Barbara Klein: Dunkler Schnee
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1 09.07.2012 edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 Düsseldorf; Tel.: 0211/5595090 ; www.edition-oberkassel.de
1 Barbara Klein: Dunkler Schnee
2 09.07.2012 edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 Düsseldorf; Tel.: 0211/5595090 ; www.edition-oberkassel.de
2 Barbara Klein: Dunkler Schnee
1 Nova Scotia – „Es war ein Schuss!“ Eine junge Frau mit dunklem Pagenkopf, auf dem eine helle Strickmütze
sitzt, kämpft sich durchs kahle Gestrüpp. Hie und da bleibt sie mit ihrer
Steppjacke an Zweigen hängen, mitunter bricht sie auf gefrorenen
Pfützen ein oder tritt in eine Matschkuhle, in der der Frost sein Werk
noch nicht vollenden konnte.
Marisa unterbricht ihren Spaziergang, um zu verschnaufen, und lässt den
Blick schweifen.
Der Himmel über den Wäldern Nova Scotias gibt dem frühen Wintertag
ein farbiges Gesicht, das scheinbar die Gedanken an Zurückliegendes wie
mit einem Lächeln abweisen möchte; Gedanken und Erlebnisse aus der
Vergangenheit, die aber wie Kletten an der Frau haften.
Wolken zeichnen mit Sprenkeln und Streifen bizarre Bilder ins winterliche
Pastell. In der vergangenen Nacht hat es gefroren, sodass Bäche und
Rinnsale erstarrten und zur Kulisse ihres eigenen Daseins wurden;
pausierende Lebendigkeit. Der Grand Lake, einer der vielen Seen der
Atlantikprovinz, hat mit dem Weben seiner eisigen Decke begonnen, die
ihn für die nächsten Monate zur Spielfläche für Eis-Angler, Spaziergänger
und Hockeyfans machen wird; die Eisschollen wachsen zusehends und
dort, wo Nähte entstanden, sieht es aus, als hätten geheimnisvolle Wesen
ihre Pfade angelegt, um den erstarrenden See zu Fuß bis zu den Häusern
am gegenüberliegenden Ufer überqueren zu können. Manche Spur zieht
sich zu den kleinen Inseln, die sonst einsam inmitten des Gewässers
Enklaven der Vogelwelt sind. Nun sehen sie sich unerwartet mit dem Land
vereint.
Der Wald wirkt chaotisch und ungezähmt. Gekippte Bäume, hilflos
ineinander verkeilt, zeugen mit ihren zum Himmel ragenden,
rippengleichen Ästen von Krankheit und Tod; Stümpfe und abgesägte
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Zweige von menschlichem Eingreifen; kleine Kiefern und Tannen von der
unbändigen Kraft der Natur, alles nachwachsen zu lassen, was irgendwo
einen Platz findet.
Hoch über Marisa krähen Rabenvögel auf Beutezug, sie hört sonst nichts
außer dem eigenen Atem. Sie lässt eine Handvoll Schnee von ihrem
Handschuh rieseln, rüttelt an einem dünnen Tannenbaum und stellt sich
unter die fallenden Flocken, dass es kalt auf ihrem Gesicht prickelt, dann
stapft sie ein Stück weiter, bis sie ans Ufer des Sees kommt, betrachtet
das von Eis überzogene Schilf und schaut zum Himmel, um abzuschätzen,
ob es wieder schneien wird. Zwischen den nackten Baumkronen sieht sie
von weit hinten eine graue Wolkenwand herankommen, die die
aprikosenfarbigen und weißen Tupfer zu überwältigen droht.
Bruno, Marisas Mischlingsrüde, in dem vermutlich Border Collie und
Neufundländer stecken, schleppt einen Stock herbei, legt ihn vor ihren
Füßen ab, trabt ein Stück ins Gebüsch zurück, dreht sich um und blickt sie
mit schief gelegtem Kopf und aufgestellten Ohren an. Marisa hebt den
Stock auf und wirft ihn zwischen Bäume, dass der Hund ihm
hinterherjagen kann. Die weißen Flecken in Brunos Fell sehen im
Vergleich zum winterlichen Niederschlag gelb wie Pergament aus. Der
Hund jappt aufgeregt und hat sichtlichen Spaß am Schnee, in den er hin
und wieder beißt und darauf herumkaut, als wären es Bröckchen aus
Fleisch, bis ein Eichhörnchen seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Aufgeregt fiepend und mit wehender Fahne sitzt es auf einem Baum, läuft
dann flink herunter, verliert sich fast im Schnee und huscht auf das
erstarrte Wasser. Marisa packt Bruno geistesgegenwärtig am Halsband.
