Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

40

description

In seiner vierteiligen Fantasy-Reihe »Die Legenden von Perg« zeichnet Barış Müstecaplıoğlu eine Analogie des Zusammenlebens und Interagierens verschiedenster Rassen und Glaubensrichtungen. „Der Feigling und die Bestie“ ist der erste Teil von vier Bänden und der erste türkische Fantasy Roman, der bisher veröffentlicht wurde.

Transcript of Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Page 1: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie
Page 2: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie
Page 3: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Barış MüstecaplıoğluDer Feigling und die BestieFantasy Roman

Das BuchPerg war eine friedliche Welt, bis Lord Asuber das Buch Tshermons in seinen Besitz bringt. Es ist das Buch des Teufels und vergiftet Asuber mit jedem Zauber, den er daraus liest, bis er in seinem Streben nach Macht unersättlich wird. Es kommt zum Krieg und das Paradies wird zur Hölle.

Eher unfreiwillig gelangen die Helden in diesen Kampf um Leben und Tod: Der Ritter Leofold, der Bauer Guorin, der alte Zauberer Geryan, und später der Prom-Bogenschütze Nume. Ihr gemeinsames Ziel, die Macht von Asuber zu zerstören, führt sie in verschiedene Länder, auf Pirateninseln, in Festungen, Tempel und uneinnehmbare Häfen. Sie erleben lebensgefährliche Situationen und kommen oft an einen Punkt, an dem sie nicht weiter wissen, denn Asubers dunkle Macht scheint unaufhaltsam. Doch immer wieder bekommen die Vier unerwartet Hilfe, von einer Hellseherin etwa und einem kugelförmigen Winzling namens Liddek. Aber es scheint noch eine größere Macht im Spiel zu sein, die das Schicksal von Perg bestimmt und auch bis in die Mitte der treuen Freunde seinen Einfluss hat.

In seiner vierteiligen Fantasy-Reihe »Die Legenden von Perg« zeichnet Barış Müstecaplıoğlu eine Analogie des Zusammenlebens und Interagierens verschiedenster Rassen und Glaubensrichtungen. „Der Feigling und die Bestie“ ist der erste Teil von vier

Bänden und der erste türkische Fantasy Roman, der bisher veröffentlicht wurde.

Der AutorBarış Müstecaplıoğlu, 1977 in Kocaeli geboren, studierte in Istanbul und war lange Zeit als HR Spezialist in einer der größten Banken der Türkei tätig. Seine Kurzgeschichten für Jugendliche wurden in renommierten Zeitschriften besprochen und erhielten mehrfach Auszeichnungen in der Türkei. „Die Legenden von Perg – Der Feigling und die Bestie“ ist der erste Teil von vier Bänden und der erste türkische Fantasy Roman, der bisher veröffentlicht wurde. Als Autor in der Türkei, einem Land welches seit Jahrhunderten aufgrund seiner einzigartigen Lage zahlreichen Kulturen und verschiedensten epochalen Einflüssen ausgesetzt ist, wie kaum ein anderes Land in Europa, erschafft er eine gelungene Synthese aus östlichen und westlichen Kulturen.

Die DetailsAus dem Türkischen von Monika Demirel Deutsche Erstausgabe320 SeitenHardcoverOriginaltitel »Korkak ve Canavar« (Perg Efsanileri)ISBN 978-3943562248

Page 4: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Barı! Müstecaplıo"luDIE LEGENDEN VON PERGTeil 1: Der Feigling und die Bestie

www.legenden-von-perg.de

Page 5: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Barıû Müstecaplıoølu

DIE LEGENDEN VON PERGTeil 1: Der Feigling und die Bestie

Aus dem Türkischen von Monika Demirel

Page 6: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Deutsche Erstausgabe© 2013 binooki OHG, Berlinwww.binooki.comAlle Rechte vorbehalten

1. Au! age 2013

Lektorat: Erhard WaldnerSatz: Erhard WaldnerUmschlaggestaltung: Josephine Rank

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany ISBN 978-3-943562-24-8

Die Übersetzerin dankt Hulki Demirel für seine tatkräftige Unterstützung.

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Korkak ve Canavar © Barı" Müstecaplıo#lu© Kalem Lit. Agency

Mit freundlicher Unterstützung durch das TEDA-Projekt des Kulturministeriums der Republik Türkei

Page 7: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Niemand ist nur gut. Niemand ist nur böse. Wenn es eine Heldentat ist, einen Krieg zu beenden,

dann beginne, indem du mit dir Frieden schließt.

! o-en Kurme, Väter – Vers 97

Page 8: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

VIER INSELNIRSAL

HUSNET

KRðZE

Dorf Kalen

Dorf Yalut

Dorf Rumzor

HERTUG

KADð

KRUZERAN

GURDAL

OMNðF

TunnelLord AsubersSchloss

Dorf Sertuk

Dorf Nios

BergGurç

Ebenen von Pasrek

Yumhor-WaldBerg Sers

Fluss Ponez

Prom-Dörfer

Kısman-Tal Berham Hügel

Landengevon Hertuh

PertubsHafen

Berg Gruh

Gurdet-Wald

Hivers Tempel

FlussAnzol

FlussSamdor

Ose-See

LUFAS

Page 9: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

N

S

OW

INSEL FOYS

DURS

ZERTUALTIF

Idok-SeeKesmel-

See

Merderan-Statue

Dorfplatz

FUOLð

GroßerSumpf

MUNðA

LUSATð

UZROY

TURAYFOR

Stadt Turayfor

Brücken

Ert-See

Yul-See

FlussPika

Rhuk-Baum

FlussTrafez

Olet-See

FlussSimes

Buhur-Vögel

Kuns-Wald

Jagdfestung

Faustturm

Oltes-Gebirgskette

Page 10: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Zur Aussprache des Türkischenc wie dsch in Dschungelç wie tsch in Kutsche! weiches, nicht hörbares g;

es verbindet den voranstehenden Vokal mit dem nachfolgenden Buchstaben

ı kurzes i wie das e in Katzes stimmloses s wie in Maus" wie sch in Schmausz stimmhaftes s wie in Hase

Page 11: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

9

PROLOG

»Reißt euch ein wenig zusammen, ich will schließlich nicht wegen eines dummen Gerüchts zu spät zu der Hochzeit kommen!«, herrschte Harkul seine Familie an, die ängstlich am Eingang des Tunnels wartete.

»Wenn es aber stimmt?«, fragte seine Frau Alme, die ihren kleinen Sohn fest an der Hand hielt. Ihrer Miene nach sorgte sie sich mehr um ihr Kind als um sich selbst. Harkul spürte ihre Besorgnis und senkte seine Stimme. Mit zärtlichem Lächeln meinte er: »Überlas-sen wir die Entscheidung dem Onkel. Sollte auch er Zweifel haben, machen wir es so, wie du willst. Wir marschieren um den ver! uch-ten Berg herum und kommen gerade noch pünktlich zum Ende des Festmahls. Wenn man das überhaupt pünktlich nennen kann!«

Alme fügte sich widerwillig. Wäre es nach ihrem Willen gegan-gen, hätten sie die Einladung zu dieser Hochzeit gar nicht ange-nommen. Die Vorstellung, den ganzen Abend mit solch langweili-gen Leuten verbringen zu müssen, war schon schlimm genug. Aber auch noch diesen Tunnel betreten zu müssen, setzte dem Ganzen die Krone auf. Allerdings wollte sie wegen einer solchen Lappalie nicht mit ihrem geliebten Mann streiten. Der Bräutigam war einer seiner besten Freunde, da musste sie Verständnis zeigen.

Völlig außer Atem kam Onkel Jargol bei ihnen an. Niemand wusste sein genaues Alter. Die beiden jungen Leute kannte er von Geburt an.

»Altsein ist kein Vergnügen, ihr Lieben«, murmelte er leicht be-schämt. »Als ich so jung war wie ihr, bin ich diesen Hügel hinaufge-rannt wie ein Wiesel. Jetzt kann ich nicht mal mehr mit einem klei-nen Kind mithalten.«

Dabei zwinkerte er dem Jungen zu, der sich beharrlich an die Hand seiner Mutter klammerte.

»Nicht doch, Onkel«, erwiderte Harkul. »Wir kommen sowieso nicht voran. Wir irren umher wie verwirrte Kühe. Alme weigert sich,

Page 12: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

10

den Tunnel zu betreten. Angeblich gibt es einen Fluch, Grisol soll hineingegangen und seither wie vom Erdboden verschluckt sein … Nur weil der Dorftrottel verschwunden ist, soll ich zu spät zur Hochzeit kommen?«

»Nicht nur Grisol!«, widersprach Alme. Ihre kohlschwarzen Augen funkelten, wie jedes Mal, wenn sie stritten. »Grisol war völlig ver-rückt, aber Hiskots Schafe, die waren schlauer als du. Auch sie ver-schwanden plötzlich, als sie vor dem Tunnel grasten. Was hast du dazu zu sagen?«

»Ein Verrückter und ein paar Schafe«, murrte Harkul uner-schrocken mit einem Achselzucken. »Nehmen wir an, es kämen Schakale aus dem Tunnel oder, schlimmer noch, Wölfe. Sogar der Onkel in seinem Alter wird mit einem Dutzend von ihnen fertig. Ich verstehe nicht, wie du dich vor solchen Sachen fürchten kannst, wenn ich bei dir bin!«

Schweigsam verfolgte der Onkel ihre Diskussion und hustete lautstark, um das Wort zu übernehmen. Das junge Paar spitzte die Ohren.

