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Alexander Bruce Burdumy Sozialpolitik und Repression in der DDR

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Alexander Bruce Burdumy

Sozialpolitik und Repression in der DDR

Ost-Berlin 1971–1989

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Titelabbildung: Anlässlich des 30. Jahrestages der DDR steht ein Werbeträger mit dem

Schriftzug »Die DDR – mein Staat« im Ost-Berliner Stadtteil Friedrichshain am Strausberger Platz. Undatierte Aufnahme von 1979.

Foto: Paul Glaser, picture alliance/ZB, © dpa

1. Auflage März 2013

Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen

Umschlaggestaltung: Volker Pecher, Essen

Druck und Bindung: Griebsch & Rochol Druck GmbH & Co. KG, Hamm

ISBN 978-3-8375-0908-3 Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2013

www.klartext-verlag.de

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Inhalt

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.1 Forschungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312.1 Fokus und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312.2 Theorien der Herrschaftslegitimierung –

Repression und Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432.3 Der Wohlfahrtsstaat als Vehikel für gekauften Loyalitätszuwachs 522.4 Die DDR als Musterbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

3. Von Ulbricht zu Honecker: Strategien der Herrschaftslegitimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

3.1 Machtsicherung unter Ulbricht: Schwerpunkt Repression, Sozialpolitik als Begleitprodukt . . . . . . 67

3.2 Der Juni-Aufstand 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773.3 Die Zäsur des Mauerbaus 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813.4 Sozialpolitik unter Erich Honecker 1971–1979:

Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . 853.5 Festhalten am vorgegebenen Kurs:

Sozialpolitik unter Erich Honecker 1980–1989 . . . . . . . . . . . . . . 973.6 Berlin als Honeckers Lieblingskind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

4. Entwicklungen im Bereich der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 1054.1 Familienpolitik und Kinderkrippen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054.2 Rentenpolitik und Feierabendheime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1204.3 Gesundheitspolitik und medizinische Versorgung . . . . . . . . . . . . 1434.4 Wohnungsbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1794.5 Bilanz und öffentliche Meinung

gegenüber dem Wohnungsbau in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

5. Öffentlichkeit, Debatten und Bilanz der Sozialpolitik Honeckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

5.1 Sozialpolitik am Ende der Ära Ulbricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

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5.2 Kommunikation und Aussicht der Sozialpolitik Honeckers am Ende der 70er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

5.3 Die Weltfestspiele der Jugend in Berlin 1973 und ihre Bedeutung für die Gesellschaftspolitik der SED . . . . . . . 262

5.4 Kommunikation, Anspruch und Wirklichkeit der Sozialpolitik Honeckers in den 80er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . 264

5.5 Auswirkungen der Bevorzugung des Bezirks Berlin auf andere Bezirke der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

5.6 Probleme im Bereich der Jugendpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2885.7 Das Versagen der Repression in der Spätphase der DDR . . . . . . . 296

6. Die ökonomische Dimension und der Verfall der DDR-Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

6.1 Die DDR-Wirtschaft als Hemmschuh der Sozialpolitik? . . . . . . . 3116.2 Der permanente Vergleich mit der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3206.3 In Relation zu anderen Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

7. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

8. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3458.1 Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3458.2 Sonstige Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3488.3 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

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1. EinleitungIm Laufe ihrer 40-jährigen Existenz und in der Zeit danach erhielt die DDR viele Namen von ihren Bürgern, Befürwortern und Gegnern. Einer dieser Namen, »die Fürsorgediktatur«, soll hier hervorgehoben werden. Der von Kon-rad Jarausch (1998) verliehene Name »Fürsorgediktatur« bezeichnete die DDR als einen radikalisierten Wohlfahrtsstaat, der nach dem Zweiten Weltkrieg ver-suchte, durch eine »Diktatur des Proletariats« eine Sozialutopie konsequent umzusetzen.1 Jarausch definiert den Begriff wie folgt:

»[Der Begriff Fürsorgediktatur] versteht die DDR als eine problematische Ver-knüpfung von sozialem Wohlfahrtsstaatsdenken mit illiberalem Paternalismus und weist auf ihre Einbettung in br eitere Traditionslinien deutscher Geschichte hin. Dadurch regt diese Neubildung auch einen diachronen Vergleich mit der vorher-gehenden Diktatur des Nationalsozialismus sowie synchrone Vergleiche mit der konkurrierenden sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik sowie den p ost-stalinistischen Regimen des Ostblocks an.«2

Diese Definition betont sehr schön die fundamental widersprüchliche Natur der DDR. Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der DDR knüpfte formal an die so zialistischen Ideen der Ar beiterbewegung an. D urch die politisc he Diktatur der SED, die generellen Rechtsunsicherheiten (durch die scheinbare Willkür in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens) und fehlenden Freiheiten wurden diese Ideen jedoc h verzerrt. Bürokratische Ineffizienz, aber auc h die Lasten der Vergangenheit (wie z. B. die Repar ationen) waren schwere Bürden für die Wirtschaft, so dass ein Er folg der P lanwirtschaft für die br eite Masse der Bevölkerung nur sc hwer oder gar nic ht ersichtlich war.3 Inmitten dieser

1 Jarausch, Konrad. Realer S ozialismus als Fürsorgediktatur. Z ur begrifflichen Ein-ordnung der DDR. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 20/1998. Bonn, 1998. S. 33–46, hier: 42.

2 Jarausch, 1998: 46; vgl. Zatlin, Jonathan R. The Currency of S ocialism. Money and Political Culture in East Germany. 2. Auflage. New York, 2009. S. 54. Zatlin bezeichnet die DDR analog zu Jarausch als »welfare dictatorship«.

3 Vgl. Weber, Hermann. Die DDR 1945–1990. Oldenbourg Grundriss der Geschichte. München, 2006. S. 60 f.

links: Einleitungrechts: Einleitung

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8 Einleitung

schwierigen Lage versuchte die SED-Führung einen Sozialismus sowjetischen Stils aufzubauen. Nach einer Phase der Konsolidierung unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde deutlich, dass es zunächst zwei deutsche Staaten geben würde, einen westdeutschen, der sich an den Westen angliederte und einen ostdeutschen, der zum Lager der Sowjetunion gehörte. In der DDR kam es unter ihr em »starken Mann« Walter Ulbricht – stark vor al lem, weil er bis 1971 mit mehr oder w eniger eiserner Hand die Z ügel der DDR in der Hand hielt – insbesondere in der F rühphase der DDR zu star ker Repression derer, die nicht bereit waren, die Herrschenden in ihre Sozialutopie zu unter-stützen. Die Zäsur des Mauerbaus im Jahr 1961 war mit einer Neuausrichtung der Strategie Ulbrichts verbunden. Ab hier m usste Ulbricht, auch ohne es je offen auszusprechen, eingestehen, dass der Kurs, auf dem sich die DDR befand, nicht in der L age war, den deutsc hen Nachbarstaat und seine leistungsfähig e »soziale Marktwirtschaft« zu überflügeln. Von Ulbricht eingeleitete wirtschaft-liche Reformen werden von vielen Forschern auch als der Hauptgrund für seine spätere Entmachtung durch Honecker gesehen, der Erfolg seiner Reformen hingegen wird als sehr gering eingeschätzt, z. B. bei André Steiner in »Von Plan zu Plan« (2007).

Von 1971 bis kurz nach dem Mauerfall 1989 lenkte Erich Honecker die Politik der DDR. Als zentrale Entscheidungsinstanz der DDR gab er in den 18 Jahren seiner Herrschaft die entscheidenden Impulse und Richtlinien für die Politik, die Konrad Jarausch (1998) treffend als »Fürsorgediktatur« bezeichnet hat: eine eigentümliche Mischung aus freundlichem Sozialstaat, der auf der einen S eite nicht nur jeden Notleidenden unterstützen will, sondern auch dem Gesunden durch umfangreiche Leistungen, finanziert aus der Al lgemeinheit des S taats-haushaltes, zur Seite steht und auf der ander en Seite eine Diktatur, in der die Geheimpolizei skrupellos versucht, alle Andersdenkenden zu überwachen und mit Repressalien auszugrenzen oder »wirkungslos« zu machen. Mary Fulbrook (1995) bezeichnete die DDR zu Recht als eine Mischung aus »Paternalismus und Paranoia«, in der die Bürger auf der einen Seite ein hohes Maß an Geborgenheit empfinden sollten, auf der ander en eine Diktatur sie misstr auisch auf S chritt und Tritt zu überwachen versuchte.4 Corey Ross (2002) verglich die DDR hin-gegen mit einem misstrauischen Elternteil, das ständig um seine »ungezogenen Kinder« besorgt war und v ersuchte die oppositionellen Teile der Bevölkerung,

4 Fulbrook, Mary. Anatomy of a Dictatorship. Oxford, 1995. S. 23.

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9Einleitung

denen es sic h gegenübersah, zu züc htigen, in S chach zu halten und umzu -erziehen.5

