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Studienjahr Phil.-Theol. Hochschule St. Pölten (Wintersemester 2018/19) AT-Grundkurs I: Tora Literaturhinweise Zum Pentateuch als Ganzen, zur Entstehung und den einzelnen „Werken“: Abschnitt „Die Bücher der Tora/des Pentateuch“ (von Erich Zenger/Christian Frevel bzw. zum Deuteronomium von Georg Braulik). In: Einleitung in das Alte Testament. Hrsg. v. Erich Zenger u.a.. 9., aktualisierte Ausgabe hrsg. von Christian Frevel (Kohlhammer Studienbücher Theologie Bd. 1,1). Stuttgart: Kohlhammer, S. 67-227. Bibel und Kirche 53 (1998) Heft 3 = Themenheft „Wie entstand der Pentateuch?“. Darin: Frank- Lothar Hossfeld: Die Tora und der Pentateuch – Anfang und Basis des Alten und Ersten Testa- ments (S. 106-112); Christoph Dohmen: Wenn die Argumente ausgehen… Anmerkungen zur Kri- senstimmung in der Pentateuchforschung (S. 113-117); Ernst Axel Knauf: Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion (S. 118-126). Zur Urgeschichte Gen 1-11: Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD 1). Göttin- gen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. Josef Scharbert, Genesis 1-11. Würzburg 1983 (Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament mit der Einheitsübersetzung Lfg. 5). Claus Westermann, Genesis 1-11. Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1976 (Biblischer Kommentar zum Alten Testament Bd. I/1). Zur priesterschriftlichen Urgeschichte: Erich Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte. Stuttgart 1983 (Stuttgarter Bibelstudien 111).

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  • Studienjahr Phil.-Theol. Hochschule St. Pölten (Wintersemester 2018/19)

    AT-Grundkurs I: Tora

    Literaturhinweise

    Zum Pentateuch als Ganzen, zur Entstehung und den einzelnen „Werken“: Abschnitt „Die Bücher der Tora/des Pentateuch“ (von Erich Zenger/Christian Frevel bzw. zum Deuteronomium von Georg Braulik). In: Einleitung in das Alte Testament. Hrsg. v. Erich Zenger u.a.. 9., aktualisierte Ausgabe hrsg. von Christian Frevel (Kohlhammer Studienbücher Theologie Bd. 1,1). Stuttgart: Kohlhammer, S.67-227. Bibel und Kirche 53 (1998) Heft 3 = Themenheft „Wie entstand der Pentateuch?“. Darin: Frank-Lothar Hossfeld: Die Tora und der Pentateuch – Anfang und Basis des Alten und Ersten Testa-ments (S. 106-112); Christoph Dohmen: Wenn die Argumente ausgehen… Anmerkungen zur Kri-senstimmung in der Pentateuchforschung (S. 113-117); Ernst Axel Knauf: Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion (S. 118-126).

    Zur Urgeschichte Gen 1-11: Jan Christian Gertz, Das erste Buch Mose (Genesis). Die Urgeschichte Gen 1-11 (ATD 1). Göttin-gen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018.

    Josef Scharbert, Genesis 1-11. Würzburg 1983 (Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Alten Testament mit der Einheitsübersetzung Lfg. 5).

    Claus Westermann, Genesis 1-11. Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 1976 (Biblischer Kommentar zum Alten Testament Bd. I/1).

    Zur priesterschriftlichen Urgeschichte: Erich Zenger, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte. Stuttgart 1983 (Stuttgarter Bibelstudien 111).

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    I. Einführung: die Bücher der Tora als Gesamtwerk und ihre Entstehung

    1. Die Tora/der Pentateuch als Ganzes

    Die in der christlichen Tradition geläufige Bezeichnung „Pentateuch“ bzw. „Die fünf Bücher Mose“ (so bevorzugt im protestantischen Bereich), die aus dem Griechischen kommt (ἡ πεντάτευχος „das fünfteilige Buch“), nimmt die aus fünf Büchern bzw. Buchteilen bestehende Komposition in den Blick, während die in der jüdischen Tradition übliche Bezeichnung „die Tora“ („die Tora des Mo-se“, „Buch der Tora des Mose“) stärker die Ganzheit der Komposition und ihren inhaltlich-funktio-nellen Zusammenhang betont. Berücksichtigt man den Geschehensbogen, der über den Tod des Mose hinaus zu der im Buch Josua geschilderten Eroberung des Gelobten Landes führt – Jos 24 stellt die Landnahme als Zielpunkt der in Genesis eröffneten Heilsgeschichte dar! – wäre von einem „Hexateuch“, einem „sechsteiligen Buch“ von Genesis bis Josua zu sprechen. Eigentlich sind unter dem Gesichtspunkt einer geschlossenen Geschichtsdarstellung bis hinab in das babylonische Exil auch das Buch der Richter, die Bücher Samuel und Könige hinzuzuziehen und von einem „neuntei-ligen Buch“ Gen - 2 Kön („Enneateuch“) auszugehen. Doch ist nicht zu übersehen, dass innerhalb des Erzählbogens von der Schöpfung bis zur Landnahme bzw. von der Schöpfung bis zum Exil der Pentateuch „eine in sich abgerundete und gegenüber den nachfolgenden Büchern abgegrenzte Grö-ße markiert…“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 71) Das wird an der Nahtstelle zwischen Dtn und Jos deutlich, wenn etwa im sogenannten „Mose-Epitaph“ Dtn 34,10-12 die Sonderstellung des Mose gegenüber allen Propheten und auch gegenüber seinem Nachfolger Josua hervorgestrichen wird („Niemals wieder ist in Israel ein Prophet aufgestanden wie Mose…“) und in Jos 1,7-8 auf das im Pentateuch Dargestellte wie auf ein abgeschlossenes Ganzes Bezug genommen wird („Das Buch der Tora soll nie aus deinem Mund weichen, du sollst sie rezitieren bei Tag und Nacht…“).

    Die Abtrennung der „fünf Bücher“ geschah nicht nach buchtechnischen sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten. So erhielt jedes Buch ein eigenes Profil:

    a) Genesis (Γένησις „Ursprung“ – bÜr™¡√ît „im Anfang“) Gen 1-9 erzählt die Urgeschichte die Schöpfung der Welt in 2 Akten (Gen 1,1-2,3 Errichtung der Erde als Lebensraum und Gen 9 Bund des Schöpfergottes „mit allem Lebendigen“) und die Gefähr-dung der Schöpfung durch die Ursünde gegen Gott (Adam und Eva) und den Menschen (Kain und Abel). Es folgt ab Kap. 12 in drei Erzählbögen die drei Generationen umfassende Familiengeschich-te der Erzeltern Israels (12,1-25,11 Abraham und Sara, wobei Kap. 12-15 das verheißene Land und seine Gefährdung, Kap. 16-22 die verheißene Nachkommenschaft und ihre Gefährdung im Zent-rum steht; 25,12-36,34 Jakob-Lea-Rahel-Zyklus; 37-50 Josef-Zyklus). Das Buch endet mit der No-tiz vom Tod Jakobs und Josefs und blickt mit dem Auftrag des Josef, seine Gebeine beim Auszug aus Ägypten in das von den Vätern verheißene Land mitzunehmen (Gen 50,24), auf das in den fol-genden Büchern Geschilderte voraus. Das Buch Genesis ist mit dem folgenden Erzählfluss auch besonders durch die 12 Söhne Jakobs verknüpft, die im weiteren Verlauf zu Gründungsfiguren der 12 Stämme Israels werden.

    b) Exodus (Ἒξοδος „Auszug“ – √Ümôt „Namen“) Das Buch Exodus erzählt den Anfang der Volksgeschichte Israels als Herausführung der zu einem großen Volk gewordenen Nachkommen der 12 Söhne Jakobs. „Der erste Erzählbogen 1,1-18,27 schildert die Unterdrückung Israels durch den Pharao und die Verheißung der Rettung an/durch Mose (1-6), das Ringen JHWHs mit dem Pharao um die Freilassung Israels (Ex 7-11: die sog. Pla-gengeschichten), den Auszug aus Ägypten und die wunderbare Rettung Israels am Meer (12-15) und Israels Weg durch die Wüste hin zum Berg Sinai (15,22-18,27). Während Israel auf wunderba-re Weise mit Manna versorgt wird, weist das Übergangskapitel Ex 18 (durch einen Nicht-Israeliten) auf die Notwendigkeit von Gesetzen als Grundlage des Zusammenlebens. Diese gibt Mose auf dem

