archithese 5.09 - Rekonstruktion & Adaption

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archithese Marketing mit Moderne Neue Altstädte: Dresden und Frankfurt am Main 5×5Jetztzeithäuser Römerberg, Frankfurt am Main Geschichtsversessenheit und Geschichtsvergessenheit Besser Bauen als im Mittelalter: Carl Schäfer und der Historismus David Chipperfield: Restaurierung des Neuen Museums, Berlin Zwischen Polemik und Relevanz: 25 Jahre Prinz Charles FAT: Kunstschule SintLucas in Boxtel Traditionelle Architektur in den Niederlanden Russland und die Rekonstruktion: Stil einer neuen Identität Christian Kerez: Schulhaus Leutschenbach, Zürich UNStudio: MUMUTH – Haus für Musik und Musiktheater, Graz Bernard Tschumi: Neues Akropolismuseum, Athen Wettbewerb: Neues Thermalbad in Baden 5.2009 Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur International thematic review for architecture Rekonstruktion & Adaption

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architheseMarketing mit Moderne

Neue Altstädte: Dresden und Frankfurt am Main

5×5Jetztzeithäuser Römerberg, Frankfurt am Main

Geschichtsversessenheit und Geschichtsvergessenheit

Besser Bauen als im Mittelalter: Carl Schäfer

und der Historismus

David Chipperfield: Restaurierung des

Neuen Museums, Berlin

Zwischen Polemik und Relevanz: 25 Jahre Prinz Charles

FAT: Kunstschule SintLucas in Boxtel

Traditionelle Architektur in den Niederlanden

Russland und die Rekonstruktion: Stil einer

neuen Identität

Christian Kerez: Schulhaus Leutschenbach, Zürich

UNStudio: MUMUTH – Haus für Musik

und Musiktheater, Graz

Bernard Tschumi: Neues Akropolismuseum, Athen

Wettbewerb: Neues Thermalbad in Baden

5.2009

Internationale Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur

International thematic review for architecture

Rekonstruktion & Adaption

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2 archithese 5.2009

E d i t o r i a l

Rekonstruktion und Adaption

Mehrere Generationen von Architekten haben sich am Dom-Römerberg-Bereich

in Frankfurt am Main abgearbeitet. Derzeit sollen mit dem Technischen Rathaus

und dem Historischen Museum die Zeugnisse der Siebzigerjahre elimiert werden –

zugunsten einer kleinteiligen Bebauung, welche die mittelalterliche Handwerker-

stadt beschwört.

Rekonstruktion oder Neubau; diese Debatte wurde schon vor dreissig Jahren

geführt – und mündete schliesslich in die Realisierung der 1986 fertig gestellten

Römerberg-Ostzeile. 1978 hatte sich die Stadtverordnetenversammlung gegen

eine bisher vorgesehene moderne Lösung entschieden, im Dom-Römerberg-Wett-

bewerb von 1980 – aus dem der Kulturkomplex der Schirn hervorging – den Archi-

tekten indes noch einmal nahe gelegt, Alternativen zur pseudohistorischen Rekon-

struktion zu erarbeiten. Ausser Konkurrenz blieb der Vorschlag von Adolf Natalini

und Superstudio, der die sich überlagernden Zeitschichten lesbar gemacht hätte;

das Büro aus Florenz thematisierte ebenso den rigiden Raster der Tiefgarage, die

inzwischen das Gelände ausfüllte, wie die historische Gassenstruktur der Altstadt.

Der Vorschlag sei «eines der schönsten Architekturgedichte, das die jüngste Archi-

tekturgeschichte hervorgebracht hat», urteilte seinerzeit Oswald Mathias Ungers.

Doch am Ende setzte sich das nach Fotografien nachgebildete historische Bild

durch, das Landesdenkmalpfleger Gottfried Kiesow warnend als «Zeitdokument

für die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts einstufte». Allerdings, das ist zu kon-

zedieren, dürften die meisten Touristen, die vor der sonnenbeschienenen Ostzeile

ihren Apfelwein trinken, den Unterschied von Original und Fälschung kaum be-

merken. Und zu den Touristen gesellen sich Frankfurter.

Gerade in Deutschland tobt derzeit der Rekonstrukionswahn – ob in den Innen-

städten von Frankfurt oder Dresden, ob in Berlin, Braunschweig, Hannover oder

Potsdam, wo die einst stadtbildprägenden Schlossbauten als Fassadenkulissen

mit neuer Nutzung zum Wiederaufbau vorgesehen sind. Längst aber erstreckt sich

der Wunsch nach dem Wiederauferstehen zerstörter Bauten auch auf Meilensteine

der klassischen Moderne, wie die Debatte um das Meisterhaus von Walter Gropius

in Dessau belegt.

Wer indes einmal den ebenfalls neu errichteten Barcelona-Pavillon von Mies van

der Rohe oder den L’Esprit Nouveau-Pavillon von Le Corbusier in Bologna besucht

hat, wird vielleicht Wiederherstellungen nicht kategorisch ablehnen können.

