaubwürdigkeit des historischen Materials

festzustellen 183

Jesus als apokalyptischer Prophet 188

Die Lehren Jesu 188

Was Jesus tat 195

Exkurs: Die Auferstehung und andere Wunder im Leben Jesu 204

Kapitel VI

Wie wir zur Bibel gekommen sind 214

Der »Original«-Text des Neuen Testaments 216

Die Entstehung des Schriftenkanons 223

Die wilde Vielfalt der frühen Kirche 225

Einige außerkanonische Schriften 233

Das Ebionitenevangelium 233

Das koptische Thomasevangelium 234

Die Thekla-Akten 236

Inhalt 9

Der 3. Korintherbrief 237

Der Barnabasbrief 238

Die Petrusapokalypse 239

Die koptische Petrusapokalypse 240

Die zur Kanonbildung führenden Diskussionen 241

Der Fall des Petrusevangeliums 242

Ein früher Versuch der Kanonbildung: Der Kanon Muratori 245

Orthodoxie und Häresie in der frühen Kirche 248

Eusebius’ Ansichten über Orthodoxie und Häresie 248

Walter Bauers Bombe 249

Nach Bauer 251

Die im Konflikt verwendeten Waffen 253

Der Klerus 253

Das Glaubensbekenntnis 254

Der Kanon 255

Fazit 259

Kapitel VII

Wer hat das Christentum erfunden? 262

Ein leidender Messias 264

Christliche Sichtweisen des Messias 265

Jüdische Messiaserwartungen 265

Die Basis der christlichen Ansprüche 271

Das Christentum als eigenständige, antijüdische Religion 275

Die Religion Jesu und seiner frühen Anhänger 275

Die antijüdischen Lehren der späteren Anhänger Jesu 277

Erklärungen für die Entstehung des christlichen Antijudaismus 281

Die Göttlichkeit Jesu 284

Wann wurde Jesus zum Sohn Gottes? 284

Die Göttlichkeit Jesu in der Gemeinde des Johannes 288

Andere Wege in die gleiche Richtung 292

10 Inhalt

Die Trinitätslehre 294

Wie viele Götter? Einige Antworten 294

Zwei hetero-orthodoxe Lösungen 296

Himmel und Hölle 301

Die frühchristliche Sicht auf das Leben nach dem Tod 302

Die Wandlung der apokalyptischen Vision 305

Fazit 307

Kapitel VIII

Ist Glauben möglich? 310

Historische Kritik und Glaube 312

Geschichte und Mythos 316

Sich vom Glauben abwenden 319

Der theologische Wert der historischen Kritik 320

Warum soll man die Bibel untersuchen? 324

Anmerkungen 326

Inhalt 11

Vorwort

Im August 1978 kam ich am Princeton Theological Seminary an – gera-

dewegs aus dem College und frisch verheiratet. Ich hatte ein zerlesenes

Neues Testament dabei und viel Wissbegier, aber sonst wenig. Ich hatte

nicht immer viel Leidenschaft fürs Lernen empfunden. Wer mich fünf

oder sechs Jahre früher gekannt hatte, wäre nie auf die Idee gekommen,

dass ich eine akademische Karriere ansteuern würde. Aber irgendwann

während des Colleges hatte mich die Wissenschaft gepackt. Vermutlich

war das zuerst am Moody Bible Institute in Chicago passiert, an einem

fundamentalistischen Bibelcollege, bei dem ich mich im reifen Alter von

siebzehn Jahren einschrieb. Mein Drang zur Wissenschaft war hier aller-

dings weniger durch intellektuelle Neugier als durch religiöses Streben

nach Gewissheit geschürt worden.