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    Sinai. Dort offenbart sich JHWH, wie der zweite Erzählbogen 19,1-24,11 darstellt. Er verkündet den Dekalog und schließt mit Israel, durch Vermittlung von Mose, den Sinaibund (19-24). Im drit-ten Erzählbogen 24,12-40,38 erhält Mose auf dem Berg Sinai zunächst den Auftrag an Israel zur Errichtung des Zeltheiligtums (‚Stiftshütte‘), in dem JHWH in der Mitte seines Volkes dauerhaft präsent sein will, und zur Einsetzung des priesterlichen Dienstes (24,12-31,19), während das Volk unten am Berg unter Führung des Aaron durch die Verehrung des Goldenen Kalbs den Bund über-tritt…“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 74f) Der Abfall von JHWH durch den Kult vor dem Golde-nen Kalb, gefolgt vom Ringen um die bleibende Zuwendung JHWHs und schließlich die Verge-bung und erneute Proklamation des Bundes durch JHWH wird in Kap. 32-34 geschildert. Erst dann wird der dem Mose auf dem Sinai erteilte Auftrag zur Errichtung des Heiligtums ausgeführt, was die Voraussetzung für seine Inbesitznahme durch den Exodus-Gott (Gegenwart JHWHs in der Wolke) ist (Ex 40,34-38, zugleich Buchschluss).

    c) Levitikus (Λευιτικόν „das levitische/priesterliche Gesetzbuch“ – wayyiqrå¡ „er rief“) Der Buchanfang Lev 1,1 charakterisiert das Folgende als Gottesrede „mitten aus dem Offenba-rungszelt“, womit die im Buch Levitikus enthaltene levitische/priesterliche Grundordnung Israels als „heiliges Volk“ zurückgebunden wird an den Schluss des Buches Exodus („Zelt der Begegnung“). Es ist ein spannungsreiches Ineinander von kultischen und ethischen Regelungen, die alle Lebensbe-reiche durchziehen. Der ursprüngliche Buchschluss findet sich Lev 26,46: „Das sind die Satzungen, Vorschriften und Gesetze, die JHWH gegeben hat für das Verhältnis zwischen ihm und zwischen den Kindern Israels am Sinai durch Mose.“ Lev 27, das die Auslösung von Personen und Gegen-ständen, die Gott durch ein Gelübde versprochen waren, behandelt, ist ein Nachtrag zur Endkom-position, der durch Wiederholung des ursprünglichen Buchschlusses angezeigt ist (27,34 „Das sind die Gebote, die JHWH dem Mose für die Israeliten auf dem Sinai gegeben hat“).

    d) Numeri (Ἀριθμοί „Zahlen/Zählung“ – bÜmidbar „in der Wüste“) Der Buchanfang Num 1,1 bringt eine gegenüber Lev 1,1 veränderte Ortsangabe („in der Wüste“) und lenkt mit der Zeitangabe („am ersten Tag des zweiten Monats nach dem Auszug aus Ägypten“) den Blick zurück auf das Buch Exodus. Das Buch Numeri erzählt in drei Teilen den Weg Israels vom Sinai durch die Wüste bis an die Grenze des Gelobten Landes: „Der erste Teil (1,1-10,10) kon-stituiert Israel als ‚heilige‘ Gemeinschaft. … Der Mittelteil (10,11-25,18), dessen Neueinsatz deut-lich markiert ist (10,11f: Zeitangabe, Signal der Wolke, Aufbruchsnotiz), erzählt die dramatische Wüstenwanderung in drei Etappen, die jeweils positiv beginnen (Aufbruch, Landperspektive, erste Siege über die Landesbewohner) und mit einem Tiefpunkt (gescheiterte Landnahme, Vergehen der Führer, Vergehen des Volkes) enden (…). Indem sich das im Segen Israels verkörperte Positive im-mer stärker durchsetzt, wird gezeigt, dass JHWH seine Zusagen einhält und sein – wenn auch erst die Nachkommen der Exodusgeneration (14.30-34) – in das Land führen wird. … Der dritte Teil (25,19-36,13) bringt für den abermals durch ein Zählung als Stämmegemeinschaft gegliederte Volk Anweisungen für die Verteilung des verheißenen Landes, sowohl östlich als auch westlich des Jor-dan, und für die Vererbung des Landes nach der Landnahme.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 77) Der Buchschluss Num 36,13 weist auf die Buchschlüsse in Lev 26,46 und 27,34 zurück und auf den Buchanfang in Dtn 1,1-5 voraus: „Dies sind die Gebote und die Rechtsvorschriften, die JHWH geboten hat durch Mose zu den Kindern Israels in den Gefilden von Moab am Jordan bei Jericho.“

    e) Deuteronomium (Δευτερονόμιον „das zweite Gesetz/die zweite Ausgabe des Gesetzes“ – dÜbårîm „Worte“) Der Buchanfang Dtn 1,1-5 gibt sich hinsichtlich der topographischen Situierung („jenseits des Jor-dan im Lande Moab…“) als Fortsetzung des Schlusses von Num, markiert aber gegenüber den vo-rangehenden Büchern einen Neueinsatz, insofern jetzt Mose als Sprecher eingeführt wird – das Dtn ist als „Testament“ des Mose gestaltet und schildert die Ereignisse am Todestag des Mose, 40 Jahre nach dem Auszug aus Ägypten (1,3; 32,48): „Dies sind die Worte, die geredet hat Mose zu ganz

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    Israel jenseits des Jordan…“ Es ist eine vierteilige, durch entsprechende Überschriften (1,1: „Dies sind die Worte…“, 4,44: „Dies ist die Tora…“, 28,69: „Dies sind die Worte des Bundes…“, 33,1 „Dies ist der Segen…“) gegliederte Redenkomposition mit dem Akzent auf der Tora/dem Gesetz des Mose (5-28). Dtn 1,1-4,43 fasst die 40jährige Wanderung vom Horeb (= Berg Sinai) bis nach Moab, also den Inhalt der Bücher Ex und Num zusammen, gipfelnd in einer Paränese über das Le-ben im Gelobten Land (Kap. 4). Dtn 28,69-32,63 enthält die Proklamation des „Moab-Bundes“ auf der Basis von Dtn 5-28 (Kap. 31: Einsetzung Josuas zum Nachfolger des Mose, Kap 32 das soge-nannte Moselied als poetische Zusammenfassung von Dtn 1-28). Dtn 33-34 enthält den Segen des sterbenden Mose über die 12 Stämme und berichtet über den Tod des Mose und das Begräbnis durch JHWH. Der Buchschluss Dtn 34,10-12, der sich zugleich als Abschluss des Pentateuch ver-steht, streicht Moses Einzigartigkeit heraus (sog. „Mose-Epitaph“). Indem sich das Dtn – nach dem am Sinai/Horeb gegebenen Gesetz – als „zweites Gesetz“ inszeniert und von einem – neben dem Bundesschluss am Sinai/Horeb – weiteren Bundesschluss in Moab kündet, verweist es auf das in Ex bis Num berichtete Geschehen. Durch den oftmals wiederholten Hinweis auf das „den Vätern ver-heißene Land“ wird aber auch bewusst der Bogen zum Buch Gen geschlagen.

    Fragt man nach dem roten Faden in der Komposition des Pentateuch, stößt man zunächst auf die Gestalt des Mose – er ist von Ex bis Dtn (Ex 2 Geburt; Dtn 34 Tod) der Hauptakteur – und auf die Landverheißung als Eid an die Erzväter als Leithema, das sich durch alle fünf Bücher zieht: „Auf der Erzählebene lässt sich der Pentateuch als der spannungsreiche Weg Israels in das Land der den Er-zeltern gegebenen Verheißung lesen, der mit Abrahams Herausrufung aus der Völkerwelt beginnt und mit einem ‚offenen Schluss‘ an der Grenze zum Gelobten Land endet…“ (Zenger/Frevel, Ein-leitung S. 79) Dass das „Land der Verheißung“ die motivliche Klammer bildet, durch die die beiden Protagonisten dieses Weges, nämlich Abraham und Mose, miteinander verbunden sind, zeigt ein Vergleich von Gen 12,1.7 mit Dtn 34,1.4: JHWH lässt Abraham und Mose das Land „schauen“, das er ihren Nachkommen „geben“ werde.

