Agamben Giorgio - Was ist ein Dispositiv

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t r a n sP o s i t i o n e n

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Giorgio Agamben Was ist ein Dispositiv?

Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko

diaphanes

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Titel der italienischen Originalausgabe:

Che cos’é un dispositivo?

® Edizioni nottetempo, Rom 2006

1. Auflage

ISBN 978-3-03734-042-4

® diaphanes, Zürich-Berlin 2008

www.diaphanes.net

Alle Rechte Vorbehalten

Satz und Layout: 2edit, Zürich

Druck: Pustet, Regensburg

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1.

Terminologischen Fragen kommt in der Philosophie be­sondere Bedeutung zu. Wie ein Philosoph, vor dem ich den größten Respekt habe, einmal sagte, ist die Termi­nologie das poetische Moment des Denkens. Das bedeu­tet nicht, daß die Philosophen ihre jeweiligen Termini technici notwendigerweise definieren würden. Platon hat seinen wichtigsten Begriff nie definiert: Idee. An­dere hingegen, wie Spinoza und Leibniz, zogen es vor, ihre Terminologie more geometrico zu definieren.

Ich möchte die Hypothese aufstellen, daß das Wort »Dispositiv« als Terminus technicus für Foucaults Denk­strategie von entscheidender Bedeutung ist. Vor allem ab Mitte der 70er Jahre, als sich Foucault mit dem zu beschäftigen begann, was er »Gouvernementalität« oder die »Regierung der Menschen« nannte, verwendet er ihn sehr oft. Obgleich er ihn nie im strengen Sinn definiert hat, kommt er in einem Gespräch von 1977 so etwas wie einer Definition doch recht nahe:

»Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen ver­suche, ist erstens eine entschieden heterogene Gesamt­heit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architek­tonischen Einrichtungen, reglementierenden Entschei-

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düngen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissen­schaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, /curz, Gesagtes eben­so wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen die­sen Elementen herstellen kann.[...] unter Dispositiv verstehe ich eine Art - sagen wir- Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforde­rung nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine domi­nante strategische Funktion. [...]Ich habe gesagt, dass das Dispositiv von einer wesent­lich strategischen Beschaffenheit wäre, was unterstellt, dass es sich dabei um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt, um einen rationalen und abgestimmten Eingriff in diese Kräfteverhältnisse, um sie in irgendeine Richtung zu entwickeln, um sie zu blo­ckieren oder um sie zu stabilisieren, sie zu verwenden. Das Dispositiv ist also immer in ein Machtspiel einge­schrieben, doch immer auch an eine oder an mehrere Wissensgrenzen gebunden, die daraus hervorgehen, es aber genauso auch bedingen. Das eben ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Arten von Wissen unterstützen und von diesen unterstützt werden.«1

1 M. Foucault, Dits et Ecrits: Schriften, Bd. III, S. 392-395.

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F a ssen w ir die drei P u nk te ku rz z u sam m en :

I a. Es ist eine heterogene Gesamtheit, die potentiell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, ein­schließt: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, po­lizeiliche Maßnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen Elementen herstellen kann.

b. Das Dispositiv hat immer eine konkrete strategische Funktion und ist immer in ein Machtverhältnis einge­schrieben.

c. Als solches geht es aus einer Verschränkung von Macht- und Wissensverhältnissen hervor. #

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2.

Ich möchte nun versuchen, eine kurze Genealogie die­ses Terminus zu umreißen, zunächst innerhalb des Werkes von Foucault, dann in einem weiteren histori­schen Zusammenhang.

Ende der 60er Jahre, mehr oder weniger zu der Zeit, als Foucault Die Archäologie des Wissens schreibt, verwendet er nicht den Terminus Dispositiv, um den Gegenstand seiner Forschung zu bestimmen, sondern einen etymologisch verwandten, den er ebensowenig definiert: »positivité«, Positivität.

Ich habe mich oft gefragt, wo Foucault auf diesen Terminus gestoßen sein könnte - bis ich vor wenigen Monaten Jean Hyppolites Abhandlung Introduction à la philosophie de Vhistoire de Hegel noch einmal las. Sie wissen vielleicht um die enge Beziehung, die Fou­cault mit Hyppolite verband, den er zuweilen »meinen Lehrer« nannte (tatsächlich hatte Foucault während der khâgne am Lycée Henri IV und später an der Ecole nor­male bei Hyppolite Unterricht).