Das Studium in Moody war für mich eine intensive Erfahrung. Ich

war dorthin gekommen, weil ich in der Highschool die Erfahrung der

»Wiedergeburt« gemacht hatte und zu der Einsicht gelangt war, dass ich,

um ein »ernsthafter« Christ zu werden, eine ernsthafte biblische Ausbil-

dung bräuchte. Irgendwann in meinem ersten Semester wurde ich bei

meiner Suche nach Wissen über die Bibel wirklich leidenschaftlich oder

sogar erbittert. In Moody belegte ich nicht nur jedes biblische und theo-

logische Seminar, das ich belegen konnte, sondern lernte auch alleine für

mich ganze biblische Bücher auswendig. In jeder freien Minute lernte ich.

Fast jede Woche lernte ich bei der Vorbereitung auf die Seminare eine

Nacht lang durch.

Drei solcher Jahre verändern einen Menschen. Ganz sicher schärfen

sie den Geist. Als ich den Abschluss in Moody gemacht hatte, ging ich ans

Wheaton College, um englische Literatur zu studieren. Aber meine inten-

sive Beschäftigung mit der Bibel setzte ich fort; ich belegte Seminare zur

Auslegung und gab jede Woche Bibelkurse in meiner Jugendgruppe in der

Gemeinde. Und ich lernte Griechisch, um das Neue Testament in seiner

Ursprache erforschen zu können.

Als engagierter bibelgläubiger Christ war ich sicher, dass jedes Wort

der Bibel von Gott inspiriert oder eingegeben worden war. Vielleicht war

das der Grund für mein intensives Studium. Dies war das Wort Gottes,

die Kommunikation des Weltschöpfers und Herren über alles, das an uns

einfache Sterbliche gerichtet war. Selbstverständlich gab es nichts Wichti-

geres im Leben, als dies gründlich zu kennen. Zumindest galt das für

mich. Ein besseres Verständnis der Literatur insgesamt würde mir auch

beim Verstehen dieser speziellen Literatur helfen (darum mein Studium

der englischen Literatur); dass ich es auf Griechisch lesen konnte, ermög-

lichte mir, die tatsächlichen Worte des Verfassers zu verstehen.

Bereits in meinem Seminar als Erstsemester in Moody hatte ich be-

schlossen, dass ich Professor der Bibelwissenschaften werden wollte. In

Wheaton merkte ich, dass ich im Griechischen ziemlich gut war. Also

war der nächste Schritt praktisch schon entschieden: Ich würde im Neuen

Testament promovieren, und zwar über einen Aspekt der griechischen

Sprache. Mein heißgeliebter Griechischprofessor in Wheaton, Gerald

Hawthorne, führte mich in das Werk von Bruce Metzger ein, des besten

Kenners der griechischen Bibelhandschriften im Land, der am Princeton

Theological Seminary unterrichtete. Also bewarb ich mich in Princeton,

auch wenn ich nichts – wirklich gar nichts – darüber wusste, als dass

Bruce Metzger dort unterrichtete und ich dorthin gehen musste, wenn

ich ein Fachmann für griechische Bibelhandschriften werden wollte.

Vermutlich wusste ich doch etwas über Princeton – nämlich dass es

keine evangelikale Institution war. Je mehr ich in den Monaten vor mei-

nem Umzug nach New Jersey über Princeton erfuhr, umso nervöser wur-

de ich. Von Freunden erfuhr ich, dass Princeton ein »linkes« Seminar war;

dort waren sie nicht der Meinung, dass die Bibel wirklich und wörtlich

von Gott eingegeben sei. Die größte Herausforderung für mich würde

nicht die rein wissenschaftliche sein; in den vorangegangenen Semestern

war ich gut genug gewesen, um zum Promotionsstudium zugelassen zu

werden. Die größte Herausforderung würde die sein, an meinem Glauben

an die Bibel als dem inspirierten und irrtumslosen Wort Gottes festzu-

halten.