Die Autorinnen und Autoren fokussieren ein Spektrum, das sich zwischen Re-

konstruktion und Adaption erstreckt, auf unterschiedliche Weise. Dabei kommen

auch Bauten zur Sprache, die zeigen, wie traditionelle Architekturelemente zitiert

werden können – handle es sich um das Beispiel des Historisten Carl Schäfer, die

zeitgenössischen Siedlungen des Büros Krier & Kohl oder das Gothic Revival von

FAT für eine Kunstschule im niederländischen Boxtel.

Redaktion

Frankfurt am Main, Dom-Römerberg-Bereich, Luftbild um 1974

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14 archithese 5.2009

Christian Kerez: sChulhaus leutsChen-

baCh, züriCh-sChwamendingen

Die Schulanlage Leutschenbach ist das Resul-

tat eines Entwurfsprozesses, der von einem

additiven Gebäudekonzept zu einer Synthese

geführt hat, die als Paradigma einer grund-

sätzlich neuen Architektur verstanden werden

kann. Konzeptionelle Zuspitzung generierte

ein Bauwerk, das hochgradige Komplexität mit

formaler Stringenz in Einklang bringt.

schwamendingen und die umliegenden stadtge-

biete zählen zu den wachsenden Quartieren von

zürich und sind besonders bei Familien beliebt.

neue wohnsiedlungen prägen insbesondere das

entwicklungsgebiet leutschenbach, das – früher

industriell genutzt – im rahmen einer kooperativen

entwicklungsplanung an der schnittstelle zwischen

schwamendingen und Oerlikon neu entsteht. mit

den jüngst hinzugezogenen und künftigen bewoh-

nern wächst der bedarf an städtischer infrastruktur.

das betrifft nicht zuletzt den schulsektor, zumal auch

die bestehenden, in den vergangenen Jahren zum

teil erweiterten schulen im benachbarten stadtteil

schwamendingen an die grenzen ihrer Kapazität

gestossen sind.

unter Federführung des amtes für hochbau-

ten der stadt zürich wurde deshalb 2002 / 2003 ein

zweistufiges wettbewerbsverfahren für den neubau

eines Primar- und Oberschulhauses durchgeführt,

das vom architekturbüro Christian Kerez gewon-

nen wurde. mit insgesamt 22 Klassenzimmern, einer

doppelsporthalle, mediathek, bibliothek, multifunk-

tionssaal, mensa, Kindergarten und einer reihe von

werkstätten und spezialräumen handelt es sich um

das (nach der schule im birch) zweitgrösste schul-

haus der stadt.

Christian Kerez hatte die Jury unter dem Vorsitz

von Peter ess mit einem ungewöhnlichen Konzept

überzeugen können: während das umfangreiche

raumprogramm üblicherweise in einzelne Volumina

gegliedert und nebeneinander angeordnet wird, ver-

dichtete er es hier zu einem kompakten baukörper,

sodass die Freifläche des neu entstehenden, sich

zwischen andreasstrasse und hagenholzstrasse

aufspannenden andreasparks nur in geringem mas-

se tangiert wird. die grünfläche, als rasenterrain zu-

rückhaltend gestaltet, bildet den erholungsraum für

das entwicklungsgebiet leutschenbach, das nach

süden hin, jenseits der s-bahn-trasse, an das saat-

lenquartier von schwamendingen angrenzt.

als dreissig meter hoch aufragendes gebäude

korreliert das neue schulhaus mit den benachbarten

wohngebäuden ebenso wie mit der markanten Kehr-

richtverbrennungsanlage, setzt einen gegenakzent

zu den kleinteilig strukturierten wohnbebauungen

aus den nachkriegsjahrzehnten in schwamendingen

und fungiert als zeichen des urbanistischen auf-

bruchs im zürcher norden. explizite Kontextualität

wurde in dieser umgebung nicht gesucht – als so-

litär steht das bauwerk in einer heterogenen stadt-

landschaft, wie dies für die grenze zwischen stadt

und agglomeration typisch ist. die starke resonanz,

die das neue schulhaus schon während der Pla-

nungsphase in der internationalen Fachöffentlichkeit

gefunden hat, belegt die emblematische bedeutung

der schulanlage leutschenbach für die städtebauli-

che entwicklung der stadt zürich.

doch das gebäude ist nicht nur ein des nachts

wie eine grosse laterne erstrahlendes zeichenhaftes

Volumen, nicht nur ein revolutionär neu gedachtes

schulhaus, sondern das hinsichtlich seiner Konzep-

tion radikalste gebäude der schweizer gegenwarts-

architektur.

ungewöhnlich ist ausser der stapelung sämtli-

cher räume in einem einzigen bauwerk schon auf

den ersten blick die anordnung der Funktionsberei-

che. die doppelturnhalle, zumeist ebenerdig oder

in den boden vertieft angelegt, bildet den oberen

abschluss des gebäudes. den stützenfreien, in sei-

nen abmessungen vorgegebenen raum der sport-

halle mit den übrigen geschossen zu überbauen,

hätte Probleme bei der lastabtragung erzeugt; daher

entschieden sich architekt und tragwerksplaner –

a r C h i t e K t u r a K t u e l l

Schwebend monumental

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1 Innenasicht der Sporthalle(Fotos: Walter Mair)

das Projekt wurde seit der wettbewerbsphase von

dem ingenieur Joseph schwartz begleitet – zu der

umgekehrten lösung.