»Ich meine, der Weiseste von uns soll entscheiden«, sagte er und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Wenig reden ist das Zeichen von Weisheit. Ich schlage vor, dass wir die Person fragen, die es als Einzige verstanden hat, zu schweigen.«

Er beugte sich zu dem kleinen Jungen hinunter und streichelte ihn am Kinn. »Was meinst du, Leofold? Du weißt, was man sich über den Tunnel erzählt. Fürchtest du dich davor, hineinzugehen?«

Kaum hatte Leofold die Frage vernommen, da hörte er auf, mit dem Fuß in der Erde zu scharren.

»Ich fürchte mich vor gar nichts!«, rief er und versuchte sich da-bei aufzuplustern wie eine Katze. Mit einem Ruck befreite er sich aus der Hand seiner Mutter und lief auf den Tunnel zu: »Komm mit, Onkel. Wir beschützen sie, falls was passiert!«

Harkul stieß ein fröhliches Gelächter aus. Das war sein Sohn! Alme schüttelte resigniert den Kopf. Ihrem Mann konnte sie sich widersetzen, aber dem Kleinen vermochte sie selten etwas abzu-schlagen. Der Onkel war ein großgewachsener Mann, weshalb er

Page 13: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

11

den Jungen kaum an der Hand halten konnte. Er entzündete seine Fackel und legte dem Kleinen die Hand auf den blonden Schopf.

»Folgt uns«, sagte er. Auch das Paar steckte seine Fackeln an und betrat nach ihnen

den Tunnel. Diese Reihefolge ge! el Harkul. Sollte es wider Erwar-ten Schakale geben, würden sie wahrscheinlich eher von hinten an-greifen. Alme lief, wie es sich für eine Kadierin gehörte, mit dem Schwert in der Hand. Sollte ihrem Sohn etwas zustoßen, würde die-ses Schwert sicher zuerst auf den Kopf ihres sturen Ehemannes nie-derfahren und erst dann auf den des Gegners.

Gedankenverloren betrat Leofold den Tunnel. Grisol war ihm einer der liebsten Menschen gewesen. Leofold hatte nicht wenig mit den anderen Kindern gestritten, wenn sie Grisol mit Steinen bewar-fen oder sich über seinen torkelnden Gang lustig machten. Er hatte es ihm schwer übel genommen, als er plötzlich verschwunden war, ohne sich von ihm zu verabschieden. Vielleicht war auch etwas dran an dem, was seine Mutter sagte. Vielleicht hatte der Tunnel tatsäch-lich etwas mit Grisols Verschwinden zu tun. Schaudernd betrach-tete Leofold die Wände, die im Licht von Jargols Fackel nur schwach auszumachen waren. Obwohl er schon öfter hier durchgegangen war, fühlte er sich unwohl. Dann spürte er, wie die Hand seines Onkels ihm über den Kopf strich. Dem Mann, dem diese Riesen-hand gehörte, konnte er vertrauen. So viele Geschichten hatte er über ihn gehört. Es war völlig unsinnig, sich zu fürchten, wo doch einer der ruhmreichsten Krieger Kadis bei ihm war.

»Ein Verrückter und ein paar Schafe …«, wiederholte er die Worte seines Vaters. Dann erinnerte er sich an Grisols niedliches Gesicht und schämte sich über den Ausdruck.

›Er war nicht verrückt‹, dachte er bei sich. ›Er war nur ein biss-chen anders. Immer, wenn er etwas Schönes fand, brachte er es mir, um es mir zu zeigen. Ich ho" e, er kommt bald zurück.‹

Alme glaubte allmählich, sich umsonst Sorgen zu machen. Sie hatten die Hälfte des Tunnels hinter sich, und sie spürte nichts außer der üblichen stehenden Luft. Selbst wenn vorher Schakale her-eingekommen sein sollten, würden sie sicher nicht lange verweilen.

Page 14: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

12

Diesen Gedanken wollte sie ihrem Mann mitteilen, als ein Schmer-zensschrei ihres Sohnes sie erstarren ließ. Panisch rannte sie los und fand den Onkel über Leofold gebeugt, der auf dem Boden saß und weinte.

»Großer Gott, was ist passiert? Alles in Ordnung, Leofold?«Gleich darauf war auch Harkul bei ihnen. »Was war das für ein

Schrei? Was hast du, mein Kleiner?«»Es ist nichts«, murmelte der Onkel. Er hielt den Fuß des Jungen

und zeigte auf den großen Stachel, der darin steckte. »Keine Ahnung, wo das verdammte Ding herkommt. Muss von einem Tier abgefal-len sein, das hier durchgelaufen ist.«

Betrübt verzog Alme das Gesicht. »Mein Kleiner, tut es sehr weh?«Leofold schüttelte den Kopf, doch seine Tränen straften ihn

Lügen.Harkul wich den vorwurfsvollen Blicken seiner Frau aus und

murmelte: »Onkel, zieh das verdammte Ding raus. Wickle ein Stück Sto! um seinen Fuß. Wenn wir auf der Hochzeit sind, soll sich das jemand ansehen.«

Er versuchte, gleichmütig zu klingen, aber das Weinen seines ge-liebten Söhnchens machte auch ihm arg zu scha! en.

»Genug!«, brüllte der Onkel und hob den Kopf des Kleinen, den er in seiner Brust vergraben hatte. »Ist doch bloß ein Stachel. Was bist du bloß für eine Heulsuse!«

Bei diesem Tadel versiegten Leofolds Tränen sofort. Er biss sich auf die Unterlippe und versuchte, sein Wimmern zu unterdrücken. Die zweite Rüge galt zum Glück jemand anderem. »Was bildest du dir ein? Willst mir beibringen, wie man eine Wunde verbindet?«

Harkul taumelte, als hätte er eine Ohrfeige kassiert. Er wusste nur zu gut, dass sein Onkel mehr Narben am Körper hatte, als er Lenze zählte.

»Los, nimm deine Frau und geht zum Ausgang. Ich ertrage keine zwei heulenden Dummköpfe um mich herum. Wir kommen, wenn wir die Wunde verbunden haben. Wartet draußen auf uns.«

Sein entschlossener Befehl duldete keinen Widerspruch. Alme fügte sich, obwohl sie litt, und hakte sich still bei ihrem Mann unter.

Page 15: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

13

Während das Paar sich lustlos entfernte, rammte der Onkel seine Fackel in den Boden und versuchte, den Stachel mit den Fingerspit-zen herauszudrücken.

»Zwei große Kinder«, murrte er. »Auf dich ist mehr Verlass, Jungchen. Deshalb wirst du auch nicht schreien, wenn ich an dem Stachel ziehe.«

Jargol hatte eigentlich nur den Kummer der liebevollen Eltern im Sinn, wenn sie ihren Sohn schreien hörten. Leofold aber nahm die Worte seines Onkels sehr ernst. Er war fest entschlossen, keinen Ton von sich zu geben, selbst wenn er sich die Lippe abbeißen würde.

Da vernahmen die beiden ein unerwartetes Kreischen, eine Mischung aus Grauen, Hil! osigkeit und Schmerz, das einem die Gänsehaut über den Rücken jagte und an den Tunnelwänden ver-hallte. Gleich darauf erklangen Almes und Harkuls Hilfeschreie.

Leofold wusste nicht, wie ihm geschah. Sein Onkel sprang auf, befahl ihm, sitzenzubleiben, und rannte in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Die Fackel nahm er mit, und so blieb der Junge mutterseelenallein im Dunkeln zurück. Er versuchte aufzustehen, um seinem Onkel hinterherzulaufen, aber der Stachel drang nur noch tiefer in sein Fleisch. Schmerzerfüllt ließ er sich wieder auf sei-nem Po nieder. Nur wenige Augenblicke später hörte er Jargols Ge-brüll. Leofold war sich nicht sicher, aber es schien, als würde sein Onkel schreien: »Oh Gott! Das kann nicht sein!«

Das war das Letzte, was er hörte. Als die Echos verhallt waren, machte sich Friedhofsstille im Tunnel breit.