„Nein, mein Freund, du bleibst hier!“ Das dünne Eis würde ihn nicht
tragen. Sie wirft erneut einen Stock, um ihn von dem Nager abzulenken.
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Marisa stapft dem Hund hinterher, um sich durch das Gesträuch wieder
zu dem Pfad durchzuschlagen, von dem sie gekommen ist. Sie folgt ihren
eigenen Spuren, um im Schnee den Weg nicht zu verlieren. Der Wind lebt
auf, und sie beginnt, trotz Mütze und Skijacke zu frieren.
Marisa ist noch nicht lange in Neuschottland. Nicht überstürzt, aber
dennoch spontan hat sie die Reise angetreten. Zum Kofferpacken hat sie
sich kaum Zeit gelassen; überhaupt hat sie den Trip nach Kanada nicht
gründlich vorbereitet, obwohl sie letztendlich Großes damit vorhat. Groß
sollen die Veränderungen sein, wenngleich sie bis jetzt nur schwammige
Vorstellungen der 31Jährigen sind. Das Leben ändern, das steht an
vorderster Stelle, und der intuitive Entschluss, nach Kanada zu kommen,
soll der Beginn sein.
Nach allem, was geschehen ist …
In den lokalen Wetternachrichten, die gebetsmühlenartig wiederholt
werden, bis man sie auswendig dahersagen kann, spricht man davon, dass
die winterlichen Verhältnisse bis auf Weiteres anhalten werden. Der
Schnee sei dieses Jahr so früh gekommen, wie schon lange nicht, und
werde also so schnell nicht weichen. Für diesen Teil Kanadas sei es extrem
ungewöhnlich, bereits Anfang Dezember die Landschaft im weißen
Gewand zu sehen. Um das Ungewöhnliche immer wieder herauszustellen,
werden die Meteorologen es nicht müde, mit Nachdruck zu betonen, dass
Nova Scotia mit Sicherheit vor dem härtesten Winter seit 15 Jahren stehe.
Mit einem großen Koffer und einer riesigen Hundebox ist Marisa vor zwei
Tagen aus dem herbstnassen Frankfurt Richtung Halifax aufgestiegen.
Vom Halifax Stanfield International Airport war es mit dem Leihwagen
nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel Wellington. Wellington, das in nichts an
die große Schwester in Neuseeland erinnert, liegt eingebettet zwischen
bewaldeten Hügeln und den Seen Lake Fletcher und Grand Lake. Der alte
Highway 2 durchschneidet diesen Ort wie auch viele andere, die sich nur
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in Nuancen, hauptsächlich durch ihre klangvollen Namen, unterscheiden;
Fall River, Fletchers Lake, Oakfield oder eben Wellington versprechen
dem aufmerksamen Reisenden eine Fahrt durch die Geschichte der
Besiedelung Nova Scotias. Die farbigen Häuser mit ihren Holzfassaden
oder mit den neueren Varianten aus Vinyl leuchten rechts und links des
Highways, zahlreiche schon weihnachtlich geschmückt. Man passiert
Seegrundstücke mit eigenen Bootsstegen, die freilich im Winter am Ufer
liegen, auf der Waldseite höher gelegene Grundstücke mit steilen
Auffahrten, hin und wieder Abzweigungen den Berg hinauf, die in die seit
den siebziger Jahren kontinuierlich wachsenden Wohnsiedlungen führen.
Die Unterschiede der einzelnen Communitys verschwinden im Einerlei des
Straßenbildes. Der von Schneepflügen aufgehäufte Schnee längs der
Strecke gibt dem an sich schon einheitlichen Bild eine Leitplanke, die dazu
verführt, die wenigen Besonderheiten der Orte im Vorbeifahren zu
versäumen.