Evolution der Struktur

der wettbewerbsentwurf sah eine Kombination von

stahlfachwerken in den unterrichtsgeschossen und

der turnhalle sowie betonwänden in den zwischen-

ebenen (erdgeschoss, viertes Obergeschoss) vor.

dabei arbeiteten architekt und ingenieur mit der

addition präfabrizierter elemente.

während der Planung wurde das Konzept – an

unzähligen modellen in einem evolutionären Prozess

weiterentwickelt – grundlegend geändert. der struk-

tur die beliebigkeit auszutreiben, war ziel und resul-

tat dieser Operation. eine radikale zuspitzung, wie

sie das realisierte schulhaus leutschenbach zeigt,

ist in der schweizer architektur bisher ohne Vergleich.

den statischen Kern des gebäudes bildet das als

hinter die Fassaden zurücktretende Fachwerkkons-

truktion ausgebildete vierte Obergeschoss, dessen

last über sechs stützen in die betonbox des un-

tergeschosses eingeleitet wird. wie auf einem tisch

steht die sporthalle auf dem vierten Obergeschoss.

zugleich aber sind die drei schulgeschosse als stahl-

gerüstkonstruktion von dieser ebene abgehängt. so

ergibt sich eine rhythmisierung und funktionale dif-

ferenzierung des Volumens: die erdgeschoss- und

eingangsebene mit mensa und schülerclub wird von

dem block der drei Klassenebenen, das vierte Ober-

geschoss mit multifunktionshalle, bibliothek und me-

diathek von der annähernd gleich proportionierten

box der sporthalle überfangen. die stahltragwer-

ke mit ihren charakteristischen, diagonalen Verstre-

bungen traten aus funktionalen gründen in der

sporthalle vor die glashaut, und dieses Prinzip wur-

de auch für die Klassengeschosse adaptiert.

die hybride stuktur, wie sie der wettbewerbsent-

wurf zeigte, wurde somit zugunsten einer reinen

stahlkonstruktion suspendiert, in welche die boden-

und deckenplatten als horizontale und aussteifende

Flächen einbetoniert sind. so gelang eine Verein-

heitlichung: synthese anstelle von addition. tragen

und lasten sind in physische abhängigkeit gebracht.

gleichzeitig werden räumliche unterschiede bis zum

Äussersten zugespitzt. einfachheit und Komplexität

fallen in eins.

Neue Organik

das Verhältnis von Kern und hülle, von tragwerk und

Fassade ist eines der zentralen themen der jüngeren

architekturgeschichte. die dialektik von haut und

Knochen, wie sie in den stahlskelettbauten eines

mies van der rohe ihre klassische Formulierung

gefunden hat, ist in der architektur der vergangenen

Jahrzehnte einem Primat der Fassade gewichen,

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Text: Mathias Remmele

In Deutschlands Städten grassiert seit einigen Jahren das

Rekonstruktionsfieber, und ein Ende ist nicht abzusehen.

Am heftigsten wütet das Virus – wenig überraschend – an

jenen Orten, in denen man sich während der Nachkriegszeit

entschieden von den lokalen Traditionen und gewachsenen

Strukturen verabschiedete und einen Wiederaufbau betrieb,

der sich städtebaulich und architektonisch an den Vorgaben

der internationalen Moderne sowie am Leitbild der auto-

gerechten Stadt orientierte. Während es mancherorts um die

(Teil-)Rekonstruktion mehr oder minder bedeutender Einzel-

bauwerke geht – etwa um Schlossfassaden, wie in Potsdam,

Berlin, Hannover oder Braunschweig – wird in anderen Städ-

ten um die Wiedererrichtung ganzer Altstadtquartiere gerun-

gen, so etwa in Dresden und Frankfurt. Um die dortigen, teil-

weise bereits realisierten Planungen soll es hier gehen. Die

Diskussionen, die damit verbunden sind, spielen sich nicht

nur innerhalb der Fachwelt ab, sondern bewegen, zumindest

Rekonstruktionsversuche in Dresden und Frankfurt am Main In Dresden und Frankfurt ringt man um die

adäquate Gestaltung neu errichteter Altstadtquartiere. Während die Befürworter einer weitgehend kompromisslosen

Rekonstruktion verlorener historischer Bauten in der Offensive sind, hat die zeitgenössische Architektur dort einen

überraschend schweren Stand.

Neue Altstädte

lokal, eine breite Öffentlichkeit. Sie sind vielschichtig, facet-

tenreich und komplex, erscheinen oft ideologisch aufgeladen

und werden entsprechend hitzig ausgetragen. Sie betreffen

das Verständnis von Architektur, ihre Aufgabe und Wertig-

keit, ihr Verhältnis zu Geschichte und Tradition. Sie berühren

die funktionale und vor allem bildliche Vorstellung von Stadt

und schliesslich auch ökonomische und planungsrechtliche

Fragen.