Angsterfüllt sah der kleine Junge in die Richtung, in die all die geliebten Menschen gelaufen waren. Er ho" te, dass Fackellichter auftauchten, Schritte ertönten und dieser Albtraum vorbei sein würde. Doch niemand kam. Unvermittelt begann Leofold zu wei-nen. Angst und Trauer machten den schmerzenden Stachel unwich-tig; dicke Tränen kullerten aus seinen Augen. Auf einmal spürte er, wie neben ihm jemand zum Stehen kam. Er hörte das Atmen eines Tieres. Entsetzen hinderte ihn am Denken. Er zitterte bloß und konnte sich nicht bewegen. Er spürte, wie eine spitze Klaue seinen verletzten Fuß packte, und verlor die Besinnung.

Page 16: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

14

Als er aufwachte, befand er sich noch immer im Tunnel. Wie sehr er sich wünschte, alles sei nur ein böser Traum! Der Schmerz hatte nachgelassen. Er betastete seinen Fuß; jemand hatte den Sta-chel entfernt und die Wunde mit Sto! verbunden. Er wusste nicht, wie das passiert war, konnte aber auch nicht darüber nachdenken. Mühevoll stand er auf und versuchte zu jener Stelle zu gelangen, an der seine Familie verschwunden war. Er tastete sich an der Wand entlang und rief verwirrt und traurig nach den geliebten Menschen. Sie waren wie vom Erdboden verschwunden. Deshalb konnte er sich auch nicht freuen, als er Tageslicht erblickte. Beim Verlassen des Tunnels stachen die Sonnenstrahlen ihm wie scharfe Messer in die Augen. Einige Stunden später entdeckten Hirten, die ihre Herden zum Grasen herbrachten, den tränenüberströmt auf der Erde sitzen-den kleinen Jungen.

Doch von Alme, Harkul und dem ruhmreichen Ritter Jargol fehlte jede Spur.

Page 17: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

15

KAPITEL I

DIE BESTIE

Leofold erwachte schweißgebadet. Beruhigt stellte er fest, dass er nicht in dem dunklen Tunnel lag, sondern auf einer hellen Wiese. Eilig setzte er sich auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und nahm seinen Kopf zwischen die Hände.

»Zwanzig Jahre sind vergangen«, stöhnte er. »Wie oft ich diesen Traum schon hatte! Aber ich fürchte mich noch genauso wie damals mit acht Jahren.«

Viele Jahre war er nicht mehr in der Nähe des Tunnels gewesen, aber diesmal blieb ihm keine andere Wahl. Wegen seines Kummers würden sie ja schließlich nicht den Schauplatz einer Schlacht ändern.

Er nahm seine Sachen und begab sich zu seiner Stute. Dabei sprang er über eine bunt blühende Götterblume, die irgendwie zwi-schen die Gräser geraten war. Die bestickte Decke, auf der er gele-gen hatte, rollte er zusammen und schnallte sie am Sattel fest.

»Was meinst du, Dranos«, murmelte er und strich liebevoll über die weiße Mähne des Pferdes. »Ist es eine gute Idee, an dieser Schlacht teilzunehmen?«

Seit Tagen dachte er darüber nach, kam aber zu keiner befriedi-genden Antwort. Eigentlich war das nicht sein Krieg. Welcher Lord gewinnen würde, war ihm völlig egal. Keinen der beiden eitlen, aus-beuterischen Lords hatte er je gemocht. Einzig um ein Auge auf Mirtayek zu haben, hatte er sich Kozans Reihen im Krieg gegen Asuber angeschlossen. Voller Zuneigung dachte er an seinen Freund. Sicher sprach dieser seiner Armee gerade begeistert Mut zu. Er war schon immer ein Mann voller Enthusiasmus und Energie gewesen.

›Ein Mann …‹, dachte Leofold mit einem breiten Grinsen. Be-reits als Mirtayek zehn Jahre alt gewesen war, war er ihm wie ein Mann vorgekommen. Immerzu redete er von großen Dingen und machte sich auf, Großes zu tun. Er war der leibliche Sohn des Rit-

Page 18: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

16

ters Gurman, der Leofold nach dem Tod seiner Familie unter seine Fittiche genommen hatte und – neben seinen eigenen Erfahrungen – Leofolds einziger Lehrmeister war. Gurman machte keinerlei Un-terschiede zwischen den beiden. Er zog sie gemeinsam groß, unter-richtete sie gemeinsam und überantwortete sie, nachdem er ver-wundet von einer Schlacht zurückgekehrt war, kurz vor seinem Ab-leben ihrer gegenseitigen Obhut. Es war Leofold also nahezu un-möglich, einem Kampf fernzubleiben, an dem Mirtayek teilnahm.

Mirtayek nahm diese Schlacht sehr ernst. Er war überzeugt, dass das Volk stark unter Asuber zu leiden haben würde, sollte dieser die Herrschaft erringen. Leofold jedoch sah keinen vernünftigen Grund, warum er Kozan für den besseren Herrscher halten sollte. Lord Ko-zan war ein derber Mann mit hartem Blick. Niemals würde man ihn für einen Adligen halten. Vielleicht sollte man ihn deshalb dem ver-schlagenen und oberschlauen Asuber vorziehen. Aber bestimmt war auch er kein Führer, für den es wert war, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Wenn doch nur Hanton, der alte Fuchs, noch lebte! Dann müssten sie sich den Kopf nicht zerbrechen. Zu seinen Lebzeiten hatte niemand den Gri! nach der Macht gewagt. Mirtayek behaup-tete, Hanton habe vor seinem Tod Kozan zu seinem Nachfolger er-nannt. Aber niemand hatte das beweisen können. Tatsache war nur, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung Kozan unterstützte, während die erfahreneren Krieger sich wiederum auf Asubers Seite schlugen. Bis auf wenige Ausnahmen wie Leofold und Mirtayek würden alle angesehenen Ritter in Asubers Reihen kämpfen. Das war alles andere als gerecht, denn das Volk hatte nichts als seine zah-lenmäßige Überlegenheit, auf die es vertrauen konnte.

Verdrossen schwang sich Leofold auf Dranos’ Rücken. Er nahm den Blumenstrauß, den er am Sattel befestigt hatte, und sog lange den Duft ein. Vor einigen Tagen hatte er sich mit dem schönsten Mädchen aus seinem Dorf Sertuk verlobt. Für viele Leute war sie Kadis wertvollster Schatz. Er lächelte bitter. Eigentlich sollte er ge-rade an dem schwanengleichen Hals seiner Liebsten schnuppern und nicht an dem Verlobungsstrauß. Während dieses Kampfes würde er auf zahlreiche Ritter tre! en, die ihn nur töten wollten, um

Page 19: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

17

Ermira zu bekommen. Noch einmal verwünschte er Mirtayek, weil dieser ihn in diese missliche Lage gebracht hatte, und gab seinem Pferd die Sporen.

Nach gut zweistündigem Ritt erreichte er das Kısman-Tal am Fuß des Berges Gurç. Der Anblick der vielen Menschen beruhigte ihn ein wenig. Er bezweifelte, dass sie kämpfen konnten, aber wenigstens waren sie bis an die Zähne bewa! net. Die Spitzen ihrer Schwerter und Lanzen blitzten. Zweifellos war es vor allem Mirtayeks Ver-dienst, dass so viele Menschen zusammengekommen waren. O! en-sichtlich gab es außer den ekligen Promen und den Rittern kaum jemanden, der auf Asubers Seite kämpfen würde. Bei der Aussicht, sich mit Promen zu prügeln, besserte sich Leofolds Laune schlag-artig. Seit Langem schon gingen ihm diese gorillaartigen, geistig minderbemittelten Kreaturen höllisch auf die Nerven. Nach Han-tons Tod waren sie arrogant geworden und sahen nun auf die Men-schen herab. Asuber musste ihnen große Versprechungen gemacht haben. Leofold kämpfte wohl tatsächlich auf der richtigen Seite.

Die Aufmerksamkeit, die er weckte, als er sich unter die Soldaten mischte, erfüllte sein Herz mit Stolz. In den Augen derer, die ihn kannten, spiegelte sich die Sicherheit wider, die seine Anwesenheit ihnen gab; die anderen betrachteten den Mann mit dem unglaub-lich schönen Gesicht voller Bewunderung und Neugier. Plötzlich geriet die Menge in Bewegung: Auf einem gigantischen Hengst tauchte Mirtayek vor Leofold auf.