14 Vorwort

So kam ich also ans Princeton Theological Seminary: Jung, arm und

voller Leidenschaft – und dafür gewappnet, es mit all den Linken und

ihrer verwässerten Sicht auf die Bibel aufzunehmen. Als guter evangelika-

ler Christ war ich bereit, alle Angriffe auf meinen Bibelglauben abzuweh-

ren. Auf alle offenkundigen Gegensätze hatte ich eine Antwort, und jeden

möglichen Widerspruch im Wort Gottes konnte ich auflösen, sei es nun

im Alten oder im Neuen Testament. Ich wusste, dass ich noch viel zu

lernen hatte, aber ich war nicht bereit zu lernen, dass mein heiliger Text

irgendwelche Fehler enthielt.

Manchmal läuft es nicht wie geplant. Was ich dann in Princeton lern-

te, brachte mich dazu, meine Sicht der Bibel zu ändern. Ich änderte meine

Sicht nicht aus freien Stücken – ich tat es unter lautstarkem Protest. Ich

betete deswegen (sehr viel), rang (heftig) damit und leistete mit aller

Kraft Widerstand. Gleichzeitig war mir klar, dass ich mich ganz der

Wahrheit verpflichten müsste, wenn ich mich wirklich an Gott halten

wollte. Es dauerte lange, bis ich erkannte, dass meine frühere Sicht auf

die Bibel als die irrtumslose Offenbarung Gottes komplett falsch war.

Ich hatte die Wahl: Entweder konnte ich an den Ansichten festhalten, die

ich als falsch erkannt hatte, oder ich konnte dem folgen, was ich als wahr

erkannt hatte. Letzlich hatte ich nicht die Wahl: Wenn etwas wahr war,

dann war es wahr; wenn nicht, dann nicht.

Im Lauf der Jahre habe ich Leute kennen gelernt, die sagten: »Wenn

mein Glaube nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, ist das Pech für die

Tatsachen.« Diese Haltung kam für mich nie infrage. In den folgenden

Kapiteln möchte ich erklären, warum die Bibelwissenschaft mich dazu

brachte, meine Ansichten zu ändern.

Die hier präsentierten Informationen sind nicht nur für Forscher wie

mich wichtig, die ihr Leben der ernsthaften Forschung gewidmet haben.

Sondern auch für alle, die sich für die Bibel interessieren – ob sie sich nun

als gläubige Christen sehen oder nicht. Meiner Meinung nach macht das

einen Unterschied. Ob man nun an Christus glaubt – auf fundamentalis-

tische, evangelikale, gemäßigte oder linke Weise – oder nicht: In jedem

Fall ist die Bibel in der Geschichte unserer Kultur das wichtigste Buch.

Vorwort 15

Wenn man sie zu verstehen versucht, dann ist das eine der wichtigsten

intellektuellen Reisen, auf die man sich in unserer Gesellschaft begeben

kann.

Manche von denen, die dieses Buch lesen, sind vielleicht mit den hier

präsentierten Informationen nicht sehr glücklich. Ich möchte Sie nur da-

rum bitten, dass Sie auf dieser Reise das tun, was ich getan habe: Sehen Sie

sich diese Informationen unvoreingenommen an, und seien Sie bereit zur

Veränderung, wenn Veränderung ansteht. Wenn Sie dagegen nichts an

diesem Buch schockiert oder verstört, dann möchte ich Sie nur darum

bitten, sich zurückzulehnen und es zu genießen.

Ich schulde einer Reihe sorgfältiger und verständnisvoller Leserinnen

und Leser sehr großen Dank dafür, dass sie den Entwurf zu diesem Buch

durchgeackert haben und – ich hoffe, nicht umsonst – energisch darauf

bestanden haben, dass ich es an einigen Stellen ändere, um es zu verbes-

sern: Dale Martin von der Yale University und Jeff Siker von der Loyola

Marymount University; meine Tochter Kelly Ehrman Katz; meine Stu-

denten Jared Anderson und Benjamin White; ein verständnisvoller Kor-

rekturleser sowie Roger Freet, mein sehr kluger und hilfsbereiter Lektor

bei HarperOne.

Die Texte der Hebräischen Bibel (des Alten Testaments) stammen aus

der New Revised Standard Version sowie die des Neuen Testaments ent-

weder aus der New Revised Standard Version oder von mir; die Kirchen-

väterzitate des Originals sind ebenfalls meine eigenen Übersetzungen.