Neumarkt Dresden

Beginnen wir mit Dresden. Die Dresdner Altstadt, jenes viel-

gerühmte Rokoko-Schmuckkästchen, das nicht zuletzt dank

Canalettos Stadtansichten im kollektiven Gedächtnis ver-

ewigt ist, ging bekanntlich in jenem infernalischen Bomben-

angriff vom Februar 1945 unter, der Tausende Menschen das

Leben kostete und unzählige Baudenkmäler in Schutt und

Asche legte. Während in den ersten Jahren nach dem Welt-

krieg einige der bedeutendsten Einzelbauwerke der sächsi-

1 Vom Kulturpa-last aus gesehen präsentiert sich die wiederaufgebaute Dresdner Frauenkir-che heute inmitten ihrer etwa zur Hälfte fertig gestell-ten alten städtebau-lichen Fassung(Fotos 1, 5, 6 + 7: Mathias Remmele)

1

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2 Lageplan Neu-markt mit geplan-ten Baufeldern, Leitbauten und Fassadenrekonst-ruktionen(Quelle: Stadt Dresden)

3 Das östlich der Frauenkirche gele-gene Palais Cosel gehörte zu den ersten nach dem historischen Vorbild rekonstruierten «Leitbauten» (Fotos 3 + 4: Hubertus Adam)

schen Hauptstadt wie Zwinger, Schlosskirche und Sempers

Gemäldegalerie wiederhergestellt oder gesichert wurden,

blieb das Zentrum der bürgerlichen Altstadt rund um Frau-

enkirche und Neumarkt nach der Ruinenräumung jahrzehnte-

lang unberührt. Ein gewaltiger, schwarzer Steinhaufen, aus

dem kümmerliche Mauerreste ragten, markierte den Standort

der Frauenkirche, deren Trümmer das wohl eindrücklichste

Anti-Kriegs-Mahnmal der Republik bildeten. Drumherum

breitete sich bis vor wenigen Jahren eine öde, als Parkplatz

genutzte Stadtbrache aus, die von der Kunstakademie bis zur

Randbebauung der Wilsdruffer Strasse reichte.

Was in den beiden Jahrzehnten seit der Wende mit dem

prominenten Areal geschah, war bereits zu DDR-Zeiten ge-

danklich und planerisch vorbereitet worden. Schon in den

späten Siebzigerjahren entwickelte man Pläne für den Neu-

markt, die auf eine Wiederherstellung der alten städtebauli-

chen Situation abzielten. 1979 begann man, den Wiederauf-

bau der Frauenkirche zu erwägen, und 1981 berief man sogar

eine zunächst folgenlose internationale Entwurfswerkstatt

für den Neumarkt ein. Auch das Konzept der sogenannten

Leitbauten, das für die weiteren Geschicke des Geländes in

der Nachwendezeit so wichtig wurde, entstand schon in den

Achtzigerjahren. Es sieht vor, bei einer Neubebauung des

Areals eine Reihe von architekturgeschichtlich besonders

bedeutenden und entsprechend gut dokumentierten Häu-

sern am ursprünglichen Standort möglichst originalgetreu

zu rekonstruieren. Dabei sollten die Leitbauten einerseits –

ähnlich wie die Frauenkirche – verlorene Baukunst wieder

physisch erlebbar machen und auf die Geschichtlichkeit des

Quartiers verweisen, andererseits bestand ihre Funktion da-

rin, für die übrige Bebauung hinsichtlich Kubatur und Grösse

einen verbindlichen Massstab zu setzen. Mit anderen Worten,

es war eine zeitgenössische Bebauung mit ein paar histori-

schen Reminiszenzen vorgesehen, mit deren Hilfe man dem

besonderen Charakter des Areals im Zentrum der Stadt zu

entsprechen hoffte.

Ein kurz nach der Wende veranstalteter Workshop zur

Dresdner Stadtentwicklung, bei dem Fachleute aus Ost und

West zusammenkamen, bestätigte die bereits vorhandenen

Überlegungen zum Neumarktgebiet. Der Beschluss zum Wie-

deraufbau der Frauenkirche, der zwischen 1994 und 2005

umgesetzt wurde, hat die Planungen für das Areal zusätzlich

beflügelt, das bald zu einem Brennpunkt der Stadtentwick-

lung wurde. 1995 / 1996 verabschiedete die Stadt eine Gestal-

tungssatzung, in der die Wiederherstellung des historischen

Stadtgrundrisses und das Konzept der Leitbauten rechtlich

festgeschrieben wurde.

Damit war die Grundlage für eine Neubebauung gelegt,

an der sich seither nichts Entscheidendes geändert hat.

Hoch waren allseits die Erwartungen an den Wiederauf-

bau des Neumarktareals. Man erhoffte sich geschichtliche

Identität, herausragende zeitgenössische Architektur, eine

breite Nutzungsmischung, funktionale Flexibilität und sozi-

ale Diversität, kurz, alles, was zum Idealbild eines lebendi-

gen, ästhetisch attraktiven Stadtquartiers gehört. Wie immer

reiften nicht alle Blütenträume.