»Mein teurer Freund!«, rief der junge Ritter. »Beinahe hätten wir ohne dich angefangen. Du hast es wirklich gescha! t, dass ich mir Sorgen mache. Ich weiß, dass auf dein Wort Verlass ist, aber als du dich verspätetest, fürchtete ich schon, es sei dir etwas zugestoßen.«

In tiefer Verbundenheit ergri! Leofold die Hände, die sich ihm entgegenstreckten. »Vergib mir. Nur Gott und ich wissen, was ich alles erleiden musste, bis ich die Erlaubnis bekam, an diesem Kampf teilzunehmen. Glaub mir, Ermira zu überzeugen war das Schwie-rigste an der ganzen Schlacht!«

Mirtayek zog seine Hände zurück und legte missmutig die Stirn in Falten. Er fühlte sich miserabel, weil er gezwungen war, seinen

Page 20: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

18

frisch verlobten Freund in diesen Kampf hineinzuziehen. Aber alles, was er tat, tat er für die Zukunft Kadis. Er war weder hinter irgend-welchen Privilegien her wie Asubers Ritter noch wollte er dem Volk sein Land abknöpfen wie die Prome. Nur weil er überzeugt war, dass Kozan solche Ungerechtigkeiten nicht zulassen würde, trat er für ihn ein. Noch einmal schenkte Mirtayek seinem Freund einen lan-gen Blick. Es schien, als hätten die Götter ihre eigene Schönheit in seinem Antlitz abbilden wollen. Dass er trotz der vielen Schlachten, an denen er teilgenommen hatte, keine einzige Narbe im Gesicht hatte, war wiederum der größte Beweis für Leofolds Begabung.

»Sieh!«, schrie Mirtayek. »Da vorne kommt die Meute der Nie-derträchtigen!«

Aufmerksam spähte Leofold in die Richtung, in die sein Freund zeigte. Tatsächlich bewegte sich etwas auf der anderen Seite des Tals. Nur wenig später hatte die erste Prom-Einheit auf dem Schlachtfeld Stellung bezogen. Bald folgten auch die anderen. Leofold konnte sich nicht erinnern, jemals so viele Prome auf einmal gesehen zu haben. Ausgerüstet waren sie mit ihren traditionellen Wa! en wie Äxten sowie mit Blasrohren zum Abschuss von Giftpfeilen. Prachtvoll waren die Rüstungen, die ein mächtiges Loch in Asubers Schatz-kammer gerissen hatten. Dennoch verblassten sie angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer Gegner. Auf jeden Prom kamen mindestens zwei Bauern. Nachdem die Prome sich aufgestellt hat-ten, erschienen nun auch die Ritter. Auf die Distanz vermochte Leo-fold ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber er wusste, dass er die meisten kannte. Mit vielen von ihnen hatte er Seite an Seite ge-kämpft. Über jeden von ihnen sprach er mit Respekt. Angst aber hatte er vor keinem. Die Ritter betraten das Tal und hielten größt-möglichen Abstand zu den Promen. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie nur ungern im selben Glied standen.

»Brusin ist auch da«, murmelte Mirtayek. »Nur er trägt diesen Helm mit der roten Feder.«

Leofold nickte zustimmend. »Ich mag Brusin. Er ist der Beste. Sollte er sich mir heute jedoch in den Weg stellen, schlage ich ihm ohne zu zögern den Schädel ein.«

Page 21: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

19

Er kannte ihn aus der Armee, die aufgestellt worden war, um Perg von den Räubern der Yedeç zu säubern. Mehr als einmal hatten sie einander das Leben gerettet. Brusin war ein junger, stolzer und mutiger Krieger. Ein Jammer, dass er auf der falschen Seite kämpfte.

Langsam lenkte er Dranos an die Spitze der Truppe und wartete auf Mirtayek. Einige weitere erfahrene Krieger, die Mirtayek mitge-bracht hatte und deren Namen er nicht kannte, gesellten sich zu ihnen. Mirtayek hob sein Schwert in den taghellen Himmel und stieß einen furchterregenden Schrei aus. Die Schlacht war erö! net.

Leofold ritt frontal auf die feindlichen Ritter zu, wohl darauf be-dacht, außer Reichweite ihrer Pfeile zu bleiben. Es begeisterte ihn, dass Dranos nach dem langen Weg, den sie zurückgelegt hatten, und ohne Ruhepause immer noch so kraftvoll galoppierte. Diese Stute war das richtige Pferd für ihn. Mirtayek ritt direkt neben ihm. Auch Mirtayeks Krieger und eine kleine Gruppe berittener Bauern folgten ihnen. Die Ritter stellten zwar kein großes Heer, aber dennoch würde Leofold einiges zu tun haben. Das Pfeifen in seinen Ohren kündigte einen Pfeilregen an. Es war ein gutes Zeichen, dass niemand in seiner Umgebung zu Boden ging. Wie er vermutet hatte, zielten die Prome auf die Bauern, die als Fußsoldaten in seiner Nähe kämpften. Wenn man bedachte, dass die Bauern mit Pfeil und Bogen ebenso geschickt umgingen wie die Prome und zahlenmäßig überlegen waren, sollte ihr Sieg nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Kurz darauf sah Leofold sich seinem ersten Kontrahenten gegen-über: ein stämmiger Schwarzer auf einem stattlichen grauen Pferd. Er sah blendend aus in seinem goldbestickten Gewand und dem Umhang. Mit aller Kraft schwang er seine Axt gegen Leofolds Kopf. Leofold wehrte diesen Angri! mühelos ab und rammte dem Feind sein Schwert bis zur Hälfte in die Brust. Das Blut spritzte bis auf seine Stirn; angewidert wischte er es mit dem Handrücken weg. Gleich darauf vernahm er das Klirren der Schwerter und das Dröh-nen von Schilden, die Schläge abblockten – Geräusche, die er nur allzu gut kannte.

Nachdem er zwei weitere Gegner außer Gefecht gesetzt hatte, sah er sich um. Die Schlacht schien zu ihren Gunsten zu verlaufen.

Page 22: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

20

Mirtayeks Krieger waren mit allen Wassern gewaschen. Auch die be-rittenen Bauern kämpften mit erstaunlicher Schlagkraft. In dem Moment ! el Leofolds Blick auf Brusin. In kürzester Zeit schlachtete Brusin zwei berittene Bauern ab – Grund genug für Leofold, ihn zu stoppen. Bis er bei ihm war, holte Brusin ein weiteres Opfer von seinem Pferd herunter. Bei Leofolds Anblick zuckte er zusammen. Sein Gesicht war mittlerweile von derselben Farbe wie sein rötlicher Bart. Mit inbrünstigem Gebrüll schwang er sein Schwert. Leofold parierte mit seinem Schild und zielte auf das Bein seines Wider-sachers. Der Rotbart spürte die Kälte des Eisens in seinem Fleisch und gleich darauf den Schmerz. Der kurze Augenblick des Erschre-ckens genügte Leofold, um den tödlichen Schlag zu führen. Wäh-rend Brusin vom Pferd herunter auf den Boden rutschte, hatte der junge Mann seine Aufmerksamkeit bereits auf einen neuen mögli-chen Feind in seiner Nähe gelenkt. Als sein Blick auf den Mirtayeks traf, der ihn voller Zuneigung und bewundernd ansah, verbesserte sich seine Stimmung sogleich.

»Der Wind beneidet dich um deine Schnelligkeit, mein Freund!«, rief Mirtayek. »Ich hatte gerade erst zwei Leute erledigt, da brachtest du schon den vierten zur Strecke. Und alles schwere Brocken!«

Anstatt zu antworten, warf Leofold sein Schwert messergleich gegen einen Ritter, der im Begri" war, seinen Morgenstern in den Rücken seines Freundes zu rammen, und holte ihn so von seinem Pferd herunter. Hastig drehte Mirtayek sich um und spaltete den verwundeten Kontrahenten, der aufzustehen versuchte, mit seiner Axt in zwei Hälften.

»Jetzt ist nicht die Zeit zum Plaudern!«, schrie Leofold. Er zog sein Reserveschwert und ließ es ein paar Mal in der Luft kreisen. Mit einem kurzen Gruß an seinen Freund, der ihm einen dankbaren Blick zuwarf, machte er sich auf zu einem neuen Triumph.

Nach knapp einer halben Stunde stand das Ergebnis der Schlacht fest. Die Ritter waren allesamt entweder tot oder kampfunfähig. Obwohl die Bauern ernstzunehmende Verluste einstecken mussten, gelang es ihnen, die Oberhand über die Prome zu gewinnen. Als dann auch noch ihre untätig gewordenen berittenen Verbündeten

Page 23: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

21

zu Hilfe eilten, war es ein Leichtes, die noch übrigen Feinde bis ans Ende des Tals zu verfolgen.

Die Erde war mit Blut getränkt, aber Kozan hatte eindeutig ge-siegt. Leofold hielt Dranos an und holte tief Luft. Missmutig be-trachtete er die Leichen und Verwundeten. Der Triumph hatte die Bauern einiges gekostet. Er liebte das Geräusch klirrender Schwer-ter, doch an das Wimmern der Verwundeten hatte er sich nie ge-wöhnen können. Der Anblick eines jungen Mannes ging ihm mäch-tig an die Nieren. Er kniete auf der Erde und erbrach Blut. Tödlich verwundet zu sein schien er nicht, aber sein Gesicht war völlig ver-unstaltet. Lieber wollte Leofold von einem Pfeil ins Herz getro! en werden, als derart entstellt zu sein.