Marisa mag diese Gegend, das Leben nah an der Natur, die einfachen
Häuser und offenen Gärten, die Wildnis, die sich zwischen den Siedlungen
wacker hält – bis man wieder Holz braucht. Die Wirtschaftskraft der
Provinz muss in Schwung gehalten werden. Außerdem gibt es immer
Familien, die ihr Haus mitten im Wald bauen wollen, weg von der
Hafenstadt Halifax, auch weg von Bedford, obwohl diese Stadt ein
attraktiver Wohnort ist, weil das Leben dort wesentlich günstiger als in
Halifax ist. Man will nah an die Rehe und Streifenhörnchen heran, aber
mit gutem Anschluss an das Straßensystem. Ganze Schneisen werden in
den Wald geschlagen, um ein Haus vor der Straße zu verbergen, aber um
ihm einen Zugang zu eben dieser zu gewähren. Die Hausbauer und
Holzfäller haben einen guten Job in Nova Scotia. Man wohnt gerne hier,
der Freizeitwert ist hoch.
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Hat man sein Haus jedoch direkt an der Atlantikküste stehen, muss man
wetterfest sein, denn dort herrscht nicht selten dichter Nebel, der sich
hartnäckig über den von Flechten übersäten Nadelbäumen hält, und ist
selbst im heißen Sommer auf wärmende Kleidung angewiesen.
Es ist die kanadische Ruhe, nach der Marisa sich sehnte, als sie den Flug
buchte; die Aussicht, die Gedanken zu ordnen, die Gefühle einzufangen,
die Angst zu vertreiben. Weg aus Deutschland, nur weg! Weg von allem,
was sie durchgemacht hat. Dass sie ausgerechnet nach Wellington
kommen musste, an den Ort, in dem sie eine glückliche Zeit verbrachte,
scheint ein Wagnis zu sein. War die Entscheidung, hierher zu kommen, die
richtige?
Die Sehnsucht nach Zuversicht war zu groß, als dass sie einen fremden Ort
hätte wählen können, an dem sie sich erholen kann. Zuversicht, die sie in
den vergangenen Monaten immer wieder verloren, aber nie vergessen
hat. Der Gedanke an die alten Gefühle führte bisweilen sogar so weit,
dass sie in ihrer Vorstellung ein eigenes Haus in Kanada bewohnt, dass sie
hierher ihren Lebensmittelpunkt verlegt.
Sie hat wieder das gelbe Holzhäuschen am See gebucht, so wie vor über
einem Jahr. Doch jetzt ist sie allein. Jetzt ist alles anders, kein Sommer,
kein Freund, kein Heiratsversprechen, keine festgeschriebene
Perspektive.
Vor dem Haus ist eine Garage; zu beidem führt eine kurze, aber steile
Zufahrt hinab. Das gesamte Grundstück geht bergab. Es scheint, als habe
man nur für das Wohnhaus und die Garage zwei Ebenen eingezogen,
damit sie nicht die Wiese hinabrutschen und im See landen. Als
ehemaliges Cottage strahlt das Haus immer noch seinen Feriencharakter
aus, doch es ist nach Umbauten nun so groß, dass es ein passables
Wohnhaus abgibt. Die ganze Straße mit dem hübschen Namen Sunnylea
hat ursprünglich aus Ferienhäusern bestanden. Nett gerahmt von
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Bäumen und dem See. Vom alten Highway aus muss man erst die
Schienen überqueren, um zur Sunnylea Road zu gelangen. Vom Charme
dieser Gegend muss man wissen, es gibt sonst keinen Grund, diese im
Nichts endende Straße zu betreten. Auf der Grenze der Zuständigkeiten
der größeren Gemeinden Fall River und Enfield haben sich hier in den
vergangenen zwei Jahrzehnten die Menschen ein Zuhause geschaffen,
haben ihren Ferienort zur Wohnstätte gemacht. Das gelbe Haus am Ende
der Sunnylea Road steht als einziges noch Urlaubern zur Verfügung, und
Adam, der Besitzer, erkannte Marisa gleich wieder, als sie vor zwei
Wochen anrief. Während ihrer Absprache am Telefon ging ihr der
Gedanke durch den Kopf, dass sie Weihnachten zum ersten Mal allein
verbringen würde. Es fühlte sich seltsam an, fast unbehaglich, aber nicht
zuletzt durch Adams begeisterte Stimme gleichzeitig tröstend.