In diesem Buch wird untersucht, konzentriert auf den Bezirk Groß-Berlin, wie Sozialpolitik unter Er ich Honecker eingesetzt wurde, um den politisc hen Status Q uo aufr echtzuerhalten und die SE D-Diktatur zu stabilisier en. Es wird dabei Theorie aus dem Bereich der politischen Ökonomie verwendet, um historische Entwicklungen zu untersuc hen, zu inter pretieren und zu er klären. Die zentrale Frage ist, welchen Effekt die so zialpolitischen Maßnahmen auf die Stabilität der DDR hatten, welche Formen der Zustimmung sie unter der Bevölkerung her vorrufen konnten und in w elcher Weise sie die Repr ession von oppositionellen Bewegungen in der DDR beeinflussten und veränderten. Anhand ausgesuchter Bereiche wird gezeigt werden, wie sich die eingeleiteten Maßnahmen auf das tägliche Leben in der Hauptstadt auswirkten und wie die Reaktionen der Bürger dazu ausfielen. Auch mehr als 20 Jahre nach dem Mauer-fall ist die DDR-Forschung immer noch sehr aktiv und dar an interessiert, die Entität »DDR« weiter zu untersuchen und besser zu verstehen. Grundlegende Zusammenhänge sind ber eits auf gearbeitet und bekannt  – dass Ho neckers »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« dazu diente, die Bürger zufrieden zu stel len und das S ystem zu stabilisier en, ist v on mehreren Wissenschaftler bemerkt worden.6 Ebenso sind die Aktivitäten der S tasi bereits vielfältig v on Autoren untersucht worden. Während jedoch die g enerellen Entwicklungen

5 Ross, Corey. The East German Dictatorship. Problems and Perspectives in the Inter-pretation of the GDR. London, 2002. S. 31; Corey Ross (2002: 25) benutzt auch den Begriff »autalitarian«, um die Herrschaftsform der DDR zu beschreiben. Der Begriff »autalitarian« ist eine Mischform aus »authoritarian« und »totalitarian« und wird von Ross insbesondere zur Beschreibung der 80er Jahre genutzt.

6 Vgl. Skyba, Peter. Sozialpolitik als Herrschaftssicherung. Entscheidungsprozesse und Folgen in der DDR der siebziger Jahre. In: Vollnhals, Clement & Weber, Jürgen (Hg.). Der Schein der Normalität. Alltag und Herrschaft in der SE D-Diktatur. München, 2002. S. 39–80, hier: 43; Boyer, Christoph. Politische Rahmenbedingungen 1981–1989. In: Boyer, Christoph Henke & Klaus Dietmar & Skyba, Peter (Hg.). Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 10: 1971–1989. Deutsche Demokratische Republik. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstarrung und Niedergang. Baden-Baden, 2008. S. 35–66, hier : 35; Hornbostel, S tefan. S pätsozialismus, L egitimierung und Stabilität. In: Boyer, Christoph & Skyba, Peter (Hg.). Repression und Wohlstands-versprechen. Zur S tabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der CSSR . Dresden, 1999. S. 13–25, hier: 13.

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10 Einleitung

bekannt sind, herrscht immer noc h Unklarheit in vielen Details. Weder die Effektivität der Maßnahmen der DDR noc h die Inter dependenz zwisc hen Repression und Wohlfahrtsstaat sind bislang untersucht worden. Um die tat -sächlich erzielte Wirkung unter der Bevölkerung, die alltäglichen Ausprägungen und die feineren Entwicklungen innerhalb der sozialpolitischen Maßnahmen zu zeigen, wurde ein mikrohistorischer Ansatz für diese Studie ausgewählt; der ent-scheidende Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er in der Lage ist, durch seinen enger gefassten Fokus Zusammenhänge und Details aufzuzeigen, die in einer breiter und umfassender angelegten Untersuchung verloren gehen könnten.7 Die DDR ist bislang hauptsä chlich als eine ko nforme und einheitlic he Einheit aus der Makroperspektive untersucht worden, wodurch ein gewisser Informationsver-lust im Detail einherging. Die Fokussierung auf einen Sektor mit einem mikro-historischen Ansatz ermöglicht es, gerade dieses Problem zu vermeiden.

Für die vorliegende Untersuchung werden zahlreiche Primärquellen qualitativ ausgewertet und zu einem dichten Netz an Informationen zusammengewoben. Der Schwerpunkt liegt auf Archivmaterialien in schriftlicher Form: Akten lokaler SED-Funktionäre, Eingaben von Berliner Bürgern, geheime Stasiberichte und öffentliche Medienmaterialien aus dem al ltäglichen Leben stellen den Gr oß-teil der v erwendeten Archivmaterialien dar. Auf Zeitzeugenbefragungen und andere Elemente der »or al history« wurde in diesem Buc h bewusst verzichtet, da ein tendenziell sehr langer Zeitraum von mehr als 20 Jahren untersucht wird und die Gefahr von Erinnerungslücken und Verzerrungen zu groß ist. Das hier verwendete Q uellenmaterial basiert auf sehr viel »frischeren« Erinnerungen, die schriftlich festgehalten wurden, und somit für diese Untersuchung besser geeignet sind.8

Als Resultat ist es möglich zu zeigen, wie lediglich kurzfristige Stabilisierungs-effekte durch so zialpolitische Maßnahmen err eicht werden konnten, da die Wirtschaft der DDR nic ht in der L age war, die positiv en Anfangsergebnisse der neuen Sozialpolitik dauerhaft aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wird jedoch

7 Burke, Peter. History and Social Theory. 2. Auflage. Cambridge, 2005. S. 38 ff.; Danto, Elizabeth Ann. Historical Research. Oxford, 2008. S. 14.

8 Vgl. Mühlberg, Felix. Bürger, Bitten und Behör den. Geschichte der Eingabe in der DDR. Ber lin, 2004. S. 8 & 197 ff.; siehe auc h: Black, Jeremy & MacRaild, Donald (Hg.). Studying History. 3. Auflage. Basingstoke, 2007. S. 81 in Bezug auf die Gefahr von ahistorischen Beobachtungen.

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11Forschungsdiskussion

auch gezeigt, wie die eingeleiteten Maßnahmen spürbare Auswirkungen auf das tägliche Leben der Bürger in der Hauptstadt hatten und wie sie Er wartungen und Einstellungen gegenüber der SED-Diktatur permanent veränderten.

1.1 Forschungsdiskussion

Innerhalb der DDR-Forschung ist zunächst eine Unterscheidung von Phasen notwendig, um einen besseren Überblick über Grundtendenzen zu erhalten. Grundsätzlich m uss zunä chst zwisc hen der F orschung v or der Wende und danach unterschieden werden. Zusätzlich wurde sowohl innerhalb der DDR der eigene Staat untersucht wie auch von der BRD aus. Es wird hier nun zunächst die Forschung vor der Wende betrachtet.

Die DDR-Forschung inner halb der DDR stand auf grund der Vorgaben der Politik unter dem Zwang , sich möglichst ideologiekonform zu g estalten und war aus diesem Gr und of tmals »apologetisch« und »leg endenhaft«.9 Die Forschung hatte den Auftrag, die DDR als »die beste DDR der Welt« darzu-stellen, wie es der Volksmund ausdrückte. Diese Zielsetzung stand jedoch auf-grund der Datenlage häufig im Gegensatz zur Realität.10 Als Resultat mussten DDR-Forscher häufig einen Spagat zwischen akademischen Maßstäben und politischer Konformität leisten, eine nicht immer einfache Aufgabe. Als Folge dieses Problems waren viele akademische Werke eindeutig kompromissbehaftet und blendeten negative Forschungsergebnisse in politisch heiklen Bereichen aus. Dennoch hält die DDR-F orschung auch heute noc h einige interessante und hilfreiche Werke bereit, v. a. in Untersuchungen von Teilbereichen der Sozial-politik oder Frauenemanzipation.11 Obwohl diese Teilbereiche in Publikationen

9 Weber, 2006: 121.10 Fulbrook, M ary. D DR-Forschung b is 1 989/1990. I n: E ppelmann, R ainer  &

Faulenbach, Bernd & Mähler t, U lrich (Hg.). Bilanz und P erspektiven der DDR-Forschung. P aderborn, 2003.  S.  363–370, hier : 364; Hä der, Mic hael: L ebens-bedingungen in der DDR im Januar 1990. In: Projektgruppe »Das Sozio-ökonomische Panel« (Hg.). Lebenslage im Wandel: Basisdaten und -analysen zur Entwicklung in den Neuen Bundesländern. Frankfurt, 1991. S. 57–71, hier: 57.