Er musste so schnell wie möglich von hier verschwinden. Er hielt Ausschau nach seinem Freund, um sich von ihm zu verabschieden. Mirtayek war an die Spitze der Bauern galoppiert. Er verkündete ihnen das Ende der Schlacht und befahl, die Verfolgung der " iehen-den Feinde einzustellen. Man kämpfte, um zu gewinnen, danach war es völlig sinnlos, auch nur einen weiteren Menschen zu töten oder weiteres Leben aufs Spiel zu setzen. Leofold verfolgte anerken-nend, wie sein Freund die Menge unter seine Kontrolle nahm. Im Kampf Mann gegen Mann war Leofold tausendmal besser als er, doch was den Führungsstil anbelangte, konnte er Mirtayek nicht das Wasser reichen. Wie schön es wäre, sich der Lords zu entledigen und ein Kadi unter seiner Herrschaft aufzubauen!

Tief in Gedanken versunken entdeckte er plötzlich etwas völlig Unerwartetes. Eine Staubwolke bewegte sich auf Mirtayek zu. Wenig später erkannte er, dass es sich um eine kleine Gruppe von Reitern handelte. Auch Mirtayek hatte das Pferdegetrappel gehört und schaute in ihre Richtung. Die Reiter waren von Kopf bis Fuß in dunkle Gewänder gehüllt. Auch ihre Pferde waren schwarz, und so wirkten sie wie eine heranziehende düstere Wolke. Sie trugen weder Rüstung noch Schild, sondern jeder nur ein blitzendes Schwert. Auch wenn man in der Entfernung ihre Gesichter kaum ausmachen konnte, so ähnelten sie ihrem Teint nach doch eher Menschen und nicht Promen oder Burfenen.

Page 24: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

22

»Was ist das denn Seltsames?«, murmelte er. »Sind die etwa le-bensmüde?«

Mit letzter Ho! nung musste Asuber Söldner aus fernen Welten angeheuert haben. Wenn sie etwas früher in die Kampfhandlungen eingegri! en hätten, wären sie vielleicht von Nutzen gewesen. Aber was meinten sie denn allein ausrichten zu können? Die Bauern hat-ten die Pferde bemerkt, unterbrachen ihre Siegesfeier und spannten Pfeile in ihre Bögen.

›Kein Einziger wird auch nur in Mirtayeks Nähe kommen‹, wet-tete Leofold mit sich. Mirtayek hatte wohl denselben Gedanken, denn er hielt es nicht einmal für nötig, sich zurückzuziehen. Hun-derte von Pfeilen schnellten gleichzeitig empor. Über Mirtayeks Kopf hinweg stiegen sie auf, " ogen einen Bogen und regneten auf die Fremden nieder. Neugierig verfolgte Leofold, ob jemand ver-schont bleiben würde, und stellte verblü! t fest, dass kein Einziger vom Pferd # el. Manchen steckten vier Pfeile in der Brust, dennoch nahten sie in unverändertem Tempo.

»Mein Gott, wer sind die!«, murmelte Leofold. »Was für Rüstun-gen sie wohl unter diesen dunklen Umhängen tragen?«

Plötzlich wurde Leofold der eigentlichen entsetzlichen Realität gewahr und stürzte blindlings seinem Freund zu Hilfe. Während er voran ritt und sich bemühte, den Bauern auszuweichen, schrie er hil" os, Mirtayek möge sich zurückziehen, aber dieser schien ihn nicht zu hören. Wie gebannt stand er da und beobachtete die heran-nahenden Reiter. Leidvoll musste Leofold mit ansehen, wie sein Freund nicht einmal sein Schwert hob, als einer der Reiter neben ihm zu stehen kam. Die Klinge des Fremden spaltete Mirtayek von der Schulter bis zur Hüfte, und Leofold schrie schmerzerfüllt auf, als zerteilte man seinen eigenen Körper.

Der Kampfverlauf änderte sich mit einem Schlag. Asubers Reiter prügelten auf die herbeieilenden Bauern ein, dass die Fetzen " ogen. Mit unglaublicher Flinkheit schwangen sie ihre Schwerter und ver-fehlten kein einziges Mal ihr Ziel. Leofold eilte zu Mirtayek, der vom Pferd gestürzt war, und betrachtete eine Zeitlang gedankenleer des-sen blutüberströmtes Gesicht. Leofold hatte seinen besten Freund,

Page 25: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

23

den Gurman ihm anvertraut hatte, nicht schützen können. Wut kochte in ihm hoch und verdrängte seine Trauer. Für diesen Tod musste jemand zur Rechenschaft gezogen werden. Mit hungrigen Augen sah er sich nach dem nächstbesten Gegner um. Unweit war einer damit beschäftigt, die auseinanderstiebenden Bauern zu verfol-gen. Wutschnaubend lenkte Leofold sein Pferd auf ihn zu. Mit letzter Kraft ! el seine völlig erschöpfte Stute in den Galopp. Auch der schwarze Reiter blickte sich um, als für sein Schwert keine Nahrung mehr übrig war. Er entdeckte den herannahenden Leofold und be-gann in einer Art zu heulen, die sogar den Wölfen das Blut in den Adern gefrieren hätte lassen. Plötzlich " og eine Lanze durch die Luft und bohrte sich in seine Eingeweide. Leofold beobachtete, wie die Spitze am Rücken des Feindes wieder austrat, und verzog das Gesicht wie ein Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hatte. Gleich darauf jedoch passierte etwas, das ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Der Fremde taumelte eine Zeitlang auf dem Pferd und schien herunterzu-fallen, doch dann kam er wieder zu sich, zog sich die Lanze aus dem Körper und warf sie von sich. Auf seinem Umhang war kein Tropfen Blut zu sehen. Erst da begri# Leofold, mit welcher Art von Kreatur er es zu tun hatte, und vielleicht zum ersten Mal seit jenem unver-gesslichen Tag im Tunnel spürte er die Angst tief in seinem Herzen.

Nach einem Moment des Zögerns entschied er sein weiteres Vor-gehen. Er lenkte seine Stute in Richtung Berg und ritt los, so schnell er konnte. Dranos brach vor Erschöpfung beinahe zusammen, doch treu gehorchte sie ihrem Herrn. Leofold drehte sich um und sah, dass sein Gegner ihn verfolgte. Zum Glück war sein Pferd nicht ebenso außergewöhnlich wie er selbst. Leofold gelang es, die Dis-tanz zu halten. Den Krieg, Kozan, ja sogar Mirtayek hatte er aus sei-nen Gedanken verdrängt, um sein Leben zu retten, getrieben von dem einzigen Wunsch, Ermira noch einmal in die Arme schließen zu können. Vorne entdeckte er eine weitere Kreatur und biss sich die Unterlippe blutig. Als sie zusammenstießen, wehrte er das Schwert, das auf seinen Hals zielte, meisterhaft ab und stieß den Reiter mit der Faust von sich. Während der sich bemühte, die Balance zurück-zugewinnen, ritt Leofold an ihm vorbei. Sein Schwert zu benutzen

Page 26: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

24

war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, denn er wusste ja, wie nutzlos es war. Nun begri! er auch, warum Mirtayek derart ver-blü! t gewesen war und keine Anstalten gemacht hatte, sich zu ver-teidigen. Diese ver" uchten Kreaturen verfügten über menschliche Gesichtszüge, ihre Augenhöhlen aber waren leer.

Mittlerweile folgten ihm zwei Jäger auf den Fersen. Aber er hatte die gewünschte Stelle am Berg bereits erreicht. Er sprang vom Pferd und ließ es frei. Dann trat er durch den von P" anzen überwucher-ten Eingang des Tunnels, der stets in seinem Kopf herumspukte und von dem er spürte, dass er seine einzige Chance war. Eine innere Stimme sagte ihm, dass seine Feinde ihn nicht verfolgen würden. Einem »ungeschriebenen Gesetz« zufolge, das er von irgendjeman-dem gehört hatte, mochten # nstere Kreaturen die Finsternis nicht. Zwar behagte ihm nicht, dass sein Leben von einem Gerücht ab-hing, aber er hatte keine andere Wahl. So schnell er konnte, tastete er sich an der Wand entlang. Hinter dem Berg war es sicher; dort musste er hin. Er blieb stehen und prüfte, ob ihm jemand folgte. Als sein feines Gehör keinerlei Schritte vernahm, atmete er tief durch. Er hatte hoch gespielt und gewonnen. Er wurde ruhiger und ging mit achtsamen Schritten weiter. Plötzlich # el ihm der Stachel ein, den er sich seinerzeit in den Fuß getreten hatte. Bestimmt war seit damals kein Sterblicher hier gewesen. Das Gerücht, ein Fluch läge auf diesem Ort, hatte sich überall in Kadi verbreitet. Von einigen Reisenden hatte er gehört, dass man sogar in fernen Welten über diesen Tunnel sprach und Scharen von Zauberern gern ihre Kräfte ausprobieren würden, wenn die Lords es ihnen nur erlaubten. Als Leofold sich in Sicherheit wähnte, stürzten erneut unerträgliche Ge-danken über ihn herein. Er konnte nicht glauben, was geschehen war. Was waren das für Kreaturen, die man weder mit Schwert noch Pfeil oder Lanze zu töten vermochte? Welches Spiel spielte Asuber? Würde Leofold den Tod seines engsten Freundes an den Monstern rächen können?