Ich widme dieses Buch meiner zwei Jahre alten Enkelin Aiya, die in

jeder Hinsicht perfekt ist.

In der deutschen Übersetzung wurden die Zitate im Text – wenn nicht an-

ders vermerkt – aus dem amerikanischen Original übersetzt. Die deutsche

Übersetzung des Buches ist gegenüber dem amerikanischen Original an

einigen Stellen leicht gekürzt.

16 Vorwort

Kapitel I

Ein historischer Anschlag auf den Glauben

In der Geschichte der westlichen Zivilisation ist die Bibel das meist-

gekaufte, am häufigsten gelesene und am höchsten geschätzte Buch. Es

ist aber wohl auch das Buch, das von theologisch nicht vorgebildeten

Menschen am gründlichsten missverstanden wird.

Die bibelwissenschaftliche Forschung hat in den vergangenen zwei-

hundert Jahren bedeutende Fortschritte beim Verstehen der Schrift ge-

macht. Diese Fortschritte basieren auf archäologischen Entdeckungen,

auf Fortschritten in unserer Kenntnis der antiken hebräischen und grie-

chischen Sprache, in denen die Bücher der Heiligen Schrift ursprünglich

verfasst waren, und auf tiefgehenden und gründlichen historischen,

sprachlichen und textlichen Untersuchungen. Es handelt sich um ein ge-

waltiges wissenschaftliches Unternehmen. Allein in Nordamerika be-

treiben tausende von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auf die-

sem Gebiet ernsthafte Forschung. Deren Ergebnisse werden regelmäßig

und seit Langem den Studierenden an den Universitäten gelehrt, ange-

henden Pastoren und Pastorinnen, die sich auf ihren Dienst in der Ge-

meinde vorbereiten.

Doch der breiten Öffentlichkeit ist diese Sicht auf die Bibel fast gänz-

lich unbekannt. Dies liegt zu einem nicht geringen Teil daran, dass die-

jenigen von uns, die ihr Berufsleben mit dem Studium der Bibel verbrin-

gen, keine gute Figur dabei machen, ihre Kenntnisse der allgemeinen

Öffentlichkeit verständlich zu machen. Auch haben viele Pastoren und

Pastorinnen, die dieses Wissen in ihrer Ausbildung erworben haben, es

nach Antritt ihres Dienstes aus verschiedenen Gründen nicht mit ihren

Gemeindegliedern geteilt (dabei sind doch die Kirchen die Orte, wo die

Bibel in erster Linie gelehrt und diskutiert wird – oder zumindest sollten

sie es sein). Im Ergebnis wächst darum bei den Menschen nicht allein die

Unkenntnis über das, was in der Bibel steht, sie tappen auch vollständig

im Dunkel über das, was die Wissenschaft in den zurückliegenden zwei-

hundert Jahren über die Bibel gesagt hat. Dieses Problem möchte dieses

Buch aus der Welt schaffen. Man kann es als meinen Versuch verstehen,

die Katze aus dem Sack zu lassen.

Die Sichtweisen, die ich in den folgenden Kapiteln vorstelle, sind da-

bei nicht meine eigenen merkwürdigen Auffassungen von der Bibel. Es

sind vielmehr die Auffassungen, die sich seit vielen, vielen Jahren bei der

Mehrzahl der ernst zu nehmenden Stimmen in der historisch-kritisch ar-

beitenden Wissenschaft an den Universitäten und Seminaren in Nord-

amerika und Europa durchgesetzt haben, auch wenn diese einer breiten

Öffentlichkeit nicht wirksam mitgeteilt wurden – einmal ganz von den

Glaubenden abgesehen, die die Bibel hochschätzen und sich vermutlich

am meisten dafür interessiert hätten. Es gilt, dies für all diejenigen, die

über das wichtigste Buch unserer Zivilisation Bescheid wissen wollen, zu

ändern!

