archithese 5.04 - Neues aus London / News from London
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Transcript of archithese 5.04 - Neues aus London / News from London
architheseBrennpunkt London: Zum Stand der Dinge
Town Regeneration: One Example
Notizen aus der britischen Kapitale
Bauten und Projekte: David Adjaye, Block,
Caruso St John, David Chipperfield, dsdha, FAT,
Toni Fretton, Project Orange, Sergison Bates, Surface,
6a, Sarah Wigglesworth
Michael Hopkins Inn The Park, London, 2004
Future Systems Selfridges, Birmingham, 2003
5.2004
Zeitschrift und Schriftenreihe für Architektur
Revue thématique d’architecture
Neues aus LondonNews from London
arch
ithes
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4Se
ptember/O
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Preis: 28
CHF/18 Euro
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mit
Leserdienst 100
2 archithese 5.2004
E D I T O R I A L
Neues aus London
London hat mehr zu bieten als die Hightech-Architektur von Norman Foster, Renzo
Piano und Nicholas Grimshaw oder die reformerischen Postulate des Prince of
Wales. Die City entwickelt sich rasant – zum Teil unter dem Diktat von Finanz und
Wirtschaft, zum Teil gemäss neuen, kommunalen Planungskonzepten. Seit der
Machtübernahme von New Labour ist das jahrelang vernachlässigte Thema der
Stadtplanung und des öffentlichen Raumes im architektonischen Diskurs wieder
präsent. Institutionen wie das CABE (Commission of Architecture and the Built
En vironment) fördern mit Wettbewerben die architektonische Qualität, an den
Hochschulen finden vermehrt spekulative Diskussionen statt, und die Tate Gallery
von Herzog & de Meuron sorgt für unerwartete Impulse.
Gleichzeitig wächst eine neue Generation von Architektinnen und Architekten
heran, die sich mit innovativen Ansätzen erfolgreich vom Establishment absetzen.
Die Palette der Interessen und Strategien ist äusserst vielfältig: David Adjaye
Associates entwickeln eine raffinierte, zwischen Pop und Art flirrende Architektur
und pflegen die Nähe zur schicken Kunst- und Partyszene; FAT profiliert sich mit
kritischen, humorvollen Statements zu Kunst, Design und Architektur und sorgt mit
provokativen, von Alltagskultur und Trash inspirierten Entwürfen für Aufsehen;
Caruso St John Architects sind für ihre subtilen Eingriffe bekannt; dsdha und muf
verbinden soziales Engagement, architektonische Sorgfalt und städtebauliche
Analyse; der für seine minimalistischen Projekte berühmte David Chipperfield
überrascht mit räumlichen Variationen; Project Orange gestaltet anspruchsvolle
kommerzielle Innenräume; Sergison Bates, Tony Fretton, Sarah Wigglesworth,
Block Architecture, 6a Architects und viele andere mehr beweisen, dass unter-
schiedliche Ansätze zu qualitativ hoch stehender Architektur führen können.
archithese hat sich mit jungen Londoner Architektinnen und Architekten unter-
halten und eine Reihe neuer Projekte besichtigt. Dieses Heft stellt einige davon
vor – die Auswahl ist nicht erschöpfend, kann es in diesem Rahmen auch nicht
sein; sie soll lediglich eine Idee der Vielfalt vermitteln, welche die Londoner
Architekturszene zur Zeit auszeichnet. Und: Diesmal enthält das Heft keine fran-
zösischen Übersetzungen, sondern zwei Texte auf Englisch.
Redaktion
Am 20. Oktober 2004 findet im KKL Luzern eine von archithese und der ArchitekturgalerieLuzern organisierte Tagung statt. David Adjaye und weitere Referentinnen und Referentendiskutieren über neue architektonische Entwicklungen in London. Genaue Informationenerscheinen unter www.architekturgalerie.ch und werden laufend aktualisiert.