Bereits einer der ersten realisierten Leitbauten, das Cosel-

Palais, provozierte Kritik, weil sie dem Vorbild nicht genü-

gend folgte. Als dann der gleiche Investor gleich hinter dem

Palais ein dezidiert zeitgenössisches Gebäude errichten

liess, hat das einige selbsternannte Gralshüter des Dresd-

ner Architekturerbes derart aufgeschreckt und erbost, dass

sie 1999 die Bürgerinitiative Gesellschaft Historischer Neu-

markt Dresden gründeten, deren vorrangiges Ziel es ist, das

gesamte Neumarktareal nach historischen Vorlagen in ver-

meintlich alter Pracht wiedererstehen zu lassen. Man beruft

sich dabei auf die Geschichte, die identitätsstiftende Rolle

des Platzes, auf seine herausragende baukünstlerische Qua-

lität und nicht zuletzt auf seine Attraktivität für die Touristen.

Dahinter verbirgt sich ein verklärter Blick auf die Geschichte,

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Text: Jürgen Tietz

Friedrich August Stüler gilt als der bedeutendste Schüler Karl

Friedrich Schinkels, und das Neue Museum, das 1843 – 1855

nach dem Entwurf Stülers entstand, als sein Meisterwerk.

Ein Bauwerk, das sowohl aus museologischer als auch aus

bautechnischer Sicht wegweisend ist. Gleich einem moder-

nen Themenpark bemühte es sich seinerzeit darum, den

bildungsbeflissenen Besuchern einen gesamtheitlichen Ein-

blick in vergangene Zeiten zu ermöglichen. Mit seinen stim-

mungsvollen Dekorationen und Wandgemälden entführte

es sie in die fernen Welten der Antike Ägyptens, Roms und

Griechenlands. Dabei bot das Neue Museum gleichermassen

Raum für die Ägyptische Sammlung, die «Vaterländischen

Altertümer» wie auch für die Gipsabgüsse, die im 19. Jahr-

hundert hoch geschätzt wurden. Als Universalmuseum stellt

das Neue Museum daher einen Meilenstein in der Museums-

geschichte dar. Seine besondere baugeschichtliche und bau-

technische Bedeutung liegt in der Verwendung der damals

neuen, industriell vorgefertigten Eisenträger der Firma Bor-

sig sowie der leichten Topfziegel.

Wegweisend ist aber auch die aktuelle Restaurierung und

Ergänzung des Neuen Museums durch das Architekturbüro

von David Chipperfield. War der angemessene denkmalpfle-

gerische Umgang mit diesem hochkarätigen Denkmal alleine

schon eine Herausforderung, so wurde die Aufgabe durch

das von Rekonstruktionsforderungen aufgeheizte Klima der

letzten Jahre in Berlin nicht leichter. Doch ihm wusste Chip-

Die Restaurierung des Neuen Museums in Berlin durch David Chipperfield Ein besonderes Bauwerk schon zur

Zeit seiner Entstehung, ist das Neue Museum heute ein vorbildliches Beispiel einer gelungenen Restaurierung.

Die unterschiedlichen Zeit- und Geschichtsspuren bleiben in den Innenräumen sowie an der zum Teil stark zerstörten

Fassade des Museums sichtbar. Keine Hochglanzrekonstruktion, wie sie so manchem Geschichtsnostalgiker in

Berlin lieber wäre, sondern ein sorgfältiger Umgang mit der erhaltenen Bausubstanz und präzise bauliche

Ergänzungen sorgen für einen differenzierten Dialog zwischen Alt und Neu.

Meilenstein der denkMalpflege

perfield ein kluges und differenziertes Restaurierungskon-

zept entgegenzusetzen.

Restaurierung statt Rekonstruktion

Nach den schweren Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg

blieb das Neue Museum während der DDR-Zeit annähernd

ein halbes Jahrhundert lang in ruinösem Zustand – mit gra-

vierenden Folgen für die erhaltenen Reste des Gebäudes, die

der Witterung ausgesetzt waren und daher immer weiter ver-

fielen. Noch in den Achtzigerjahren lag dieses Meisterwerk

der Berliner Baukunst des 19. Jahrhunderts in Trümmern.

Nach ersten, noch DDR-zeitlichen Eingriffen in den späten

1

2

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Achtzigerjahren, die eine Komplettrekonstruktion des Neuen

Museums zum Ziel hatten, erhielt schliesslich Chipperfield

1997 nach einem Wettbewerb den Auftrag für eine ergän-

zende Wiederherstellung des Museums. In Zusammenarbeit

mit dem britischen Denkmalpfleger und Architekten Julian

Harrap hat Chipperfield ein sensibles Restaurierungskon-

zept entwickelt. Es geht von einer schrittweisen Konservie-

rung und Grundsicherung des vorhandenen Bestandes aus.

Der Grad der baulichen und restaurierenden Eingriffe in die

Denkmalsubstanz variiert dabei nach dem jeweiligen Erhal-

tungszustand beziehungsweise dem Zerstörungszustand

des betreffenden Saales. Denn während sich im Niobidensaal

nicht nur die Wandgemälde und vergoldeten Bogensehnen-

träger in grossen Teilen erhalten hatten, standen im him-

melweit offenen Modernen Saal kaum mehr als die ebenfalls

beschädigten Säulen. Daher bildeten sowohl die Geschichte

des Bauwerks als auch seine etappenweise Zerstörung in der

Kriegs- und Nachkriegszeit für Chipperfield gleichermassen

Ankerpunkte bei der Restaurierung. Ganz deutlich vertrat er

dabei die Position: «Man kann nicht so tun, als sei nichts ge-

schehen und das Gebäude rekonstruieren, ganz so, als wäre

es nie beschädigt gewesen.»