11 Vgl. Fulbrook, 2003: 365; als Beispiele kö nnen hier ang ebracht werden: Winkler, Gunnar (Hg.). Lexikon der Sozialpolitik. Ost-Berlin, 1987; Winkler, Gunnar (Hg.). Geschichte der S ozialpolitik der DDR . 1945–1989. Ost-Ber lin, 1989; Winkler, Gunnar (Hg.). Frauenreport ’90. Berlin, 1990; Krambach, Kurt (Hg.). Wie lebt man

links: Einleitungrechts: Forschungsdiskussion

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12 Einleitung

ordentlich er forscht und auc h durchaus kritisch diskutiert wurden, sind die Forschungsergebnisse häufig mit Vorsicht zu genießen, da ein Schulterschluss mit der offiziellen Parteilinie unvermeidbar war.12 Selbst Monografien und Unter-suchungen zu Detailfragen, die sich nicht komplett der ideologischen Doktrin und Parteilinie unterworfen hatten, mussten sich dennoch an dieser zumindest teilweise ausrichten und sind daher in vieler Hinsicht fragwürdig. Zudem unter-lagen fast al le Ergebnisse von Umfragen strenger Geheimhaltung; Daten der amtlichen S tatistik ko nnten nic ht mittels S tichproben oder eig ener Unter -suchungen überprüft werden und entsprachen, wie sich später oft herausstellte, nicht der Wirklichkeit.13 Zu diesen Studien gesellten sich »halb-akademische« Werke, die hauptsächlich zu Propagandazwecken und zu sehr geringen Preisen auch im Westen erhältlich waren; all diesen ist gemein, dass sie nicht als verläss-liche Datenquelle für die DDR-Forschung gelten können. Es bleibt insgesamt ein tiefer Widerspruch inner halb der DDR-Forschung bestehen, zwischen ideologischer Konformität und wissenschaftlicher Diskussion.14 Als positiv ist jedoch anzumerken, dass viele Werke der Geschichtsschreibung aus der DDR die offizielle Parteilinie und die Zielsetzungen dieser gut erkennen lassen. Will man eine Ar t Resümee ziehen, so kann die DDR-F orschung innerhalb der DDR als ein Mittelding zwischen Primär- und Sekundärquelle gesehen werden.

auf dem Dorf? Soziologische Aspekte der Entwicklung des Dorfes in der DDR. Ost-Berlin, 1985; Schlegel, Uta & Kabat vel Job, Otmar. Junge Frauen heute. Wie sie sind – was sie wollen. Leipzig, 1981; Voß, Peter (Hg.). Die Freizeit der Jugend. Ost-Berlin, 1981; Wander, Maxie. »Guten Morgen, du Schöne.« Frauen in der DDR. Protokolle. 4. Auflage. Darmstadt, 1980; Hahn, Toni & Welskopf, Rudolf (Hg.). Innovation und Motivation in der Forschung, Entwicklung und Überleitung. Ost-Berlin, 1988; Eckart, Gabriele. »So sehe ich die Sache.« Protokolle aus der DDR. Leben im havelländischen Obstanbaugebiet. Köln, 1984; L ebensweise und S ozialstruktur. Mater ialien des 3. Kongresses der Marxistisch-Leninistischen Soziologie in der DDR, 25.–27. März 1980. Ost-Berlin, 1981; Lötsch, Manfred (Hg.) Ingenieure in der DDR. Soziologische Studien. Ost-Berlin, 1988; Bertram, Barbara (Hg.). Typisch weiblich – typisch männ-lich. Ost-Berlin, 1989; Betram, Barbara & Friedrich, Walter & Kabat vel Job, Otmar. Adam und Eva heute. Leipzig, 1988.

12 Weber (2006: 192) gibt eine kur ze aber hilfr eiche Liste an Veröffentlichungen im akademischen Bereich der DDR zu den F orschungsbereichen Gesundheitswesen, Untersuchungen zu Jugendfragen, Familien und Frauenfragen.

13 Häder, 1991: 57.14 Weber, 2006: 135; Fulbrook, 2003: 365 f.

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13Forschungsdiskussion

Genau wie mit allen anderen Primärquellen ist daher hier vom Forscher ein hohes Maß an kritischer Distanziertheit und sachkundiger Interpretation anzu-bringen.

Im Westen bestand ein solc her Konsensdruck hingegen nicht, Meinungs-freiheit und wissensc haftliche P luralität waren gegeben  – welche al lerdings häufig auch mit einer »Einor dnung« in links-liber ale oder konservative Lager verbunden war.15 Besonders die Monografie »Soziologie der DDR« von Peter Christian L udz (1964) war für den Beginn der Verwissenschaftlichung der DDR-Forschung wegweisend und sorgte durch die Verwendung des Akronyms »DDR« in einer Zeit, in der die meisten Autoren noch »SBZ« benutzten, für rege Diskussion.16 Die DDR wur de in dieser P hase – etliche Jahre vor Honeckers Machtübernahme und bevor eine neue Ostpolitik zwischen der BRD und der DDR überhaupt für möglich gehalten wurde – von Historikern fast durchweg als »totalitäre« Diktatur bezeichnet. Auffallend ist, dass es in den frühen Werken unter Ludzs Leitung bereits ein Inter esse an g esellschaftlichen und so zialen Themen gab. Allerdings war dieses stark begrenzt auf zum einen offiziell verfüg-bare Daten und Kennzahlen sowie auf einige ausgewählte Bereiche, wie Beruf und Familie oder die Rol le des FD GB, ohne dabei die politisc he Absicht in Hinsicht auf stabilitätsstiftende Merkmale zu betrachten.17 Die Sozialpolitik der DDR konnte in der P hase vor der Wende nur deskriptiv beschrieben werden,

15 Fulbrook, 2003: 366.16 Baylis, Thomas A. The Wende in GDR Research. In: German Politics and Society, Issue

68 Vol. 21, No 3 (Fall 2003). New York, 2003. S. 109–119, hier: 109; Fulbook, 2003: 367; ein weiteres gutes Beispiel der Arbeit Ludzs ist: Ludz, Peter Christian. Parteielite im Wandel: Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung. Köln, 1968.

17 Es wird sich bezogen auf: Ludz, Peter Christian. Studien und Materialien zur Sozio-logie der DDR . Sonderheft 8. Köln, 1964. Insbesondere die folgenden drei Kapitel aus obigen Band sind sy mptomatisch für die hier bespr ochene Problematik: Rexin, Manfred. Veränderungen der Ber ufs- und Besc häftigtenstruktur und P robleme der Arbeitskräftelenkung in der DDR. In: Ludz, Peter Christian. Studien und Materialien zur Soziologie der DDR. Sonderheft 8. Köln, 1964. S. 59–85; Storbeck, Dietrich. Die Familienpolitik der SED und die Familienwirklichkeit in der DDR . In: Ludz, Peter Christian. S tudien und Mater ialien zur S oziologie der DDR . Sonderheft 8. Köln, 1964. S. 86–114; Zimmermann, Hartmut. Der FD GB als Massenorganisatio n und seine Aufgaben bei der Erfüllung der betrieblichen Wirtschaftspläne. In: Ludz, Peter Christian. S tudien und Mater ialien zur S oziologie der DDR . Sonderheft 8. Köln,

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14 Einleitung

tiefer gehende Untersuchungen waren aufgrund des Mangels an Zugang zu notwendigen Q uellen nic ht möglic h. Die komplizierte Quellenlage führ te daher zu einem Mangel an Validität vieler Aussagen; oftmals fanden sich in den Texten Formulierungen wie »lassen vermuten« oder »läßt schließen«, welche die Ungewissheit, mit der die Texte erarbeitet wurden, unterstrichen.18 Dissidenz und Opposition wurden zwar ebenfalls gelegentlich untersucht, so listet L udz in seinem DDR Handbuch (1975) Wolf Biermann, Stefan Heym, Reiner Kunze, Robert Havemann sowie die Geistlichen Hans-Joachim Fränkel und Siegfried Schmutzler auf als Personen, von denen »oppositionelle Impulse« in der DDR ausgingen. Bei diesen handelte es sich aber ausschließlich um prominente Dis-sidenten, deren Handeln auc h im Westen bekannt wur de. Dissidenz seitens einfacher Bürger im Alltag wurde von der w estlichen DDR-Forschung nicht erfasst. Generell fielen Beobachtungen zu Oppositio n und Widerstand sehr knapp aus, Ludz beispielsweise gab beim Aufstand vom 17. Juni 1953 die offizielle Linie der SE D wieder (»Ag enten der w estlichen Geheimdienste und ander e gekaufte Subjekte«).19 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 war als weithin sicht-barer Ausdruck von Opposition gegenüber dem SE D-Regime regelmäßiger Forschungsgegenstand mit besserer Quellenlage als andere Forschungsbereiche; Werke wie Ilse Spittmann und Karl Wilhelm Frickes Sammelband »17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR« (1986) stützen sich in großen Teilen auf offizielle Dokumente der DDR und Augenzeugenberichte.20 Untersuchungen zur Sozial-politik (S ozialplanung, S ozialstruktur usw.) fielen sehr deskriptiv aus, o hne

1964. S. 115–145; siehe auc h: Weber, Hermann. Von der SBZ zur DDR . Band 1: 1945–1955. Hannover, 1966.

18 Beispiele aus: Storbeck, 1964: 89 f. In Bezug auf die Q uellenlage für DDR-Forscher in der BRD gelangt Weber zu dem Urteil, dass diese, wie s ich nach 1989 heraus-stellte, nicht so schlecht war wie lange angenommen. Westliche Archive wie z. B. die Akten der US-Behörden zur SBZ oder Protokolle zu ZK-Sitzungen im Bundesarchiv in Koblenz gaben Einblic k in die Vor- und Frühgeschichte der DDR , akademische Arbeiten aus der DDR (Dissertationen und Habilitationen) waren teilweise auch im Westen erhältlich, Zeitschriften und Z eitungen aus der DDR v ervollständigten ein Alltagsbild (Weber, 2006: 122 f.).

19 Ludz, Peter Christian. DDR Handbuch. Köln, 1975. S 606.20 Empfehlenswerte Artikel zum A ufstand vom 17. Juni 1953 finden sich in: Weber,

Hermann. Von der SBZ zur DDR. Band 1: 1945–1955. Hannover, 1966; Fricke, Karl-Wilhelm. Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Bonn, 1964.