Sie erreicht den Pfad, von dem aus es nicht mehr weit ist zu dem
Schotterweg, der sie ihrem Ferienhaus näher bringt. Bruno schlägt an.
Marisa blinzelt gegen die Sonne, kann aber nichts ausmachen. Dann hört
sie ein Motorengeräusch. Sie sieht auf den Pfad und bemerkt frische
Spuren eines Quads, eines jener Aufsitzer, die sommers wie winters im
Wald zu Sportzwecken gefahren werden. Die Reifenspuren ziehen sich bis
zum Schotterweg, wo sie sich auf Eis und Schnee und zwischen
Autospuren verlieren. Sie geht weiter, hört zwischen dem Knirschen des
Schnees unter ihren Schuhen von ferne den Motor, bis er schließlich
erstirbt. Es wird einer der neuen Anwohner sein, denkt sie. Der
Schotterweg ist neu. Er wurde für ein Haus am See angelegt. Sie hört noch
einmal einen Motor, dann nur noch einen Blue Jay, den Bruno im
Gebüsch aufschreckt, und der krächzend, als wolle er sich beschweren,
ihren Weg kreuzt. Sie überlegt, ob sie mit ihrer Vermutung, es handele
sich um ein Quad, richtig liegt, doch die schmalen Spuren und das
eigentümliche Geräusch sind die gleichen, die auch das Gefährt von Adam
machte. Adam war mit einem solchen Aufsitzer nach ihrer Ankunft zum
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Haus gekommen. Marisa erkannte ihn erst nicht unter seinem Helm.
Adam brachte nicht nur den Schlüssel und ein paar Vorräte, sondern
erzählte gleich mit ausschweifenden Gesten und blumigen
Formulierungen über die Nachbarschaft und Gott und die Welt.
Marisa, von der Reise übermüdet, hatte für Adams Temperament
zunächst nicht viel übrig, doch nach einer Tasse Kaffee fand sie
zunehmend Vergnügen an seinen Geschichten.
Er riet ihr, sich in Acht zu nehmen, der Winter fange schon heftig an, sie
solle nicht ohne Handy spazieren gehen und immer erst auf den
Schneepflug warten, bevor sie sich hinters Steuer setze. Sie antwortete
mit gespielter Ironie, was denn mit der globalen Erderwärmung sei, nickte
aber brav zu seinen Worten. Eingeschneit zu sein und ein paar Wochen
nur in der Nähe des Hauses bleiben zu müssen und sich im einzigen Kiosk
von Wellington nebst Bäckerei zu versorgen, entspricht genau ihrer
Stimmung.
Sie geht auf dem Schotterweg einen halben Kilometer fast bequem, wenn
man von kleinen Rutschpartien absieht, bis sie auf die zwei Balken stößt,
die irgendjemand als Brücke quer über den jetzt vereisten Bach gelegt
hat. Über diese kommt sie wieder in den Wald, um über den Hügel zu
ihrem Haus zu gelangen. Die Trampelpfade durch das Gehölz existieren
schon so lange, wie Menschen in dieser Gegend leben. Sie führen fast nur
über Privatgelände, doch es ist ein allgemein akzeptiertes
ungeschriebenes Gesetz, dass jeder diese Pfade benutzen darf. Sie
übersteigt umgefallene Bäume, rutscht auf gefrorenen Pfützen und sackt
knöcheltief in den Schnee ein. Bruno taucht seine Nase immer wieder in
das kalte Weiß, wälzt sich auf freien Flächen und erschnuppert mit
aufgestellten Ohren und Rute die mannigfach vorhandenen Schlupfwinkel
von Eich- oder Streifenhörnchen und Mäusen. Marisa schaut ihrer
lustigen Promenadenmischung zu. Bruno ist nicht nur zum ersten Mal in
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seinem Leben geflogen, sondern erlebt auch seinen ersten Schnee. Sie
lächelt beim Anblick dieser Unbekümmertheit, der reinen Freude an den
Elementen, des Genießens des Augenblicks und allmählich merkt sie, wie
sich eine leichte Entspannung im Schulterbereich entwickelt. Obwohl sie
immer noch nicht ausgeschlafen ist, fühlt sie schon jetzt die wohltuende
Wirkung dieser Winterlandschaft wie eine Bestätigung für ihren
Entschluss, hierhergekommen zu sein. Weit weg von allem. Weit weg von
der Vergangenheit, vom Schmerz, der in zahlreichen Momenten noch so
nah ist.