Der Titel des dritten Kapitels von Hyppolites Abhand­lung lautet: Raison et histoire. Les idées de positivité et de destin (Vernunft und Geschichte. Die Ideen der Po­sitivität und des Schicksals). Im Zentrum der Untersu-

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chung stehen zwei Hegelsche Werke aus der sogenann­ten Berner und Frankfurter Periode (1795-96), zum ei­nen »Der Geist des Christentums und sein Schicksal«, zum anderen dasjenige, aus dem der uns hier interes­sierende Terminus stammt: »Die Positivität der christli­chen Religion«. Hyppolite zufolge sind »Schicksal« und »Positivität« zwei Schlüsselbegriffe des Hegelschen Den­kens. Für den Terminus »Positivität« gilt im besonde­ren, daß er bei Hegel in der Entgegensetzung von »na­türlicher« und »positiver Religion« angesiedelt ist. Wäh­rend die natürliche Religion auf ein unmittelbares und allgemeines Verhältnis der menschlichen Vernunft mit der Gottheit gerichtet ist, umfaßt die positive oder hi­storische Religion die Gesamtheit der Glaubenssätze, Vorschriften und Riten, die in einer bestimmten Gesell­schaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt den Individuen von außen auferlegt sind. »Eine positive Re­ligion«, schreibt Hegel in einer von Hyppolite zitierten Passage, »fordert Gefühle, die durch Vorrichtungen ge­waltsam hervorgetrieben und Handlungen, die nur auf Befehl und aus Gehorsam, ohne eigenes Interesse getan werden«.2

2 J. Hyppolite, Introduction à la philosophie de Vhistoire de Hegel, Paris 1983, S. 43 (1. Aufl. 1948).

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Hyppolite kann zeigen, daß der Gegensatz von Natur und Positivität insofern der Dialektik von Freiheit und Zwang und der von Vernunft und Geschichte entspricht. An einer Stelle, die der Neugier Foucaults wohl kaum entgangen sein dürfte, da sie mehr als nur eine Vor­ahnung vom Begriff Dispositiv gibt, schreibt er: »Man wird nun des Knotens der Fragen gewahr, die sich im Zusammenhang mit dem Begriff der Positivität stellen, aber auch der Versuche, die Hegel in der Folge unter­nahm, um die reine (theoretische und vor allem prakti­sche) Vernunft und die Positivität, das heißt das histori­sche Element dialektisch - eine Dialektik, die sich ihrer selbst noch nicht bewußt ist - aufeinander zu beziehen. Einerseits betrachtet Hegel die Positivität als ein Hinder­nis, daß der Freiheit des Menschen im Wege steht, und als solches wird sie verurteilt. Die positiven Elemente ei­ner Religion oder, wie sich ergänzen ließe, eines gesell­schaftlichen Zustandes zu untersuchen, heißt, das zu entdecken, was in ihnen dem Menschen durch Zwang auferlegt wird, das, was nicht in der Reinheit der Ver­nunft aufgeht; andererseits - und diese Sicht sollte sich im Laufe der Entwicklung Hegels durchsetzen - soll die Positivität mit der Vernunft versöhnt werden, die dann ihren abstrakten Charakter verliert und sich als dem konkreten Reichtum des Lebens angemessen erweist.

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Man sieht also, weshalb der Begriff der Positivität im Zentrum des Hegelschen Interesses steht«.3

Wenn laut Hyppolite »Positivität« das Wort ist, des­sen sich der junge Hegel bedient, um das historische Element zu benennen, mitsamt seinen Vorschriften, Ri­ten und Institutionen, die, obgleich den Individuen von einer äußeren Macht auferlegt, dennoch in den Glau­bens- und Gefühlssystemen gleichsam verinnerlicht werden, dann bezieht Foucault durch die Übernahme dieses (später durch »Dispositiv« ersetzten) Ausdrucks Stellung gegenüber einem entscheidenden Problem, das auch sein eigenes ist: das Verhältnis, in dem die Indivi­duen als Lebewesen mit dem historischen Element ste­hen, wobei dieser Ausdruck die Gesamtheit der Institu­tionen, Subjektivierungsprozesse und Regeln, in denen sich die Machtverhältnisse konkretisieren, bezeichnet. Anders als Hegel zielt Foucault jedoch nicht darauf ab, die beiden Elemente zu versöhnen. Noch möchte er den Konflikt, der zwischen ihnen besteht, hervorheben. Er will vielmehr untersuchen, auf welche konkrete Weise die Positivitäten (oder die Dispositive) in den Verhält­nissen, Mechanismen und »Spielen« der Macht wirksam sind.

3 Ebd., S. 45f.

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3.

Es sollte nunmehr deutlich geworden sein, worauf mei­ne Hypothese, daß der Ausdruck »Dispositiv« ein we­sentlicher Terminus technicus in Foucaults Denken sei, abzielt. Es handelt sich nicht um einen spezifischen Be­griff, der sich lediglich auf diese oder jene Machttechno­logie bezieht. Es ist ein allgemeiner Begriff, der densel­ben weiten Bedeutungsumfang hat, wie ihn Hyppolite zufolge »Positivität« beim jungen Hegel hatte. In Fou­caults Strategie tritt dieser Ausdruck an die Stelle jener Begriffe, die er kritisch »die Universalien« (les univer- saux) nannte .¡Bekanntlich hat es Foucault immer abge­lehnt, sich mit eben jenen allgemeinen Kategorien oder Vernunftwesen zu beschäftigen, die er als »die Univer­salien« bezeichnet, wie der Staat, die Souveränität, das Gesetz, die Macht. Das bedeutet jedoch nicht, daß es in seinem Denken keine operativen Begriffe allgemeine­rer Art gäbe. In der Foucaultschen Strategie nehmen die Dispositive eben genau die Stelle der Universalien ein: nicht einfach diese oder jene Polizeimaßnahme, diese oder jene Machttechnologie, jedoch ebensowenig eine durch Abstraktion gewonnene Allgemeinheit. Vielmehr sind sie, wie er im Gespräch von 1977 sagte, »das Netz

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(le réseau), das man zwischen diesen Elementen her- stellen kann«.