    Es ergibt sich ein spiegelbildlicher Aufbau des Pentateuch um das Buch Levitikus als theologisches Zentrum. Gen und Dtn bilden den äußeren Rahmen: Der Weltschöpfung und Verheißung des Landes entsprechen in Dtn die Weisungen für das Leben im Lande der Verheißung, in Gen wie in Dtn findet sich der Auftrag zum Gehen in das Land, und der Schluss in Gen 49-50 (Segen Jakobs über die 12 Söhne, Tod Jakobs, Begräbnis Jakobs im Lande der Verheißung) entspricht dem Schluss in Dtn 33-34 (Segen des Mose über 12 Stämme, Tod des Mose, Begräbnis des Mose durch JHWH „im Himmel“). Ex und Num bilden den inneren Rahmen, der durch die Parallelisierung zahlreicher Begebenheiten auf dem Weg von Ägypten durch die Wüste zum Sinai (Ex) bzw. vom Sinai durch die Wüste nach Moab (Num) unterstrichen wird: Pesach (Ex 12 und Num 9,1-14), Manna und Wachteln (Ex 16 und Num 11), Wasser aus dem Felsen (Ex 17 und Num 20), Amtseinsetzung von Richtern und Ältesten (Ex 18 und Num 11), Götzendienst (Ex 32 und Num 25), Bedrohungen durch Ägypten und die Amalekiter (Ex) bzw. Moab und die Midianiter (Num); sechs Wandernoti-zen („sie brachen auf von … und lagerten in …“) strukturieren den Weg durch die Wüste in Ex (12,37; 13,20; 14,1f.; 15,22; 16,1; 17,1) wie in Num (10,12; 20,1; 20,22; 21,10-11; 22,1; 25,1). Im Zentrum entwirft das Buch Levitikus die bleibend-gültige Haus- und Lebensordnung des heiligen Gottes für sein heiliges Volk Israel, und zwar gerahmt von situationsbezogenen Instruktionen in Ex 25-40 („bauliche“ Voraussetzungen) und Num 1-10 („organisatorische“ Voraussetzungen).

    Gen 1-9 steckt „den theologisch-hermeneutischen Rahmen ab, der dann mit der in Gen–Dtn er-zählten Ursprungsgeschichte Israels ausgefüllt wird. Es zum einen die in der Welt als Schöpfung Gottes gegen das Chaos konstituierte Lebensordnung der unterschiedlichen Lebensräume und Le-benszeiten für die unterschiedlichen Lebewesen. Und es ist zum anderen die in der Urgeschichte, insbesondere in den Erzählungen über die Sintflut, narrativ vermittelte Theologie vom barmherzi-

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    gen Gott, der einerseits die Sünde nicht bagatellisiert und der andererseits die Sünder ‚nach der Flut‘ künftig am Leben lässt, weil er das Leben liebt.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 81)

    Es ist ein „Verheißungsbogen“, der dem Pentateuch geradezu eine „prophetische Perspektive“ ver-leiht (vgl. besonders die Proklamation Moses als einzigartigen „Propheten“ in Dtn 34,10-12). Der nicht enden wollende Weg Israels durch die Wüste an die Schwelle des verheißenen Landes wird durch den Aufenthalt am Sinai unterbrochen, wo Israel, wie Ex 19,4 sagt, gleichsam „bei Gott“ ist und zum heiligen priesterlichen Volk geweiht wird (Ex 19,4; 24,8). „Was dies für Israel bedeutet, was ihm damit geschenkt ist und wie dieses Geschenk bewahrt werden kann, reflektieren die hinte-ren Teile des Buches Exodus, der erste Teil des Buches Numeri, vor allem aber das Buch Levitikus. Nach dem mühsamen Weg durch die Wüste und nach dem von Israel selbst verschuldeten Wüs-tenaufenthalt von vierzig Jahren, nach dem Tod der sündigen Exodusgeneration, der gleichwohl nicht das Ende Israels gebracht hat, rekapituliert Mose vor seinem Tod die am Sinai gegebenen Got-tesgebote und schwört Israel für das Leben im verheißenen Land auf sie ein“ (Zenger/Frevel, Einlei-tung S. 72f.)

    Entscheidend für das Verständnis des Pentateuch ist die Erkenntnis, dass erzählende/narrative und gebietende/regulative/appellative Texte einander die Waage halten und oft kunstvoll ineinander verwoben sind. Die überwiegende Mehrheit der regulativen Texte sind unmittelbar mit dem Sinai als Ort der Gottesoffenbarung und mit der Konstitution Israels als Gottesvolk verbunden. Teilwei-se begegnen sie in Gestalt strukturierter Rechtskorpora (Ex 21-23: das „Bundesbuch“, Lev 17-26: das „Heiligkeitsgesetz“, Dtn 5-28: das „zweite Gesetz“). Besonders die Bücher Lev und Num zeigen ein subtiles Gewebe von legislativen und narrativen Texten. Aber auch die Erzählungen des Buches Gen haben fallweise einen normativen Hintergrund. So sind die sogenannten „Noachidischen Ge-bote“ (Gen 9,3-6) – als „Tora für die Völker“ – in die urgeschichtliche Schöpfungserzählung einge-bunden, das Gebot der Beschneidung (Gen 17) in die Abrahamerzählung und die Passah-Mazzot-Bestimmungen in die Exoduserzählung (Ex 12-13). Diese Beobachtungen verweisen auf eine „dia-lektische Struktur von Geschichte und Gesetz. Das ‚Gesetz‘ wächst jeweils aus der ‚Geschichte‘ her-aus und will zugleich die Dynamik der ‚Geschichte‘ schützen und offenhalten. Beispielhaft lässt sich dieses dynamisierende Ineinander von ‚Geschichte‘ und ‚Gesetz‘ (d.h. von Wirken und Willen Got-tes) an der Struktur der biblischen Zehn Gebote (Ex 20,2-17 ||Dtn 5,6-21) ablesen. Grundlegend ist die am Anfang (Ex 20,2 = Dtn 5,6) als ‚Basis-Satz‘ genannte Befreiung Israels aus Ägypten (‚Ge-schichte‘); Intention der dann folgenden Gebote/Verbote (‚Gesetz‘) ist die Bewahrung und Bewäh-rung dieser gottgewirkten und gottgewollten Freiheit, damit die Befreiungsgeschichte weitergeht.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 84) Der vor allem in der reformatorischen Tradition im Blick auf die Tora und das Judentum geäußerte Vorwurf der „Gesetzlichkeit“ verkennt die skizzierte Makro-struktur der Tora, d.h. das „dynamisierende Miteinander“ von Geschichte (Evangelium) und Ge-setz.

    Wenn die Endkomposition des Pentateuch nicht bloßes Zufallsprodukt ist, sondern als Ergebnis planvoller literarischer Arbeit gesehen werden muss, erhebt sich die Frage nach den Kräften, die hier am Werk waren, und nach dem historischen Kontext, in dem diese Arbeit in Angriff genommen wurde. Nun geht man heute in der Forschung ziemlich einhellig davon aus, dass die entscheidende Etappe der Endkomposition des Pentateuch von der persischen Reichspolitik begünstigt wurde und mit den Aktivitäten der persischen „Reichskommissare“ Nehemia (um 445 v.Chr. Wiederaufbau der Stadtmauern Jerusalems und Errichtung der Provinz Jehud) und Esra (398 v.Chr. feierliche Promulgation der Tora in Jerusalem – vgl. Esra 7; Neh 8-10) in Verbindung zu bringen ist. Das bedeutet, dass die Endkomposition des Pentateuch zu Beginn des 4. Jh.s fertiggestellt war. Was die Frage des konkreten Anstoßes zur Endredaktion anbelangt, gehen die Meinungen auseinander. Eine Forschergruppe um E. Blum, P. Frei und R. G. Kratz hat vor allem auf Basis von außerbiblischen persischen Quellen die These von der sogenannten „Reichsautorisation“ der Tora entwickelt. Sie

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    sieht die Erstellung der Endkomposition des Pentateuch im Kontext der Autonomiebestrebungen der persischen Provinz Jehud/Juda. Die unterschiedlichen jüdischen Gruppierungen hätten hier ihre Auffassungen über das, was Judentum ausmacht, zusammengetragen, und durch die Aktion des Esra sei dieses „Elaborat“ (der Pentateuch oder Teile des Pentateuch) zu einem für die Provinz Juda anerkannten persischen Reichsgesetz erhoben worden.

    Es bleibt aber die Frage, ob der Pentateuch oder auch nur eine bestimmte Fassung des Pentateuch überhaupt als offizielles Reichsgesetz für die Perser akzeptabel war: Die für die These bemühten Dokumente sind zu unterschiedlich, die im Pentateuch integrierten Rechtskorpora divergieren zu stark voneinander, als dass sie das von den Persern geforderte Kriterium der Eindeutigkeit erfüllen konnten. Außerdem findet sich nirgends ein Hinweis auf eine persische Autorisation. Schon vom Umfang und Charakter des Pentateuch her (lange erzählende Passagen) und den in ihm enthalte-nen Vorstellungen (z.B. Verheißung einer Ausdehnung Israels „bis an den Euphrat“ in Gen 15,18) ist es schwer vorstellbar, dass diese Texte von den Persern als „Reichsrecht“ autorisiert worden wä-ren.