Chipperfields Konzept erweist sich als eine Gratwande-

rung. Denn einerseits ging es darum, die originale Bausub-

stanz einschliesslich ihrer unterschiedlichen Zeit- und Zer-

störungsspuren möglichst weitgehend zu bewahren. Ande-

rerseits durften die Museumsräume natürlich nicht optisch

in Einzelteile zerfallen, sondern es musste ein geschlosse-

ner Raumeindruck gewahrt bleiben, in dem die kostbaren

Exponate ihre Wirkung entfalten können. Schliesslich wird

im Neuen Museum ab dem 16. Oktober 2009 zusammen mit

der Büste der Nofretete wieder die hochkarätige Ägyptische

Sammlung der Staatlichen Museen zu sehen sein. Anstelle

der zunächst veranschlagten 233 Millionen Euro kostete die

aufwendige Restaurierung der Welterbestätte, die in zehn

Jahren Planungs- und Bauzeit verwirklicht wurde, letztlich

rund zweihundert Millionen Euro.

Zur Umsetzung der Restaurierung war freilich eine ganze

Armada von Fachleuten und Restauratoren notwendig. Und

so reichte die Auseinandersetzung mit dem Bau bis in die

Grundlagenforschung hinein, etwa bei der Erhaltung und Si-

cherung der mit Pilz befallenen und stark schadhaften Tapete

im Mythologischen Saal.

Fassade

Wie bei der gesamten Restaurierung des Neuen Museums

kennzeichnen auch bei den Fassaden zwei Grundsätze den

Umgang mit dem schwer beschädigten Baudenkmal: «Alle

Überlegungen gingen vom Bestand aus», erklärt Martin Rei-

chert vom Büro von David Chipperfield. «Das Ziel war eine

3 Blick in den Eth­nographischen Saal hinter der Treppe (Fotos 3, 5, 6+7: Christian Richters)

1 November 1943. Die ausgebrannte Treppenhalle kurz nach dem Bomben­angriff. Die Gips­figuren der Koren­halle hatten den Bombenangriff überstanden, waren aber in den folgen­den Jahrzehnten ungeschützt der Witterung ausge­setzt und wurden dabei restlos zerstört (Foto: Rosa Mai / SMB Zentralarchiv)

2 Treppenhalle nach der Restaurie­rung (Foto: Jörg von Bruchhausen)

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76 archithese 5.2009

Text: Hannes Mayer

Dass den Architekten ein überzeugter Kritiker ihrer Zunft

ins Haus stand, dämmerte den Verantwortlichen schon am

Tag des 30. Mai 1984, der Rede zum 150. Geburtstag des

Royal Institute of Architecture (RIBA). Des jungen Prinzen

Rede sickerte zu den Tageszeitungen Guardian und The

Times durch und wurde von dort an die RIBA weitergeleitet.

Besorgt um die Würdigung des Abends und des zu ehrenden

Empfängers der Royal Gold Medal, Charles Correa, wurde

versucht, den Prinzen von Wales auf eine besonnenere Wort­

wahl umzustimmen – jedoch ohne Erfolg. Vom bevorstehen­

den Skandal angezogen, erschienen die Medien zahlreich

und sollten von nun an dafür sorgen, dass die Äusserungen

des Prinzen und die Reaktionen darauf zum Volk gelangten.

Und in der Tat spielten «die gewöhnlichen Leute» eine wich­

tige Rolle in der Rede des Prinzen. Sie wurden zum idealisier­

ten Träger einer traditionellen Architektur, einer «Masse»,

die sich in «natürlicher Vorliebe» für Kleingärten, Höfe, Tor­

bögen und Erker ausspricht.1 Die Gemeinschaft, zerrissen

25 Jahre Prinz Charles und die Architektur Vom Heiligen Krieg für traditionelle Architektur sprechen die einen,

von der «Vision of Britain» die anderen. Seit 1984, als Prinz Charles aus Anlass des 150. Geburtstages des Royal Institute

of British Architects die Festrede zur architektonischen Lage der britischen Nation hielt, leistet sich der Thronfolger

einen wort­ und tatenreichen Kampf mit den führenden Köpfen der britischen Architekturszene. Zum Jubiläum hat

der Prinz mit einem Brief an den Bauherrn den Entwurf seines Widersachers Richard Rogers für die Chelsea Barracks

in London zu Fall gebracht und die alten Grabenkämpfe wiederbelebt. Doch hinter dem polarisierenden Kriegsgeheul

steht eine Auseinandersetzung, die in hohem Masse die Entwicklung der englischen Architektur und Stadt themati­

sierte sowie nachhaltig prägte. Ein Rückblick auf Diskussionen und Resultate.