Wenn wir nun die Definition betrachten, die die fran­zösischen Wörterbücher der Umgangssprache für das Wort »Dispositiv« geben, zeigt sich, daß drei Bedeutun­gen des Begriffs unterschieden werden:

a. Eine juristische Bedeutung im engeren Sinne: »Das Dispositiv ist der Teil eines Urteils, der den Entscheid, den Rechtspruch getrennt von den Motiven enthält.« Also der Teil des Urteils (oder eines Gesetzes), der ent­scheidet und disponiert, das heißt anordnet.

b. Eine technische Bedeutung: »Die Weise, in der die Teile einer Maschine oder eines Mechanismus angeord­net sind, im übertragenen Sinn auch der Mechanismus selbst.«

c. Eine militärische Bedeutung: »Die Gesamtheit der zur Ausführung eines Planes angeordneten Maßnah­men.«

Alle drei Bedeutungen sind irgendwie in Foucaults Verwendung präsent. Doch Wörterbücher, insbeson­dere jene, die nicht historisch-etymologisch verfahren, sind darauf angelegt, die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes zu unterscheiden und zu trennen. Diese Fragmentierung schuldet sich hier jedoch in der Regel der Entfaltung und Artikulation einer einzigen ursprüng-

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liehen Bedeutung, die man nicht aus dem Blick ver­lieren darf. Was ist, im Fall des Wortes »Dispositiv«, die ursprüngliche Bedeutung? Sicher ist, daß der Aus­druck sowohl im allgemeinen Sprachgebrauc h als auch in jenem Foucaults auf eine Gesamtheit von (zugleich sprachlichen und nichtsprachlichen, juristischen, tech­nischen und militärischen) Praktiken und Mechanismen verweist, die das Ziel haben, einer Dringlichkeit zu be­gegnen und einen mehr oder weniger unmittelbaren Ef­fekt zu erzielen. Doch aus welcher Denk- oder Hand­lungsstrategie, aus welchem historischen Kontext ist der moderne Terminus ursprünglich hervorgegangen?

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4.

Die letzten drei Jahre habe ich damit verbracht, eine immer mehr ins Detail gehende Untersuchung voran­zutreiben, deren Ende ich eben erst abzusehen begin­ne. Annäherungsweise ließe sie sich als eine theologi­sche Genealogie der Ökonomie bezeichnen. In den er­sten Jahrhunderten der Geschichte der Kirche - sagen wir zwischen dem zweiten und sechsten Jahrhundert- kam dem griechischen Wort oikonomia in der Theolo­gie eine entscheidende Funktion zu. Oikonomia bedeu­tet im Griechischen Verwaltung des oikos, des Hauses und im weiteren Sinn Führung, management. Es han­delt sich, wie Aristoteles sagt [Pol. 1255 b 21), nicht um ein epistemisches Paradigma, sondern um eine Praxis, eine praktische Tätigkeit, die sich jeweils einem spezifi­schen Problem oder einer konkreten Situation konfron­tiert sieht. Weshalb fühlten sich also die Kirchenväter genötigt, diesen Terminus in die Theologie einzuführen? Wie kam es, daß man plötzlich von einer »göttlichen Ökonomie« zu sprechen begann?

Tatsächlich ging es um ein äußerst heikles und vitales Problem, womöglich um die entscheidende Frage in der Geschichte der christlichen Theologie: die Dreifaltigkeit. Als man während des zweiten Jahrhunderts eine Drei­

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faltigkeit göttlicher Personen, den Vater, den Sohn und den Geist zu diskutieren begann, gab es innerhalb der Kirche erwartungsgemäß erbitterten Widerstand von Seiten verständiger Leute, die mit Grauen dachten, auf diese Weise Gefahr zu laufen, den Polytheismus und das Heidentum wieder in den christlichen Glauben ein­zuführen. Um diese hartnäckigen Widersacher (die spä­ter als »Monarchianer«, das heißt Verfechter der Regie­rung durch einen einzigen bezeichnet wurden) zu über­zeugen, fiel Theologen wie Tertullian, Hyppolit, Irenäus und vielen anderen nichts Besseres ein, als sich des Ter­minus oikonomia zu bedienen. Ihr Argument lautete un­gefähr so: »Bezüglich seines Seins und seiner Substanz, ist Gott fraglos eins; was jedoch seine oikonomia be­trifft, also die Weise, in der er sein Haus, sein Leben und die Welt, die er geschaffen hat, verwaltet, ist er dreifach. Wie ein guter Vater seinem Sohn die Ausführung gewis­ser Funktionen und Aufgaben anvertrauen kann, ohne deshalb seine Macht und seine Einheit zu verlieren, so vertraut Gott Christus die >Ökonomie<, die Verwaltung und die Regierung der Menschheitsgeschichte an.« Die Bedeutung des Terminus oikonomia differenzierte sich weiter aus, um schließlich insbesondere die Menschwer­dung des Sohnes und die Ökonomie der Erlösung und des Heils zu bezeichnen (deshalb wird Christus in eini-