    Zielführender scheint es, die Endformation des Pentateuch als vorrangig innerjüdisch motivierten gesellschaftlichen und theologischen Vermittlungsprozess zu begreifen. In dieser Sicht würden sich im Pentateuch die Bemühungen um einen Ausgleich zwischen den rivalisierenden jüdischen Gruppen („Altjudäer“ gegen „Rückkehrer“, prophetisch und priesterlich orientierte „Rückkehrer“, Streit um Landbesitz und theologische Kompetenz) widerspiegeln. Nehemia käme dann eine wichtige Rolle in diesen Bemühungen um einen Ausgleich zu, während Esra mit der theologisch und juristisch relevanten Promulgation des Pentateuch als fünfteiliger Mose-Tora in Verbindung gebracht werden kann. Nehemia hätte „nach dieser Sicht der Dinge (…) mit seiner (im Zusammenhang der Errich-tung der persischen Provinz Jehûd stehenden) gesellschaftlich-politischen Befriedung den Weg dafür geebnet, daß dieser Prozess sich dann auch literarisch in der redaktionellen Zusammenarbei-tung der von den rivalisierenden Gruppen für ihre jeweilige Position reklamierten Texte nieder-schlug.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 146).

    Stark vereinfacht sind in der Nachexilszeit zwei rivalisierende Hauptströmungen auszumachen: 1) Die theokratische Richtung, die die Präsenz des Gottesreichs mehr oder weniger mit der weltweiten Herrschaft der Perser in Zusammenhang bringt und in Tempel und Tempelkult in Jerusalem bereits realisiert sieht und sich daher auf die politischen Mittel im Rahmen der von den Persern ausgeübten Gottesherrschaft konzentriert. Sie begegnet etwa in der priesterlichen Sicht einer ein für allemal gesetzten grundlegenden Heilsordnung „von Abra-ham bis Mose“ und in dem kult- und sakralrechtlich geprägten „Heiligkeitsgesetz“ Lev 17-26 als Grundordnung für die heilig-reine Gemeinde. 2) Die eschatologische Richtung, die eine durchgreifende Wende für Israel jenseits der Perserherrschaft erwartet, die JHWH selbst herbeiführen wird. Sie begegnet in der prophetisch („jehowistisch“/ deuteronomisch/deute-ronomistisch) inspirierten Sicht, dass die Anfänge Israels immer unter der Spannung von Gericht und Rettung stehen und die Geschichte Gottes mit Israel und der Völkerwelt grundsätzlich offen ist. Im legislativen Bereich sind die von dieser Sicht gesetzten Akzente besonders abzulesen an den beiden Grundordnungen Ex 20-23 bzw. Dtn 5-28 (jeweils mit dem „ethischen Dekalog“ an der Spitze!), die das Ideal eines „geschwisterlichen“ Volkes propagieren, das in einem permanenten Reformprozess aktualisiert werden muss. Im Pentateuch als „theologischem Kompromisswerk“ konnten sich die verschiedenen Gruppen wiederfinden, d.h. er war – je nach Standort – verschieden lesbar. „Kompromiss“ bedeutet hier al-lerdings nicht, dass ein Text eine Position formuliert, die beide Strömungen integriert. Man muss sich die Tora vielmehr „als einen eingefrorenen Diskurs (‚frozen discourse‘) vorstellen, in dem die Positionen in einem ungelösten Gespräch nebeneinander stehen. Als Dokument, das die miteinan-der rivalisierenden Strömungen in einer allgemeinverbindlichen Gründungsurkunde integrierte und zur Kompromisssuche verpflichtete, ist der Pentateuch der konsequente Versuch, jüdische Identi-tät zu konstituieren und zu sichern. Er präsentiert sich selbst als Tora, die Gott durch Mose für ganz

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    Israel gegeben hat. Mose als Interpret der JHWH-Offenbarung wurde dabei zur Vermittlungsfigur der unterschiedlichen Gruppen und Lebenskontexte.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 148)

    Der Blick auf den Pentateuch als Ganzen und seine Endformation gibt zugleich auch wichtige Ein-blicke in den Prozess der Kanonwerdung. Der eigentliche Anstoß für die Entstehung dieses gewalti-gen Textkompendiums, d.h. der Prozess der Kanonwerdung hat Konsequenzen für die Auslegung. Man sollte sich des höchst bedeutsamen Vorgangs der Endformation des Textes bis hin zum heili-gen kanonischen Text bewusst sein und nicht vorschnell davon abstrahieren, wenn man nach den literarischen Vorstufen, nach Alter und Herkunft der Einzeltexte fragt.

    Der Prozess der Kanonwerdung der Tora muss vor dem Auszug der Samaritaner aus Jerusalem auf den Garizim (ca. 330 v.Chr.) abgeschlossen gewesen sein, denn was sie als ihre Hl. Schrift mitge-nommen haben, ist bis auf unbedeutende Varianten identisch mit der Tora als erstem Teil des jüdi-schen Kanons. Ab diesem Zeitpunkt – man spricht von „Kanonschließung“ – wurde der Text nicht mehr fortgeschrieben, sondern nur mehr abgeschrieben. „Kanonische Texte setzen … die Festlegung ihres Wortlauts voraus, der als sakrosankt und nicht mehr fortschreibbar gilt.“ Aber „als Sinn- und Wertekanon einer Gemeinschaft verlangen [sie] … nicht nur die Institution der Textpflege (Unan-tastbarkeit und Ästhetik der Textgestalt: ‚heilige Bücher‘), sondern vor allem die Institution der Sinnpflege…“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 150) D.h. sie können nur dann ihre fundierende Funk-tion als Sinnkanon für eine Gemeinschaft erfüllen, wenn jemand als Interpret ihren normativen und formativen Impuls über den wachsenden zeitlichen und kulturellen Abstand freisetzt. So gese-hen ist die Kanonisierung der Prophetenbücher als (kanonische) Kommentare zur Tora eine Kon-sequenz aus der Kanonisierung der Tora, wie denn auch „die Schriften“ als dritter Kanonteil als torabezogene Aktualisierungen kanonisiert wurden. „Dass die Tora als Kanon gerade nicht den Abschluss der Offenbarung bewirken will, lässt sich schon im Dtn selbst ablesen, und zwar zum einen in dessen dynamischem Offenbarungsverständnis, wonach die Mosetora sich als auf Zukunft zielende Aktualisierung der JHWH-Offenbarung präsentiert, und zum anderen in der spezifischen Ausprägung der im Dtn zweimal gesetzten sog. Kanonformel (Dtn 4,2; 13,1). Vor allem die kontex-tuelle Einbindung der Formel Dtn 4,2 in den Abschnitt Dtn 4,1-4 unterstreicht, worum es bei der Kanonisierung geht: 1. Der Kanon will ein Wegweiser für das Leben sein. 2. Der Kanon soll vor allem der Praxis dienen, wie der auf die Kanonformel folgende Infinitiv ‚um zu achten auf die Gebo-te …‘ unterstreicht. Die Kanonisierung schreibt nicht den Buchstaben fest, sondern die Sinnrich-tung der Offenbarung.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 151)

    Wenn nun der Pentateuch selbst, wie angedeutet, als höchst vielschichtiges und in mehreren Re-daktionsschüben gestaltetes Textkompendium in Erscheinung tritt, ja als „integratives Kompro-missdokument“ rivalisierender theologischer Richtungen bezeichnet werden kann, bedeutet das, dass jene „Sinnpflege“, die zum Wesen des Kanon gehört, schon im Pentateuch selbst grundgelegt ist. Geleitet vom romantischen Ideal des „genialen“ Autors, stand lange Zeit die Suche nach den literarischen Vorformen und ältesten Schichten (den „Quellen“ mit ihren anonymen, mit Behelfs-namen versehenen Autorenpersönlichkeiten) im Brennpunkt des Interesses, während die Redakti-on eher unter dem Aspekt des Hindernisses gesehen wurde, das beiseite zu räumen ist, um zum Kern der Sache vorzustoßen. Der Erfolg dieser Sichtweise (des Quellen-Modells der Pentateuchent-stehung) ergibt sich daraus, dass sie eine einfache Erklärung für die Herkunft der Spannungen und Widersprüche im Textverlauf anbot. Demgegenüber setzt das Verständnis des Pentateuchs als „Kompromissdokument“ (Diskurs-Modell) gerade bei der (End-)Redaktion an. Die Aufmerksam-keit gilt nicht „dem“ Autor bzw. „Redaktor“, sondern der Redaktion als Diskurs zwischen theologi-schen Schulen und Religionsparteien. Die Spannungen sind in dieser Sicht nicht das Ergebnis eines ungeschickt agierenden Redaktors, der die Widersprüche nicht bemerkt und daher stehen gelassen hätte, sondern „ein Charakteristikum der spezifisch biblischen (oder althebräischen) Streit-Kultur“,