Sie horcht auf; da ist wieder das Motorengeräusch. Bruno apportiert
einen Stock, den er ausgegraben hat. Marisa bückt sich, wirft ihn,
wiederholt auf einer Lichtung das Spiel mit dem Hund, bis sie außer Atem
ist.
Da bricht durch die weiß verhangenen Sträucher ein Schuss, und der
Geschossknall lässt Schnee von den Zweigen stäuben …
2 Eineinhalb Jahre zuvor „Marisa, komm ins Wasser! Es ist super!“ Laurens tauchte unter, kam
wieder hoch, nahm den Mund voll Wasser und versuchte es im Bogen
wieder auszuspucken, als wäre er eine Comicfigur. Er schwamm auf dem
Rücken, kraulte ein paar Meter, drehte sich zum Brustschwimmen um,
tauchte wieder, prustete beim Auftauchen und winkte Marisa zu, die
langsam die Wiese herunterkam. „Komm endlich!“ Laurens schickte sich
an, weiter hinauszuschwimmen.
Marisa war mit ihrem Freund seit einer Woche in Kanada, und endlich
war die bleierne Schwüle, die die Urlauber schon seit der Ankunft
umklammert hatte, in einen klaren Sommertag übergegangen, hatte der
trockenen Hitze wenigstens für eine Weile das Zepter übergeben. Die
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Bäume wiegten sich leicht im Wind und schienen die zunehmende
Lebhaftigkeit rund um den See mit einem Seufzen hinzunehmen. Der
Grand Lake lud zum Schwimmen ein, was, an den vielen Stegen und
Plattformen mitten im Gewässer leicht zu erkennen, von den See-
Anwohnern reichlich genutzt wurde. Am Ufersaum, hier wie dort, stiegen
vereinzelt dünne Rauchsäulen, bisweilen auch dicke Rauchschwaden von
den Barbecue-Grills auf. Gegenüber, rund 300 Meter entfernt, planschten
Familien im Wasser, ein paar Boote zogen mit gleichmäßigem Brummen
ihre Runden, es waren einzelne Rufe, mal ein Lachen, mal das Bellen eines
Hundes zu hören, und überall war die Entspannung eines Ferientages zu
spüren.
Marisa zog ihren Pareo von den Hüften, ließ ihn auf die Wiese fallen und
schritt, nur noch mit einem Bikini bekleidet, vorsichtig über Wurzeln und
Steine zum Ufer hinab. Sie betrat den Steg, setzte sich und ließ die Beine
ins Wasser baumeln.
„He, komm endlich rein!“, rief Laurens, der schon wieder am Steg war.
Marisa lächelte über das Bild, das Laurens ihr bot: Ein großer Junge
planscht selig im Wasser.
„Kannst du dir vorstellen, dass hier vielleicht mal Indianer Rast gemacht
haben? Vielleicht genau hier, wo wir jetzt sind.“ Marisa sah sich um,
nahm die Uferlinie wie eine Skizze in ihr Urlaubsgedächtnis auf und
versuchte sich ein inneres Bild von den Mi’kmaq-Indianern zu machen.
Laurens’ Stirn zeigte ein paar Fältchen. „Was für Indianer?“
„Mi’kmaq heißen die Ureinwohner des südöstlichen Kanadas. Es gibt sie
auch heute noch; sieben Stammesgruppen, soweit ich weiß.“
„Ja, ja, die Mickeys“, scherzte Laurens und umfasste Marisas
Unterschenkel. Lachend ließ auch sie sich ins Wasser gleiten.
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„Wir können ja mal schauen, ob wir auf einem Ausflug was über die
Indianer erfahren können. Da gibt es, glaub ich, einen Ort …“ Sie kam
nicht dazu weiterzusprechen, denn Laurens drückte ihr einen nassen Kuss
auf den Mund. „Ich bin hier, um mich zu erholen, Süße.“
„Du Kulturbanause! Wenn wir schon mal auf diesem Kontinent sind,
können wir doch auch …“
„Heirate mich!“, unterbrach Laurens sie und umfing die schlanke Gestalt
seiner Freundin. Marisa stockte für einen Moment der Atem.