»Ach, Mirtayek«, murmelte er traurig. »Das war wohl eine Num-mer zu groß für dich, mein Bester. Musstest du denn den Helden spielen?«

Page 27: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

25

Nach einem etwa zehnminütigen Marsch erblickte Leofold wei-ter vorne ein Licht. Trotz der Trauer über den Verlust seines Freun-des lächelte er, weil er es wieder einmal gescha! t hatte, weil er wie-der einmal einem Unheil entgangen war. Er tat ein paar Schritte auf das rettende Licht zu, das ihn an Ermiras Gesicht denken ließ. Ge-rade als er das Grün der Bäume erkennen konnte, zerbröselte die Erde unter seinen Füßen und ließ ihn in die Tiefe stürzen. Er prallte mit dem Kopf gegen einen Stein und verlor die Besinnung.

Als er aufwachte, meinte er zunächst, zu Hause zu sein. Alles er-schien ihm wie ein böser Traum. Er würde aufstehen, die Vorhänge aufziehen, und das Tageslicht würde die ihn umgebende tiefschwarze Finsternis bezwingen. Doch sein schmerzender Kopf holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wollte mit der Hand prüfen, ob er eine Beule an der Stirn hatte. Aber das ging nicht! Etwas war um seinen Arm ge-wickelt und hinderte ihn daran, diesen zu bewegen. Verwirrt stellte er fest, dass es um seinen zweiten Arm genauso bestellt war. Panisch ver-suchte er, sich aufzurichten, aber er war am ganzen Körper gefesselt. Fassungslos rief er in der Dunkelheit um Hilfe. Doch die einzige Stimme, die ihm antwortete, gab ihm keine Ho! nung, sondern ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: »Duu gehöörst miir …«

Zuerst hielt er es für ein Hirngespinst. Die Stimme gehörte weder einem Menschen noch sonst einem ihm bekannten Lebewesen. Heimtücke schwang in ihrem Klang mit, eine Leidenschaft, die Übelkeit erregte.

»Wer bist du? Binde mich sofort los!«, brüllte er seinem unsicht-baren Bewacher entgegen. Nach einem Moment der Stille spürte er, wie ihm eine dicke Nadel in den Arm gestochen wurde. Vor Schmerz verzog er das Gesicht und biss sich auf die Lippen. Eine zähe Flüs-sigkeit rann aus dem Giftstachel in seinen Körper. Als sich seine Adern mit dem seltsamen Saft gefüllt hatten, glaubte er, seine Augen würden geröstet. Bevor der Schmerz ihm die Besinnung raubte, hörte er noch einmal das Flüstern dieser unerträglichen Stimme: »Duu gehöörst miir …«

Dasselbe wiederholte sich so oft, dass er gar nicht mehr mitzäh-len konnte. Eine Zeitlang schlief er, kam wieder zu sich, bekam, so-

Page 28: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

26

bald er wimmerte oder zuckte, wieder von dem Saft verabreicht, um erneut unter Qualen das Bewusstsein zu verlieren. Nach einer Weile begann er zu glauben, dass nach jeder Folter nur wenige Augenbli-cke vergingen. Sein Bewacher sagte nichts außer diesen drei Worten. Auch Leofold gab nichts Vernünftiges von sich, abgesehen von den wenigen Malen, in denen er unter Tränen fragte, warum ihm das angetan wurde. Der junge Mann hatte jeglichen Zeitbegri! verlo-ren, aber seine Pein dauerte viele Tage. Und so plötzlich, wie sie be-gonnen hatte, hörte sie eines Tages auf.

Leofold kam in dem Bewusstsein zu sich, nach langer Zeit zum ersten Mal richtig geschlafen zu haben. Während er wie ein folgsa-mes Kind auf seine Spritze wartete, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er seine Arme bewegen konnte. Auch verblü! te ihn, dass sie trotz des tagelangen Gefesseltseins nicht erschla! t waren, son-dern sogar kräftiger als vorher. Zaghaft ö! nete er die Augen, die sich an das Geschlossensein gewöhnt hatten, und zuckte beim Anblick der Decke, Wände und seltsamen Kletterp" anzen zusammen. Er versuchte zu erkennen, wo das Licht herkam, und erlitt einen neuen Schock. Da es nirgendwo eine Fackel gab und auch kein Licht her-ein# el, musste er im Dunkeln sehen können. Was er dann erblickte, ließ ihn entsetzt aufschreien. Wo früher seine Arme gewesen waren, baumelten nun zwei dicke, baumstammartige Auswüchse. An ihren Enden saßen glänzende Pranken, doppelt so groß wie Hände. Er dachte, er hätte den Verstand verloren. Das Gift, das man ihm ver-abreicht hatte, musste der Grund dafür sein, dass er solch unsinnige Dinge sah. Er sprang auf die Füße und stellte fest, dass er viel größer war als in seiner Erinnerung. Seine Brust hatte einen Umfang, bei dem jeder Bär vor Neid erblasst wäre, und war von einer Art Panzer bedeckt, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte. Auch seine Beine waren stämmiger, damit sie einen solchen Körper tragen konnten. Eine Weile stand Leofold zitternd da, unfähig, einen Gedanken zu fassen. Dann entdeckte er einen gefüllten Wassernapf und lief aufgeregt hin. Unbeholfen fasste er ihn mit seinen Pranken und führte ihn an sein Gesicht. Dann # el sein Blick in den Napf und er zerbrach ihn mit einem gequälten, hil" osen Schrei in zwei Teile.

Page 29: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

27

Plötzlich vernahm er jene widerliche Stimme in seinem Rücken: »Endlich bis du wach, lieber Hüter Ashertas!«

Hasserfüllt drehte Leofold sich um und blickte in das hässlichste Gesicht, das er außer jenem Spiegelbild in dem Wassernapf je gese-hen hatte. Das rattenähnliche Wesen, dem die Fratze gehörte, sah ihn grinsend an. Am Ende seines Schwanzes, der sich schlangen-gleich in der Luft wand, wackelte ein beachtlicher Giftstachel hin und her. Selbstvergessen wollte Leofold sich auf dieses Geschöpf stürzen, das ihn tagelang unerträglicher Folter ausgesetzt hatte. Doch es gelang ihm nicht, sich dieser Kreatur auch nur einen Schritt zu nähern – es war, als prallte er gegen eine unsichtbare Wand.

Die Ratte kicherte vor Vergnügen. »Überanstrenge dich nicht, Hüter Ashertas. Du kannst Asherta nichts tun. In deinen Adern ! ießt sein Blut.« Jener heimtückische Ton klang wieder an, als er sagte: »Du gehörst ihm!«

Weinend sank Leofold auf die Knie. Er begri" gar nichts und konnte nicht glauben, was aus ihm geworden war. Sein einstmals hübsches Gesicht war so hässlich, dass er damit sogar Monster in Angst und Schrecken versetzen würde. Die weichen Hände, die Ermira zärtlich gestreichelt hatten, waren nunmehr todbringende Pranken.

»Was bin ich?«, wimmerte er. »Was bin ich, ihr Götter?«Bei dem letzten Wort wurde Asherta unruhig und zischte:

»Nimm in meinem Beisein ihren Namen nicht in den Mund! Du bist auserwählt! Du bist der Hüter Ashertas!«

Er setzte sich auf die Hinterläufe und strampelte mit den kurzen Vorderbeinen in der Luft. »Duu gehöörst miir!«

So verging Tag um Tag. Leofold saß in den Fängen Ashertas und beugte sich jedem seiner Befehle mit unbezwingbarer Ergebenheit. Immer, wenn er sich widersetzen wollte, schien das Blut in seinen Adern zu kochen, und er krümmte sich, gepeinigt von unerträgli-chen Schmerzen. Manchmal bei Tag, meistens jedoch um Mitter-nacht verließ er den Tunnel, um für Asherta zu jagen, und kehrte jedes Mal, wenn auch mit blutendem Herzen, mit ein paar Schafen oder Hirschen zurück, die er mit seinen Pranken erlegt hatte. Von

Page 30: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

28

seinem Lager aus beobachtete er gelegentlich seinen Herrn angewi-dert bei der Mahlzeit. Obwohl Asherta von der Beute keinen einzi-gen Knochensplitter übrig ließ, schien er niemals wirklich gesättigt. Hin und wieder studierte Leofold auch seine Pranken, die baum-stammartigen Arme und den gepanzerten Körper, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Er träumte von seinem früheren guten Aussehen und von seiner geliebten Ermira, die er auf ewig verloren zu haben glaubte, weil er niemals zulassen würde, dass sie ihn in die-sem Zustand sah. In solchen Momenten verdüsterte unendliche Trauer seine hässliche Fratze, und Tränen ! ossen aus seinen Augen.