  • Glaßner: AT-Grundkurs I: Tora (2018/19) 8

    „die Widersprüche stehen lassen und ertragen kann“1. Das Gelten-Lassen der Meinung des Kontra-henten, auch wenn sie für falsch gehalten wird, hat Methode: audiatur et altera pars. Dazu E. A. Knauf: „Ganz gewiß ist eine Logik, welche die abgelehnte Sicht der Dinge dennoch bestehen lässt, dem Zusammenleben mit den Vertretern der anderen Meinung zuträglich. Die Logik der Penta-teuch-Redaktion ist eine Friedens-Logik, die Konflikte nicht vertuschen muss, um sie zu ertragen.“2

    2. Die Entstehung des Pentateuch

    2.1 Indizien für einen vielschichtigen Entstehungsprozess

    Im Folgenden sollen kurz in Anschluss an Zenger/Frevel (Einleitung S. 91-104) einige Beobach-tungen aufgelistet werden, aus denen hervorgeht, dass der Pentateuch nicht in einem einzigen For-mulierungsprozess entstanden sein kann. Es ist vor allem die Methode der Literarkritik, mit der die Pentateuchforschung die Einheitlichkeit und Kohärenz eines Textes überprüft. Sachliche und ter-minologische Spannungen bzw. Widersprüche, Wiederholungen und Doppelungen, syntaktische Brüche und konkurrierende Vorstellungen verweisen auf unterschiedliche Herkunft der entspre-chenden Textteile.

    • Vor allem in Gen ist ein auffallender Wechsel des Gottesnamens JHWH mit der Gottesbezeich-nung Elohim (= „Gott“, oder mit Artikel ha-Elohim = „die Gottheit“) zu beobachten. Dazu kommen unterschiedliche Gottestitel wie El Eljon (= „der Höchste Gott“ Gen 14,18f), El Schaddaj (= „der Allmächtige Gott“ Gen 17,1), El Olam (= „der Ewige Gott“ Gen 21,33) und Erscheinungsweisen Gottes (z.B. in Gen 18-19 „die drei Männer“ = „JHWH“ = „JHWH und seine zwei Boten“). So verwendet die Weltschöpfungserzählung Gen 1,1-2,4a durchgehend die Gottesbezeichnung Elohim, während die daran anschließende Paradiesgeschichte den Eigenna-men JHWH verwendet.

    • Ähnliche Geschichten werden zweifach oder gar dreifach erzählt, und zwar häufig so, dass sie teilweise zueinander in Widerspruch stehen oder die „Wiederholung“ nicht erkennen lässt, dass die Geschichte schon vorher erzählt wurde. So widersprechen die Erzählungen über die Schöp-fung Gen 1,1-2,4a bzw. Gen 2,4b-3,24 einander in ihrer Gesamtszenerie und in der Abfolge der erzählten Ereignisse: Gen 1 Flussebene, aus der die Erdscheibe auftaucht, Gen 2-3 trockene Step-pe, in der ein Grundwasserstrom eine Oasenlandschaft und damit die Voraussetzung für die Fruchtbarkeit in einer Wüstenumgebung schafft. In Gen 2-3 begegnet ein anthropomorphes Gottesbild, man sieht JHWH förmlich bei der Arbeit, wie er die Tiere und die Frau schafft und dem Menschen zuführt, wie er den Park anlegt und in der Kühle des Abends umhergeht und mit den Geschöpfen redet. In Gen 1 ist Gott transzendent und souverän, man sieht ihn nicht bei der Arbeit und er redet nicht mit den Menschen. Ein weiteres einschlägiges Beispiel ist die Erzählung über die Preisgabe der Ahnfrau, die dreimal (Gen 12,10-20; 20,1-18; 26,1-11) mit jeweils eige-nem Profil erzählt wird, was schwerlich durch Herkunft von ein und demselben Verfasserkreis erklärt werden kann.

    • Die Sintflutgeschichte Gen 6,5-9,17 ist ein einschlägiges Beispiel dafür, dass innerhalb eines ein-zigen Erzählzusammenhangs mehrere Erzähl- und Bildebenen so unausgeglichen nebeneinander gestellt sind, dass zwei oder drei Erzählungen zu einer einzigen Erzählung voller Wiederholungen und Widersprüche zusammengearbeitet erscheinen. Zenger/Frevel (Einleitung S. 96) führen ins-gesamt 14 Doppelungen an: Bosheit der Menschen in 6,5 und 6,11-12, Entschluss zur Vernich-tung in 6,7 und 6,13, Ankündigung der Flut in 7,4 und 6,17 usw. Ein weiteres klassisches Beispiel ist die Erzählung von der Errettung Israels am Schilfmeer, die in Ex 14-15 in drei wenn nicht in vier Varianten vorliegt: Einmal ist Mose der Hauptakteur (durch Ausstrecken seiner Hand spal-

    1 E. A. Knauf: Audiatur et altera pars. Zur Logik der Pentateuch-Redaktion. In: BiKi 53 (1998) S. 118-126, hier S. 125. 2 Ebd.

  • Glaßner: AT-Grundkurs I: Tora (2018/19) 9

    tet sich das Wasser, sodass die Israeliten trockenen Fußes hindurchziehen können), in zwei wei-teren Varianten ist JHWH der Hauptakteur: Einerseits drängt er das Meer in der Nacht durch einen starken Wind zurück, sodass der Meeresboden sichtbar wird. Als am Morgen die Ägypter nachsetzen, kommen sie im zurückflutenden Meer um. Andererseits erscheint er als gewaltiger Kriegsgott, der die ägyptischen Truppen durch einen Gottesschrecken lähmt und in die Mitte des Meeres „schüttelt“. Daneben wirken noch „der Bote Elohims“ und die dunkle Wolkensäule mit, indem sie wie ein Schutzwall zwischen die übermächtigen Ägypter und die verängstigten Is-raeliten treten.

    • In den großen Gesetzeskorpora „Bundesbuch“ (Ex 20,22-23,33), „Heiligkeitsgesetz“ (Lev 17-26) und „Deuteronomische Gesetzessammlung“ (Dtn 12-26) sind eine Reihe von Unterschieden bei Einzelbestimmungen zu beobachten, obwohl sie in ihrer Struktur bis hinein in die Einzelformu-lierungen eng zusammenhängen. Sie kommen deutlich aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und verfolgen jeweils ein eigenes theologisches Programm (Bundesbuch: Schutz der Freiheit, Heiligkeitsgesetz: Heiligung des Alltags und der Welt, Deuteronomisches Gesetz: Verwirkli-chung von geschwisterlicher Solidarität). Deutlich wird das etwa am Beispiel des Gebots der Feindesliebe (Ex 23,4-5; Lev 19,17-18; Dtn 22,1-4). In allen drei Texten geht es nicht um emoti-onale Sympathie, sondern um konkrete Taten der Solidarität, in Ex 23 und Dtn 22 greifbar in der Forderung des Zurückbringens verirrter Haustiere oder des Aufrichtens zusammengebroche-ner Lasttiere, nach Lev 19 sollen Hass und Rache durch konkrete Taten der Liebe (19,18) abge-baut und so feindliche Nachbarschaft überwunden werden. Ex 23 setzt überschaubare Dorfge-meinschaften voraus, wo einer auf den anderen angewiesen ist, Lev 19 Israel als sozial geschichte-te Volksgemeinschaft, die sich durch einen gemeinsamen Wertekonsens zusammengehalten weiß, Dtn eine „Klassengesellschaft“, in der man seinen Nachbarn nicht mehr unbedingt kennt und so der Appell an das Bruder-Ethos das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken soll. Besonders ins Gewicht fallen die Unterschiede in den beiden Fassungen des sogenannten „ethischen Deka-logs“ Ex 20,2-17 || Dtn 5,6-21, handelt es sich hierbei doch um den einzigen Text, den Gott di-rekt und unmittelbar zum ganzen Volk spricht und den Gott selbst auf die Steintafeln geschrie-ben hat. Z.B. sind bei den sozialen Geboten in Dtn 5 (anders als in Ex, wo die Begehrensverbote zu einem Gebot zusammengefasst sind und außerdem das „Haus“ der „Frau“ usw. vorgeordnet ist), die sechs Gebote in zwei Dreiergruppen zusammengefasst, wobei die erste Gruppe den As-pekt des geheimen und die zweite Gruppe den Aspekt des öffentlichen Vergehens betrifft, und in der Dtn-Fassung muss man das Fremdgötterverbot und das Bilderverbot streng genommen als ein einziges Verbot lesen, das alle Formen der Verehrung fremder Götter bekämpft, während in der Ex-Fassung zwei Verbote gemeint sind.