Die Bankside umdie Tate Modernwurde mit kleinen,aber wirkungsvol-len Interventionenaufgewertet(Foto: Judit Solt)
32 archithese 5.2004
IN BAHNHOFSNÄHE Caruso St John: Gagosian Gallery, Britannia
Street, 2004 Die Gegend um King’s Cross wird
in den nächsten Jahren ihren Charakter verändern:
Als neuer Endbahnhof der Hochgeschwindig-
keitszüge vom Kontinent soll die Gegend zum gröss-
ten Verkehrsknoten Europas werden. Zur Zeit
entdeckt die Kunstszene das Areal: Larry Gagosian
hat sich als Pionier unweit der Bahnstationen
die grösste kommerzielle Galerie der Hauptstadt
einrichten lassen.
33
Text: Hubertus Adam
Das Jahrhundert der Eisenbahn begann in London fulminant:
Mit dem Bau der grossen Kopfbahnhöfe und mit der weltweit
ersten Untergrundbahn, die von 1862 an die hauptstädtischen
Bahnhöfe zwischen Paddington und Faringdon verband.
Hundert Jahre später begann mit dem Boom der Individual-
mobilisierung der sukzessive Niedergang, der in der sträfli -
chen Vernachlässigung des britischen Eisenbahnwesens
während der Thatcher-Ära kulminierte. Charakteris tischer
Weise endet das europäische Hochgeschwindig keitsnetz,
sobald die Eurostar-Züge nach dem Kanaltunnel bei Ashford
britischen Boden erreicht haben. Die restlichen hundert Kilo-
meter bedeuten eine gemächliche Reise durch die Grafschaf-
ten Kent und Surrey, bevor man – nach kurvenreicher Fahrt
durch die südlichen Vororte der Kapitale – in Nicholas Grim -
shaws futuristischer Waterloo Station eintrifft.
Transformation eines Stadtteils
Aufgrund eines Parlamentsbeschlusses von 1996 entsteht
derzeit eine eigene Eurostar-Trasse zwischen Ashford und
London. 5,5 Milliarden Pfund sind für das ambitiöse Projekt
«Channel Tunnel Rail Link» vorgesehen, das bis 2007 fertig
gestellt sein soll. Endstation der Tunnelzüge ist in Zukunft
indes nicht mehr die Station Waterloo, sondern St. Pancras,
für welche Norman Foster nördlich der denkmalgeschützten
Halle von Barlow eine riesige Stahl-Glas-Konstruktion als Ab-
fertigungshalle des Eurostars baut. Verbunden mit diesem
Bauvorhaben ist eine grundsätzliche Reorganisation der
Schienenwege im Bereich von King’s Cross und St. Pancras;
nicht zuletzt soll der bislang abseitig gelegene Haltepunkt
der London in Nord-Süd-Richtung querenden Thameslink-
Züge in Zukunft in den Bereich der Zwillingsbahnhöfe verlegt
werden. Die Verantwortlichen sprechen vom grössten Ver-
kehrsknoten Europas.
Die Baumassnahmen beschränken sich indes keineswegs
auf die Verkehrsinfrastruktur. Der Entwicklung harrt ein rie-
siges Areal, das sich über mehr als einen Kilometer nördlich
der beiden Bahnhöfe bis nach Camden Town erstreckt und
hier von der Linie der North London Railway begrenzt wird.
Auf knapp 30 Hektar wird hier bis zum Jahr 2015 ein neues
Stadtgebiet entstehen.
Die Kunstszene trifft ein
Auch jenseits der Grenzen des Entwicklungsgebiets King’s
Cross Central wird die Gegend ihr Gesicht grundsätzlich ver-
ändern. Dönerbuden und Billigläden verschwinden, und ein
Indikator dafür ist, dass die bislang vornehmlich auf das edle
Mayfair und das hippe, inzwischen ebenfalls relativ etab-
lierte Hoxton konzentrierte Kunstszene beginnt, das Areal
um King’s Cross für sich zu entdecken (vgl. «Kunstvoll redu-
ziert», S. 36). So eröffnete Larry Gagosian, der mitunter als
«Donald Trump der Kunstszene» apostrophierte amerikani-
sche Galerist, nach einer kleinen Niederlassung nahe der
Regent’s Street vor wenigen Monaten eine grosse Dépen-
dance in der Britannia Street, fast in Sichtweite von King’s
Cross. Der Amerikaner armenischen Ursprungs, der sein
1 Strassenfront(Fotos: HélèneBinet)
2 Foyer mit Blickin den strassen-seitigen Galerie-raum
3 Hauptsaal
2
3
David Chipperfield Architects: Atelier für Antony Gormley, London,
2001– 2003 Aussen einfach, innen komplex: Das von David Chipper-
field für den Bildhauer Antony Gormley realisierte Atelier umfasst Räume
unterschiedlicher Dimensionen, die zwar spezifisch auf ihre jeweilige
Funktion ausgelegt sind, sich aber dennoch zu einer Einheit zusammenfügen –
ein virtuoses Spiel mit Proportionen, kombiniert mit einer feinen Variation
des Themas Addition und einer unvoreingenommenen Annäherung an die
Shedhalle als Bautypus.