Eines Tages trat Asherta ungewöhnlich vergnügt und mit lüster-nem Blick an ihn heran: »Steh auf, Hüter Ashertas, du hast eine neue Aufgabe.«

Missmutig richtete Leofold sich auf.»Es hat sich die Möglichkeit ergeben, ein Gericht zu mir zu neh-

men, das ich lange Zeit entbehren musste. Ich rieche spielendes Frisch! eisch am Eingang des Tunnels.«

Er hob das Gesicht und schnupperte in die Luft. Unbändige Lust lag in seinem Blick. »Ich will, dass du es für mich jagst. Beeile dich, es darf nicht entkommen.«

Leofold beugte sich seinem Willen. Nachdem Asherta das Seil gelöst und so die Klappe in der Decke geö" net hatte, trat Leofold unter die Luke und sprang mit einem Satz zehn Fuß nach oben. Er hörte, wie die Klappe sich hinter ihm schloss. Während er zum Aus-gang des Tunnels lief, überlegte er, um welches Gericht es sich wohl handeln mochte. Beinahe jede Sorte Fleisch, die es im Wald gab, hatte er seinen Herrn kredenzt. Als es Asherta nach e#nem Geyfor-Bären gelüstet hatte, hatte Leofold e#nmal sogar e#n R#esenexemplar für #hn erlegt. Er war sogar ein wenig stolz gewesen, weil er mit die-sem gigantischen Bären fertig wurde, der mit einem einzigen Hieb seiner Tatzen mit Leichtigkeit ein Dutzend normale Menschen erle-digen konnte. Als Leofold jedoch klar wurde, was für eine Bestie er geworden war, versank er wieder in tiefen Kummer.

Am Ausgang angekommen, blieb er wie versteinert stehen. Er sah das Frisch! eisch, das in der Nähe herumwuselte. Es jagte und

Page 31: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

29

schubste sich und gab Gelächter von sich. Was da spielte, waren drei Jungen, einer niedlicher als der andere! Plötzlich brodelte das Blut in Leofolds Adern. Ashertas Lust zwang ihn zur Jagd. Aber er konnte nicht. Um der Götter willen, er würde an diese unschuldigen Kin-der nicht Hand anlegen können. Vulkane schienen in seinem Kör-per zu explodieren. Er ! el auf die Knie und schlug seine Pranken in die Erde. Er fürchtete, er könnte sich vergessen und sich auf die ar-men Kinder stürzen. Schlimmstenfalls würde dieser Schmerz ihn töten, den Kindern aber würde er nichts antun. Sein Körper war wie zwiegespalten. Seine Füße trieben ihn voran, und seine in die Erde eingegrabenen Pranken versuchten, ihn festzuhalten.

Plötzlich begann er zu heulen. Die Kleinen hörten den grässli-chen Laut und lugten furchtsam in seine Richtung. Beim Anblick der unvorstellbar hässlichen Bestie gerieten sie in Panik und rannten kreischend davon. Als sie aus seinen Augen verschwunden waren und sich so weit entfernt hatten, dass Ashertas Nase ihren Geruch nicht mehr wahrnahm, ebbte der Schmerz auf einmal ab. Erschöpft sank Leofold auf die Seite und verharrte einige Zeit stocksteif. Dem Befehl seines erneut aufkochenden Blutes gehorchend kroch er auf allen Vieren zurück. Die Klappe unter ihm ö" nete sich, und wie ein Stein stürzte er hinab.

Asherta erwartete ihn bereits. Beim Anblick von Leofolds leeren Pranken brüllte er fuchsteufelswild: »Du erbärmlicher Hund! Wo ist mein Fressen? Wie kannst du mit leeren Händen zurückkommen!«

»Das waren doch bloß ein paar Kinder. Ich hätte sie niemals töten können«, wimmerte Leofold, hil# os auf dem Boden liegend.

Asherta gab Schreie von sich, wie sie Leofold nie zuvor gehört hatte, und begann, ihn mit seinen winzigen Händen zu ohrfeigen. Leofold war verzweifelt, weil er dieser Kreatur, die er mit einem Hieb in Stücke hacken würde, nichts anhaben konnte.

»Du Dummkopf! Du Verräter! Wie kannst du dich deinem Herrn widersetzen? Du gehörst mir! Du gehörst mir!«

Plötzlich hielt Asherta inne. »Der Fehler liegt bei mir«, schnaubte er. »Als Hund hätte ich mir

lieber einen Prom anstatt eines armseligen Menschen zulegen sollen.

Page 32: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

30

Der hier ist genauso schwach wie sein Vorgänger. Denselben Fehler mache ich nicht noch einmal!«

Leofold traute seinen Ohren nicht. Er nahm all seine Kraft zu-sammen und fragte neugierig: »Vorgänger? Hat es vor mir schon einen gegeben?«

Asherta ließ ein trockenes Lachen hören. »Einen? Wofür hältst du mich, du armer Junge? Es gab Dutzende. Ich bin vierhundert-dreißig Jahre alt.«

Leofolds verdutzter Blick ge! el ihm. Lachend fuhr er fort: »Dein Vorgänger war völlig verrückt. Aber zumindest war er treuer. Ich hatte ihn mir ausgesucht, gleich nachdem ich in den Tunnel gezo-gen war. Es gelang ihm, drei Menschen für mich zu erledigen. Ein kleines Kind ging ihm durch die Lappen, aber sei’s drum. Er war ein viel besserer Hüter als du!«

Auf einmal war Leofold alles sonnenklar. Endlich erkannte sein umnebelter Geist die Wahrheit. Sein Vorgänger war kein Geringerer gewesen als sein lieber Freund Grisol. Deshalb hatte er jenen Tag überlebt. Von seinen geliebten Eltern und dem Onkel hatte nie-mand eine Spur entdecken können, weil diese ekelhafte Kreatur sie verspeist hatte.

Asherta bemerkte nicht, wie Leofold seine Miene änderte und sich langsam aufrichtete. Selbstverliebt fuhr er mit einem Lachen fort: »Leider drehte er nach jener Jagd völlig durch. Er tötete sich, indem er seinen Kopf wieder und wieder gegen die Wand schlug. Wäre er noch am Leben, müsste ich nicht so einen Jammerlappen wie dich ertragen. Aber besser als nichts. In den Jahren, in denen ich allein war, standen nur Mäuse auf meinem Speiseplan.«

Plötzlich sah er Leofold kerzengerade vor sich stehen und er-schauerte. Er begri" nicht, was vor sich ging, aber die Blicke seines Sklaven ge! elen ihm gar nicht. »Du! Wie kannst du es wagen, mich so anzusehen! Tritt zurück! Du erbärmlicher Hund!«

Leofold schenkte dem Befehl kein Gehör. In seinem Körper brach die Hölle los. Die Adern schienen ihm zu platzen. Im Geiste aber stellte er sich vor, wie diese widerliche Kreatur seine Familie au" raß, und die Wut, die sein Herz ergri" , verlieh ihm die Kraft,

Page 33: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

31

jegliche Schmerzen zu ertragen. Asherta war klar, was geschehen würde. Zusammengekauert wie ein ängstliches Katzenjunges hockte er an seinem Platz.

»Duu gehöörst miir«, wisperte er matt. Er spürte Leofolds spitze Pranke in seinem Bauch, wurde hoch-

gehoben, ! og durch die Luft, knallte an die Wand und " el blutüber-strömt zu Boden. Während er schmerzgekrümmt mit dem Tod rang, wandte er seine hasserfüllten Augen nicht von Leofold ab.

»Du hast mich betrogen«, wimmerte er. Mit jedem Wort wurde seine Stimme ein wenig schwächer. »Aber auch du wirst sterben. Mein Blut in deinen Adern wird mich rächen. Tag für Tag wird es dich vergiften. Eines Tages wirst du dich in einen Teufel verwan-deln. Und wenn du über alle um dich herum den Tod gebracht hast, wirst du dich selbst vernichten.«

Leofold rührte sich nicht vom Fleck, bis Asherta seinen letzten Atemzug getan hatte. In tiefsten Zügen genoss er den Tod dieser Bestie, die ihm alles genommen hatte, was er besaß. Dann ö# nete er die Klappe und sprang nach oben. Als er den Tunnel verließ, der so lange sein Gefängnis gewesen war, blickte er sich kein einziges Mal um. Er wickelte sich in die breite Picknickdecke, die die Kinder ver-schreckt zurückgelassen hatten, und begab sich in den Wald.