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gen gnostischen Sekten schlicht »der Mensch der Öko­nomie«, ho anthröpos tes oikonomias genannt). Nach und nach wurde es den Theologen zur Gewohnheit, zwischen einem »Diskurs« - oder logos - der »Theolo­gie« und einem »logos der Ökonomie« zu unterscheiden. Die oikonomia war also das Dispositiv, mittels dessen das Dogma der Trinität und die Idee einer providentiel- len göttlichen Weltregierung in den christlichen Glau­ben eingeführt wurden.

Doch wie nicht anders zu erwarten sollte der Bruch, den die Theologen auf der Ebene des Seins Gottes auf diese Weise umgehen und ausräumen zu können glaub­ten, an anderer Stelle wieder auftauchen: in Gestalt ei­ner Zäsur, die in Gott Sein und Handeln, Ontologie und Praxis trennt. Dem Handeln (der Ökonomie, aber auch der Politik) fehlt jede Begründung im Sein: Dies ist die Schizophrenie, die die theologische Lehre der oikono­mia der abendländischen Kultur hinterlassen hat.

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Diese wenn auch kurze Darlegung sollte die zentrale Funktion, die der Begriff der oikonomia in der christ­lichen Theologie angenommen hat, deutlich gemacht haben. Schon seit Klemens von Alexandrien verbindet er sich mit dem Begriff der Vorsehung, und bedeutet nunmehr die heilbringende Regierung der Welt und der Menschheitsgeschichte. Wie aber lautet die Überset­zung dieses grundlegenden griechischen Wortes in den Schriften der lateinischen Kirchenväter? Dispositio.

Das lateinische Wort dispositio, von dem sich unser Wort »Dispositiv« ableitet, nimmt also den komplexen Bedeutungsumfang der theologischen oikonomia an. Die »Dispositive«, von denen Foucault spricht, bleiben in gewisser Hinsicht diesem theologischen Erbe ver­bunden und können also auf jenen Bruch zurückge­führt werden, der in Gott Sein und Praxis, seine Na­tur oder sein Wesen und sein die Welt der Geschöpfe verwaltendes und regierendes Wirken zugleich teilt und artikuliert.jDer Terminus Dispositiv bezeichnet also et­was, in dem und durch das ein reines Regierungshan­deln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird. Deshalb schließen die Dispositive immer einen Subjek-

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tivierungsprozeß ein, da sie ihr Subjekt selbst hervor­bringen müssen.

Diese theologische Genealogie verleiht den Foucault­schen Dispositiven eine noch größere Prägnanz und stellt sie in einen Kontext, in dem sie sich nicht nur mit der »Positivität« des jungen Hegel verschränken, son­dern auch mit dem »Gestell« des späten Heidegger, des­sen Etymologie derjenigen von dis-positio, dis-ponere (das deutsche »stellen« entspricht dem lateinischen po­nere) verwandt ist. Wenn Heidegger in Die Technik und die Kehre schreibt, daß »Ge-stell« gemeinhin »Gerät« bedeutet, er unter diesem Terminus jedoch »das Ver­sammelnde jenes Stellens, das den Menschen stellt, d.h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens zu entbergen« versteht, wird die Nähe dieses Terminus zur dispositio der Theologen und zu den Dispositiven von Foucault evident. Die Gemeinsamkeit all dieser Ter­mini besteht darin, auf eine oikonomia zu verweisen, das heißt auf eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnis­sen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Men­schen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken.

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6.

Ein methodologischer Grundsatz, von dem ich mich in meinen Untersuchungen immer habe leiten lassen, ist es, in den Texten und Kontexten, die ich bearbeite, das ausfindig zu machen, was Feuerbach als das philoso­phische Element bezeichnet, das heißt den Punkt ihrer Entwicklungsfähigkeit, den Zeitpunkt und locus, an de­nen sie entwickelbar sind. Wenn wir jedoch den Text eines Autors in diesem Sinne auslegen und entfalten, kommt der Moment, in dem man sich eingestehen muß, nicht weiter fortfahren zu können, ohne gegen die ele­mentarsten Regeln der Hermeneutik zu verstoßen. Das bedeutet, daß die Entwicklung des in Rede stehenden Textes einen Punkt der Unentscheidbarkeit erreicht hat, an dem es unmöglich wird, zwischen Autor und Inter­pret zu unterscheiden. Obgleich dies für den Interpreten ein besonders glücklicher Moment ist, weiß er, daß es nun an der Zeit ist, von dem Text, den er analysiert, ab­xulassen und auf eigene Rechnung fortzuschreiten.