Studierende lernen die Bibel kennen

Die meisten bibelwissenschaftlich ausgebildeten Menschen wurden in

theologischen Institutionen unterrichtet. Jedes Jahr kommt eine Vielzahl

unterschiedlicher Studierender dorthin. Viele von ihnen haben die Bibel

in ihrer Schulzeit kennen gelernt, manche sind sogar seit ihrer Kindheit

aus dem Kindergottesdienst mit ihr vertraut. Üblicherweise haben sie

sich der Bibel aber aus einer eher frommen Perspektive genähert. Sie ha-

ben sie gelesen, um zu erfahren, was sie ihnen über den Glauben sagen

kann und darüber, wie sie ihr Leben leben sollen. In der Regel haben sich

diese Studierenden nicht für das interessiert und sind dem nicht begeg-

net, was in der Wissenschaft an Problemen entdeckt wurde, wenn sie sich

der Bibel in einer eher wissenschaftlichen und historischen Weise näherte.

Andere Studierende wenden sich der Wissenschaft sehr ernsthaft zu, ken-

18 Ein historischer Anschlag auf den Glauben

nen die Bibel aber nicht besonders gut und halten auch nicht viel von der

Idee, die Bibel sei das inspirierte Wort Gottes. Diese Studierenden sind oft

Gläubige, die sich zu einem Dienst berufen fühlen – zumeist zu einem

Dienst in der Kirche, nicht wenige aber auch zu einer anderen Art sozialer

Arbeit. Im Hinblick auf die wichtigsten christlichen Denominationen

Amerikas – auf die presbyterianische, die methodistische, die lutherische

und die Episkopalkirche – würde ich einen großen Teil dieser Studieren-

den als »links« bezeichnen. Sie glauben nicht an die Irrtumslosigkeit der

Bibel und fühlen sich eher an die Institution Kirche gebunden, als dass sie

die Schrift für die Blaupause dessen halten, was sie zu glauben und wo-

nach sie ihr Leben auszurichten haben. Viele von diesen Studierenden

haben, offen gesagt, nicht viel Ahnung von der Bibel und nur eine vage

Vorstellung von ihrer religiösen Bedeutung.

So sah es in protestantischen Bildungseinrichtungen nicht immer aus.

Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte man davon ausgehen, dass Studie-

rende, die zur Universität kamen, über ein umfangreiches Wissen zur Bi-

bel verfügten, und in der Pfarramtsausbildung konnte man voraussetzen,

dass den Vikarinnen und Vikaren die Inhalte des Alten und des Neuen

Testaments in Grundzügen bekannt war. Das ist heute leider nicht mehr

der Fall. Als ich in den späten 1970er Jahren das Princeton Theological

Seminary besuchte, eine Einrichtung der prebyterianischen Kirche, muss-

ten die meisten meiner Kommilitonen eine Art Nachhilfeunterricht be-

suchen, um eine Prüfung zu bestehen, die wir als »Baby-Bibelprüfung«

bezeichneten. Getestet wurde darin das Wissen der Studierenden hin-

sichtlich der elementarsten Informationen über die Bibel: Was ist der

»Pentateuch«? In welchem biblischen Buch steht die Bergpredigt? Wer ist

Theophilus? – Lauter Dinge, die diejenigen von uns, die einen stärker

evangelikalen Hintergrund hatten, lange schon verinnerlicht hatten.

Ich vermute, dass die Mehrzahl der Studierenden im ersten Jahr ihrer

Universitätsausbildung nicht weiß, was sie von einem biblischen Seminar

erwarten sollen. Natürlich machen diese Kurse nur einen kleinen Teil des

Curriculums aus. Belegt werden müssen außerdem Seminare in Kirchen-

geschichte, in Systematischer Theologie, in Religionspädagogik, Sprech-

Studierende lernen die Bibel kennen 19

übungen, in Homiletik und Kirchenrecht. Da ist vieles in kurzer Zeit zu

bewältigen. Allerdings sollen alle Studierenden auch ein bibelwissen-

schaftliches Pro- und ein Hauptseminar besuchen. Die meisten Studie-

renden erwarten, dass diese Veranstaltungen aus einer mehr oder weniger

frommen Perspektive gehalten werden. Sie sollen ihnen, den zukünftigen

Pastorinnen und Pastoren, vermitteln, wie sie die Bibel in ihren sonntäg-

lichen Predigten auf den Alltag der Menschen beziehen können.

