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BENELUX 6,80 / Österreich 6,80 / Schweiz 9,50 CHF G 6954 3/2016 Juni/Juli 6,00 Auferstanden: Büssing-NAG 650 Aufbewahrt: Sigurds Scania-Sammlung Auftakt: Kipper in Geilenkirchen

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Page 1: Auferstanden: büssing-nAG 650 Aufbewahrt: Sigurds …¼ssing/... · Markante Nase: Die charakteristische Büssing-Spinne trug der Typ 650 schon bei seiner Markteinführung 1936.

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3/2016Juni/Juli 6,00 €

Auferstanden: büssing-nAG 650

Aufbewahrt: Sigurds Scania-Sammlung

Auftakt: Kipper in Geilenkirchen

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In Rekordzeit

restauriert:

Büssing-NAG 650

Wenn die Verantwortlichen eines führenden europäischen Lebens-mittel-Logistikers nicht lange vor dem 80. Geburtstag des Fami-lienunternehmens beschließen, den Fuhrpark um einen Lastzug aus den Gründerjahren der Firma zu erweitern, lässt das ein hohes Maß an Traditionsbewusstsein vermuten. Und tatsächlich wird Tradition bei der Nagel-Group im westfälischen Versmold groß geschrieben. Pünktlich zum Ju-biläum hat man dort einen be-eindruckenden Kühlzug auf die gusseisernen Trilex-Räder gestellt.

Emil Bölling was not amused! Als Horst Gassmann, der damalige Eigner des mobilen alga-Nutzfahrzeugmuseums in Sittensen, ihm 2012 vom Verkauf des braunen Büssing-NAG 650 an die Nagel-Group berichtete, befürchtete Bölling Schlimmes für die Zukunft des von ihm noch vor der Wende in der DDR erworbenen Haubenwagens. Da werde für einen Werbe-Oldtimer wert-volle Originalsubstanz unwiederbring-lich zerstört, wetterte ein aufgebrachter Emil im kleinen Kreis – und lag damit komplett falsch! Denn erstens hatte,

objektiv betrachtet, jahrzehntelanger DDR-Alltag von der Originalsubstanz des 1939 gebauten Schwerlastwagens nur noch wenig Erhaltenswertes übrig gelassen. Und zweitens konnte Emil seinerzeit nicht ahnen, welche Mühe man sich in Versmold mit dem Büssing-Projekt geben würde.

Sinn für Tradition: Pünktlich zum 80-jährigen Firmenjubi-läum erinnert bei der Nagel-Group in Versmold seit 2015 ein neu aufgebauter Büssing-NAG 650 an die Gründerjahre des Unternehmens.

Seinen Anfang hatte das ehrgeizige Re-staurationsprojekt zu Beginn des Jah-res 2012 genommen, als Tobias Nagel, geschäftsführender Gesellschafter der Nagel-Group und Enkel des Firmen-gründers Kurt Nagel, die Idee vom Traditionslaster als greifbares Stück Firmenhistorie ins Rollen brachte. Zwar erwies sich der Wunsch nach einem Fahrzeug aus dem Gründerjahr 1935 als kurzfristig nicht realisierbar, doch bald darauf landete eine Anfrage der Nagel-Fuhrparkverwaltung auf dem Schreib-tisch von Horst Gassmann, der gerade

im Begriff war, die ehemalige Bölling-Sammlung komplett oder in Teilen zu veräußern. Mit dem Büssing-NAG 650 konnte er einen Lastwagen anbieten, der zwar kein exaktes Vorbild in der einstigen Flotte der Gebrüder Nagel hatte, der aber dem Büssing 8000 sehr ähnlich sah, den Kurt und Rudolf Nagel als eines der ersten Fahrzeuge nach Kriegsende neu gekauft hatten. Ther-mosaufbau und -anhänger des 8000 hatte seinerzeit Karossier Schmitz aus Altenberge (heute: Schmitz Cargo bull) geliefert, der sich in den Jahrzehnten danach zum regelmäßigen Lieferanten des später als Kraftverkehr Nagel firmie-renden Unternehmens mauserte.

Nachdem das Restaurationsobjekt im Juni 2012 auf Achse(!) in Versmold eingetroffen war, trat Christian Teuber (46) auf den Plan. Der gelernte Karosse-rie- und Fahrzeugbaumeister arbeitet in der Fuhrparkverwaltung des Unterneh-mens und war von seinem Vorgesetzten gefragt worden, ob er sich eine feder-führende Mitarbeit am Büssing-Projekt vorstellen könne. Christian konnte! Er und sein Kollege Viktor Ens (37), eben-falls Karosserie- und Fahrzeugbauer, starteten mit Vollgas in die Welt der Nutzfahrzeug-Oldtimer, mit denen die beiden bis dato nur wenig zu tun gehabt hatten. Fest stand zu diesem Zeitpunkt lediglich, dass aus dem Büs-sing – getreu der Firmentradition – ein Thermoslastwagen werden sollte. Die genaue Ausführung des Neubaus stand allerdings noch in den Sternen.