Deshalb lade ich nun dazu ein, den Kontext der Fou­caultschen Philologie, in dem wir uns bislang bewegt haben, zu verlassen und die Dispositive in einen neuen Zusammenhang zu stellen.

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Ich möchte nichts Geringeres vorschlagen als eine all­gemeine, recht grobe Aufteilung des Vorhandenen in zwei große Gruppen oder Klassen: einerseits die Lebe­wesen (oder die Substanzen), andererseits die Disposi­tive, von denen sich jene unablässig gefangennehmen lassen. Einerseits also, um die Terminologie der Theolo­gen zu übernehmen, die Ontologie der Geschöpfe, ande­rerseits die oikonomia der Dispositive, die darauf abzie­len, jene zu regieren und zum Guten zu führen, lieh möchte also die schon sehr umfangreiche Klasse der Foucaultschen Dispositive noch weiter verallgemei­nern: Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Mei­nungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kon­trollieren und zu sichern. Also nicht nur die Gefängnis­se, die Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die Beichte, die Fabriken, die Disziplinen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schiffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und - warum nicht - die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist, von dem sich vor Abertausenden von Jahren ein Pri­

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mat - wahrscheinlich ohne sich über die ihm daraus er­wachsenden Konsequenzen im klaren gewesen zu sein- allzu leichtfertig hatte gefangennehmen lassen.

Kurz, wir haben also zwei große Klassen, die Lebe­wesen (oder die Substanzen) und die Dispositive. Und zwischen den beiden, als Drittes, die Subjekte. Subjekt nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Disposi­tiven hervorgeht. Natürlich scheinen sich die Substan­zen und die Subjekte wie in der alten Metaphysik zu überlagern, jedoch nicht vollständig. Insofern kann ein und dasselbe Individuum, ein und dieselbe Substanz der Ort mannigfaltiger Subjektivierungsprozesse sein: der Mobiltelefonnutzer, der Internetsurfer, der Schrei­ber von Erzählungen, der Tangobegeisterte, der Glo­balisierungsgegner usw., usw. Deshalb entspricht dem maßlosen Anwachsen der Dispositive in unserer Zeit eine ebenso maßlose Vermehrung der Subjektivierungs- prozesse. Das könnte den Eindruck erwecken, daß die Kategorie der Subjektivität zunehmend ins Wanken ge­rät und ihre Konsistenz verliert; doch es handelt sich, um genau zu sein, nicht um eine Tilgung oder Überwin­dung, sondern um eine Disseminierung, die den Aspekt der Maskerade, der jeder personalen Identität schon im­mer anhaftete, zum Äußersten treibt.

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Es ist gewiß nicht abwegig, das äußerste Entwicklungs­stadium des Kapitalismus, in dem wir leben, als eine gigantische Anhäufung und Wucherung von Dispositi­ven zu bestimmen. Natürlich gibt es Dispositive, seit der homo sapiens auf den Plan getreten ist. Heute jedoch scheint es keinen einzigen Augenblick im Leben eines Individuums mehr zu geben, der nicht von irgendeinem Dispositiv geformt, kontaminiert oder kontrolliert wäre. Nun stellt sich die Frage, wie wir gegen eine solche Si­tuation angehen können, welche Strategie wir in unse­rem alltäglichen Nahkampf mit den Dispositiven verfol­gen müssen. Es geht nämlich nicht einfach darum, sie zu zerstören, noch, wie uns naive Leute weismachen wollen, sie auf die richtige Weise zu gebrauchen.

Als jemand, der in Italien lebt, das heißt in einem Land, in dem die Gesten und Verhaltensweisen der Individuen vom (liebevoll telefonino genannten) Mobiltelefon von Grund auf umgeformt wurden, habe ich einen unbän­digen Haß auf dieses Dispositiv entwickelt, das die Be­ziehungen zwischen den Menschen noch abstrakter ge­macht hat. Doch auch wenn ich mich so manches Mal dabei ertappt habe, Überlegungen anzustellen, wie man die Handys zerstören oder ausschalten und diejenigen,