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15Forschungsdiskussion

kritische oder hinterfragende Überlegungen.21 Das Fehlen einer unabhängigen und kritischen Meinungsforschung sowie verlässlicher Datenquellen innerhalb der DDR ist als Hauptgrund für viele Versäumnisse innerhalb dieser Arbeiten anzusehen.22 Mary Fulbrook (2003) weist aber zurecht daraufhin, dass auch wenn sich die Q uellenlage in der w estdeutschen DDR-Forschung besserte und von einem journalistischen Stil wegrückte, sie doch häufig politische Strömungen und den Einfluss aktueller Vorgänge widerspiegelte, z. B. wurde ab den späteren 70er Jahren die DDR generell als stabil und dauerhaft angesehen.23 Daraus ergab sich nach der Wende die Frage, ob die DDR von der westdeutschen Geschichts-schreibung generell zu positiv beschrieben worden war und ob Forscher selbst im Westen von der SED-Propaganda beeinflusst worden waren, eine Frage, die generell jedoch die Breite der DDR-Forschung in ihrer Gesamtheit nicht hin-reichend berücksichtigt.24 Es sollte zudem bei solchen Vorwürfen nicht vergessen werden, dass die Geschichtsschreibung ihren Blick stets nach hinten zu richten hat. Gerade die Kritik, dass man das Versagen der DDR nicht hatte vorhersagen können, muss daher auch damit entkräftet werden, dass es generell nicht Auf-gabe der Geschichtsschreibung ist, die Zukunft vorherzusagen.25 Es finden sich im Kanon der DDR-Forschung aus der Z eit vor der Wende viele Werke, die auch heute noch lesenswert sind.26 Ein großer Teil der Forschung konzentrierte

21 Als Beispiel: Ludz, 1975: 785–794.22 Heinz Niemanns Werk »Meinungsforschung in der DDR« (1993) stellt in dieser Hin-

sicht eine Ausnahme dar, welches die Arbeit des kurzlebigen »Instituts für Meinungs-forschung« i n d er D DR u ntersucht. Niemann, H einz. M einungsforschung i n d er DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED. Köln, 1993.

23 Fulbrook, 2003: 368.24 Fulbrook, 2003: 368 f.25 Vgl. Fulbrook, 2003: 370.26 Beispiele für g elungene Werke der BR D-Forschung zur DDR v or der Wende sind

nach Fulbrook (2003: 368 f.): Behr, Wolfgang. Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik.

Systemvergleich P olitik, Wirtschaft, G esellschaft. S tuttgart, 1 979; L udz, P eter Christian & Kuppe, Johannes (Hg., im A uftrag des Bundesminister iums für inner -deutsche Beziehungen). DDR-Handbuch. Köln, 1975 (überarbeitete Auflage 1985); Jesse, E ckhard (Hg.). Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutsc hen S taaten im Vergleich. Ber lin, 1982; K leßmann, Christoph. Die doppelte S taatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Bonn,

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sich auch auf die Besc hreibung von Herrschaftsstrukturen in der DDR und die wirtschaftlichen und so zialen Umwälzungen in der F rühphase der DDR zum Aufbau des Sozialismus.27 Generell kann man als Fazit anbringen, dass die BRD-Forschung zur DDR vor der Wende die grundlegenden Strukturen und politischen Machtakteure in der DDR erkannt und richtig beschrieben hat, ihre Defizite aber ganz klar in der Nichtzugänglichkeit interner und v ertraulicher Quellen lagen. Dadurch ergaben sic h Unschärfen, Ungenauigkeiten und zum Teil falsche Eindrücke, insbesondere im Detail oder in Wirtschaftsfragen. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet es, dass der Fokus nicht auf deskriptive Arbeit zu leg en ist. Während Ludz beispielsweise bereits 1968 die Funktions-weise, die Alterszusammensetzung und andere demografische Daten der SED relativ klar und umfassend beschreiben konnte, war es quasi unmöglich gewesen, einen Verlust an ideologischem Rückhalt der offiziellen Parteilinie unter ihren eigenen Mitgliedern f estzustellen oder den Einfluss der Staatssicherheit als »Staat im Staat«.28 Es fehlte an einer breiten und zuverlässigen Datenbasis oder vertraulichen, internen Berichten für tief er gehende Analysen solcher Thesen. Heute hing egen ermöglicht die Ersc hließung zahlreicher Quellen aus dem Alltag der DDR es dem Histor iker, ein wesentlich dichteres und vielseitigeres

1982 (überarbeitete Auflage 1991); Kleßmann, Christoph. Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Gesc hichte 1955–1970. Bo nn, 1988 (über arbeitete Auflage 1997); S ta-ritz, Dietrich. Geschichte der DDR. Frankfurt a. M., 1996; Weber, Hermann. DDR. Dokumente zur Gesc hichte der Deutsc hen Demokratischen Republik 1945–1985. München, 1986; Weber, Hermann. Von der SBZ zur DDR , 1945–1968. Hannover, 1968; Spittmann, I lse (Hg.). Die SE D in Gesc hichte und Geg enwart. Köln, 1987; Fricke, Karl Wilhelm. Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktions-felder. Köln, 1982 (über arbeitete Auflage 1989); Fricke, Karl Wilhelm. Politik und Justiz in der DDR . Zur Geschichte der politisc hen Verfolgung 1946–1968. Bericht und Dokumentation. Köln, 1979.

27 Als Beispiele: Ludz, Peter Christian. Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozial-struktur und Ideologie der SED-Parteiführung. Eine empirisch-systematische Unter-suchung. Köln, 1968; S pittmann, I lse. Die SE D in Gesc hichte und Geg enwart. Köln, 1986; Weber, Hermann. Von der SBZ zur DDR, 1945–1968. Hannover, 1968; Kleßmann, Chr istoph. Die doppelte S taatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955. Bonn, 1982.

28 Vgl. Ludz, Peter Christian. Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Parteiführung. Eine empirisch-systematische Untersuchung. Köln, 1968.

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17Forschungsdiskussion

Bild des r ealen Alltags innerhalb der DDR zu z eichnen, welches von realen Eindrücken der Bürger gekennzeichnet ist. Auch in diesem Buch ist dies eine Zielsetzung. Das Phänomen der augenscheinlichen Stabilität der DDR selbst in den 80er Jahren wurde auch vor der Wende untersucht. Hier muss ein Versagen der Forschung gesehen werden, die sich von genau dieser Augenscheinlichkeit täuschen ließ und der DDR eine Stabilität bescheinigte, die es so nie g egeben hat. Wenn Henry Krisch (1988) fälschlicherweise schrieb, dass die »Mehrheit der DDR-Bürger« die politische Kultur der DDR akzeptierte und hierfür die Zug-kraft der ko mmunistischen Ideologie so wie die Ko ngruenz von gewachsenen politischen Strukturen anführte, ist es aus heutiger Sicht notwendig, die Ursache für diese Fehler zu suchen.29 Die DDR-Forschung vor der Wende innerhalb der BRD sah sic h selbst dem A nspruch verpflichtet, kritisch und objektiv g egen-über dem zu untersuchenden Forschungsobjekt zu sein. Methodisch stellte die Quellenlage jedoch generell ein Problem dar, dessen Ausmaß auch in wesent-lichen Teilen erst dur ch die Öffnung der Archive nach der Wende offenbar wurde. Viele Arbeiten mussten die öffentliche Meinung ausblenden und waren gezwungen, lediglich Strukturen und R ahmenbedingungen aufzuzeigen. Eine Untersuchung von komplexen Zusammenhängen und der gegenseitigen Beein-flussung von Alltag, Politik, Wirtschaft, Repression und Gesellschaft scheiterte daran, dass die F orschung nur den Blic k v on außer halb aufz eigen ko nnte. Die Betrachtung der DDR aus der Makr operspektive und der F okus auf ihre politischen Institutionen wurde durch diese Situation gefördert, die Betrachtung der öffentlichen Meinung, der P robleme im Al ltagsleben und der Dissidenz innerhalb der DDR hingegen erschwert.

Nach der Wende bot sic h für Histor iker die Möglic hkeit, die DDR als »abgeschlossenes Forschungsfeld« mit wesentlich verlässlicherer Quellenbasis zu untersuchen.30 Zunächst erfolgte eine Flut von teilweise hastig erarbeiteten Ver-öffentlichungen, die ein oft sehr negatives und eindimensionales Bild der DDR zeigten. Hier muss auch wieder in Bezug auf die Quellenlage bedacht werden,

29 Krisch, Henr y. Der Wandel der politisc hen Kultur und politisc he S tabilität in der DDR. In: Glaeßner, Gert-Joachim (Hg.). Die DDR in der Är a Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft. Opladen, 1988. S. 151–167, hier: 155 f.

30 Henke, K laus-Dietmar. DDR-F orschung seit 1990. In: Eppelmann, R ainer  & Faulenbach, Bernd & Mähler t, U lrich (Hg.). Bilanz und P erspektiven der DDR-Forschung. Paderborn, 2003. S. 371–376, hier: 373; Weber, 2006: 121.