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KUNSTVOLLREDUZIERT
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Text: Judit Solt
Nördlich der Londoner King’s Cross Station, in einer von
Industriebauten, Lagerhallen und Schienensträngen gepräg-
ten Umgebung, erhebt sich hinter einer hohen Hofmauer ein
ungewöhnliches Gebäude. Die Grösse des Volumens und die
reduzierte Formensprache – weitgehend geschlossene Fas-
saden, zwei Aussentreppen aus verzinktem Stahlblech, ein
riesiges Tor und ein Sheddach – erinnern an die Industrie -
architektur der Nachbarschaft. Die äusserst sorgfältig detail-
lierte Fassade, die harmonischen Proportionen und die le-
bensgrossen menschlichen Figuren aus Metall, die den Hof
bevölkern, weisen jedoch auf eine andere Funktion hin. Das
von David Chipperfield für den Bildhauer Antony Gormley
konzipierte Atelier ist Werkstatt, Galerie, Lagerhalle, Labor
und Privatstudio in einem und bereichert die Gegend um
King’s Cross, für die sich die Kunstszene allmählich zu inte -
ressieren beginnt (vgl. «In Bahnhofsnähe», S. 32), um einen
bemerkenswerten Bau. Es ist den Architekten gelungen, das
äusserlich ein fache Volumen so auszulegen, dass zwar jeder
unterschiedlichen Nutzung ein adäquater Raum zur Ver -
fügung steht, dass die Grossform aber durch diesen inneren
räumlichen Reichtum nicht beeinträchtigt, sondern im Ge-
genteil gestärkt wird.
Das längliche Gebäude befindet sich ganz am nördlichen
Rand der Parzelle, deren Südseite als ummauerter Hof aus-
gebildet ist. Ein grosses Metalltor führt direkt ins Zentrum
der Anlage, in die zweigeschossige, von den drei mittleren
Sheds beleuchtete Hauptwerkstatt. Spätestens hier wird of-
1 Fassaden ansichtüber den Hof(Fotos 1–3: RichardBryant/Arcaid)
2 Zweigeschossi-ge Hauptwerkstatt
3 Privatstudio imObergeschoss
2 3
44 archithese 5.2004
TOD DER MODERNE!FAT – Fashion Architecture Taste in Aktion Die Gruppe FAT
um Sean Griffiths, Charles Holland und Sam Jacob beschäftigt
sich mit Architektur, Kunst und Kommerz – und zwar gleichzeitig.
Ihre Arbeiten sind subversiv und ironisch, stillos und farben-
froh, durchdacht und pointiert: Kitsch, Trash und Populismus sind
die Ausgangspunkte für eine skeptische, aber stets nachsichtige
und humorvolle Annäherung.
Text: Judit Solt
«Taste not space», postuliert das hellgraue T-Shirt mit der
schwarzen Aufschrift, erhältlich unter http://www.fat.co.uk/
shirts.html in den Grössen thin, medium, fat und very fat.
Wer’s radikaler mag, kann auch das weisse mit dem schwar-
zen Balken bestellen, das dazu aufruft, den inneren Moderni-
sten zu töten. Reine Baumwolle, 20 Pfund, «credit cards ac-
cepted» und die Chance, sich beim nächsten Architekten-
Fussballturnier unbeliebt zu machen. Wer nicht zugreift, ist
selber schuld!