Diese Studierenden erwartet ein böses Erwachen. Die wichtigsten

protestantischen theologischen Bildungsstätten Amerikas sind berüchtigt

dafür, die Lieblingsüberzeugungen der Studierenden über die Bibel in

Frage zu stellen, und das selbst dann, wenn es sich bei diesen Lieblings-

gedanken nur um die nette und etwas verschwommene Meinung handelt,

die Bibel sei eine hervorragende Ratgeberin in Glaubens- und Lebens-

fragen, die respektvoll und fromm zu behandeln sei. Diese Universitäten

lehren ernsthafte, seriöse biblische Wissenschaft. Es nicht ihr Anliegen,

die Frömmigkeit zu befördern. Hier unterrichten Forscher und Forsche-

rinnen, die mit allem vertraut sind, was die deutsch- und englisch-

sprachige Bibelwissenschaft in den letzten 300 Jahren an Forschungs-

ergebnissen hervorgebracht hat. Sie brennen sehr viel mehr darauf, den

Studierenden Kenntnisse über die Bibel zu vermitteln, als ihnen bei-

zubringen, was genau in der Bibel steht. Biblische Seminare werden an

diesen Einrichtungen gewöhnlich aus einer rein wissenschaftlichen, his-

torischen Perspektive gehalten, vollkommen unabhängig davon, was die

Studienanfänger erwarten, und vollkommen unabhängig davon, was sie

zu Hause oder in der Kirche gehört haben.

Die Methode, mit der man sich der Bibel in den meisten protestanti-

schen und auch katholischen Hochschulen nähert, ist die so genannte

»historisch-kritische« Methode. Sie unterscheidet sich vollkommen von

der frommen Weise, die man in der Kirche im Umgang mit der Bibel

pflegt. Der fromme Umgang mit der Bibel fragt, was die Bibel sagt, ge-

nauer: was sie mir zu sagen hat oder der Gesellschaft, in der ich lebe. Was

lehrt die Bibel mich über Gott? Über Christus? Die Kirche? Über mein

Verhältnis zur Welt? Was lehrt mich die Bibel zu glauben? Wie zu han-

20 Ein historischer Anschlag auf den Glauben

deln? Über meine Verantwortung in der Welt? Wie kann die Bibel mir

dazu verhelfen, Gott näher zu kommen? Wie hilft sie mir, mein Leben

zu leben?