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dass viele dieser Forschungen sich auf Aktenbereiche stützten, die in den ersten Jahren nach dem Ende der DDR frei zugänglich und bereits erfasst waren; dies waren hauptsächlich Akten zentraler Institutionen und solche, die nicht einer 30-jährigen Schutzfrist unterlagen, z. B. Akten der »Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR« im Bundesarchiv in Berlin. Als Folge der Aktenlage und der S chnelligkeit, mit der manc he Werke erarbeitet wurden, ergaben sich manche Defizite und »Schnellschüsse«.31 Zu diesen gesellten sich auch eine ganze Reihe Neuauflagen bekannter Werke aus der DDR-Forschung vor 1989, die lediglic h leic ht über arbeitet oder aktualisier t wur den. Gleic h-zeitig wurde unmittelbar nach der Wende auch die bereits bestehende DDR-Geschichtsforschung sowie deren Autoren in w enig sensibler Ar t und Weise durch westliche Forscher diskreditiert und als über holt abgeschrieben. Neben teilweise berechtigter Kritik an der Validität der bisherigen DDR-Geschichts-forschung wurden hier zweifelsohne auch Schlachten zu Karrierezwecken oder aus anderen, nicht im Dienste der Wissenschaft stehenden Motiven geführt.32

Akten r egionaler Ar chive war en in dieser F rühphase der neuen DDR-Forschung noch nicht im gleic hen Maße v erfügbar und w eniger gut zugäng -lich, da sie häufiger Sperrfristen unterlagen oder schlichtweg noch nicht erfasst waren; die Priorität war hier auf überg eordnete Datenbereiche gelegt worden, wodurch manche weniger zentrale Akten erst einmal warten mussten.33 Im Laufe der Jahre wurden weitere Akten er fasst und »peu à peu« fr eigegeben, welche einen detaillierten Blick in Teilbereiche erlaubten und eine differenziertere Sicht begünstigten. Viele interessante Untersuchungen, die tief er in die al ltäglichen Konflikte zwischen Diktatur und Gesellschaft eintauchen, konnten so zwangs-weise erst mehr ere Jahre nach der Wende erarbeitet werden – viele Q uellen wurden erst später zugänglich. Auch die vorliegende Untersuchung stützt sich in Teilen auf Akten, die erst kürzlich oder noch gar nicht in Findbüchern erfasst

31 Weber, 2006: 128.32 Vgl. Henke, 2003: 372; Baylis, 2003: 115; Ross, 2002: 188 f.; Berger, Stefan. Former

GDR Historians in the Reunified Germany: An Alternative Historical Culture and its Attempts to Come to Terms with the GDR Past. In: Journal of Contemporary History, Vol 38, No 1. Redesigning the Past (January 2003). London, 2003. S. 63–83, hier 64 ff.

33 Vgl. Weber, Her mann  & Mähler t, U lrich. Q uellenlage zur DDR-Gesc hichte. In: Gesel lschaft S ozialwissenschaftlicher Infr astruktureinrichtungen e . V. (Hg .). Materialien zur Er forschung der DDR-Gesc hichte. Q uellen, Daten, Instr umente. Opladen, 1998. S. 165–182, hier: 165 ff.

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19Forschungsdiskussion

wurden, so sind z. B. viele der Eingaben des Landesarchiv Berlins, die für dieses Buch eingesehen wurden, noch nicht erfasst.34 Das Ende der DDR bedeutete auch, dass methodisch neue Wege beschritten werden konnten. Eine Arbeit wie z. B. Babett Bauers »Ko ntrolle und Repr ession« (2006), der der methodisc he Ansatz der »Oral History« zugrunde liegt und die narr ative Interviews von 30 ehemaligen DDR-Bürgern als Datenquelle nutzt, ist somit erst nach dem Ende der SED-Diktatur möglich geworden.35 Das gleiche gilt für eine Untersuchung wie die von Karl-Dieter Opp und Peter Voß (1993), die auf der Befragung ehe-maliger DDR-Bürger durch Fragebögen aufbaut und daraus Schlussfolgerungen in Bezug auf die Herbstrevolution 1989 zieht.36

Eines der zentralen Forschungsthemen in dieser Frühphase der Nachwende-forschung war insbeso ndere die Besc häftigung mit der Totalitarismusdebatte. Dabei folgte man der populären Forschungsdebatte in den späten 80er Jahren, ob die DDR angesichts der politischen Veränderungen im Ost-West-Verhält-nis noch als ein totalitär es, statisches System bezeichnet werden könne.37 So zentral diese Debatte auc h war, so schnell wurde das Thema aber auch wieder zur Seite gelegt. Einige Institute, wie z. B. das Hannah-A hrendt-Institut für Totalitarismusforschung mussten erkennen, dass ein breiteres Forschungsfeld benötigt wurde, um sich langfristig in der Forschungslandschaft zu etablieren.38 Der Grund hierfür war weniger in der Frage selber zu sehen, als in der Besetzung der Begrifflichkeit, die entweder einen problematischen Vergleich mit anderen als »totalitär« bezeichneten Diktaturen erfordert oder eine eher unbefriedigende

34 Grundsätzlich unter liegen die Ar chivbestände des L andesarchiv Ber lins der 30-jährigen Schutzfrist. Einem Antrag zur Aussetzung aus Forschungszwecken wurde für diese Untersuchung stattgegeben, unter der Auflage, personenbezogene Daten zu anonymisieren.

35 Bauer, Babett. Ko ntrolle und Repr ession. Individuel le Er fahrungen in der DDR (1971–1989). Historische S tudie und methodologischer Beitrag zur Oral History. Göttingen, 2006. Für Informationen über die Auswahl der Interviewkandidaten siehe S. 41–44 a. a. O.

36 Opp, Karl-Dieter & Voß, Peter. Die volkseigene Revolution. Stuttgart, 1993.37 Vgl. Glaeßner, Gert-Joachim. DDR-Forschung in der Bundesrepublik. In: Glaeßner,

Gert-Joachim (Hg.). Die DDR in der Ära Honecker. Politik – Kultur – Gesellschaft. Opladen, 1988. S. 111–119, hier: 113.

38 Henke, 2003: 374.

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20 Einleitung

Auseinandersetzung mit der gängig en Totalitarismustheorie.39 Letztere führt nur dazu, dass die DDR praktisch zwischen die Definitionen fällt und schwer zu klassifizieren ist.40 So ist es wenig verwunderlich, dass der DDR letztlich so viele Namen gegeben sind, von denen Jarauschs »Fürsorgediktatur« oder der von Rolf Henrich vorgeschlagene Begriff »vormundschaftliche Diktatur« in Hinblick auf dieses Buch und seinen Untersuchungsgegenstand besonders passend sind.41

Ein anderer, auch heute noch zentraler Forschungsdiskurs dreht sich um die Frage nach dem Ausmaß von Opposition und Dissidenz im Alltag der DDR. Die Frage, wie sehr diese Politik und Alltag beeinflusste sowie der Umfang von Opposition und Dissidenz ist häufiger Bereich von Analysen und Forschung gewesen (im Ge gensatz zu L oyalität und Unterstützung des SED-Regimes seitens Bürger). In gewisser Weise mit diesem Bereich verbunden ist die Frage,

39 Vgl. Baylis, 2003: 111.40 In der Fachliteratur gibt es v. a. zwei Theoriemodelle für totalitäre Systeme – eines von

Hannah Arendt und eines von Friedrich und Brzezinski (Ross, 2002: 22). Für Arendt ist eine revolutionäre Massenbewegung, die sich verselbstständigt und letztlich selbst-zerstörerische Kräfte entwickelt maßgeblich (Arendt, 1976: 306). Diese Bewegung, die auf einer Ideologie mit absolutem und universellem Anspruch basieren muss, muss in ständiger Bewegung bleiben oder kollabieren (Arendt, Hannah. The Origins of Total-itarianism. New York, 1976. 486 ff.; Canovan, Margaret. The leader and the masses. Hannah Arendt on totalitarianism and dictatorship. In: Baehr, Peter: Dictatorship in Histor y and Theory: Bonapartism, Caesarism, and Totalitarianism. Cambr idge, 2004. S. 241–262, hier: 243 ff.). Brzezinskis Theorie hingegen sieht Totalitarismus als den Versuch, alle Aspekte des täglichen Lebens zu planen und zu kontrollieren, eben-falls mittels einer zentralen Ideologie (Ross, 2002: 22). Der Hauptgrund ist jedoch, das Brzezinskis Modell größtenteils statisch ist, während Arendts Modell zwar dynamisch ist, aber sich diese Form des Totalitarismus permanent radikalisiert, bis sie untergeht (Beispiel N ationalsozialismus in Deutsc hland) oder umg ewandelt wir d (Beispiel Sowjetunion unter S talin). Letztlich treffen beide Model le nicht auf die DDR zu; diese entwickelte keine selbst-z erstörerische Radikalität, andererseits durchging die DDR Phasen der stärkeren politischen Repression und der Liberalisierung.

41 Baylis, 2003: 111. Die Begriffe »Fürsorgediktatur« und »vormundschaftliche Diktatur« sind in marxismusnahen und in Kreisen ehemaliger SED-Mitglieder nicht unumstritten, da sie als »spöttisch« und allgemein abwertend empfunden werden. Laut Meinung des Autors d ieses Buchs i st d iese Kritik j edoch unberechtigt und durch aktuelle, populistische und ideologisch gefärbte Diskussionen innerhalb der Links-Partei gefärbt (vgl. Staritz, Dieter. Das Ende der DDR. Erklärungsansätze. In: Utopie kreativ, Sonderheft 2000. Berlin, 2000. S. 11–20, hier: 14).