Das Beste ist natürlich, dass die Slogans von FAT durchaus
ernst gemeint sind. Die Londoner Gruppe um Sean Griffiths,
Charles Holland und Sam Jacob sorgt seit ihrer Gründung
1995 mit radikalen Projekten für Aufsehen. Ihr Interesse gilt
1 A
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der kulturellen Erfahrung im Allgemeinen: Film, Kunst, Car-
toons, Popmusik und Architektur. Die Reaktionen auf ihre
Bauten und Entwürfe – Ablehnung, Nachdenklichkeit, Fröh-
lichkeit – sind heftig und unterschiedlich, denn die Beschäf-
tigung von FAT mit der heutigen Realität ist ebenso wider-
sprüchlich wie diese selbst. Die Gruppe sucht Lösungen, die
sowohl konzeptionell reizvoll als auch kulturell relevant und
ästhetisch akzeptabel sind: Vor allem der letzte Punkt sorgt
für Verunsicherung, denn FAT strebt keineswegs nur die Ak-
zeptanz der Gilde an, sondern versucht vor allem, den omi-
nösen Mann von der Strasse zu beglücken – und dessen Ge-
schmack ist im Lande der Pommes Frites mit Essig und der
wackelnden Fruchtgellies genauso wenig über alle Zweifel
erhaben wie andernorts. Doch obwohl einige Projekte von
FAT die Grenze zum Kitsch eindeutig überschreiten, würde
der Vorwurf des Populismus zu kurz greifen. Zu reflektiert
sind die Projekte und zu pointiert die Statements, vor denen
weder das Kunstestablishment noch die Architekturszene si-
cher sind; und wenn FAT sich mit Kommerz und Trash aus-
einander setzt, geschieht dies ohne resignierte Anpassung,
sondern lustvoll, spielerisch und mit einem wahren Feuer-
werk an fröhlichen Ideen. Der Boden der Realität mag hart
sein, er ist auch fruchtbar, und FAT ist kontroversen Diskus-
sionen nicht abgeneigt: «Unsere Konzentration auf das Ver-
hältnis zwischen dem sozialen und dem ästhetischen Aspekt
des Geschmacks – insbesondere im Wohnungsbau – hat uns
Freunde und Feinde beschert. Beide heissen wir herzlich
willkommen.»
Kulturbunker statt Elfenbeinturm
Die Skepsis von FAT gegenüber der «guten» Architektur
gründet im Anspruch, Architektur auch für Laien nachvoll-
ziehbar zu gestalten. Architektur habe neben der Erfüllung
funktioneller Anforderungen auch eine kommunikative Auf-
gabe – die allgemein verständliche Vermittlung von ideellen
Inhalten. Doch der Versuch der Moderne, dies mittels ab-
strakter Räume zu erreichen, sei gescheitert. Geschmack sei
das Medium, welches eine Kommunikation zwischen Archi-
tektur und breitem Publikum ermögliche und in der Lage sei,
Architektur in einen grösseren kulturellen, sozialen, politi-
schen und ökonomischen Zusammenhang einzubetten. Kein
moderner Bau vermittle seine Aussage so unmissverständ-
lich wie die von emsigen Heimwerkern in jahrelanger Liebe
gestalteten Einfamilienhäuser in Suburbia. FAT situiert sich
daher «in the culture bunker, rather than in the ivory tower»,
stellt den Gegensatz zwischen Mainstream und Avantgarde
in Frage und bricht bewusst mit gestalterischen Regeln und
Tabus. Bei allem revolutionären Geist frönt FAT auch be-
wusst dem Kommerz.
Diese anti-elitäre Haltung stützt sich auf jene von Robert
Venturi und Denise Scott Brown, und auch die unbeküm-
merte Kombination von bedeutungsvollen architektonischen
Versatzstücken weckt Erinnerungen an die Postmoderne.
