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Fallbeschreibung Anamnese: Eine 65-jährige Patientin stellte sich im Dezember 2003 in der Notaufnahme mit seit 24 h bestehender schmerzhafter Schwellung des rechten Arms vor. Bei der Patientin ist seit 1988 eine Polycythaemia vera (PV) mit tri- lineärer Proliferation bekannt, die am- bulant mit Aderlässen und seit 1999 mit 1 g/d Hydroxyurea behandelt wurde. Eine zwischenzeitliche Therapie mit Interferon α (3 × 5 Mio. IE s.c. wö- chentlich) wurde wegen Unverträglich- keit nicht weitergeführt. Die Patientin hatte die Hydroxyurea-Medikation 3 Wochen vor der Aufnahme selbstän- dig wegen Hautulzerationen abgesetzt. Gewichtsverlust, Fieber oder Nacht- schweiß lagen nicht vor. Vorausgegan- gene thromboembolische oder Blu- tungsereignisse lagen nicht vor. Die Medikation bei Aufnahme bestand aus einer täglichen Gabe von Xipamid 20 mg, Metoprolol 95 mg, Amitriptylin 25 mg sowie Paracetamol 500 mg bei Be- darf. Im Verlauf des anschließenden stationären Aufenthalts entwickelte die Patientin aus der Ruhe heraus plötzliche Luftnot und einen atemabhängigen tho- rakalen Schmerz. Klinischer Untersuchungsbefund: Bei Vorstellung in der Notaufnahme befand sich die Patientin in einem guten Allgemein- und einem adipösen Ernäh- rungszustand (Body-Mass-Index 27), 175 cm, 83 kg. Hautkolorit o.B. Keine tastbaren Lymphknoten oder Raumfor- derungen. Ödematöser rechter Ober- und Unterarm, normal temperiert, nor- males Kolorit. Periphere Armpulse rechts aufgrund eines Ödems nicht tast- bar, Sensibilität des rechten Arms nicht und Motorik schmerzbedingt einge- schränkt. Tastbare, den Rippenrand überragende Milz. Diskrete Beinödeme, ansonsten unauffälliger internistischer und neurologischer Untersuchungsbe- fund. Puls 88/min, Druck 150/70 mmHg, Temperatur 36,8 °C, pulsoxy- ZUSAMMENFASSUNG Fallbeschreibung: Eine 65-jährige Patientin stellte sich mit einem seit 1 Tag bestehenden schmerzhaften Ödem des rechten Arms vor. Seit 1988 ist bei der Patientin eine Polycythaemia vera (PV) bekannt. Die Gerinnungspa- rameter einschließlich der D-Dimere lagen im Normbereich. Phlebographisch wurde eine Thrombose der proximalen rechten V. subclavia diagnostiziert. 1 Woche nach stationärer Aufnahme entwickelte die Patientin eine D-Dimer- negative symptomatische Lungenembolie. Schlussfolgerung: Bei klinischem Verdacht auf ein thromboembolisches Ereignis reicht die negative Prädiktion der D-Dimer-Bestimmung als Aus- schlusskriterium allein nicht aus. In diesem Fall sollte der Patient einer bild- gebenden Diagnostik zugeführt werden. Aufgrund der erhöhten Inzidenz thromboembolischer Ereignisse bei PV sollten die Patienten eine prophylak- tische Thrombozytenaggregationshemmung, z.B. mit Acetylsalicylsäure 100 mg/d, erhalten. Schlüsselwörter: Polycythaemia vera · D-Dimere · Thrombose · Lungen- embolie · Prophylaktische Thrombozytenaggregationshemmnung Med Klin 2005;100:672–5. DOI 10.1007/s00063-005-1092-3 ABSTRACT Polycythemia Vera and D-Dimer-Negative Thromboembolism Case Report: A 65-year-old patient with polycythemia vera (PV) was admitted with a painful edema of the right arm lasting for 24 h. The D-dimer assay was negative. By phlebography the patient was diagnosed with a fresh thrombosis of the right subclavian vein. 1 week later she developed a D-di- mer-negative symptomatic pulmonary embolism. Conclusion: If clinical signs of a thromboembolic event are present, the negative predictive value of the D-dimer assay is not sufficient to abandon further definitive diagnosis. Since thromboembolic events are frequent in PV patients, a prophylactic treatment with low-dose acetylsalicylic acid is recom- mended. Key Words: Polycythemia vera · D-dimer · Thrombosis · Pulmonary embo- lism · Prophylactic antiaggregation Med Klin 2005;100:672–5. DOI 10.1007/s00063-005-1092-3 D-Dimer-negative Thromboembolien bei Polycythaemia vera Jörg Bäsecke 1 , Imme Conradi 1 , Carsten P. Bramlage 2 , Alexander K. Scheel 2 , Lorenz Trümper 1 1 Abteilung Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Göttingen, 2 Abteilung Nephrologie und Rheumatologie, Universitätsklinikum Göttingen. Eingang des Manuskripts: 17. 2. 2005. Annahme des überarbeiteten Manuskripts: 30. 6. 2005. 672 KASUISTIK 2005;100:672–5 (Nr. 10), © Urban & Vogel, München