Die historisch-kritische Methode hat ganz andere Anliegen und stellt

darum ganz andere Fragen. Im Zentrum dieser Methode steht die histori-

sche Frage (daher der Name!), was die biblischen Texte in ihrem ur-

sprünglichen historischen Kontext gesagt und bedeutet haben. Wer waren

die wirklichen Verfasser der Bibel? Kann es sein (ja, es kann!), dass man-

che Verfasser mancher biblischer Schriften nicht die sind, die sie zu sein

vorgeben, oder die zu sein von ihnen behauptet wird? Das heißt: Kann es

sein, dass der 1. Thimotheusbrief nicht von Paulus geschrieben wurde

oder dass Mose nicht der Autor des Buches Genesis ist? Wann lebten die

Autoren der biblischen Schriften? Unter welchen Umständen schrieben

sie ihre Texte? Welche Dinge sprachen sie zu ihrer Zeit an? Auf welche

Weise wurden sie von den historischen und kulturellen Gegebenheiten

ihrer Zeit beeinflusst? Welche Quellen benutzten die Verfasser? Wann ent-

standen diese Quellentexte? Kann es sein, dass diese Quellentexte unter-

schiedliche Ansichten vertreten? Kann es sein, dass die Perspektiven der

Verfasser sich von denen ihrer Quellen unterschied und dass sie darüber

hinaus auch untereinander verschiedene Perspektiven vertraten? Kann es

sein, dass die Bibel, wenn sie denn aus verschiedenen Quellen schöpft,

innere Widersprüche aufweist? Und kann es sein, dass das, was die

Bücher der Bibel in ihrem ursprüngliches Kontext bedeuteten, nicht das

ist, von dem man heute sagt, dass sie es sagen wollen? Kann es sein, dass

wir in der Weise, wie wir die Bibel deuten, Worte aus dem Kontext reißen

und dadurch die Botschaft dieser Worte verdrehen?

Und was ist, wenn wir nicht einmal die ursprünglichen Texte haben?

Was ist, wenn in den Jahrhunderten, in denen die Bibel – das Alte Testa-

ment in Hebräischer Sprache, das Neue Testament in Griechischer –

immer wieder abgeschrieben wurde, die Worte verändert wurden: sei es

durch wohlmeinende, aber nachlässige Abschreiber, sei es durch sehr auf-

geweckte Schreiber, die den Text änderten, damit er das aussagte, von

dem sie meinten, dass er es sagen solle?

Studierende lernen die Bibel kennen 21

Das sind nur einige von den vielen, vielen Fragen, die die historisch-

kritische Methode aufwirft. Kein Wunder, dass Studierende sich im ersten

Semester auf die »Baby-Bibelprüfung« vorbereiten mussten, bevor sie mit

dem ernsthaften Bibelstudium beginnen konnten. Denn diese Art des

Studiums der Bibel setzt voraus, dass man weiß, wovon man spricht,

wenn man anfängt, darüber zu reden.