Hinzu kommen – gleichsam als Linderung – ein ausgeprägter
britischer Humor und ein feines Gefühl für Zwischentöne:
FAT betreibt keine vordergründig «demokratische», in Rea-
1 Ausstellung «Kill the ModernistWithin», GalerieCube in Manchester,1999 –2000
A Taste not Space,MDF und Leuchten:Kritik an der Fokus-sierung der moder-nen Architektur auf den Raum –Geschmack sei derwahre, für alle les -bare Bedeutungs -träger
B Kill the Mo-dernist Within,Fachwerkimitation,schwarze Farbeauf weisser Wand:Das Fachwerk, Sym-bol für Geschichteund Tradition sowiekonstruktivesElement, wird hierals Dekoration undsubversiver Schrift-zug verwendet
C Neon House,Neon, Acryl, Lami-natdruck: Polemikgegen die modernis-tische Auffassungdes Hauses alsWohnmaschine. Dieoft für Zeichen ver-wendeten Neonröh-ren bilden ein Haus,das als Informa-tionsmaschine undSymbol für dienarrativen Qualitä-ten der Architek-tur steht
B
C
1 StrassenansichtDer Schein täuscht –das Haus ist nichtmit Holz, sondernmit Eternit verklei-det (Foto: Judit Solt)
2 Blick vomWohnzimmer durchden Arbeitsbereichin die WohnkücheHinten sind dieTreppe und das Zwi-schenpodest zuerkennen, welcheszur Küche hin alsinnerer Balkon, zurStrasse hin alsSitznische mit einemgrossen Fensterausgebildet ist(Foto: Morley vonSterberg)
3 Schlafzimmer im zweiten Ober -geschossDie Massstäblichkeitder Fenster und dieFarbgebung ver-fremden den Raum(Foto: Ralf Maleda )
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FATA MORGANA
Text: Judit Solt
Der Anblick ist unerwartet. Zwar sind in der Gegend um die
grosse Verkehrsachse Hackney Road in East London archi-
tektonisches Erwachen und städtische Regeneration deut-
lich zu spüren – Caruso St John haben sich hier etabliert, das
von ihnen einfühlsam transformierte Museum of Childhood
ist in der Nähe, und gleich um die Ecke bauen Sergison Bates
ein wohlproportioniertes kleines Haus. Doch was man an der
Garner Street zu sehen bekommt, mutet selbst in einer
heterogenen Umgebung reichlich seltsam an: Zwischen zwei
in diskreten Beige- und Brauntönen gehaltenen Bauten
leuchtet ein himmelblaues Etwas heraus, das am ehesten als
Mischung aus kalifornischem Strandhaus, Albtraum und Kin-
derzeichnung beschrieben werden kann. Das 2002 von FAT
fertig gestellte Haus wird in seiner Skurrilität den Manifesten
der Gruppe mehr als gerecht.
Der gesamte Bau ist – scheinbar – mit blauen, horizonta-
len Holzbrettern verschalt; in Wirklichkeit handelt es sich um
Eternit mit Holzprägung. Schon im Material beginnt das fast
obsessive Spiel mit Verfremdung, Täuschung und bildhaften
Formen, das das ganze Haus durchdringt. Das oberste Stock-
werk der dreigeschossigen Strassenfassade evoziert mit sei-
ner dreifachen Reihe liegender Öffnungen ein verkleinertes
Bürogebäude; darunter ist die Silhouette eines archetypi-
schen Häuschens als zweidimensionale Tafel appliziert, die
sich als Hofmauer inklusive Schäfchenwolke fortsetzt. Die auf
den ersten Blick naiven Motive, etwa der Kamin des Häus-
chens, wiederholen sich in verfremdeter Form. Die Hoffas-
sade dagegen kulminiert in gleich mehreren gleichermassen
zweidimensionalen holländischen Giebeln und weist grosse
Fenster auf, welche die Anzahl dahinter liegender Geschosse
eher verschleiern als ablesbar machen; die unterschiedlichen
Massstäbe der Öffnungen und Fassaden steigern die Verwir-
rung. Dennoch ist die Strassenfassade ein genaues Abbild
dessen, was sich im Haus befindet – zwei Wohneinheiten
und ein Büro –, nur dass sich die Nutzungen nicht unbedingt
dort befinden, wo man sie vermuten würde.