„Was?“, brachte sie endlich heraus und ärgerte sich im selben Augenblick,
nichts Gescheiteres zu sagen zu haben.
„Heirate mich!“, wiederholte Laurens und strahlte sie an.
Marisa war perplex; damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Ihre
Gefühle und Gedanken stolperten Momente lang übereinander, sie
wusste nichts zu erwidern, doch sie merkte, wie ansteckend Laurens’
Lachen und Optimismus waren. Mit aufgesetztem Stirnrunzeln fragte sie:
„Meinst du, dass wir uns schon lange genug kennen?“
„Ein Jahr ist lang genug. Du liebst mich, und ich liebe dich. Was willst du
mehr?“
„Das kommt so überraschend“, sagte Marisa und wurde für einen
Augenblick ernst; sie versuchte angestrengt, ihre Gefühle zu bestimmen,
doch es wollte sich auf die Schnelle kein Ja oder Nein in ihrem Inneren
manifestieren. Sie küsste Laurens auf den nassen Mund und ließ sich, eng
umschlungen, ins tiefe Wasser schaukeln. Sie drehten sich um sich selbst,
Laurens erwiderte den Kuss, forderte ihre gesamte Aufmerksamkeit,
raubte ihr den Atem. Sie versanken ineinander, wiegten sich im
plötzlichen Wohlgefühl des anstehenden Entschlusses, überließen sich
der sanften Strömung des sommerwarmen Sees, nahmen schließlich
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emotional vorweg, welche Konsequenzen der Urlaub in Nova Scotia
haben würde, ließen kein Wenn, kein Aber mehr zu, konnten gar nicht
mehr anders, als atemlos und voller Überzeugung dieser Idee zu folgen
und den Grand Lake zum vorläufigen Zeugen ihres Trauversprechens zu
machen.
„Was hältst du davon, wenn wir an deinem Geburtstag heiraten? Dreißig
Jahre und endlich unter der Haube, hm?“ Laurens lächelte verschmitzt
und wehrte das Kissen, das ihm postwendend an den Kopf fliegen sollte,
geschickt ab.
„Pass nur auf, dass du nicht zu übermütig wirst! – Wein?“
Laurens nickte und Marisa stand auf, um Gläser zu holen. Nach dem
obligatorischen Barbecue am Abend machten sie es sich auf der erhöhten
Veranda ihres Ferienhauses gemütlich und genossen den Blick auf
Kiefern, Eichen, Hemlocktannen und den allgegenwärtigen Ahornbäumen.
Der See schimmerte bronzefarben im untergehenden Sonnenlicht. Ab und
zu störte eine verspätete Blackfly oder es stachen die Mücken, doch das
konnte ihre Glückseligkeit nur bedingt beeinträchtigen. Marisa fühlte sich
glücklich. Und sie merkte, wie sie sich gütlich tat am Klischeedenken, in
dem nur Sonne, Urlaub, der Beau an ihrer Seite und ein Heiratsantrag
vorkamen. Fast fürchtete sie sich vor der Perfektion, in der sie sich
befand. Es drängte sie, ein Haar in der Suppe zu finden, ein Stachel, den
sie ziehen musste, einen Ball zu treten, der am Pfosten abprallt.
„Was meine Eltern wohl sagen werden?“, fragte sie, als sie mit zwei
gefüllten Rotweingläsern zurückkam. „Sie denken bestimmt, dass ich
niemals heiraten werde. Und stell dir mal Georg vor! Der wird gar nicht
begeistert sein“, sagte sie, setzte sich lachend und nippte an ihrem Wein.
Sie blickte Laurens von der Seite an.
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13 Barbara Klein: Dunkler Schnee
Laurens wandte seinen Blick weg vom See hin zu ihr und strahlte übers
ganze Gesicht. Er kramte etwas aus der Hosentasche und ließ es in
Marisas Glas fallen. „Alle werden sich freuen, mein Sonnenschein!“ Er
beugte sich zu ihr und küsste sie sanft. „Wir sind nun offiziell verlobt,
nicht?“
Marisa fischte aus dem Glas einen Ring und streifte ihn über den Finger.