Zwischen Polemik und RelevanZ

und bedroht durch die oktroyierte Arroganz und Zerstörungs­

wut der Architekten in Form des Modernismus, berge den

Keim für die Bewahrung alter Bausubstanz, Kleinmassstäb­

lichkeit und die Wiederbelebung der Innenstädte; Fassaden,

Ornament und natürliche Baumaterialien gäben der Archi­

tektur ein menschliches Antlitz.

Hätte es der Prinz bei diesem Aufruf belassen, er hätte

wohl trotz des Angriffs auf das Gestaltungsmonopol der

Architekten viele Unterstützer in der Profession gefunden.

Auch sie sahen das immense Problem daniederliegender

Innenstädte und den sozial wie baulich katastrophalen Zu­

stand vieler in Billigstbauweise errichteter Council Estates,

welche in den Sechziger­ und Siebzigerjahren überwiegend

viktorianische Slumquartiere ersetzt hatten.2 Die Herange­

hensweise an den Wiederaufbau nach den Kriegsschäden,

insbesondere in London, und die Betonexperimente der eng­

lischen Brutalisten schieden, wie in vielen anderen Ländern,

zumindest die Geister. Doch Prinz Charles ging im letzten

Teil seiner Rede von der Anregung zur Attacke auf einzelne

1 Buchcover, Charles Jencks, The Prince, The Architects and New Wave Monarchy, London 1988.

2 Buchcover, HRH The Prince of Wales: A Vision of Britain – A Personal View of Architecture, London 1989.

1 2

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Projekte über. Besorgt um die Skyline der City of London

und die Dominanz der Wren’schen St. Paul’s­Kuppel, geisselte

er das Vorhaben seines Polo­Teamkollegen Lord Palumbo

als gigantischen Glasstumpf – Palumbo hatte westlich der

Bank und des Mansion House über Jahre hinweg zahlreiche,

zum Teil denkmalgeschützte Gebäude aufgekauft und wollte

darauf post mortem einen dem Seagram Building von Mies

van der Rohe ähnlichen Büroturm errichten. Ebenso wenig

Anklang fand beim Prinzen der Wettbewerbssieger für die

Erweiterung der National Gallery am Trafalgar Square. Das

Projekt von Ahrends Burton Koralek bezeichnete er zuerst als

«Feuerwache samt Sirenenturm» und später als «Karbunkel

auf dem Gesicht eines geliebten Freundes»3. Schlimmer als

die Schmähbezeichnungen wog jedoch die Tatsache, dass

sich beide Projekte zu dieser Zeit in Genehmigungsphasen

befanden. Im Falle des Palumbo­Projektes handelte es sich

gar um den Einspruch zur vorausgegangen Ablehnung, ei­

ner wegen des Abbruchvorhabens langwierigen Debatte und

öffentlichen Konsultation sowie Anhörung von Spezialisten.

«Two decisions I don’t have to make» flüsterte der damalige

Environment Secretary Patrick Jenkin seinem Nachbarn zu.

An ihn war der Einspruch gerichtet worden, er hatte zu ur­

teilen.

Die dritte Intervention startete Prince Charles mit der

Mansion House­Rede im Dezember 1987. Seinen Einfluss

anerkennend, hatte Stuart Lipton, wie Palumbo ein bedeu­

tender Developer, den Prinzen zuvor um eine Beurteilung

der Wettbewerbsbeiträge für das Paternoster Square Areal

an der Nordseite von St. Paul’s gebeten. Der Prinz war ent­

setzt über die Dichte der Bebauung und rief dazu auf, ange­

sichts der nationalen Bedeutung der Kirche die den Profit

maximierende Nutzfläche zu reduzieren. In einer Kritik der

Planungsrichtlinien sprach er sich daher insbesondere für

strikte Höhenbegrenzungen und gegen die Auslegung und

Willkür fördernden bestehenden Leitlinien aus.5 Um dem An­

griff der negativen Kritik entgegenzuwirken, präsentierte er

seine Vision für Paternoster: eine funktionsgemischte Be­

bauung im «menschlichen Massstab», aus Stein und Back­

stein, mit Ornament und klassischen Zitaten, auf Basis der

mittelalterlichen Strassenzüge und die Dominanz von St. Paul

würdigend.6

Während die Jury Arups Entwurf zur Weiterbearbeitung

empfahl, unterstützte Prinz Charles einen Gegenentwurf des

Klassizisten John Simpson, welcher von der für Kampagnen

berüchtigten Abendzeitung Evening Standard als Mass­

nahme gegen die Wettbewerbsbeiträge gesponsert wurde.