Verwirrende Vielfalt
Das Haus hat zwei Eingänge. Von der Strassenseite aus führt
eine Treppe in den hinteren Teil des ersten Obergeschosses
FAT: Wohn- und Bürogebäude, Garner Street,
London, 2002 Obwohl das Wohn- und Büroge-
bäude, das FAT für die Familie eines seiner Grün-
dungsmitglieder gebaut hat, unzählige narrative
Elemente städtischer und vorstädtischer Alltagsar-
chitektur in sich vereinigt, erscheint es in seiner
urbanen Umgebung fast unwirklich. Das Objekt ist
klein, aber radikal, komplex und spannungsvoll.
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ZURÜCKHALTUNGALS PRINZIP
Text: Ahmed Sarbutu
Auto an Auto quält sich der Verkehr in London vom Swiss
Cottage durch die Finchley Road Richtung Autobahn. West
Hampstead, am Fusse des Hügels gelegen, auf dem sich das
idyllische Hampstead selbst befindet, hat in den vergange-
nen Jahren an Lebensqualität eingebüsst: Die kleinteilige
Geschäftsstruktur ist verschwunden, und dort, wo neben der
North London Line der Eisenbahn auch zwei U-Bahn-Linien
an der Finchley Road ihre Tunnelstrecken verlassen, manifes-
tiert sich die Unwirtlichkeit in einem überdimensionierten
Shopping Centre in banalsten spät-postmodernen Formen.
Von der Bibliothek zum Kulturzentrum
In Sichtweite steht an der Ecke der steil zum Ortskern von
Hampstead emporführenden Arkwright Road das Camden
Arts Centre, ein pittoresk anmutender Ziegelsteinbau im
Neo-Tudorstil mit sanften Anklängen an die Formensprache
des Arts and Crafts-Movement. Errichtet wurde das von ei-
nem reichen Philanthropen finanzierte Gebäude 1897 nach
Entwürfen des Architekten Arnold S. Taylor als Bibliothek –
und 1909 erweitert um einen Vortragssaal, verschiedene Ar-
beitsräume und eine Kinderbücherei. Noch einmal 1926 ver-
grössert, im Zweiten Weltkrieg aber zum Teil zerstört, siedelte
die Bibliothek in den Sechzigerjahren in die neue Hampstead
Library über, die Sir Basil Spence am Swiss Cottage errichtet
hatte. Unter dem Namen Camden Arts Centre fand der von
einer lokalen Künstlerinitiative gerettete Bau eine neue Be-
stimmung als Ort, an dem Kunstkurse verschiedener Gattun-
gen angeboten wurden, und erwarb sich seinen Ruf nicht
zuletzt durch Ausstellungen von überregionaler Bedeutung.
Als im Vorfeld des Millenniums ein Antrag gescheitert war,
das Gebäude mit Lotteriemitteln aufwändig zu erweitern,
musste das Projekt redimensioniert werden. Den architekto-
nischen Wettbewerb des Jahres 2000 konnte dann Tony Fret-
ton für sich entscheiden – ein Architekt, der sich immer wie-
der mit der Beziehung von Kunst und Architektur ausein -
ander gesetzt hat. Eines seiner Hauptwerke ist die 1990
Tony Fretton: Umbau des Camden Arts Centre,
2000 –2004 Das spätviktorianische Gebäude
des Camden Arts Centre im Londoner Stadtteil
Hampstead ist nach einem Umbau wiederer-
öffnet worden. Tony Frettons Eingriffe geben sich
bewusst zurückhaltend, überzeugen aber als
Antwort auf die Frage, was heute ein Ort der Kunst
sein kann.
B C
E
FF
D
A
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5
G
H
K
L
K
I
1 Neue Eingangs-situation an der Arkwright RoadIm Vordergrund der neue gläserneEingang in dasSockelgeschoss, da-hinter die doppel-läufige Treppe zum(jetzt still geleg-ten) ehemaligen Ein-gang in das Haupt-geschoss(Fotos: HélèneBinet)
2 Foyer mitEmpfangstresen imSockelgeschoss
3 Galeriesaal I
4 GrundrissSockelgeschoss mitbestehenden sowie neuen (graumarkierten) Wänden und Gar-tengrundriss 1 : 1000
A FoyerB CaféC VerwaltungD KeramikstudioE Besprechungs-
raumF Keller
5 GrundrissObergeschoss1: 1000G Galerie IH Galerie III Galerie IIIK StudiosL Zentrale Galerie
82 archithese 5.2004
A R C H I T E K T U R A K T U E L L
I shop, therefore I am
FUTURE SYSTEMS: WARENHAUS SELFRIDGES,BIRMINGHAM, 2003Dem Hauptbahnhof von Birmingham un-
mittelbar benachbart, ist in den vergangenen
Jahren ein neues Shopping Centre ent-
standen, das einen Einkaufskomplex aus den
Sechzigerjahren ersetzt hat. Zur architek-
tonischen Ikone ist das Selfridges avanciert,
bei dem Future Systems das fensterlose
Warenhaus der Siebzigerjahre mit der aktuel-
len Blob-Ästhetik verschmolzen hat.