Blutrot rann der Wein über ihre Hand. „Das will ich meinen!“, sagte sie
und schleckte die Tropfen ab. Sie setzte sich rittlings auf Laurens’ Schoß.
„Das wird eine Menge Leute überraschen.“
„Wir sind halt immer für eine Überraschung gut. Und Georg? Pah! Der soll
sich mal nicht so anstellen mit seinen Praxis-Regeln. Nur weil er unser
Boss ist, hat er noch lange nicht unser Privatleben zu beeinflussen. Er wird
sich damit abfinden müssen. Außerdem machen wir später sowieso
unsere eigene Praxis auf.“ Laurens lachte unbekümmert und zog Marisa
noch näher zu sich heran.
Marisa und Laurens arbeiteten beide als Physiotherapeuten in einer
Praxis in der Kölner Innenstadt. Georg Müller, der Inhaber der Praxis,
führte sein Team mit straffer Hand, unterstrich seine Autorität mit
cholerischen Ausbrüchen, die man ihm nicht selten verzieh, da es immer
wieder Laissez-Faire-Auszeiten gab und er durch fachliche Qualität und
kaufmännischen Ideenreichtum bestach. Marisa bewunderte dessen nie
versiegende Phantasie: Die Praxis wurde als Seminar- und
Ausstellungsraum und hin und wieder sogar als Filmset für ein
Fernsehteam genutzt, je nachdem, wer aus Georgs weitverzweigtem
Bekanntenkreis ein Bedürfnis nach Verwirklichung hatte. Der
Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad der Praxis stieg seit Jahren und
machte Georg zum beliebten Arbeitgeber. Deswegen oder wegen dessen
dunkler Augen, die nicht nur Marisa einst verlockend erschienen waren,
konnte er sich stupide Regeln für sein Team ausdenken. Die Weisung,
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14 Barbara Klein: Dunkler Schnee
keinerlei Beziehungen innerhalb des Kollegiums einzugehen, weil das nur
zu Konflikten führen würde, unter denen letztlich die Patienten und also
auch die Praxis zu leiden hätten, wirkte aus arbeitsrechtlicher Sicht
absurd. Dennoch hielten sich alle daran, zumindest die Fassade der
Unschuld aufrechtzuerhalten. So war es Marisa und Laurens bisher
gelungen, ihre Partnerschaft vor Georg geheim zu halten. Marisa gefiel
dieser Zustand schon lange nicht mehr; sie wollte nicht mehr so tun, als
wäre Laurens nur ein Kollege.
Sie hatte Laurens nie von ihrer kurzen Affäre mit Georg erzählt. Eigentlich
war es mehr ein Ausrutscher als eine Affäre gewesen. Während eines
Lehrganges in der Eifel hatte sie Georg kennengelernt. Er war damals
einer der Ausbilder. Ohne zu ahnen, dass sie eines Tages einmal
miteinander arbeiten würden, hatte Marisa sich auf einen Flirt mit dem
um einige Jahre älteren Georg eingelassen. Es war der letzte Abend, die
Stimmung ausgelassen, Wein und Bier in Massen getrunken, man war
schließlich im selben Bett gelandet. Für Marisa eine einmalige
Angelegenheit, Georg jedoch hatte durchblicken lassen, dass er das
Beisammensein mit ihr gerne wiederholen würde. Bei Tageslicht und
gesunkenem Alkoholpegel hatte der reife, erfahrene Ausbilder jedoch
mehr einer Karikatur seiner selbst geglichen; Marisa hatte ihn abgeblockt,
ein wenig zu brüsk vielleicht und ohne einen Zweifel an ihrer
Entscheidung. Es mochte ihn verletzt haben, trotzdem hatte er sie drei
Monate später eingestellt. Die Nacht in der Eifel war im Kästchen der
Erinnerungen verschwunden.