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Fallbeschreibung

Anamnese: Eine 65-jährige Patientin stellte sich im Dezember 2003 in der Notaufnahme mit seit 24 h bestehender schmerzhafter Schwellung des rechten Arms vor. Bei der Patientin ist seit 1988 eine Polycythaemia vera (PV) mit tri-lineärer Proliferation bekannt, die am-bulant mit Aderlässen und seit 1999 mit 1 g/d Hydroxyurea behandelt wurde. Eine zwischenzeitliche Therapie mit Interferon α (3 × 5 Mio. IE s.c. wö-chentlich) wurde wegen Unverträglich-keit nicht weitergeführt. Die Patientin hatte die Hydroxyurea-Medikation 3 Wochen vor der Aufnahme selbstän-dig wegen Hautulzerationen abgesetzt. Gewichtsverlust, Fieber oder Nacht-schweiß lagen nicht vor. Vorausgegan-gene thromboembolische oder Blu-tungsereignisse lagen nicht vor. Die Medikation bei Aufnahme bestand aus einer täglichen Gabe von Xipamid 20 mg, Metoprolol 95 mg, Amitriptylin 25 mg sowie Paracetamol 500 mg bei Be-darf. Im Verlauf des anschließenden stationären Aufenthalts entwickelte die Patientin aus der Ruhe heraus plötzliche Luftnot und einen atemabhängigen tho-rakalen Schmerz.

Klinischer Untersuchungsbefund: Bei Vorstellung in der Notaufnahme befand sich die Patientin in einem guten Allgemein- und einem adipösen Ernäh-rungszustand (Body-Mass-Index 27), 175 cm, 83 kg. Hautkolorit o.B. Keine tastbaren Lymphknoten oder Raumfor-derungen. Ödematöser rechter Ober- und Unterarm, normal temperiert, nor-males Kolorit. Periphere Armpulse rechts aufgrund eines Ödems nicht tast-bar, Sensibilität des rechten Arms nicht und Motorik schmerzbedingt einge-schränkt. Tastbare, den Rippenrand überragende Milz. Diskrete Beinödeme, ansonsten unauffälliger internistischer und neurologischer Untersuchungsbe-fund. Puls 88/min, Druck 150/70 mmHg, Temperatur 36,8 °C, pulsoxy-

ZUSAMMENFASSUNG

Fallbeschreibung: Eine 65-jährige Patientin stellte sich mit einem seit 1 Tag bestehenden schmerzhaften Ödem des rechten Arms vor. Seit 1988 ist bei der Patientin eine Polycythaemia vera (PV) bekannt. Die Gerinnungspa-rameter einschließlich der D-Dimere lagen im Normbereich. Phlebographisch wurde eine Thrombose der proximalen rechten V. subclavia diagnostiziert. 1 Woche nach stationärer Aufnahme entwickelte die Patientin eine D-Dimer-negative symptomatische Lungenembolie.