    • Der unvermittelte Wechsel von Sprache, Stil und Vorstellungswelt, von plastischer Erzählung zu ausgefeilter Rhetorik oder der Wechsel von Begriffen sind starke Argumente für unterschiedliche Verfasserherkunft. Unvereinbare Widersprüche ergeben sich etwa am Beispiel der Beziehung Gottes zum Ort Bet-El: Nach Gen 28,10-22 wohnt“Gott in Bet-El (vgl. 28,16), nach Gen 35,1-15 muss er erst herabsteigen, um Jakob zu „erscheinen“, und am Ende des Gesprächs steigt er wie-der zum Himmel auf. In Ex 6,2f. steht die Aussage, dass sich Gott dem Mose erstmals mit seinem Namen JHWH vorstellt, in unauflösbarem Gegensatz zu der langen Kette von Textteilen im Gen, die ausdrücklich von einer Selbstvorstellung Gottes als JHWH bzw. von einer Verehrung JHWHs unter seinem Namen durch die Erzväter reden (vgl. Gen 12,8; 13,18; 22,14 usw.). Wäh-rend es in Ex 33,11 heißt, JHWH habe mit Mose „von Angesicht zu Angesicht“ geredet, antwor-tet JHWH kurz danach in Ex 33,20.23 auf eine entsprechende Bitte des Mose: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben…“

    Über das hier in einigen Details exemplifizierte literarische Grundproblem, nämlich dass der Penta-teuch bei näherem Hinsehen ein höchst komplexes und vielgestaltiges Gebilde ist, das nur als länge-res Zusammenwachsen verschiedener Textkomplexe historisch und literarisch verstehbar ist, ist

  • Glaßner: AT-Grundkurs I: Tora (2018/19) 10

    man sich in der Forschung weitgehend einig. Wie diese Beobachtungen möglichst sach- und textge-recht in eine Entstehungstheorie umzusetzen sind, darüber gehen die Meinungen allerdings ausei-nander. Immerhin lässt sich die Vielzahl der bis heute vertretenen Hypothesen auf drei Basismodel-le reduzieren.

    2.2 Die drei Basismodelle der Entstehungshypothesen (vgl. Zenger/Frevel, Einleitung S. 104-106)

    • Die Grundschrifthypothese (Ergänzungshypothese, Fortschreibungsmodell): Der Pentateuch geht in seiner Hauptsubstanz auf eine einzige Basis-Urkunde zurück, die im Laufe der Überliefe-rung mehrfach und punktuell durch Aufnahme schriftlich oder mündlich gegebener Teiltexte oder durch aktualisierende, interpretierende Eintragungen erweitert („fortgeschrieben“) wurde.

    • Die Quellenhypothese (Urkundenhypothese, Schichtenmodell): Der Pentateuch besteht aus ursprünglich selbständigen Schriften („Quellen“), die jeweils eine unterschiedlich umfangreiche Gesamtdarstellung von der Schöpfung bzw. von Abraham bis zum Tod des Mose enthalten und zu unterschiedlicher Zeit mit unterschiedlicher literarischer Technik und Aussageabsicht ent-standen. Diese Quellen wurden unter dem Eindruck epochaler Ereignisse der Geschichte Israels (Untergang des Nordreichs 722 v.Chr., Zerstörung Jerusalems 586 v.Chr., Neukonstituierung Is-raels im 5. Jh.) sukzessiv zum fertigen Pentateuch zusammengearbeitet.

    • Die Erzählkranzhypothese (Fragmentenhypothese, Blockmodell): Die ursprünglich selbständi-gen Teile („Erzählkränze“, „Blöcke“) boten nicht den großen Erzählbogen von der Schöpfung (Abraham) bis zum Tod des Mose, sondern konzentrierten sich um einzelne Themen und Hauptgestalten des späteren Pentateuch (Schöpfung und Flut, Abraham, Jakob, Exodus, Sinai, Wüstenwanderung, Geschehnisse im Ostjordangebiet). Erst in der Spätzeit (im Exil) wurde aus den einzelnen „Blöcken“ ein übergreifender Erzählzusammenhang geschaffen.

    2.3 Das klassische Vierquellen-Modell

    In seinen bahnbrechenden Werken „Die Composition des Hexateuchs“ und „Prolegomena zur Geschichte Israels“ setzte Julius Wellhausen ab 1876 die entscheidenen Impulse in der Entwicklung der Vierquellen-Theorie. Zwar gab es schon zuvor Versuche der Zurückführung des Pentateuch auf vier Quellen („ältere Urkundenhypothese“), aber erst die von Wellhausen herausgearbeitete histori-sche Zuordnung dieser Quellen, nämlich dass die mit Gen 1 einsetzende Priesterschrift jünger sein müsse als die Propheten, die die kultgesetzlichen Regelungen noch nicht kennen, und dass das Deu-teronomium mit der unter König Joschija 622 eingeleiteten Kultzentralisation in Verbindung zu bringen ist, verschaffte ihr den Durchbruch. Seither galt der Jahwist (J) als älteste Quelle, entstan-den zur Zeit Salomos (ca. 950 v.Chr.): Das davidisch-salomonische Großreich sei der Horizont für die bahnbrechende geschichtstheologische Selbstvergewisserung Israels in der Völkerwelt (Urge-schichte, teils friedliche, teils kriegerische Koexistenz mit den Kanaanäern, Moab, Ammon, den Aramäern); die Verheißung an Abraham Gen 12,1-3, ein programmatischer und zentraler J-Text, habe das „große Volk“ noch vor der Reichstrennung im Blick; die Urgeschichte könne als Reflex der „salomonischen Aufklärung“ gesehen werden. Daneben lassen sprachliche und theologische Ge-meinsamkeiten in einer Reihe von Textstücken (Verwendung der Gattungsbezeichnung „Elohim“ statt des für J typischen Eigennamen JHWH, Gott tritt nicht als sichtbarer Akteur auf: er „er-scheint“ im Traum, sendet seine „Boten“, man hört seine Stimme) auf die Existenz eines weiteren alten Erzählwerks schließen, das allerdings nur fragmentarisch überliefert sei und erst mit der Abra-hamgeschichte einsetze: den Elohisten (E). Da in diesen Texten ein starkes Interesse an den Nord-reichheiligtümern Bet-El und Sichem bei gleichzeitigem Fehlen spezifischer Südreich-Traditionen (Abraham-Lot-Sagenkranz) und außerdem ein Überlieferungszusammenhang mit dem Nordreich-Propheten Hosea festzustellen ist, nimmt man an, dass E im Nordreich entstanden ist, und zwar noch vor der Assyrergefahr und vor Hosea (um 800 v.Chr.). Die Anfänge des (Ur)Deuteronomiums (D) weisen in die Zeit vor der Reform Joschijas im Jahr 622 v.Chr. (mit späteren Erweiterungen).

  • Glaßner: AT-Grundkurs I: Tora (2018/19) 11

    Die Entstehung der jüngsten Quelle, der Priesterschrift (P), verlegt man gewöhnlich ins Exil (ca. 550 v.Chr. mit nachexilischen Ergänzungen).

    Im Rahmen der klassischen Vierquellentheorie rechnet man auf dem Weg zur Entstehung des Pen-tateuch mit mindestens drei Redaktionen: eine Redaktion, die die älteren Quellenschriften J und E zum „jehowistischen“ Geschichtswerk (JE) verbunden hat (nach dem Untergang des Nordreichs 722 v.Chr.), eine Redaktion, die in nachexilischer Zeit JE in P einarbeitete, und eine Redaktion, die die Quellenschriften mit dem Deuteronomium bzw. dem deuteronomistischen Geschichtswerk verband (entweder vor oder nach Einarbeitung der Priesterschrift).