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21Forschungsdiskussion

wie die Existenz der DDR über 4 0 Jahre, insbesondere die bedeutsame P hase der Stabilität nach dem Mauer bau bis 1989, zu erklären ist. Während manche Forscher die DDR v or einem bürg erkriegsähnlichen Zustand sehen, der nur durch die Androhung von Gewalt durch die Sowjetische Armee und den Staats-apparat der DDR unterdrückt wurde – eine Sichtweise, die sehr durch die Ereig-nisse vom 17. Juni 1953 geprägt ist – sehen andere die DDR als einen S taat an, der über bestimmte Z eitepochen hinweg von großen Teilen der Be völkerung akzeptiert und zumindest toleriert wurde.42 Gerade letztere These wird in diesem Buch unterstützt, welches sich nicht nur mit der Frage beschäftigt, ob Bürger der DDR das Regime akzeptierten oder sogar unterstützten, sondern insbesondere auch aus w elchen Motiven und zu w elchem Grad. Hier ist al lerdings gleich auch darauf hinzuweisen, dass für eine dia chrone Betrachtung der DDR eine weitaus differenziertere Unterscheidung verschiedener Phasen der DDR not -wendig ist.43

Zahlreiche Monografien sind nach der Wende erschienen, die umfangreiche Einblicke in Gesellschaft, Politik, Kultur und Alltag der DDR geben.44 Für dieses Buch sind zahlreiche Analysen eine wichtige Grundlage gewesen. Hier sind zum einen die Publikationen der ehemaligen Bürgerrechtler und ostdeutschen

42 Maier, Charles. Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus. Frankfurt a. M., 1999. S. 38; Baylis, 2003: 113.

43 Vgl. Tosh, John. In Pursuit of History. Aims, Methods and new directions in the study of modern history. 5. Auflage. Harlow, 2010. S. 8 ff.

44 Herausragende Werke nach Henke (2003: 374 f.) sind: Mitter, Armin & Wolle, Stefan. Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München, 1993; Kielsmansegg, Peter Graf von. Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Berlin, 2000; Malycha, Andreas. Auf dem Weg zur SE D. Die S ozial-demokratie und die Bildung einer Einheitspar tei in den L ändern der SBZ. Eine Quellenedition. Bonn, 1995; Weber, Hermann. Geschichte der DDR. München, 1995; Hertle, Hans-Herrmann. Der F all der Mauer . Die unbeabsic htigte Selbstauflösung des SED-Staates. Opladen, 1996; Neubert, Ehrhart. Geschichte der Oppositio n in der DDR 1949–1989. Berlin, 1997; Pollack, Detlef & Rink, Dieter (Hg.). Zwischen Verweigerung und Opposition. Politischer Protest in der DDR 1970–1989. Frankfurt a. M., 1997; Maier, Charles. Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus. Frankfurt a. M., 1999; Buchheim, Christoph (Hg.). Wirtschaftliche Folgelasten des Krieges in der SBZ/DDR. Baden-Baden, 1995; Pirker, Theo & Lepsius, Rainer & Weinert, Rainer & Hertle, Hans-Hermann (Hg.). Der Plan als Befehl und Fiktion. Wirtschaftsführung in der DDR. Gespräche und Analysen. Opladen, 1995.

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22 Einleitung

Historiker wie U lrike P oppe, R ainer Ec kert und I lko-Sascha Ko walczuk (1998), Armin Mitter und S tefan Wolle (1990, 1999, 2004, 2006) zu nennen, deren Forschung sich häufig mit dem Diskurs Dissidenz und Opposition in der DDR befasst. Innerhalb der »westdeutschen« Forschungsliteratur sind die Forschungsarbeiten Konrad Jarauschs (1995, 1998) und Siegrid Meuschels (1992) zunächst hervorzuheben, die sich mit der Frage der langjährigen Stabilität der DDR und der potenziellen Legitimation des SED-Regimes beschäftigt haben, sowie der Historiker Hans-Hermann Hertle (1996, 2006). Der v. a. bei Meuschel präsente Hang, die ko mmunistische Ideologie als einen der Hauptgr ünde für die Stabilität der DDR zu sehen, wird in diesem Buc h jedoch nicht geteilt.45 Kein Forschungsüberblick wäre komplett ohne Hermann Weber (1966, 1991, 2006) und Hans-Ulrich Wehler (2008), zwei zentrale und bedeutende Namen in der deutschen Historik. Die beiden bekannten Histor iker in einem S atz zu nennen überg eht zw eifellos bedeutende Untersc hiede in ihr er Betr achtung der DDR. Webers überragende Fachkompetenz im Bereich der Kommunis-mus- und DDR-Forschung ist durch eine besonders detaillierte, kritische und vergleichende Sichtweise gekennzeichnet, die auch Details nicht übergeht; Wehler, dessen Werk »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« in fünf Bänden zu den Standardwerken der deutschen Geschichtsschreibung zählt, hat in Bezug auf die DDR eine eher als »statisc h« zu beschreibende Sichtweise, die sein Urteil, dass die DDR »eine Fußnote der deutschen Geschichte« sei, teilweise erklärt.46 Wehlers Ar beit ist dur ch eine klassisc he und br eit ang elegte S chichtungs-

45 Vgl. Meuschel, Sigrid. Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR. Frankfurt a. M., 1992. S. 28 f.

46 Die statische Sichtweise wurde in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28.11.2008 kritisiert, gemeinsam mit Wehlers Umschreibung der DDR als eine »sowjetische Satrapie«. Daraus ergebe sich eine Verkürzung und Vereinfachung der komplexen DDR-Geschichte, die der von Wehler als Ziel gesetzten deutschen »Totalgeschichte« nicht gerecht werde. FAZ, 28.11.2008, L20; vgl. Wehler, Hans-Ulrich. Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1949–1990. Band 5. München, 2008. S. XV, 218 & 322 ff. In Bezug auf Webers differenzierte Arbeit sind ist seine Monografie von 1991 ein gutes Beispiel, während die Monografie von 2006 sich besonders durch eine außergewöhnlich fundierte Kenntnis der Forschungslandschaft zur DDR-Geschichte auszeichnet: Weber, Hermann. Aufbau und F all einer Diktatur . Kr itische Beiträge zur Gesc hichte der DDR . Köln, 1991; Weber, Her mann. Die DDR 1945–1990. Oldenbourg Grundriss der Geschichte. München, 2006.

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23Forschungsdiskussion

analyse charakterisiert, nicht aber durch eine vergleichende und differenzierte Sichtweise. Die Auslandshistorie, unter diesen v. a. Mary Fulbrook (1991, 1995, 2000, 2005, 2009, 2011), Corey Ross (2002), Charles S. Maier (1987, 1999, 2004), Patrick Major (1995, 2002, 2010) und Jeremy Brooke Straughn (2005) zeigen, dass zuweilen gerade eine gewisse Distanz und der Blick von außerhalb frische Erkenntnisse und neue, objektivere Ansichten in der Historik liefern können.47 Der Historiker Richard Merritt (1972) stellte so beispielsw eise sehr nüc htern fest, dass der Mauer bau 1961 zwar ein politisch einschneidendes Ereignis war und für viele Bürg er ein S chockerlebnis darstel lte, andererseits aber, dass die gesellschaftliche und wirtschaftliche Trennung in West- und Ost-Berlin in der Phase vor dem Mauer bau bereits weit vorangeschritten war und nur w enige hundert Bürger z. B. beruflich durch den Mauerbau betroffen waren – eine Sicht-weise, die gerade erst durch eine gewisse emotionale Distanz ermöglicht wird.48 Dem westdeutschen DDR-Forscher hingegen ist die DDR zugleich vertraut – aufgrund gemeinsamer kultureller und historischer Wurzeln – und gleichzeitig fremd – aufgrund des anderen politischen Systems und der untersc hiedlichen Erfahrungen, die ein in der Öffentlichkeit divergierendes »social memory« bedingen.49 André Steiners (2005, 2007) Werke zur Wirtschaft der DDR sind ebenfalls innerhalb der Forschergemeinde hoch angesehen und zentrale Arbeiten, Jonathan Zatlins (2010) liefert weitere Einsichten in grundlegende Zusammen-hänge und Vorgänge innerhalb der DDR-Wirtschaft. Charles Maier, einer der zentralen Denker im Ber eich der »politic al economy«, vertritt v. a. in seinem Artikel von 2004 die Ansicht, dass ökonomische Entwicklungen und Krisen in beiden Lagern des Kalten Krieges maßgeblich sinnstiftend für politische Ent-scheidungen in den 70er und 80er Jahren waren (und eben nicht gesellschaftliche

47 Siehe auc h: Manz, S tefan. Buc hrezension: Major , P atrick  & Osmo nd, Jo nathan (Hg.): The Workers’ and Peasants’ State: Communism and Society in East Ger many Under U lbricht, 1945–71. Manc hester, 2002. In: Debatte , Vol 10, No 2. L ondon, 2002. S. 234–236.

48 Merritt, Richard. Divided Berlin. One past, three futures. In: Journal of Peace Research, Vol 9, No 4. London, 1972. S. 331–344, hier S. 332.

49 Vgl. Glaeßner, 1988: 177. Der Begr iff »social memory« wird von Tosh (2010: 3) wie folgt beschrieben: »The term ›social memory‹ accurately reflects the rationale of popular knowledge about the past. Social groupings need a record of prior experience, but they also require a picture of the past that ser ves to explain or justify the pr esent, often at the cost of historical accuracy.«

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oder ideologische Entwicklungen); diese These ist zwar verständlich dargelegt, aber in vielerlei Hinsicht zu vereinfachend und übersieht damit Details, die in einer detaillierteren, kurzfristiger angelegten und fokussierteren Analyse wie in der vorliegenden behandelt werden können.50 Gemeinsam mit Anthony Downs (1957) und den aktuelleren Schriften Ronald Wintrobes (1998, 2005, 2009) hilft die Arbeit Maiers, einen theor etischen Zugang zur der der S ozialpolitik der SED zugrunde liegenden Räson zu erhalten.