Schlussfolgerung: Bei klinischem Verdacht auf ein thromboembolisches Ereignis reicht die negative Prädiktion der D-Dimer-Bestimmung als Aus-schlusskriterium allein nicht aus. In diesem Fall sollte der Patient einer bild-gebenden Diagnostik zugeführt werden. Aufgrund der erhöhten Inzidenz thromboembolischer Ereignisse bei PV sollten die Patienten eine prophylak-tische Thrombozytenaggregationshemmung, z.B. mit Acetylsalicylsäure 100 mg/d, erhalten.

Schlüsselwörter: Polycythaemia vera · D-Dimere · Thrombose · Lungen-embolie · Prophylaktische Thrombozytenaggregationshemmnung Med Klin 2005;100:672–5.

DOI 10.1007/s00063-005-1092-3

ABSTRACT

Polycythemia Vera and D-Dimer-Negative Thromboembolism

Case Report: A 65-year-old patient with polycythemia vera (PV) was admitted with a painful edema of the right arm lasting for 24 h. The D-dimer assay was negative. By phlebography the patient was diagnosed with a fresh thrombosis of the right subclavian vein. 1 week later she developed a D-di-mer-negative symptomatic pulmonary embolism.

Conclusion: If clinical signs of a thromboembolic event are present, the negative predictive value of the D-dimer assay is not sufficient to abandon further definitive diagnosis. Since thromboembolic events are frequent in PV patients, a prophylactic treatment with low-dose acetylsalicylic acid is recom-mended.

Key Words: Polycythemia vera · D-dimer · Thrombosis · Pulmonary embo-lism · Prophylactic antiaggregation

Med Klin 2005;100:672–5.DOI 10.1007/s00063-005-1092-3

D-Dimer-negative Thromboembolien bei Polycythaemia veraJörg Bäsecke1, Imme Conradi1, Carsten P. Bramlage2, Alexander K. Scheel2, Lorenz Trümper1

1 Abteilung Hämatologie und Onkologie, Universitätsklinikum Göttingen,2 Abteilung Nephrologie und Rheumatologie, Universitätsklinikum Göttingen.

Eingang des Manuskripts: 17. 2. 2005.Annahme des überarbeiteten Manuskripts: 30. 6. 2005.

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metrische Sättigung bei Raumluft 98%.

Labordiagnostik: Im Blutbild bei Aufnahme (Tabelle 1) zeigten sich eine ausgeprägte Leuko- und Thrombozy-tose sowie eine geringgradige mikrozy-täre Anämie. Im Differentialblutbild waren leukozytäre und erythrozytäre Vorstufen im peripheren Blut sowie eine deutlich veränderte Erythrozyten-morphologie nachweisbar. Die Gerin-nungsparameter, insbesondere D-Dime-re, waren unauffällig. Das Ferritin war aufgrund der Eisendepletion durch die

hyperproliferative Erythropoese grenz-wertig niedrig und die Lactatdehydroge-nase (LDH) als Para-meter des Zellumsat-zes deutlich erhöht. Eine Knochenmark-diagnostik lehnte die Patientin ab.

Zum Zeitpunkt des Dyspnoeereignis-ses nach 1-wöchigem stationärem Aufent-halt ergab die arteri-elle Blutgasanalyse einen pO2 von 49,5 mmHg, einen pCO2 von 39,8 mmHg und eine Sauerstoffsätti-gung von 89%. Die D-Dimere waren auch zu diesem Zeit-punkt nicht erhöht.