    2.4 Kritische Anfragen und aktueller Forschungsstand

    Dem Quellenmodell kommt am ehesten von Gen bis Ex 18 eine gewisse Plausibilität zu, danach gestaltet sich die Aufteilung in durchgehende Quellenschriften äußerst schwierig. Aber ganz allge-mein ist zu beobachten, dass der Konsens darüber, was zu einzelnen Quellen gehört, sehr gering ist. Vor allem gilt das in Hinblick auf die Existenz und den Umfang von E, sodass die Annahme eines eigenständigen Erzählwerks neben J als fragwürdig erscheint (nur fragmentarisch erhalten, kein programmatischer Anfang, kein fortschreitender Erzählzusammenhang erkennbar). Viele Basistexte von J wie die Verklammerung der „Urgeschichte“ mit der „Heilsgeschichte“ Israels in Gen 12,1-3 sind nach heutigem Forschungsstand kaum als „alte“, in die Zeit Salomos weisende Texte vorstell-bar. Ähnliches gilt von Gen 22 (Erprobung Abrahams) als einem für die E-Hypothese zentralen Text: er weist mit der Ortsangabe „Moria“ nach Jerusalem und damit in das Südreich und wird außerdem in neuerer Zeit in der Regel der Spätzeit zugewiesen (Auseinandersetzung mit der Kata-strophenerfahrung Israels im Exil).

    Eine wichtige Anfrage an das Quellenmodell betrifft auch die kultur- und religionsgeschichtlichen Voraussetzungen. Die Schrift- und Lesekultur war nach unserem Wissensstand im 10. Jh. noch nicht so weit entwickelt, dass für diese Frühzeit an die Entstehung von derart umfangreichen Er-zählwerken wie des Jahwisten zu denken wäre. Auch die in J vorausgesetzte Alleinverehrung JHWHs (Monolatrie) und die umfassende Geschichtstheologie von J ist nach den neueren Er-kenntnissen in der für J und E vorgeschlagenen Epoche kaum vorstellbar.

    Die Spätdatierung jenes übergreifenden Geschichtswerks, das erstmals die Erzelternüberlieferung mit der Exodus-Landnahmeüberlieferung zusammenbindet, war es auch, die die neuere Diskussion um die Entstehung des Pentateuch seit der Infragestellung der klassischen Vierquellentheorie am nachhaltigsten geprägt hat. Heute geht man allgemein davon aus, dass das „jahwistische Ge-schichtswerk“ nicht in der frühen Königszeit entstanden sein kann. Es wird entweder in die (spät)vorexilische Zeit (7. Jh.) angesetzt (Reaktion auf den Untergang des Nordreichs 722 v.Chr. und die für das Südreich andauernde assyrische Bedrohung) oder exilisch/frühnachexilisch (Reakti-on auf den Untergang des Staates Juda 586) datiert. Daneben bleibt die Datierung des Kernbe-stands des Deuternomiums in das 7. Jh. (Aufnahme neuassyrischer Texte) der „archimedische Punkt“ einer relativen Chronologie. Für die Entstehung der auf eine priesterliche Theologie zu-rückgehenden Textschicht „P“ wird der Zeitraum zwischen 550 und 400 v.Chr. angenommen. Umstritten ist, ob sie einheitlich ist oder auf unterschiedliche Verfasserkreise zurückgeht. Obwohl diskutiert wird, ob es sich um ein ursprünglich eigenständiges Werk oder um eine „Redaktion“ handelt, erscheint es doch als sinnvoller „Basis-Konsens“, im Pentateuch „priesterliche“ und „nicht-priesterliche“ Schichten voneinander zu unterscheiden.

    Auf die zahlreichen Versuche, einen Ausweg aus der seit den 1970er-Jahren ins Wanken geratenen Pentateuchtheorie zu finden, ist hier nicht näher einzugehen (vgl. Zenger/Frevel, Einleitung S. 111-123). Im Folgenden sei kurz das von E. Zenger und P. Weimar entwickelte „Münsteraner Penta-teuchmodell“ vorgestellt (vgl. ebd. S. 123-135), das Elemente der Fragmenten-, Quellen- und Er-

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    gänzungshypothese kombiniert und unter kontinuierlicher Anpassung an den Forschungsstand breite Rezeption gefunden hat.

    2.5 „Münsteraner Pentateuchmodell“ (Schema bei Zenger/Frevel, Einleitung S. 125)

    Dieses Modell der Pentateuchentstehung ist dadurch gekennzeichnet, dass es für die frühen Phasen der Überlieferung das Erzählkranzmodell annimmt und ab 700 mit einem redaktionsgeschichtli-chen Zwei- bzw. Dreiquellenmodell arbeitet. Er spricht von drei „Überlieferungsströmen“, aus de-nen der Pentateuch entstanden ist: nichtpriesterliche Texte = „J“, priesterliche Texte = „P“, deute-ronomische Texte = „D“. Als Anfänge der Überlieferungsbildung sind Stammes-, Helden, Heilig-tums- und Ortssagen bzw. Sprüche und Sätze des Sippenethos zu erschließen. Auch mit der Trans-formation alter Überlieferung ist zu rechnen (z.B. Gen 28 der Traum Jakobs von der Himmelsleiter in Bet-El = „Gotteshaus“).

    Für die erste übergreifende Geschichtsdarstellung wird eine Entstehung unter dem Einfluss der Propheten Amos, Hosea und Jesaja im 7. Jh. angenommen, und zwar als Reflex auf den Untergang des Nordreichs (722 v.Chr.), auf die Rettung Jerusalems aus assyrischer Bedrohung (701 v.Chr.) bei andauernder Abhängigkeit des Südreichs von der assyrischen Großmacht. Es ist in Jerusalem und aus Jerusalemer Perspektive geschrieben, daher spricht man am besten vom Jerusalemer Geschichts-werk („JG“). Hier wurden die zunächst einzeln entstandenen Erzählzyklen (Abraham-Jakob-Zyklus, Josefsnovelle, Exodusgeschichte, Landnahme-Zyklus) zu einem Geschichtsbogen von Abra-ham über Jakob sowie Mose und Josua bis hin zur Landnahme komponiert (Gen 11,26 - Jos 24*).

    Neben JG wird vor allem im Deuteronomium ein weiterer Überlieferungsstrom greifbar, der in seiner ältesten Phase wohl ausschließlich eine Gesetzessammlung ohne erzählerische Einbindung darstellte und dessen Entstehung von Reformen angestoßen wurde, die König Hiskija (728-699 v.Chr.) unter Einfluss der Nordreichflüchtlinge in Gang setzte, die aber im Zeitalter der assyrischen Dominanz in Juda (bis etwa 640 v.Chr.) nur im „Untergrund“ überlebten. Es ist theologisch mit JG verwandt und wurde unter König Joschija (640-609) erweitert und mit einem geschichtstheologi-

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    schen Rahmen (Dtn 1 - Jos 22) versehen. Unter dem Eindruck der Katastrophe von 586 entstand nach einem längeren Fortschreibungs- und Redaktionsprozess das „Exilische Geschichtswerk“, das die spätvorexilische Urgeschichte (Gen 2,4b-8,22*), das Jerusalemer Geschichtswerk, das Bundes-buch, das spätvorexilische Dtn und die Erzählungen über die Zeit der Richter und der Könige (Ri, Sam, Kön) zu einem gewaltigen Geschichtsbogen zusammenstellte, wobei die für die deuteronomis-tische Theologie typische Beurteilung der Geschichte nach dem Gehorsam bzw. Ungehorsam ge-genüber dem Gottesgesetz zum Tragen kam.

    Als Gegenentwurf zum exilischen Geschichtswerk und unter dem Einfluss der Propheten Ezechiel, Jeremia und Deuterojesaja entstand um 520 v.Chr. eine weitere übergreifende Geschichtsdarstel-lung im Exil in Babylon: die „priesterliche Grundschrift“ PG. Sie wurde von den Rückkehrern nach Jerusalem mitgebracht und mit kultischen Materialien angereichert (erweiterte Priesterschrift PS), dabei auch das Heiligkeitsgesetz Lev 17-26 eingefügt.

    Nach 450 v.Chr. wurde im Bemühen um einen Ausgleich der miteinander konkurrierenden deute-ronomischen und priesterlichen Theologie sowie als Folge der von Nehemia im Zusammenhang mit der Errichtung der Provinz Jehud herbeigeführten Befriedung der unterschiedlichen Gruppen das exilische Geschichtswerk und das priesterliche Werk zu einem Großgeschichtswerk Gen 1 - 2 Kön 25 zusammengearbeitet. Diese Redaktionsphase hat deutliche Spuren hinterlassen. Zahlreiche Texte, die eigene theologische Akzente setzen und in Formulierung und Intention Elemente sowohl der deuteronomistischen wie auch der priesterlichen Tradition aufweisen, dürften auf sie zurückge-hen.