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Erst als sich Schmitz Cargobull nach langen und zähen Verhandlungen von einem dort noch vorhandenen, dreiachsigen Kühlanhänger des Typs GE 24 trennte, war auch das Blechkleid des Zugfahrzeugs beschlossene Sache: Passend zum 1950 gebauten Anhän-ger sollte der Neuaufbau des Büssing den Schmitz-Spezifikationen dieser Zeit entsprechen.Bei der Karosseriebaufirma Niehoff in Füchtorf holten sich die beiden Oldtimer-Novizen Schützenhilfe. Seniorchef Heinrich Niehoff hatte vor vielen Jahrzehnten das blechbe-plankte Holzfahrerhaus eines Büs-sing 8000 als Meisterstück gebaut. Die 1:1-Zeichnungen dazu waren auf vergilbten Tapetenrollen noch immer vorhanden und dienten nun als wert-volle Hilfe bei der Rekonstruktion der hölzernen Hütte! Als nicht weniger wertvoll erwiesen sich auch die Origi-nalzeichnungen der Haubenbleche aus dem Braunschweiger Büssing-Werks-archiv, die der Oldtimerfreund Carsten

Messer den Restaurierern zugänglich machte. Auf Basis dieser Zeichnungen baute Viktor die Original-Beblechung der langen Büssing-Haube und die geprägte Stoßstange nach. Das stark unterrostete Chassis des mehr als sie-ben Jahrzehnte alten Lastwagens war in der Zwischenzeit aufgenietet, per Sandstrahl vom ‚Blätterteig’ befreit, neu vernietet und lackiert worden. Der 145 PS starke GD 6-Motor befand sich zu diesem Zeitpunkt längst bei Axel Bergmann, in dessen Versmolder Nutz-fahrzeug-Werkstatt der Reihensechszy-linder zu neuem Leben erwachen sollte. Trotz langer Einsatzjahre in der DDR überraschte der Vorkammer-Diesel mit erstaunlich guter Substanz. Nach Zerlegung und einer gründlichen Rei-nigung erhielt er neue Kolbenringe, eine überholte Einspritzpumpe samt Düsen, sowie neue Wasserführungsrohre und Kühlerelemente. Eine finale Abdichtung machte den Motor und auch die ro-buste Hinterachse schon nach kurzer Zeit wieder einbaufertig.

Verlebt aber fahrbereit: Büssing 1996.

Völlig marode: Schmitz GE 24 von 1950.

Könnte was werden: Restauriertes Chassis. Großer Fortschritt: Der Aufbau wächst!

Maßarbeit: Die neue Motorhaube.Blätterteig: Das gestrippte Chassis.

Tapetenpläne: Rohbaufahrerhaus.

Stabiler Rücken: Das Anhänger-Chassis. Plattenbau: Bald kommt der Lack…

Vollblut-Karosseriebauer: Bei Christian Teuber (links) und Viktor Ens war das Büssing-Projekt in den besten Händen.

Robuste Natur: Der GD 6-Reihensechszy-linder hatte die harten Jahre in der DDR erstaunlich gut überstanden.

Als das hölzerne Fachwerk des Fahrer-hauses mit Stahlblech beplankt war, durfte es erstmals seinen Platz auf dem Rahmen einnehmen. Nun konnte es nahtlos mit der Rekonstruktion des alubeplankten Kühlaufbaus weiterge-hen, die bei der Firma Niehoff nach Schmitz-Plänen mit Originalbauteilen aus den 1950er Jahren durchgeführt wurde. Sogar zeitgenössische Türbe-schläge tauchten in einer verstaubten Kiste ganz hinten im Lager noch auf! Kurz vor dem Abschluss der Arbeiten am Büssing fiel der Startschuss für den Anhänger. Dessen Substanz hatte in den vergangenen 64 Jahren allerdings derart gelitten, dass neben Beblechung und Dach auch der komplette Rahmen neu aufgebaut werden musste. Weil die ursprünglich auf dem Dreiachser mon-tierten Reifen des Formats 14.00-22 heutzutage weder für Geld noch gute Worte aufzutreiben sind, rollt er heute auf Pneus der Größe 14.00-20.Unmittelbar nach seinem Einstieg in das Büssing-Projekt hatte Christian Teuber den Fuhrunternehmer, Entsor-ger und Oldtimerfreund Gisbert Suden aus Dorsten kennengelernt. Suden, seit 15 Jahren ebenfalls stolzer Besitzer eines Büssing-NAG 650, kam mit der Restaurierung seines Pritschenwagens nicht mehr so recht voran. Zwar waren Fahrerhaus und Aufbau längst rund-erneuert, doch die Instandsetzung der Technik hatte sich durch diverse Pro-bleme mehrfach verzögert.

Auf kleinem Fuß: Der Nagel-Büssing rollt auf Reifen der originalen Dimension 12.00-20. Wahlweise gab es ihn damals auch mit den grö-ßeren 22“-Rädern.

Fordert den ganzen Kerl: Das hölzerne Original-lenk rad lässt keinen Zweifel daran, dass man es bei dem 650 mit einem Vorkriegslastwagen zu tun hat.