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die sie nutzen, beseitigen oder zumindest bestrafen und wegsperren könne, glaube ich kaum, daß so das Problem auf angemessene Weise ausgeräumt werden kann. |Denn aller Wahrscheinlichkeit nach sind die Dispositi­

ve kein Unfall, in den die Menschen zufällig verwickelt wurden, sondern sie verdanken ihren Ursprung eben jenem Prozeß der »Hominisierung«, der die Tiere, die wir unter der Rubrik homo sapiens einordnen, »mensch­lich« werden ließ. Das Ereignis, das das Humane hervor­gebracht hat, erzeugt im Lebewesen nämlich eine Art Spaltung, die in gewisser Weise die von der oikonomia in Gott bewirkte Spaltung von Sein und Handeln repro­duziert. Diese Spaltung trennt das Lebewesen von sich selbst und unterbricht die unmittelbare Beziehung zu seiner Umwelt, das heißt zu dem, was Heidegger im An­schluß an Uexküll den Enthemmungsring nannte. Wird diese Beziehung unter- oder gar abgebrochen, entstehen dem Lebewesen die Langeweile - das heißt die Fähig­keit, die unmittelbare Beziehung mit dem Enthemmen­den aufzuheben - und das Offene, also die Möglichkeit, das Ens als Ens zu erkennen, eine Welt zu bauen. Doch mit dieser Möglichkeit ist unmittelbar auch die Möglich­keit der Dispositive gegeben, die das Offene mit Appara­ten, Gegenständen, gadgets, Firlefanz und technischem Gerät aller Art bevölkern. Mittels der Dispositive ver-

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sucht der Mensch das von sich abgesonderte tierische Verhalten leerlaufen zu lassen und so das Offene als sol­ches, das Ens als Ens zu genießen. Am Ursprung jedes Dispositivs steht also ein allzumenschliches Glücksver­langen. Daß es dieses Verlangen in einen abgetrennten Bereich einschließt und subjektiviert, verleiht dem Dis­positiv seine besondere Macht.

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Die Strategie, die wir in unserem Nahkampf mit den Dispositiven verfolgen müssen, darf also keine einfa­che sein. Denn es gilt, das zu befreien, was mittels der Dispositive abgesondert und eingefangen wurde, und es wieder einem allgemeinen Gebrauch zugänglich zu ma­chen. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Begriff zu sprechen kommen, über den ich kürzlich zu arbeiten hatte. Es handelt sich um einen Terminus, der aus dem Gebiet des römischen Rechts und der römi­schen Religion stammt (nicht nur in Rom hängen Recht und Religion aufs Engste zusammen): Profanierung.

Laut dem römischen Recht waren jene Dinge heilig oder religiös, die auf irgendeine Weise den Göttern gehörten. Als solche waren sie dem freien Gebrauch und dem Ver­kehr der Menschen entzogen, konnten weder verkauft oder verpfändet noch zur Nutznießung überlassen oder mit Dienstbarkeit belastet werden. Als Sakrileg galt jede Tat, die diese ihre besondere Unverfügbarkeit verletzte oder übertrat, durch die sie ausschließlich den himmli­schen Göttern (diese wurden ausdrücklich als »heilig« bezeichnet) oder den Göttern der Unterwelt (in diesem Kill nannte man sie einfach »religiös«) Vorbehalten war. Und wenn weihen (sacrare) der Terminus war, der das

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Heraustreten der Dinge aus dem Bereich des menschli­chen Rechts bezeichnete, so bedeutete umgekehrt profa­nieren, sie dem freien Gebrauch der Menschen zurück­zugeben. »Profan«, so kann der große Jurist Trebatius schreiben, »heißt im eigentlichen Sinn das, was einmal heilig oder religiös war, und nun wieder dem Gebrauch und dem Besitz der Menschen zurückgegeben wird.«

Insofern läßt sich als Religion definieren, was dem all­gemeinen Gebrauch Dinge, Orte, Tiere oder Personen entzieht und in einen abgesonderten Bereich versetzt. Nicht nur gibt es keine Religion ohne Absonderung, sondern jede Absonderung enthält oder bewahrt in sich einen genuin religiösen Kern. Das Dispositiv, das die Absonderung vollzieht und regelt, ist das Opfer: Durch eine Reihe minutiöser, nach der Verschiedenheit der Kulturen variierender Rituale, die Hubert und Mauss geduldig inventarisiert haben, sanktioniert es in jedem Fall den Übergang von etwas vom Profanen zum Heili­gen, vom menschlichen in den göttlichen Bereich. Doch was auf rituelle Weise abgesondert wurde, kann durch einen Ritus wieder dem profanen Bereich zurückgege­ben werden. ¡Die Profanierung ist das Gegendispositiv, das dem allgemeinen Gebrauch zurückgibt, was ihm durch ein Opfer entzogen und abgesondert wurde. 1

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Aus dieser Perspektive stellen sich der Kapitalismus und die modernen Figurationen der Macht als eine Verall­gemeinerung und Radikalisierung jener Absonderungs­prozesse dar, die für die Religion bestimmend waren. Bei näherer Betrachtung der soeben umrissenen theo­logischen Genealogie der Dispositive, die sie mit dem christlichen Paradigma der oikonomia, also der göttli­chen Weltregierung in Zusammenhang brachte, wird je­doch deutlich, daß sich die modernen Dispositive von den traditionellen durch etwas unterscheiden, was ihre Profanierung besonders problematisch werden läßt. Je ­des Dispositiv schließt nämlich einen Subjektivierungs- prozeß ein, ohne den es nicht als Regierungsdispositiv funktionieren, sondern sich darauf beschränken würde, bloße Gewaltanwendung zu sein. So konnte Foucault zeigen, wie in einer Disziplinargesellschaft die Dispo­sitive mittels einer Reihe von Praktiken und Diskursen, Kenntnissen und Übungen auf die Schaffung gelehriger, doch freier Körper zielen, die ihre Identität und ihre »Freiheit« in eben dem Prozeß ihrer Unterwerfung erlan­gen. Das Dispositiv ist also zunächst eine Maschine, die Subjektivierungen produziert, und nur als solche ist es auch eine Regierungsmaschine. Das Beispiel der Beichte