Ergebnis der ap-parativen Untersu-chungen: Die Dopp-ler-Sonographie der Arterien des rechten Arms war unauffällig, es bestand somit kein Hinweis auf eine ar-terielle Embolie. Die Phlebographie ergab den Nachweis einer kompletten Throm-bose der proximalen V. subclavia dextra mit Kollateralen zur V. cava superior (Ab-bildung 1). Die farb-kodierte Doppler-Sonographie der Halsgefäße zeigte au-

ßerdem eine partielle Thrombosierung der V. jugularis interna rechts. In der Sonographie des Abdomens fielen eine deutlich vergrößerte Milz (20 × 9 cm) und eine vergrößerte Leber (17 cm in der Medioklavikularlinie) mit gestauten Lebervenen auf.

Im Rahmen des Dyspnoeereignisses während des stationären Aufenthalts wurden durch Herzechographie eine ausgeprägte Rechtsherzbelastung mit einer Trikuspidalinsuffizienz III. Grades und einer Pulmonalinsuffizienz I. Gra-des, ein Stau der V. cava inferior und eine akute Rechtsherzbelastung mit pa-

radoxer Septumbewegung nachgewie-sen. Der Durchmesser des rechten Ven-trikels und die Septumdicke waren diskret erhöht und betrugen 32 mm bzw. 12 mm (Normwerte < 30 mm bzw. 6–11 mm), der mittlere Druckgra-dient über der Trikuspidalklappe war mit 31 mmHg deutlich erhöht, ebenso der systolische Pulmonalarteriendruck, der 62 mmHg betrug. Eine Herzecho-graphie vor dem Dyspnoeereignis war nicht vorhanden. Es konnte daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Patien-tin bereits eine bislang nicht bekannte geringgradige chronische Rechtsherz-belastung aufwies, die durch eine akute Belastung überlagert wurde (Abbildung 2). Es wurde der Verdacht auf eine fri-sche Lungenembolie geäußert. In der Spiralcomputertomographie des Thorax konnten Thromben beidseits in den Unterlappen-Segmentarterien sowie in den Oberlappen-Segmentarterien links nachgewiesen werden. Die Pulmonal-arterienhauptstämme waren frei.

Diagnose: D-Dimer-negative Sub-klavia-Venenthrombose bei Aufnahme sowie im Verlauf Lungenembolie auf Segmentarterienniveau bei PV mit Thrombo- und Leukozytose.

Therapie und Verlauf

Die Patientin wurde nach Diagnose der Armvenenthrombose mit Heparin (1 000 IE/h) antikoaguliert. Die Therapie mit Hydroxyurea wurde wieder begon-nen. Unter einer Medikation von 3 × 500 mg wurde eine Normalisierung der Thrombozytenzahl erreicht. Nach Dia-gnose der Lungenembolie wurde die Patientin für 2 Tage auf eine Intensivsta-tion verlegt. Auf eine Lysetherapie, die

Tabelle 1. Laborparameter bei Polycythaemia vera mit trilineärer Dysplasie und Thromboembolien. APTT: aktivierte partielle Throm-boplastinzeit; Hb: Hämoglobin; Hkt: Hämatokrit; LDH: Lactat-dehydrogenase; MCH: mittlerer korpuskulärer Hämoglobingehalt; MCHC: mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration; MCV: mittleres korpuskuläres Volumen; TPZ: Thromboplastinzeit.

TPZ (Quick) 70–130% 70APTT 27–39 s 33Fibrinogen 170–400 mg/dl 230D-Dimere ≤ 0,50 mg/l 0,30Hb 11,5–15,0 g/dl 10,5a

Hkt 35,0–46,0% 36,7Erythrozyten 3,9–5,1 × 106/µl 5,53a

MCV 81–95 66a

MCH 26,0–32,0 pg 19,1a

MCHC 32,0–36,0 g/dl 29,1a

Thrombozyten 150–350 × 103/µl 954a

Leukozyten 4,0–11,0 × 103/µl 49,5a

Blasten 2Promyelozyten 3Myelozyten 1Metamyelozyten 3Stabkernige ≤ 8% 5Segmentkernige 40–76% 67Lymphozyten 20–45% 3a