    Die feierliche Promulgation der Tora um 400 v.Chr. durch Esra markiert die Ausgliederung der Bücher Gen bis Dtn aus dem Großgeschichtswerk Gen 1 - 2 Kön 25. Die Redaktion, die die Ab-trennung des Pentateuch als „Tora“ und seine Fünfteilung besorgte, wodurch zugleich der Block der „Vorderen Propheten“ Jos - 2 Kön entstand, wird vor allem im „Mose-Epitaph“ Dtn 34,10-12 und in kleineren Notizen an den Nahtstellen zwischen den einzelnen Büchern des Pentateuch greifbar. Auch wenn nach der Promulgation der Tora punktuell Ergänzungen nachgetragen wurden – so vermutlich die Erzählung von Gen 14 über die Begegnung zwischen Abraham und Mel-chisedek oder das auf die Makkabäerzeit verweisende chronologische System, das die Wiederein-weihung des Tempels 164 v.Chr. auf das Jahr 4000 nach der Schöpfung fallen lässt –, ist sie als „Endredaktion“ des Pentateuch aufzufassen.

    Großes Gewicht erhält im Rahmen der hier vorgestellten Pentateuchtheorie die Redaktion (im weiteren Sinn), die die Endkomposition des Textzusammenhangs Gen - Dtn als Kompromiss aus priesterlicher (theokratischer) und deuteronomistischer (eschatologischer) Theologie schuf (sie ist zu unterscheiden von der Redaktion im engeren Sinn, die Gen - Dtn zur fünfteiligen Mose-Tora machte). Ihre theologische Leistung ist die Vermittlung zwischen beiden, und zwar dergestalt, dass einerseits die unterschiedlichen Standpunkte zur Geltung kommen, andererseits doch auch der „Diskurs“ (das Aufeinander-Hören, die Reaktion auf den gegensätzlichen Standpunkt, das Bemü-hen um einen Ausgleich) spürbar wird. Zwar dominiert nach außenhin die P-Tradition – sie hat das erste und das letzte Wort (Gen 1 und Dtn 34*) und okkupiert mit der Sinai-Perikope Ex 25 bis Num 10 auch das Zentrum –, trotzdem kommt auch die D-Tradition, die als „Wiederholung“ des sinaitischen Gesetzes im Lande Moab etwas an den Rand gestellt erscheint, vollinhaltlich zu Wort. Der Kontrast zwischen der „antimilitaristischen“ und „pazifistischen“ Ausrichtung der P-Tradition (Gott hängt nach Gen 9,13 seinen Bogen als Symbol gewaltsamer Herrschaft in die Wolken und damit „an den Nagel“ – nicht der Staat mit seinem Herrschaftsanspruch ist das Proprium Israels sondern der Tempel in seiner Mitte) und der davidisch-national-religiösen Ausrichtung der D-Tradition (militärische Eroberung des Gelobten Landes und Vertreibung der Bewohner) bleibt bestehen. Ein schönes Beispiel für den in der Textfolge festgehaltenen Diskurs zwischen beiden Richtungen ist die Rolle des zweiten Abraham-Sohnes Ismael: Für D gehört Ismael in die Wüste,

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    weit weg von Israel (Gen 16), während P ihn im Hause seines Vaters bleiben lässt (Gen 17), was im Kontext von Gen 16 dahingehend zu verstehen ist, dass Ismael zu Abraham zurückgekehrt ist. Wenn nun in der Erzählung Gen 21,9-21 Ismael ein zweites Mal in die Wüste befördert wird, liest sich das wie eine Antwort auf die P-Variante in Gen 17. Nach Gen 25,9 wiederum, einer Notiz, die der P-Tradition angehört, bestatten Isaak und Ismael gemeinsam ihren Vater Abraham! (Vgl. dazu Knauf, Audiatur et altera pars S. 123)

    Zenger/Frevel (Einleitung S. 139f.) führen folgende theologische Perspektiven an, an denen die Pentateuchredaktion im weiteren Sinn greifbar wird:

    a) Mose, der allen Propheten überlegen ist (Dtn 34,10-12) und JHWH von Angesicht zu Angesicht kannte, ist Offenbarungsträger und Mittler der Tora, die damit als „Wort Gottes“ schlechthin er-scheint (vgl. z.B. Ex 19,9; 34,29-35; Num 11,16-17.24-25), ja der gleichsam heilende und retten-de Kraft zukommt (Gen 18,19 Abraham als Lehrer der Tora, Ex 15,22-26 das Wasserheilungs-wunder erweist Mose als Mittler der Tora, durch die Gott sein Volk heilt, Ex 19,3-8 Israel ist im Hören auf die Tora zum „Königreich aus Priestern“ und zur heiligen Nation berufen).

    b) Auf die Pentateuchredaktion geht auch die Voranstellung des Dekalogs vor das Sinaigesetz Ex 20 (in Parallele mit der Position des Dekalogs Dtn 5 vor dem dtr Gesetz) zurück. Durch diese Posi-tionierung und die Verbindung mit den steinernen Tafeln wird der Dekalog zum „Grundgesetz“ und zur hermeneutischen Vorgabe der im Pentateuch versammelten Gesetzeskorpora (Bundes-buch, Privilegrecht, Heiligkeitsgesetz, Deuteronomium).

    c) Die Pentateuchredaktion versuchte durch eine Reihe von Texteinschüben (z.B. Ex 19,3-9; 34,9-10; Lev 26,40-45) zwischen dem Bundeskonzept der deuteronomistischen Theologie (der Bund zwischen JHWH und Israel als gegenseitige Vertragsverpflichtung – an der Vertrags- bzw. „Bun-destreue“ Israels, d.h. daran, ob es die am Sinai verkündeten Gebote befolgt oder nicht, entschei-det sich Heil und Unheil) und dem Bundeskonzept der priesterlichen Theologie (der Bund als reiner „Gnadenbund“, den Gott schon mit Abraham als „ewigen“, durch Israels Untreue nicht zerstörbaren Bund geschlossen hat) zu vermitteln.

    d) Durch die Abtrennung von Gen - Dtn von der in Jos erzählten Landnahme ergab sich ein „erzäh-lerisches“ Defizit, insofern der eigentliche Zielpunkt der Pentateucherzählung, nämlich die Landnahme, nicht mehr erzählt wird. Die Pentateuchredaktion kompensierte das in entspre-chenden Zusätzen durch Verstärkung des Verheißungsaspektes, der für die Beziehung JHWH-Israel-Land konstitutiv ist. „Dabei werden abermals deuteronomistische und priesterliche Theo-logie miteinander verbunden, wenn die Landverheißung als ein den Erzvätern gegebener Eid Gottes betont wird (vgl. die auf die Pentateuchredaktion zurückgehende Textlinie Gen 50,24; Ex 32,13; 33,1; Lev 26,42; Num 32,11; Dtn 34,4). Die Idee vom ‚Eid‘ ist deuteronomistisch, die Vorstellung von den Erzvätern als den hinsichtlich des Landes entscheidenden ‚Gründungsgestal-ten‘ Israels ist priesterlich. Daß nach der Pentateuchredaktion Mose mit dem Blick auf das ver-heißene Land stirbt (vgl. Dtn 34), unterstreicht diese für die Pentateuchredaktion fundamentale Perspektive, dass die Geschichte Israels (und der ganzen Schöpfung) aus der Treue des zu seiner Verheißung stehenden Gottes JHWH lebt.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 140)

    e) „Indem die Redaktion am Ende des Pentateuch eine überarbeitete Fassung des ‚Mosesegens‘ Dtn 33 als Gegenstück zum ‚Jakobsegen‘ Gen 49 einfügt, stiftete sie der durch Gen–Dtn grundgeleg-ten ‚Urgeschichte‘ Israels nicht nur die Perspektive des Segens ein, sondern unterstreicht mit der in Gen 49 und Dtn 33 betonten Stämmestruktur abermals, dass Israels Zukunft in der familiären Solidarität und nicht in der staatlichen Machtpolitik liegt. Damit verstärkt die Pentateuchredak-tion die in Num 1-4 entworfene Organisation des am Sinai konstituierten Gottesvolks, die eben-falls die Stämmestruktur aufweist.“ (Zenger/Frevel, Einleitung S. 140)