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ist hier aufschlußreich: die Formierung der abendlän­dischen Subjektivität, die, obgleich gespalten, dennoch ihrer selbst Herr und gewiß ist, ist mit dem Jahrhunder­te währenden Wirken des Dispositivs der Beichte un­trennbar verbunden. In ihm wird ein neues Ich konsti­tuiert, indem das alte zugleich negiert und auf sich ge­nommen wird. Die vom Dispositiv der Beichte bewirkte Spaltung des Subjekts brachte also ein neues Subjekt hervor, das seine eigene Wahrheit in der Unwahrheit des verstoßenen Sünder-Ichs fand. Ähnliche Erwägun­gen können für das Dispositiv Gefängnis angestellt wer­den, dessen mehr oder weniger unvorhersehbare Kon­sequenz die Konstitution eines delinquenten Subjekts und eines entsprechenden Milieus war, die ihrerseits zum Subjekt neuer - diesmal vollkommen kalkulierter- Regierungstechniken geworden sind.

Was die Dispositive, mit denen wir es im momentanen Stadium des Kapitalismus zu tun haben, ausmacht, ist jedoch weniger, daß sie die Produktion eines Subjekts bewirken. Sie zeichnen sich vielmehr durch Prozesse der - wie wir es nennen könnten - Desubjektivierung aus. Ein Moment der Desubjektivierung wohnt freilich jedem Subjektivierungsprozeß inne. Wie wir gesehen haben, konstituierte sich das Ich des Büßers nur durch die eigene Negation; was wir jedoch jetzt beobachten

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können, ist, daß Subjektivierungsprozesse und Desub- jektivierungsprozesse wechselseitig indifferent werden und nicht mehr auf die Wiederzusammensetzung eines neuen Subjekts hinauslaufen, es sei denn in verhüll­ter, gleichsam gespenstischer Form.fln der Unwahrheit des Subjekts steht keineswegs mehr seine Wahrheit auf dem Spiel. Wer sich vom Dispositiv »Mobiltelefon« ge­fangennehmen läßt, wie intensiv auch immer das Ver­langen, das ihn dazu getrieben hat, gewesen sein mag, erwirbt deshalb keine neue Subjektivität, sondern ledig­lich eine Nummer, mittels derer er gegebenenfalls kon­trolliert werden kann; der Zuschauer, der seine Abende vor dem Fernseher verbringt, erhält im Tausch für sei­ne Desubjektivierung nichts als die frustrierende Maske des zappeur oder die Einbeziehung in die Berechnung der Einschaltquote.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die wohlmeinen­den Reden über die Technik, die behaupten, daß sich das Problem der Dispositive auf die Frage ihres richtigen Gebrauchs reduzieren lasse, in ihrer ganzen Vergeblich­keit. Offensichtlich ignorieren sie, daß jedem Dispositiv ein bestimmter Prozeß der Subjektivierung (oder, wie in diesem Fall, der Desubjektivierung) entspricht, was es absolut unmöglich macht, daß das Subjekt eines Dispo­sitivs es »auf die richtige Weise« nutzen kann. Im übri-

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gen sind diejenigen, die solche Reden führen, ihrerseits ein Resultat des medialen Dispositivs, in dem sie gefan­gen sind.

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Die zeitgenössischen Gesellschaften verhalten sich also wie träge Körper, die von gigantischen Prozessen der Desubjektivierung durchlaufen werden, denen jedoch keine wirkliche Subjektivierung mehr entspricht. Das erklärt den Niedergang der Politik, die Subjekte und wirkliche Identitäten (die Arbeiterbewegung, die Bour­geoisie usw.) voraussetzte, und den Siegeszug der oiko- nomia, das heißt eines reinen Regierungshandelns, das nichts anderes im Blick hat als die eigene Reproduktion. Die Rechte und die Linke, die sich heute in der Verwal­tung der Macht abwechseln, haben deshalb recht we­nig mit dem politischen Kontext zu tun, aus dem die Termini stammen. Sie bezeichnen lediglich die beiden Pole ein und derselben Regierungsmaschine - denjeni­gen, der bedenkenlos auf die Desubjektivierung setzt und denjenigen, der sie lieber hinter der heuchlerischen Maske des guten demokratischen Bürgers verbergen möchte.