Monozyten 3–13% 4Eosinophile ≤ 8% 7Basophile ≤ 2% 5a

Toxische Granulation ++Erythrozytenmorphologie• Anisozytose ++• Poikilozytose +• Polychromasie ++• Mikrozytose ++• Hypochrome Erys +P-LDH ≤ 232 U/l 857a

S-Ferritin 10–120 mg/l 18

a abweichende Werte

Parameter Referenz Wert

Abbildung 1. Digitales Subtraktionsangio-gramm des rechten Arms mit Darstellung der thrombosierten V. subclavia.

Bäsecke J, et al.Thromboembolien bei Polycythaemia vera

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bei fehlender hämodynamischer Instabi-lität kontrovers diskutiert wird [1], wur-de, auch angesichts einer grundsätzlichen erhöhten Blutungsgefahr im Rahmen der Grunderkrankung, verzichtet. Kurz vor der Entlassung wurde erneut eine farb-kodierte Doppler-Sonographie des Arms und der Halsgefäße durchgeführt, die eine fortbestehende komplette Throm-bose der V. subclavia rechts und eine partielle Thrombose der linken V. jugu-laris ergab. Überlappend zur Heparini-sierung erfolgte eine Antikoagulation mit Phenprocoumon, die für 6 Monate wei-tergeführt werden sollte. Anschließend wurde eine Thrombozytenaggregations-hemmung mit Acetylsalicylsäure (ASS) empfohlen. Die Patientin begab sich zur weiteren Betreuung zu einem niederge-lassenen Hämatologen.

DISKUSSION

Stellenwert der D-Dimere in der Diagnose von Thromboembolien

D-Dimere sind ein Indikator der endo-genen Fibrinolyse durch das Faktor-XI-II-quervernetzte Fibrin. Ihr Nachweis setzt eine stattgehabte Gerinnungsakti-vierung voraus. Die Sensitivität bzw. der negativ prädiktive Wert ist abhängig von dem Testverfahren, beträgt jedoch bei den neueren quantitativen Testsys-temen etwa 95% bzw. 0,95 [2, 3]. Die Spezifität ist dagegen gering, da sich D-

Dimere bei Gerinnungsaktivierung und vermehrtem Fibrinumsatz aus anderen Gründen wie Hämatomen und Infek-tionen nachweisen lassen.

Trotz hoher Sensitivität kann ein negativer D-Dimer-Test nicht ohne weiteres zum Ausschluss eines throm-boembolischen Ereignisses herangezo-gen werden. Sind deutliche klinische Zeichen einer akuten Thromboembolie vorhanden, so sollte eine weiterführen-de Diagnostik durchgeführt werden. Erst die Kombination von negativem D-Dimer-Test und fehlenden klinischen Zeichen bietet eine ausreichende Si-cherheit, um auf eine weiterführende Thromboemboliediagnostik zu verzich-ten [3, 4]. Im klinischen Alltag kommt es eher zu einer Überdiagnostik auf-grund falsch positiver D-Dimere. Hier kann die klinische Beurteilung helfen, zeit- und kostenaufwendige Untersu-chungen zu vermeiden.

Bei den meisten Patienten mit PV liegt eine grundlegende Aktivierung des Gerinnungssystems auch ohne klinisches thromboembolisches Ereignis vor. Diese lässt sich durch erhöhte Spiegel von plas-matischen Marker für Endothelschäden (u.a. Thrombomodulin, Von-Wille-brand-Faktor-Antigen) und solchen, die Hyperkoagulabilität bzw. Fibrinolyse anzeigen (Thrombin-Antithrombin-Komplex, Prothrombinfragmente 1 und 2 und D-Dimere) nachweisen [5–7]. Im Gegensatz hierzu zeigte sich in einer an-