Einen großen Teil der Studierenden trifft die historisch-kritische Me-

thode wie aus heiterem Himmel. Sie kommen an mit der Erwartung, die

frommen Wahrheiten der Bibel zu erlernen, damit sie diese in ihren Pre-

digten weitergeben können, so wie es ihre Pastorinnen und Pastoren zu

Hause auch gemacht haben. Sie sind in keiner Weise vorbereitet auf die

historische Kritik. Zu ihrer Überraschung bekommen sie dann kein Ma-

terial für ihre Predigten, sondern werden vertraut gemacht mit all dem,

was die historisch-kritische Forschung in Jahrhunderten intensiver Arbeit

entdeckt hat. Die Bibel ist voller innerer Widersprüche, von denen viele

unvereinbar nebeneinanderstehen. Mose hat den Pentateuch (die ersten

fünf Bücher des Alten Testaments) nicht verfasst, und Matthäus, Markus,

Lukas und Johannes haben die Evangelien nicht geschrieben. Es gibt Bü-

cher, die nicht in unsere Bibel aufgenommen wurden, obwohl es Zeiten

gab, in denen sie als kanonisch galten – so zum Beispiel die Evangelien,

die angeblich von Petrus, Thomas und Maria – also Anhängern Jesu –

geschrieben wurden. Der Exodus hat vermutlich nicht so stattgefunden,

wie er im Alten Testament geschildert wird. Bei der Erzählung von der

Eroberung des Gelobten Landes handelt es sich vermutlich um eine Le-

gende. Die Evangelien widersprechen sich in vielen Punkten und enthal-

ten unhistorisches Material. Man kann kaum sicher sagen, ob Mose gelebt

hat und was genau Jesus lehrte. Die Geschichtsbücher des Alten Testa-

ments enthalten eine Fülle legendarischen Materials und die Apostel-

geschichte im Neuen Testament überliefert historisch unzuverlässige In-

formationen über das Leben und die Lehre des Paulus. Viele Bücher im

Neuen Testament wurden unter Pseudonymen verfasst – geschrieben

haben sie nicht die Apostel, sondern spätere Autoren, unter den Namen

der Apostel. Die Liste ließe sich fortsetzen …

22 Ein historischer Anschlag auf den Glauben

Manche Studierenden akzeptieren diese neue Sichtweise vom ersten

Tag an. Andere – besonders die mit eher konservativen Ansichten – sträu-

ben sich lange Zeit, sind sie sich doch ganz sicher in ihrem Wissen, dass

Gott in seinem Heiligen Buch nichts Falsches zulässt. Aber über kurz oder

lang beginnt bei vielen Studierenden – wenn ihnen immer mehr Fakten

vor Augen gestellt werden – der Glaube an die Irrtumslosigkeit und die

unbedingte historische Zuverlässigkeit der Bibel zu wanken. Es gibt ein-

fach zu viele Beweise. Die Hunderte von Unterschieden in den biblischen

Quellen miteinander in Einklang zu bringen erfordert so viel spekulative

Kraft und so viele ausgefallene Deutungen, dass es schließlich einfach zu

viel wird.

Probleme mit der Bibel

Manche Studierende kommen mit der Auffassung an die Universität, die

Bibel sei vollständig, absolut und zu einhundert Prozent irrtumsfrei. Die

Denkweisen dieser Studierenden werden durch die Erkenntnis, dass der

größte Teil der kritischen Wissenschaft eine vollkommen andere Auf-

fassung hat, regelrecht erschüttert. Wenn diese Studieren aber erst einmal

ihre Schotten öffnen, indem sie zugeben, dass es Fehler in der Bibel geben

könnte, dann wendet sich ihr Verständnis von der Heiligen Schrift radi-

kal. Je intensiver und sorgfältiger sie den Text lesen, desto mehr Fehler

finden sie. Und sie beginnen zu sehen, dass die Bibel tatsächlich einen

klareren Sinn entfaltet, wenn man ihre Unstimmigkeiten anerkennt, statt

stur darauf zu beharren, dass da keine sind, auch wenn sie einem direkt

ins Auge springen.

Selbstverständlich sind manche Studienanfänger wahre Experten,

wenn es darum geht, Unterschiede zwischen den Evangelien wegzuerklä-

ren. So erzählt zum Beispiel das Markusevangelium, dass Jesus in der

Woche vor seinem Tod die so genannte »Tempelreinigung« vollzog, in-

dem er die Tische der Geldwechsler umwarf und rief: »Heißt es nicht in

Probleme mit der Bibel 23

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Bart D. Ehrman

Jesus im ZerrspiegelDie verborgenen Widersprüche in der Bibel und warum es siegibt

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 336 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-579-06496-3

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: Juni 2010

Die Widersprüche in der Bibel aufgedeckt - Über die Schwierigkeiten, das »wahre Leben« und die »wirkliche Botschaft« Jesunachzuzeichnen- Ein lange fälliges Buch für alle, die sich für die Bibel interessieren oder mit der Bibel arbeiten Auf dieses Buch haben Pfarrer, Lehrer und alle, die sich für die Bibel interessieren, gewartet:eine anschauliche und fesselnde Darstellung der zentralen Schwierigkeiten, vor denen wirstehen, wenn wir Leben und Botschaft Jesu nachzuzeichnen versuchen.Bart D. Ehrman legt offen, was Bibelwissenschaftler schon lange wissen: Die Autoren desNeuen Testaments haben voneinander abweichende Ansichten darüber, wer Jesus war. Sogibt es im Neuen Testament Schriften, die christliche Schriftsteller Jahrzehnte später unterden Namen der Apostel geschrieben haben. Jesus, Paulus, Matthäus und Johannes vertretenalle völlig verschiedene Religionen. Und hierbei handelt es sich nicht etwa um die eigenartigenAnsichten eines einzigen modernen Bibelwissenschaftlers. Es sind die gängigen und weitverbreiteten Einsichten kritischer Exegeten über ein breites Spektrum von Konfessionen undTraditionen hinweg.Ein aufregendes Buch mit spannenden und gut argumentierten Thesen!