Die Arbeit in Georgs Praxis war in Ordnung. Georg war der neue Inhaber,
beworben hatte sich Marisa bei dessen Vorgänger. Sie hatte gedacht, es
werde schon gehen, einen anderen Job könne sie sich immer noch
suchen. Die Jahre vergingen, Marisa fühlte sich wohl im Team und hatte
das Vorhaben, eine andere Stelle zu suchen, auf die Wartebank
geschoben. Und dann war Laurens auf der Bildfläche erschienen. Ich
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15 Barbara Klein: Dunkler Schnee
bleibe, dachte Marisa jeden Tag, obwohl ihr der flatterhafte Georg mit
seinen unterschiedlichen Gemütslagen manchmal auf die Nerven ging. Es
fügte sich jedoch alles gut; Georg hatte verschiedene Beziehungen mit
verschiedenen Mitarbeiterinnen. Manche gingen, manche blieben. Was
für die Angestellten galt, war für den Chef nicht bindend. Er nahm sich,
was sich ihm bot, genoss sein Leben und seine Stellung auf ostentative
Art. Und in Marisas Leben hatte Laurens einen verbindlichen Platz
eingenommen. Groß und sportlich mit seinem goldenen Bürstenschnitt.
Ein wenig kantig im Umgang, doch nach und nach wurde er weich und
biegsam, und Marisa hatte schon früh tief in ihrem Inneren gefühlt, dass
da mehr möglich war als eine nette Bettgeschichte.
Für Georgs Geschäft war Laurens ein Segen. Die Gerüchte, die Praxis
stünde am Existenzminimum, machten seit den Einbußen durch die
Gesundheitsreform immer wieder die Runde, doch wegen Georgs
sprudelnder Ideen nahm niemand sie ernst. Doch dann war das Team um
eine noch in der Probezeit befindliche Mitarbeiterin verkleinert worden;
eine weitere Stelle war frei geworden durch einen ausscheidenden
Masseur, der sich in Bonn selbstständig machen wollte, und kein
Nachfolger wurde engagiert. Das hatte für erste Diskussionen gesorgt.
Weitere Gesprächsrunden zwischen Tür und Angel und nach
Dienstschluss waren gefolgt, weil Georg deutlich hatte durchblicken
lassen, warum er die männlichen Therapeuten den weiblichen
Patientinnen zuwies und umgekehrt.
Marisa fand es abscheulich, die Erfolgsgarantie von den niederen
Instinkten der Patienten abhängig zu machen. Laurens hatte schnell
erklärt, er hätte mit dieser Art der Prostitution kein Problem. Auf sein
strahlendes Lächeln und seine sanften Hände war er stolz. „Warum soll
ich den Frauen nicht gönnen, Phantasien zu haben?“, pflegte er zu sagen.
Diese Rechnung ging auf. Laurens’ Terminplan sowie die seiner
männlichen Kollegen waren immer voll. Georg Müller war zwar ebenfalls
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16 Barbara Klein: Dunkler Schnee
Therapeut, aber er legte am meisten Wert auf einen therapierten
Geldbeutel. Den bekam er, wenn die Kundschaft zufrieden war, und
zufrieden waren die Leute, wenn sie sich wohl behütet und geschmeichelt
fühlten. Seine Mitarbeiter verschafften ihm wieder den Luxus, sich hinter
seinem Schreibtisch verschanzen zu können und sich auf die Büroarbeiten
zu fokussieren, genauso wie auf seine weiblichen Mitarbeiter. Dass es
phasenweise recht ruhig um dessen amouröse Eskapaden war,
registrierten alle Angestellten mit Genugtuung. Die Gerüchte um die
schlecht gehende Praxis ließen nach, und die Stimmung wurde wieder
gut. Georg musste nicht selber Hand an die Patienten legen; er stieß mit
seinem Raucheratem sowieso nicht selten auf Ablehnung, konnte sich das
Paffen seiner Zigarillos aber weiterhin leisten, wenn der Laden lief.
Die zufriedenen Patienten stiegen nicht selten auf Zehnerkarten um,
wenn die Verschreibungen der Ärzte ausliefen, und wurden so zu den
begehrten Privatklienten. Viele wollten auf den einmal kennengelernten
Luxus der Massage nicht mehr verzichten.
Marisa besah sich Laurens’ Profil. Die Farbe der Dämmerung hatte sich in
seinem kurzgeschnittenen Haar festgesetzt, als wollte das Gold des Tages
auch in der Nacht leuchten.
„Was meinst du? Werden unsere Kinder nach dir oder mir schlagen?
Werden sie blond oder brünett?“
Er lächelte versonnen, nahm einen Schluck Wein und sah sie dann an.
„Egal wie, Hauptsache, es sind unsere Kinder.“