deren Studie kein richtungweisender Unterschied in den Parametern für Ko-agulation und Fibrinolyse, insbesondere den D-Dimeren, zwischen PV-Patienten und einem gesunden Vergleichskollektiv [8]. In älteren Studien, in denen keine D-Dimere bestimmt wurden, zeigten sich eine erhöhte Gerinnungsaktivität und gleichzeitig Hinweise auf eine Hy-pofibrinolyse, ohne dass Letztere aller-dings mit einem Risiko für Thrombo-embolien korreliert war [9, 10]. Insgesamt ist daher die Studienlage hinsichtlich der Bestimmung der D-Dimere als Indikator fibrinolytischer Aktivität bei PV-Patien-ten, insbesondere solchen mit stattgehab-ten Thromboembolien, nicht eindeutig. Da in den jüngeren Studien [5–7] jedoch eine auch ohne klinische Thromboem-bolie vorhandene Hyperkoagulabilität bzw. Fibrinolyse mit erhöhten D-Dime-ren beobachtet wurde, besteht bei PV-Patienten vermutlich eher die Gefahr der Überdiagnostik.

Thromboembolische Ereignisse bei Polycythaemia vera, Management und Prophylaxe

Die PV ist eine klonale Stammzeller-krankung unklarer Ätiologie, gehört zu den myeloproliferativen Syndro-men und besitzt eine Inzidenz von ca. 2/100 000. Unbehandelt beträgt die mittlere Lebenserwartung 18 Monate, unter Therapie ca. 15 Jahre. Eine be-gleitende Thrombo- und Leukozytose tritt bei etwa 65% der Patienten auf. Im Verlauf kann es zur Osteomyelofi-brose, extramedullärer Blutbildung, zunehmender Splenomegalie, dem Auftreten unreifer weißer und roter Vorstufen im peripheren Blut und zur Transformation in eine akute myeloi-sche Leukämie (ca. 15% der Patienten) kommen. Das therapeutische Vorgehen ist altersbezogen. Unter 60 Jahren stehen Aderlässe mit idealerweise durch Eisen-mangel kontrollierter Erythropoese im Vordergrund, bei älteren Patienten oder nicht ausreichender Kontrolle werden zytostatische Therapien mit Hydroxy-urea, Interferon, Busulfan oder Phos-phor-32 durchgeführt [11]. Die Indika-tion zum Beginn einer Therapie ist u.a. ein Hämatokrit > 55%, eine symptoma-tische Splenomegalie oder eine Throm-bozytenzahl > 1–1,5 × 106/µl. Die häu-figste Komplikation bei der PV sind thromboembolische Ereignisse, die bei

Bäsecke J, et al.Thromboembolien bei Polycythaemia vera

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Abbildung 2. Herzechographie mit akuter Rechtsherzbelastung und ausgeprägter Trikuspidal-insuffizienz.

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Thromboembolien bei Polycythaemia veraMed Klin 2005;100:672–5 (Nr. 10)

bis zu 40% aller Patienten auftreten. Ar-terielle Embolien sind hierbei führend, venöse Thromben treten seltener auf (50,5% vs. 38,5%) [11, 12]. Thrombo-embolische Ereignisse stellen außerdem die häufigste letale Komplikation bei PV-Patienten dar (Tabelle 2), wobei arteri-elle thromboembolische Ereignisse wie Apoplex oder Myokardinfarkt einen hö-heren Anteil besitzen als venöse wie Lun-genembolie oder Sinusvenenthrombose. Hinsichtlich des Auftretens solcher Er-eignisse lassen sich Risikogruppen unter-scheiden. Aufgrund der vitalen Bedro-hung durch Thromboembolien kann diese Stratifizierung als zusätzliches The-rapiekriterium verwendet werden. PV-Patienten, die > 60 Jahre sind oder bereits Thromboembolien erlitten haben, wei-sen das höchste Risiko für solche Ereig-nisse auf. Durch eine zytostatische The-rapie mit dem Ziel einer Thrombozy-tenzahl von höchstens 400 000/µl lässt sich in dieser Patientengruppe die Inzi-denz von Thromboembolien signifikant senken. Jüngere Patienten ohne voran-gegangene Thromboembolien haben ein geringeres Risiko und werden bei Vor-liegen o.g. Indikationen mit Aderlass behandelt [13].