Zyklopenauge: Der zentral angeordnete Notek-Nebelscheinwerfer gilt unter Kennern als echte Rarität.

Fotos: H. Gräf / Chr. Teuber

Markante Nase: Die charakteristische Büssing-Spinne trug der Typ 650 schon bei seiner Markteinführung 1936.

Vorkriegs-Sound: Experten erkennen den niedrig dre-henden GD 6-Motor schon von weitem an seinem dumpfen Klang.

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Nachdem Christian und Viktor zum Informationsaustausch nach Dorsten gereist waren, stießen sie mit ihren Fragen bei Gisbert Suden und seinem hilfsbereiten Schrauber-Team auf of-fene Ohren. Dank ihrer 15 Jahre Re-staurierungs-Vorsprung konnten die Jungs aus dem Ruhrgebiet den Neulin-gen aus Versmold wertvolle Tipps und Anregungen liefern. „Ohne die Hilfe aus Dorsten“, ist sich Christian Teuber sicher, „wäre unser Auto bis heute nicht fertig!“ Schon nach kurzer Zeit war aus dem zunächst rein informellen Kontakt zwischen den beiden Schrauber-Teams eine echte Freundschaft entstanden, die den Endspurt beider Restaurierungen zu einem Gemeinschaftsprojekt werden ließ, in dessen Verlauf sich die Beteilig-ten gegenseitig halfen und motivierten. Denn noch war eine Menge Detailar-beit zu leisten, zudem fehlten zahllose zeitgenössische Anbau- und Zubehör-teile. Hier erwies sich Sascha Theopold als kompetenter Helfer: Von speziellen Elektrik-Teilen über die riesigen Bosch-Scheinwerfer, das Anhängerdreieck und den einzelnen Notek-Nebelstrahler bis hin zur originalen Büssing-Anhänger-kupplung beschaffte der Teilehändler aus Lemgo diverse Raritäten, die an einem vor dem Krieg gebauten Fahr-zeug nicht fehlen dürfen.

Auf ebenso aufwändige wie geniale Weise löste Viktor Ens in der Zwischen-zeit eines der letzten noch verbliebenen Probleme: Aus zuvor eigens gefrästen Alu-Profilen bog er die ausstellbaren Frontscheibenrahmen des Büssing! Blieb noch die Lackierung des gesamten Zuges in elfenbein (RAL 1014), lichtblau (RAL 5012) und kieselgrau (RAL 7032), den langjährigen Firmenfarben der Nagel-Group. Bei der anschließenden, per Hand (!) aufgemalten Beschriftung bewiesen die Verantwortlichen erneut ihren Sinn für Historie und verzichteten ganz bewusst auf neuzeitliche Schriftty-pen und Inhalte! Mit der Fertigstellung des Schmitz-Anhängers war die Restau-rierung des Kühlzuges im September 2015 abgeschlossen. Kurz darauf knall-ten auch bei der zweiten 650er-Restau-rierung in Dorsten die Sektkorken. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, die wir ebenfalls noch erzählen werden!Das beeindruckende Ergebnis der general stabsmäßig durchgezogenen Restaurierung ist auf diesen Seiten zu sehen: Ein Lastwagen der 1930er Jahre, der mit einem 1950 gebauten Kühlanhänger und einem rekonstru-ierten Schmitz-Kühlaufbau der Nach-kriegszeit kombiniert wurde – ganz so, wie es bei zahllosen Spediteuren in den frühen Jahren des bundes-deutschen Wirtschaftswunders gang und gäbe war. Wirklich schade, dass Emil Bölling die Wiedergeburt ‚seines’ Büssing-NAG 650 nicht mehr erleben durfte. Seine anfängliche Skepsis wäre wohl rasch in echte Begeisterung um-geschlagen. Holger Gräf

Rekonstruktion mit Gefühl: Zahlreiche originale Details rund um den Thermoszug machen klar, dass dieser Büssing durchaus schon in den 1950er Jahren für Kurt Nagel hätte unterwegs gewesen sein können.

Hohe Ladekante: Die stattliche 14.00-20er Bereifung lässt den Schmitz-Dreiachser unbeladen etwas hochbeinig wirken.

Große Freude über kleine Dinge: Ein ori-ginaler Büssing-NAG-Tacho landete erst im Verlauf der Restaurierung in Versmold.

Im Lauf der Geschichte abhanden gekommen: Fehlende Details wie die Schlepphaken oberhalb der Stoßstange mussten ebenso aufwändig nachgefertigt werden, wie die Stoßstange selbst.

Bewährt: Die im 650 verbaute Antriebs-achse verwendete Büssing auch nach dem Krieg noch im Schwerlastwagen 7000.

Löwenbruder: Über die nicht immer ganz einfache Restaurierung von Gisbert Sudens Büssing-NAG 650, der fast zeitgleich mit dem Nagel-Kühlzug fertig wurde, berichten wir ausführlich in einer der kommenden HiK-Ausgaben.

Visitenkarte: Schmitz aus Altenberge be lieferte den Kraftverkehr Nagel viele Jahre lang mit Aufbauten und Anhängern.

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