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Die zweitgrösste Stadt Grossbritanniens umfasstein Einzugsgebiet von sieben Millionen Menschen.Anders als London ist Birmingham der postin -dustrielle Strukturwandel nur schlecht gelungen,und so haftet der Stadt das Image der Ewiggestri-gen an: als Hinterhof Londons, als sweatshop derNation. Birminghams Attraktivität erstreckte sichdenn auch bisher auf diverse Autobahnverbindun-gen, teure Virgin-Züge nach London und ein reich-haltiges Angebot an Filialen von Fastfood-Ketten.Zu wenig, um im Wettbewerb der attrak tivenSchlafstädte in Londons Hinterland eine andereRolle zu spielen als die eines schwelenden Kon-fliktherdes. Wie die örtlichen Wirtschaftsfördererkonstatieren mussten, verfügten Glasgow oderNewcastle, obwohl kleiner, über doppelt soviel La-denfläche. Da Einkaufen, so David Byrne, Lead-sänger der Talking Heads, längst Teil unserer Kultur ist, hatten die Offiziellen sich auch zu ver-gegenwärtigen, dass die Mehrheit jener siebenMillionen Menschen, die von ihrer Wohnung maxi-mal eine Stunde bis ins Zentrum Birminghamsbrauchen, diese Zeit lieber aufwenden, um sichLondons Peripherie anzunähern und das Geld an-schliessend in der Oxford Street auszugeben.Keine gute Voraussetzung, um der örtlichen midd-le-class eine lebenswerte Perspektive vor Ort zueröffnen, geschweige denn, um ein bislang stetigsin kendes Steueraufkommen dank gut verdienen-der Neuzuzügler zu stabilisieren oder gar zu stei-gern.
Der neue Bullring
Das neue Herz in diesem Hinterhof ist ein demBahnhof unmittelbar vorgelagertes Gebiet, dasvon einer ringförmigen Strasse umschlossen wird,dem Bullring. Dort befand sich seit 1964 ein Ein-kaufszentrum, im Gegensatz zu dem die Architek-tur von Alex’ Mietshaus im Film Clockwork Orangegetrost als schön zu bezeichnen wäre. Übrig ge-blieben ist vom alten Bullring, dem ersten britischenEinkaufszentrum nach amerikanischem Vorbild,nach der Neubebauung einzig ein zylindrischesBürogebäude als vertikale Dominante.Im Pressekommuniqué zu dem 10,5 Hektar
beanspruchenden neuen Bullring-Projekt der De-veloper-Allianz Hammerson, Land Securities undHenderson wird das gewaltige Shopping Centreals «das vergnüglichste Einkaufserlebnis, wel-ches Sie in Europa finden werden», apostrophiert:«Der Bullring definiert das, was unter einem Stadt-zentrum zu verstehen ist, völlig neu und verän -dert damit Ihre Wahrnehmung Birminghams.» Dasenglische Trendmagazin icon fand für eine derleihochtrabende Selbsteinschätzung nur einen lapi-daren Kommentar: «Völliger Blödsinn!» 110 000
1 GesamtansichtDer schlauchartige Gangüberspannt eine derErschliessungsstrassen des Bullring Centre undverbindet das Warenhausmit der Parkgarage(Fotos: Udo Meinel)
2 Situationsplan 1: 5000
3 EingangssituationDie Terrassen leiten über zu einer abfallenden Piazza, die dem BullringCentre vorgelagert ist
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