Letale Blutungen bei PV sind insgesamt selten und treten im Wesentlichen im Gastroin-testinaltrakt auf. Eine weitere häufige Todesursache sind Se-kundärneoplasien aufgrund der zytoreduktiven Vorbehand-lung, die sowohl hämato-poetische als auch solide Neo-plasien umfassen [12, 14].

Die Frage der Thrombo-seprophylaxe bei PV-Patienten ohne thromboembolische Vorgeschichte war Gegenstand mehrerer Studien. Werden PV-Patienten mit ASS in hö-herer Dosis (900 mg) behan-delt, steigt die Inzidenz von Blutungen [15]. Eine hochdo-sierte Gabe ist daher nicht empfehlenswert. Unter nied-riger Dosierung (40–250 mg) treten dagegen keine Blu-tungskomplikationen auf [14]. In einer jüngst publizierten großen europäischen Studie zeigte sich bei einer Gabe von 100 mg ASS/d eine deutliche Senkung thromboembolischer Ereignisse im venösen und ar-

teriellen Stromgebiet, ohne dass allerdings die Gesamtsterblichkeit signifikant ver-ringert war. Das Patientenkollektiv um-fasste vortherapierte Patienten mit nahe-zu normaler Thrombozytenzahl. Neben der zytoreduktiven Behandlung als we-sentlicher Bestandteil der Thromboem-bolieprophylaxe wird daher empfohlen, PV-Patienten ohne thromboembolische Vorgeschichte 100 mg ASS/d zu geben, falls keine Kontraindikation gegen eine Thrombozytenaggregationshemmung vorliegt. Nach stattgehabter Thrombo-embolie sollte die übliche Antikoagula-tion, d.h. in der Regel eine Phenprocou-mongabe über 6 Monate, gefolgt von niedrigdosierter ASS, verabreicht werden [16]. Prospektive klinische Studien über die Vorteilhaftigkeit einer länger dauern-den Antikoagulierung bei PV-Patienten nach stattgehabter Thromboembolie lie-gen bislang nicht vor, die Gefahr von Blutungen scheint insgesamt deutlich er-höht zu sein [17].

Danksagung

Für die Überlassung der Abbildung der Herzechographie danken wir Herrn Dr. Erik Bürger, Abteilung Kardiologie

und Pneumologie des Klinikums Göt-tingen.

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KorrespondenzanschriftDr. Jörg BäseckeAbteilung Hämatologie und OnkologieUniversität GöttingenRobert-Koch-Straße 4037075 GöttingenTelefon (+49/551) 398535Fax -12534E-Mail: [email protected]

Tabelle 2. Komplikationen mit letalem Ausgang bei Patien-ten mit Polycythaemia vera (nach [11, 13]). AML: akute myeloische Leukämie; ZNS: Zentralnervensystem.

Kardiovaskulär-thromboembolisch 36,3 Arterielle Thromboembolien 23,9• Myokardinfarkt 7,3• Apoplex 8,8• Andere 7,8Venöse Thromboembolien 5,1• Lungenembolie 3,1• Sinusvenenthrombose 1,0• Mesenterialvenenthrombose 1,0Andere kardiovaskuläre Ursachen 7,3

Blutungen 3,1Gastrointestinal 2,6ZNS 0,5

Neoplasien 29,7AML 14,6Mammakarzinom 2,6Bronchialkarzinom 2,1Andere 10,4

Anderea 30,7

a u.a. Leberversagen, myelodysplastisches Syndrom

Komplikationen Patienten (%)