Der Hüter Ashertas war endlich frei.

Page 34: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Aus dem Türkischen von Sabine AdatepeDeutsche Erstausgabe285 Seiten. Englische BroschurISBN978-3943562200Originaltitel: Har18,90 € [D]

Das BuchMit seinem Faible für Menschen am Rand der Gesellschaft legt der türkische Kultautor Murat Uyurkulak mit seinem zweiten Roman eine mit magischen und fantastischen Elementen durchsetzte ironische, traumatische und zugleich sozialkritische Allegorie auf die Türkei vor..

Der AutorMurat Uyurkulak, geboren 1972 in Aydin, studierte zunächst Jura, dann Kunstgeschichte in Izmir, brach jedoch beides ab und zog schließlich nach Istanbul. Heute ist er Auslandsredakteur der Tageszeitung »Bir Gün«. Sein erster Roman »Zorn« wurde 2002 veröffentlicht und erregte sofort größtes Aufsehen, seither gilt Murat Uyurkulak als eine wichtige literarische Stimme in der zeitgenössischen türkischen Literatur. Sein zweiter Roman »Har« wurde von der Literaturkritik ebenfalls enthusiastisch rezipiert.

Aus dem Türkischen von Ciğdem ÖzdemirDeutsche Erstausgabe120 Seiten Englische BroschurISBN 978-3-943562-24-8Originaltitel: Aşksız Gölgeler15,90 € [D]

Das BuchLiebe und Erotik, Tod und Trennung spielen die Hauptrollen in den Erzählungen Aydemirs, die autobiografische Züge tragen. Aydemir versucht nicht das Geheimnis zu lüften, schildert vielmehr in nüchterner Sprache und mit den Elementen der Dichtkunst die Empfindungen, die aus diesen Lebenszuständen erwachsen – ohne zu deuten, ohne zu werten. Diese Klarheit berührt.

Der AutorKadir Aydemir,1977 in Istanbul geboren, ist Schriftsteller und Verleger. Nach seinem Studium war er jahrelang journalistisch tätig. 1997 gründet er den Verlag Yitik Ülke und gab vorerst die Literaturzeitschrift Başka heraus. „Lieblose Schatten“ ist das erste Werk von Kadir Aydemir, das auf Deutsch erscheint..

Murat UyurkulakGlut

Roman

Kadir AydemirLieblose Schatten

Erzählungen

Page 35: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Aus dem Türkischen von Recai HallaçDeutsche ErstausgabeEnglish Broschurca. 260 SeitenISBN 978-3943562187Originaltitel: Aksak Ritim15,90 € [D]

Das BuchEine gerade erblühende Schönheit in einem Istanbuler Roma-Viertel: ein Mädchen mit langen Haaren und einer Blume hinter dem Ohr, ein wahrer Teufelsbraten. Ihr kleiner Bruder, der Regenwürmer sammelt und in Cola-Flaschen hineinpfercht und der vor allem Tamburin spielt, den hinkenden Rhythmus, dem nicht einmal seine trotzige Schwester widerstehen kann.

Die AutorinGaye Boralıoğlu ist 1963 in Istanbul geboren. Sie hat Philosophie studiert und nach dem Studium als Werbetexterin und Drehbuchautorin gearbeitet. In der Türkei hat sie bisher drei Bücher veröffentlicht. »Der hinkende Rhythmus« ist ihr erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Aus dem Türkischen von Monika DemirelDeutsche ErstausgabeEnglish Broschur224 SeitenISBN 978-3943562019Originaltitel: Ogullar ve Rencide Ruhlar14,90 € [D]

Das BuchDie Büroräume sind auf lebensfeindliche Temperaturen herabgekühlt, der Chef ist eine Katze, der einzige Kunde eine esoterische Lebensberatung und die Kollegin am Schreibtisch gegenüber die große Liebe. Alper Canıgüz erzählt eine rasante Geschichte, in der sich die Kreativwirtschaft in eine Mördergrube verwandelt und tödlicher Ernst sich mit absurdem Humor abwechselt.

Der AutorAlper Canıgüz, 1969 in Istanbul geboren und studierter Psychologe, verdankt die Liebe zum Lesen seinem Vater und seine Leidenschaft für das Schreiben fehlendem musikalischen Talent. Lachen sollen seine Leser bis ihnen die Tränen kommen und weinen bis sie in lautes Gelächter ausbrechen – so möchte der Autor in die Geschichte eingehen und erreichte in der Türkei innerhalb kürzester Zeit Kultstatus.

Gaye BoralıoğluDer hinkende Rhythmus

Roman

Alper CanıgüzSecret Agency

Roman

Page 36: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Aus dem Türkischen von Recai HallaçDeutsche ErstausgabeEnglish Broschur inkl. Audio CDca. 260 SeitenISBN 978-3943562187Originaltitel: Aksak Ritim15,90 € [D]

Aus dem Türkischen von Sabine AdatepeDeutsche Erstausgabeca. 160 SeitenEnglische BroschurISBN 978-3943562057Originaltitel: Bizim Büyük Caresizliğimiz14,90 € [D]

Aus dem Türkischen von Monika DemirelDeutsche ErstausgabeEnglish Broschur224 SeitenISBN 978-3943562019Originaltitel: Ogullar ve Rencide Ruhlar14,90 € [D]

Aus dem Türkischen von Ute Birgi-KnellessenDeutsche Erstausgabe173 SeitenEnglische BroschurISBN 978-3943562064Originaltitel: Istanbullu15,90 € [D]

Gerrit WustmannIstanbul Bootleg

Lyrik

Alper CanıgüzSöhne und siechende Seelen

Roman

Barış BıçakçıUnsere große Verzweiflung

Roman

Metin EloğluFast eine Geschichte

Roman

Page 37: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Aus dem Türkischen von Oliver Kontny320 SeitenEnglische BroschurISBN 978-3943562033Originaltitel: Her Temas Iz Bırakır15,90 € [D]

Aus dem Türkischen von Recai HallaçDeutsche Erstausgabe224 SeitenISBN 978-3943562002Originaltitel: Korkuyu Beklerken15,90 € [D]

Aus dem Türkischen von Johannes NeunerDeutsche Erstausgabe320 SeitenEnglische BroschurISBN 978-3943562040Originaltitel: Son Hafriyat15,90 Euro [D]

Aus dem Türkischen von Ciğdem ÖzdemirDeutsche Erstausgabe296 SeitenEnglische BroschurISBN 978-3943562071Originaltitel: Yedi Gün Duası14,90 € [D]

Emrah SerbesBehzat Ç. – jede berührung hinterlässt eine spurRoman

Emrah SerbesBehzat Ç. – verschütt gegangen

Roman

Oğuz AtayWarten auf die Angst

Erzählungen

Zerrin SoysalDas Siebentagegebet

Roman

Page 38: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie
Page 39: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Klischees sind uns zu blöd, die über die Döner-Türken und die über die farblosen Deutschen auch. Wir haben binooki 2011 in Berlin gegründet, um türkische Gegenwartsliteratur auf Deutsch zu verlegen und damit die Kulturen unserer beiden Heimaten zu verbinden. Wir geben jungen türkischen Autoren eine deutsche Stimme, verlegen Belletristik und deutsche Erstübersetzungen türkischer Klassiker. Das hat bisher gefehlt. Also machen wir es einfach selbst.

binooki sind wir, Inci Bürhaniye und Selma Wels, sich meist liebende Schwestern, in Deutschland geboren und aufgewachsen, anständige Kinder türkischer Eltern aus Aydın. Wir sind jung und entspannt, aber eine Regel muss sein: Wir veröffentlichen nur, was uns begeistert. binooki Bücher wollen zeigen, wie vielfältig türkische Kultur heute ist, wie wild, wie seriös, wie kaputt, wie adrett.

Und das bitte jenseits von allen breitgetretenen Stereotypen. Junge Autoren zu entdecken, sie zu fördern und das deutschsprachige Publikum von ihnen zu begeistern, zu zeigen, was alles geht in Sachen türkischer Literatur, das ist unser Ziel. Dafür reisen wir regelmäßig nach Istanbul und Ankara, schütteln trockene und feuchte Hände auf Literaturfestivals, hören genau hin, wenn über einen neuen heißen Autoren geflüstert wird und wischen den Staub von unseren liebsten türkischen Klassikern.

Der binooki Verlag:Klischeefreie Zone.

Über uns

Page 40: Barış Müstecaplıoğlu - Der Feigling und die Bestie

Kontakt

binooki OHGKöpenicker Str. 154aD-10997 Berlin

Telefon +49.30.61 65 08 40Telefax +49.30.61 65 08 44

[email protected]

facebook.com/binookitwitter.com/binooki