Mit Ausnahme von Meuschel und Fulbrook sind die na ch 2000 veröffent-lichten Werke generell am hilfreichsten für den Forscher, da diese den bis dahin erreichten Forschungsstand miteinbe ziehen und so mit einen aktualisier ten, kompletteren und besser fundier ten Einblic k in den F orschungsgegenstand DDR geben. Häufig liegt diesen Arbeiten auch eine breitere und vielseitigere Quellenbasis zugrunde als es bei älteren Werken, die vor 1989 verfasst, aber unmittelbar nach der Wende aktualisiert und erweitert wurden, der Fall ist.

Die Funktion und Herrschaftspraxis der SED, die Rolle des MfS innerhalb der DDR sowie die Aufgaben der Massenorganisationen FDGB und FDJ sind ebenfalls größtenteils erforscht und gut darg estellt worden. Die Organisation, das Innenleben und die Mitgliederstr uktur der FDJ ist gut bei Dor le Zilch (1994, 2010) dargestellt,51 die Arbeit von Klaus Schroeder (1998) vermittelt einen umfassenden und detaillierten Einblick in die SED und deren Parteigeschichte, auch wenn sie sich nicht wesentlich von den Ergebnissen der Vorwendeliteratur unterscheidet – und die Rolle des FDGB innerhalb der Sozialpolitik ist in zahl-

50 So sieht z. B. Maier selbst solc he P robleme wie Alko holismus und ho he S elbst-mordraten in östlichen Ländern als Konsequenz wirtschaftlicher Verfehlungen, eine Argumentation, die nicht unterstützt werden kann, da sie soziale und gesellschaftliche Probleme zu sehr ausblendet. Andererseits wird Maiers Sichtweise, dass die DDR und andere osteuropäische Länder in den 80er Jahr en in star kem Maße v on westlichen Krediten abhängig waren, unterstützt. Maier, Charles. Two Sorts of Crisis? The long 1970s in the West and the East. In: Hockerts, Günter (Hg.). Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoc he des Ost-West-Konflikts. München, 2004. S. 49–62, hier S. 59.

51 Vgl. Burdumy, Alexander. Buchrezension: Zilch, Dor le. Millionen unter der blauen Fahne. Die FDJ-Z ahlen, Fakten, Tendenzen 1946–1989. Unter beso nderer Berück-sichtigung der F unktionäre und der Mä dchenpolitik. Ber lin, 2009. In: Jour nal of Contemporary European Studies, Vol 18, No 2. Oxon, 2010. S. 295–296.

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reichen Untersuc hungen zur S ozialpolitik zusammeng efasst.52 Das MfS ist insbesondere von Jens Gieseke (2000, 2001), einem der pr ofundesten Kenner der Geschichte des MfS, sowie von Karl Wilhelm Fricke (2002, 2003) und Mike Dennis (2003) aufgearbeitet worden.53 Gemeinsam mit ander en Autoren wie Stefan Wolle (1999, 2004) sowie David Gil l und U lrich Schröter (1991) sehen Dennis, Fricke und Gieseke die S tasi als einen gigantischen, fast allmächtigen Überwachungsapparat, der die Gesel lschaft auf subtile Weise terrorisierte und der außerordentlich effektiv arbeitete. Lediglich gelegentlich und am R ande wird der Stasi auch ein gewisser schleichender Machtverlust in den 80er Jahren eingeräumt, z. B. aufgrund der Beschneidung von Machtbefugnissen als Folge der innerdeutschen Entspannungspolitik, der zunehmenden Verwestlichung der Bevölkerung der DDR oder des Verlusts des klassischen Feindbilds durch die Reformpolitik der Sowjetunion und den generellen Verlust des Glaubens an die kommunistische Ideologie.54 Diese oft zu sehr im Vordergrund stehende Sicht-

52 Ein w eiteres hilfr eiches Werk zur SE D ist: Her bst, A ndreas  & Ger d-Rüdiger, Stephan & Winkler, Jürgen. Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Hand-buch. Berlin, 1997.

53 Karl Wilhelm Fricke und S ilke Klewins Monografie »Bautzen II. Sonderhaftanstalt unter MfS-Ko ntrolle 1956–1989. Ber icht und Do kumentation« (2002) kann als Paradebeispiel für die detailliertere DDR-Forschung nach 2000 gesehen werden. Sie benutzt eine breite Quellenbasis unterschiedlichen Ursprungs und zeichnet mit dieser ein detaillierteres Bild der Haf tanstalt Bautzen. Allerdings ist die Ar beit nicht ohne Makel: der Untersuchungszeitraum der Monografie, 1956–1989, verschwimmt inner-halb der Betrachtung zu sehr zu einer einheitlic hen Zeitperiode ohne Unterschiede, was Veränderungen übergeht und zu anachronistischen Schlüssen führen kann.

Empfehlenswerte Sekundärliteratur über die S tasi umfasst: Dennis, Mike. The Stasi: Myth and Realit y. London, 2003; Fricke, Karl Wilhelm & Klewin, S ilke. Bautzen II. Bautz en I I. S onderhaftanstalt unter MfS-Ko ntrolle 1956–1989. Ber icht und Dokumentation. L eipzig, 2002; Fricke, K arl-Wilhelm  & Eng elmann, Rog er. Der »Tag X« und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953 – Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat. Bremen, 2003; Gieseke, Jens. Die hauptamtlic hen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und L ebenswelt 1950–1989/90. Ber lin, 2000; Gieseke, Jens. Der Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945–1990. Stuttgart/München, 2001; Gieseke, Jens (Hg.). Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR. Göttingen, 2007; Gill, David & Schröter, Ulrich. Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums. Berlin, 1991.

54 Vgl. Gieseke, Jens. Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personal-struktur und Lebenswelt 1950–1989/90. Berlin, 2000. S. 434 f. & 500 ff.

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weise eines nahezu omnipotenten und omniscienten Überwachungsstaats wird jedoch in wesentlichen Bestandteilen in Kapitel 5.7 relativiert und entkräftet.

Nach der Wende wurde auch die Sozialpolitik der DDR auf grund neu verfügbarer Q uellen vermehrt aus der Makr operspektive untersucht. Diesen Arbeiten ist häufig gemein, dass sie sic h auf die g esamte DDR be ziehen, regionale Unterschiede ignorieren und die S ozialpolitik möglichst umfassend und komplett untersuchen wollen. Gemeinsam mit der Makroperspektive geben diese Arbeiten daher einen guten Überblick über die S ozialpolitik und ihrer Strukturen, sie sind dadurch aber auch nicht in der Lage, einen differenzierten Blick auf Teilbereiche zu w erfen oder die Z ielgruppe der S ozialpolitik, die Bürger, zu betr achten und deren tatsächliche Auswirkungen der Maßnahmen im Alltag zu be werten. Ein beso nders zentrales und umfassendes Werk stel lt in dieser Hinsicht die Reihe »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945« in 11 Bänden dar, in welcher man eine gute Ü bersicht zur DDR (in den Bänden 9 und 10) findet.55 Die Bände bestehen vornehmlich aus Aufsätzen zu Teilbereichen, wodurch der Gesamtzusammenhang bedauerlicherweise etwas leidet und eine vergleichende, reflektierende Sichtweise, die auch zeitgenössische Einflüsse berücksichtigt, in den Hintergrund gerät. Die sozialpolitischen Maß-nahmen der SED und die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind hauptsäch-lich nur in Teilbereichen bearbeitet worden. Jeanette Ma darasz (2003), Peter Hübner (1994, 2003, 2008), Jürgen Kocka (1994) und etliche andere Forscher stellen hilfreiche Untersuchungen in Teilgebieten der DDR-F orschung, vor-nehmlich der gesellschaftlichen Auswirkungen der Sozialpolitik, zur Verfügung. Beatrix Bouvier (2002, 2007), Konrad Jarausch (1998), Hartmut Kaelble (1994, 2007), Manfred Schmidt (2004) und Gerhard Ritter (2006) haben hier eben -falls w ichtige Werke erarbeitet. Untersuchungen von Teilbereichen s ind im Bereich des Wohnungsbaus von Hans-Jörg Buck (1991, 1996, 2004), im Bereich des Gesundheitsw esens v on Chr istian Kor bancka (1990) und Horst S paar

55 Kleßmann, Chr istoph (Hg .). Gesc hichte der S ozialpolitik in Deutsc hland seit 1945. Band 9. 1961–1971 Deutsche Demokratische Republik. Politische Stabilisierung und wirtschaftliche Mobilisierung. Baden-Baden, 2006; Boyer, Christoph Henke & Klaus Dietmar & Skyba, Peter (Hg.). Geschichte der S ozialpolitik in Deutsc hland seit 1945. Band 10: 1971–1989. Deutsche Demokratische Republik. Bewegung in der Sozialpolitik, Erstarrung und Niedergang. Baden-Baden, 2008.