Vision of Britain

Die Interventionen und Visionen der ersten vier Jahre bil­

deten die Grundlage für den von Prinz Charles geschriebe­

nen und präsentierten, von der BBC im Oktober 1988 ausge­

strahlten Dokumentarfilm A Vision of Britain. Gleichzeitig

3 Poundbury, Dorchester, Dor-set: Zweite Phase, Middle Farm Peri-meter, 1999

4 Poundbury, Dorchester, Dorset: Erste Phase, Middle Farm Perimeter, 1993 – 1999 Blick entlang der Longmoor Street in Richtung Pummary Square (Foto 4+5: Richard Rogers)

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84 archithese 5.2009

Text: Hubertus Adam

Anfang des 14. Jahrhunderts, so will es die Legende, ver-

schüttete der Priester der Burgkapelle des Kasteel Stapelen in

Boxtel einige Tropfen weissen Messweins auf dem Altar. Wo

die Tropfen auf das Altartuch fielen, färbte sich dieses rot –

und liess sich trotz verschiedentlicher Versuche nicht mehr

reinigen. Seither ist Boxtel jeweils am ersten Sonntag nach

Pfingsten Ziel einer Heilig-Blut-Prozession.

Ziemlich genau im Mittelpunkt des Dreiecks Eindhoven –

's-Hertogenbosch – Tilburg gelegen, ist Boxtel, das der nie-

derländischen Provinz Noord-Brabant zugehört, heute eine

Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern. Überregionale Bedeutung,

sieht man einmal vom Wunder des Heiligen Blutes ab, be-

sitzt vor allem die Kunstschule SintLucas. Schülerinnen und

Schüler werden hier in den Bereichen Werbegrafik, Innen-

architektur, Schaufenstergestaltung und Restaurierung

ausgebildet. Vor einigen Jahren wünschte sich das seiner-

zeit etwas verstaubt wirkende Institut frischen Wind und

lud einen seiner prominentesten Absolventen dazu ein, ein

Zukunftskonzept zu entwickeln. Erik Kessels von der re-

nommierten Werbeagentur KesselsKramer aus Amsterdam

FAT: Kunstschule SintLucas in Boxtel Die Kunstschule im niederländischen Boxtel, ein eher banales Bauensemble aus

den Sechzigerjahren, wurde unlängst erneuert. Der Umbau des Londoner Architekturbüros FAT spielt auf intelligente Weise

mit der katholischen Tradition des Ortes und der Architekturgeschichte der Region.

Neogotik iN der digitaleN Ära

verordnete seiner früheren Ausbildungsstätte nicht nur ein

revidiertes Ausbildungsprogramm, sondern setzte sich auch

für den grundlegenden Umbau der wenig attraktiven Unter-

richtsräumlichkeiten ein. Und er empfahl der Schulleitung

jenes Architekturbüro aus London, das eine nicht mehr ge-

nutzte Kirche in sein eigenes Studio umgebaut hatte: FAT.

FAT – das Akronym steht für die Begriffe Fashion, Ar-

chitecture, Taste – wurde von Sean Griffiths, Charles Holland

und Sam Jacob gegründet und ist durch provokative Projekte

im Grenzbereich zwischen Kunst und Architektur bekannt

geworden, die auch immer die Frage nach dem «richtigen»

Geschmack stellen (vgl. archithese 5.2004). Einer doktrinären

Engführung der Architektur der Gegenwart antwortet FAT

nonchalant mit der Inszenierung dessen, was andere Berufs-

kollegen gerne unterdrücken, nämlich Kitsch und Trash. Pop

und Postmoderne kommen in ihren Arbeiten zusammen, und

ohne Zweifel stellt Learning from Las Vegas für das Selbstver-

ständnis des Büros eine wichtige Referenz dar. Und, wie sich

gerade in Boxtel zeigt, das Werk von James Wines und SITE.

Dass sich das Vorgehen von FAT indes nicht nur auf das

Dekor beschränkt, zeigt der Umbau von SintLucas in Boxtel

1

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1 Haupteingang(Fotos 1, 2 + 3: Frans Barten)

2 Aussenansicht

3 Seitenflügel

auf das Deutlichste. Zunächst einmal veränderten die Lon-

doner die Erschliessung grundsätzlich. Der Haupteingang

der Schule ist jetzt der wichtigsten Strassenachse von Boxtel

zugewandt, welche die spätgotische Kirche im Zentrum mit

dem Kasteel Stapelen verbindet; zum Ensemble gehört auch

das spätklassizistische Gebäude de Witte Paters und ein

weiteres Schulgebäude jenseits der Hauptstrasse.

Noch einschneidender aber zeigt sich die Intervention im

Inneren. Durch gezielte Eingriffe ist die stereotype Abfolge

von Korridoren und geschlossenen Unterrichtsräumen zu-

gunsten eines grosszügigen Raumkontinuums suspendiert,

dessen Zonen nicht mehr hierarchisiert sind. Die Arbeits-

räume wurden weitgehend verglast, öffentlichere Zonen sind

mit den einstigen Wegflächen verzahnt. Knallige Farben und

Ornamente bilden eine neue Spur im Inneren, welchem die

Muffigkeit vergangener Jahrzehnte überzeugend ausgetrie-

ben worden ist.

Das sichtbarste Zeichen der erneuerten Kunstschule aber

stellen die aus präfabrizierten Betonelementen bestehenden,

gotisierenden Wandelemente dar, welche den Schulbau um-

spielen und die Freiräume gliedern. Die Neogotik hat in Box-

tel ihre Tradition; das von einem Wassergraben umzogene

Kasteel Stapelen, seit 1915 vom Orden der Assumptionisten

als Kloster genutzt, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts roman-

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