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(1995, 2002, 2003) erarbeitet worden.56 Vielen dieser Werke ist jedoch ebenfalls gemein, dass sie sich oft auf eine Vogelperspektive begrenzen und ebenfalls nur selten auf regionale Besonderheiten und Unterschiede eingehen. Dadurch ergibt sich oft der Eindr uck, die DDR sei ein mo nolithischer Block ohne nennens-werte Abweichungen und regionale Disparitäten gewesen. Dieses Defizit (der Forschung) ist umso v erwunderlicher, als es zu DDR-Z eiten durchaus solche Forschung gab.57 Mit dem g eteilten Berlin und dessen Rol le im Kalten Krieg als Forschungsgegenstand hat sic h Mic hael L emke (2006, 2008, 2011) zwar in m ehreren Werken a useinandergesetzt, s eine Forschung k onzentriert s ich jedoch auf die Zeitphase unter Walter U lbricht und bevor Er ich Honecker seine umfassenden S ozialmaßnahmen in die Wege leiten ko nnte.58 L emke selber führt an, dass ein F orschungsbedarf weiterhin besteht, da »umfassende historische Analysen der Systemkonkurrenz« und »der Berliner Gesellschaft im

56 Als weitere Beispiele können angeführt werden: Manz, Günter & Sachse, Eckhard & Winkler, Gunnar (Hg.). Sozialpolitik in der DDR . Ziele und Wirklichkeit. Ber lin, 2001; Willing, Matthias. Sozialistische Wohlfahrt. Die staatliche Sozialfürsorge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR (1945–1990). Tübingen, 2008; Hockerts, Hans Günter. Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich. München, 1998.

57 Weber, 2006: 172. Interessanterweise gab es al lerdings inner halb der DDR kaum Studien zum Be zirk Ber lin. Beispiele für Regio nalstudien innerhalb der DDR sind (vgl. Weber, 2006: 172 f.): Bensing, M. Führende Kraft des demokratischen Neuauf-baus. Über die Formierung und beschleunigte Entwicklung der SED als marxistisch-leninistische Partei im Ringen um die antifasc histisch-demokratische Umwälzung und die Ma cht der Ar beiterklasse im Be zirk L eipzig 1946–1949. L eipzig, 1985; Könnemann, E (Hg.). Vereint auf dem Weg zum Sozialismus. Geschichte der Landes-parteiorganisation Sachsen-Anhalt der SED 1945 bis 1952. Halle-Magdeburg, 1986; Volkmann, G & Petzke, K. H. (Hg.). Zur Geschichte der Bezirksparteiorganisation Gera der SED. Bd. 1: Von den Anfängen bis zum August 1961. Gera, 1986; Zimmer, H (Hg.). Zur Geschichte der Bezirksparteiorganisation Karl-Marx-Stadt der SED (1945–1961). 6 Hefte. Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), 1984.

58 Lemkes »S chaufenster der S ystemkonkurrenz. Die Regio n Ber lin-Brandenburg im Kalten Krieg« (2006) und »V or der Mauer . Ber lin in der Ost- West-Konkurrenz 1948–1961« (2011) betrachten z. B. den Zeitraum 1948 bis 1961, während das Werk »Konfrontationen und Wettbewerb. Wissenschaft, Technik und K ultur im g eteilten Berliner Alltag (1948–1973)« (2008) hing egen den Z eitraum 1948 bis 1973 unter -sucht; auc h dieses ko nzentriert sic h somit ebenfal ls auf die P hase vor Honeckers Sozialpolitik.

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Ost-West-Konflikt« noch ausstehen und dass die wenigen vorhandenen Werke sich »bislang hauptsächlich mit dem Westteil der Stadt beschäftigen«.59

Ein weiteres positives Beispiel für regionale Studien ist Mark Allinsons »Pol-itics and Popular Opinion in East Germany, 1945–68« (2000) zu nennen, welches sich mit der Be völkerung v. a. im heutigen Thüringen beschäftigt und von der Mikroperspektive Schlüsse für die Makroperspektive zieht.60 Der große Vor-teil eines solchen mikrohistorischen Ansatzes besteht darin, ein differenziertes, vielseitigeres und lebensnäher es Bild des täglic hen L ebens er arbeiten und gleichzeitig die Er kenntnisse mit ber eits bestehenden Er kenntnissen aus spezialisierteren Teilbereichen vergleichen zu können.61 Des Weiteren wird die Gesellschaft der DDR of t als homogene Volksmasse dargestellt, die größten-teils ä hnlich ag ierte, ä hnlich füh lte u nd äh nliche S ichtweisen ü ber a ktuelle Vorgänge hatte. Ein solches Urteil ist bedenklich, denn es besteht die Gefahr , durch eine Verallgemeinerung eine Pluralität an Meinungen und Haltungen zu unterschlagen.62 Bereits durch die These, dass der Bezirk Berlin eine Ausnahme in der DDR darstel lte und es dor t andere Tendenzen und S timmungsbilder unter der Bevölkerung gab, distanziert sich die vorliegende Untersuchung daher von einer solchen Eindimensionalität und unterstützt die Sichtweise einer viel-schichtigeren DDR, die nicht auf eine »single clear-cut reality« reduziert werden kann.63 Die Gründe für einen solchen Mangel an regionalen Studien nach der Wende sind auf A nhieb nic ht leic ht zu er klären, da mehr ere Faktoren hier zusammenkommen: Zum einen ist die Quellenlage immer noch unvollständig. So gibt es im Landesarchiv Berlin immer noch zahlreiche nicht erfasste laufende Meter an Aktenmaterial, das nicht in Findbüchern zu finden ist (ein Großteil der in diesem Buc h verwendeten Eingaben waren zum Datum der Aktenein -

59 Lemke, Michael. Vor der Mauer . Ber lin in der Ost- West-Konkurrenz 1948–1961. Köln, 2011. S. 21 f.

60 Allinson, Mark. Politics and Popular Opinion in East Germany, 1945–68. Manchester, 2000.

61 Aus diesem Grund bedient sich diese Untersuchung auch stark dieser Methodik, um die verallgemeinernde und w enig differenzierende Makroperspektive zu v ermeiden und neue, tiefer gehende Schlüsse ziehen zu können.

62 Tosh (2010: 82) weist daraufhin, dass e ine gewisse Verallgemeinerung und Ü ber-generalisierung mit einer Betrachtung aus der Makroperspektive normalerweise ein-hergeht.

63 Ross, 2002: 202; Baylis, 2003: 118.

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sicht noch nicht erfasst). Zum anderen unterliegen diese Akten oftmals unter-schiedlichen Schutzfristen, so dass die Forschung hier vergleichsweise spät erst uneingeschränkten Zugang erhielt bzw. für Akten einz eln beantragen musste. Als Folge dessen fehlt es auch an spezifischem Sekundärmaterial zu bestimmten Bezirken innerhalb der DDR, was einen Einstieg ersc hwert und mit umfang-reichen und zeitaufwendigen Recherchen verbunden ist. Schließlich muss in Bezug auf die Q uellenlage auch noch festgestellt werden, dass viele r egionale Akten bereits zu DDR-Zeiten längst nicht mit derselben Sorgfalt aufgehoben und archiviert wurden, wie dies z. B. bei MfS-Akten oder z entralen Akten der SED der Fall war. So ergeben sich zahlreiche Lücken, nicht komplett erhaltene Zeitreihen und unvollständige Datensätze, die in Rückgriff auf andere Quellen nur teilweise geschlossen werden können. Ein letzter Grund ist mit dem Hin-weis auf die für r egionale S tudien übliche Methodik der Mikr ohistorie ver-bunden: i. d. R. v erlangt eine mikr ohistorische Betr achtung die Einbindung zahlreicher unterschiedlicher Arten von Quellen aus verschiedenen Bereichen. Gerade dies aber potenzier t oft die oben ang esprochenen Probleme in Be zug auf die Lücken in der Quellenlage und den Mangel an Sekundärliteratur für den Untersuchungsgegenstand. All diese Aspekte sollten bei der Lektüre dieses Buchs berücksichtigt werden.

Mit Vorsicht zu genießen sind die Werke einiger PDS- oder Mar xismus-naher Historiker, die auch heute noch den Versuch der Umdeutung der DDR-Geschichte in positiv er Hinsicht versuchen. Als Beispiel wär en hier z. B. Karl Mai und Klaus Steinitz (2006) sowie Joachim Tesch (2000) und Dietrich Sta-ritz (2000) zu nennen.64 Auch Weber sieht Werke aus solchen Kreisen als eine gefährliche, die Realität verzerrende Geschichtsschreibung.65

Als Folge der intensiv en DDR-Forschung in den Jahr en nach der Wende gibt es kaum noch Bereiche, die nicht in der einen oder anderen Form Gegen-stand der Forschungsdebatte gewesen sind. Die Tatsache, dass nach einer solch langen Periode immer noch regelmäßig Werke über den ostdeutschen Staat und sein Vermächtnis ersc heinen, zeigt jedoc h auch zugleich, dass immer noch kein Absc hluss der deutsc h-deutschen Geschichte erreicht worden ist.

64 Wobei Dietrich Staritz Professor in der BRD war; seine Ausführungen in erwähnten Text sind dennoc h star k bedenklic h und ent behren einer nötig en Distanz und Objektivität.

65 Vgl. Weber, 2006: 136.

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Defizite bestehen nach wie v or im Ber eich der inter disziplinären Forschung, der Forschung nach Zusammenspiel und gegenseitiger Beeinflussung einzelner Politikbereiche und im Bereich der regionalen Studien.