Dies erklärt jedoch auch die sonderbare Beunruhigung der Macht, die sie in eben jenem Moment überkommt, in dem sie sich dem folgsamsten und feigsten Gesell­schaftskörper gegenüber sieht, den es in der Mensch­heitsgeschichte je gab. Es ist nur ein scheinbarer Wider-

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spruch, daß der harmlose Bürger der postindustriellen Demokratien (der bloom , wie er aufgrund eines überzeu­genden Vorschlags genannt werden kann), der pünkt­lich ausführt, was ihm aufgetragen wurde, und zuläßt, daß sowohl seine alltäglichsten Gesten als auch seine Gesundheit, seine Zerstreuung und seine Beschäftigung, seine Ernährung und seine Wünsche bis ins kleinste De­tail von Dispositiven gesteuert und kontrolliert werden,- womöglich gerade deshalb - von der Macht als po­tentieller Terrorist betrachtet wird. Während in Europa neue Bestimmungen allen Bürgern jene biometrischen Dispositive vorschreiben, die die im 19. Jahrhundert zur Identifizierung von rückfälligen Kriminellen eingeführ­ten anthropometrischen Techniken (vom Fingerabdruck bis zum Fahndungsfoto) weiterentwickeln und perfek­tionieren, läßt die Videoüberwachung die öffentlichen Räume der Stadt zu Innenräumen eines riesigen Gefäng­nisses werden. In den Augen der Macht - und womög­lich hat sie recht - ähnelt niemand dem Terroristen so sehr wie der allergewöhnlichste Mensch.Je durchdringender die Dispositive werden, je weiter

sie ihre Macht in jeden Bereich des Lebens ausdehnen, desto mehr sieht sich die Regierung einem unfassbaren Element gegenüber, das sich ihrem Zugriff umso mehr zu entziehen scheint, je gefügiger es sich diesem unter-

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wirft. Allerdings ist dieses Element weder revolutionär, noch ist es imstande, die Regierungsmaschine anzuhal­ten oder auch nur ernsthaft zu bedrohen. Denn anders als angekündigt, wohnen wir nicht dem Ende der Ge­schichte bei, sondern dem unermüdlichen Leerlauf der Maschine, die in einer Art ungeheuerlicher Parodie der theologischen oikonomia das Erbe der providentiellen Weltregierung angetreten hat, um die Welt - darin der ursprünglich eschatologischen Berufung der Vorsehung treu - nicht zu retten, sondern in die Katastrophe zu führen. Die Frage der Profanierung der Dispositive - das heißt des Verfahrens, mittels dessen das, was in ihnen eingefangen und abgesondert wurde, dem allgemeinen Gebrauch zurückgegeben wird - ist deshalb umso dring­licher. Um sie richtig stellen zu können, müssen jene, die sie sich zu eigen machen, in der Lage sein, sowohl in die Subjektivierungsprozesse als auch in die Dispositive einzugreifen, um jenes Unregierbare zum Vorschein zu bringen, das zugleich Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik ist.

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TiqqunTheorie vom Bloom

Aus dem Französischen von Urs Urban ISBN 978-3-935300-32-2 / Französisch Broschur 114 Seiten, € 16,90 / CHF 31,00

»Bloom [blum], der, um 1914; unbekannter Herkunft, viel­leicht vom russischen >Oblomov<, vom deutschen >Anna Blu- me< oder vom englischen >Ulysses<. - 1. Endzeitstimmung einer ans Sterbebett gefesselten Zivilisation, die sich von ih­rem Untergang nur mehr abzulenken vermag, indem sie zwi­schen kurzen Phasen technophiler Hysterie und langen Ab­schnitten beschaulicher Kraftlosigkeit abwechselt. Es war, als lebte die blutleere Masse der Gehaltsempfänger im Bloom. >Tod dem Bloom!< (J. Frey) 2. In übertragener Bedeutung: Unter den sonderbaren Menschen einer Welt autoritärer Wa­renwirtschaft weit verbreitete Lebens-Form des Dämmerns und der Beliebigkeit - >bloomig, Bloomität, Bloomifizierung<. 3. Auch: die Gegenwart des eigenen Nachlebens (Nachlaß zu Lebzeiten). >Den Bloom haben<. 4. Sterbeurkunde klassischer Politik. 5. Geburtsurkunde einer ekstatischen Politik. 6. Ge­schichte: besiegelte durch seinen Aufstieg die Bildung der verschiedenen Zellen des Unsichtbaren Ausschusses<, eines anonymen Verschwörungsnetzwerks, das im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts nach einer Reihe von Sabotageakten und Aufständen schließlich die Warenherrschaft beseitigte. >I)ie Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.< (K.)«

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TiqqunKybernetik und Revolte

Aus dem Französischen von Ronald Voullie ISBN 978-3-03734-002-8 / Broschur 128 Seiten, € 10,00 / CHF 19,00

Schonungslos deckt das Autorenkollektiv Tiqqun die enge Verbindung zwischen dem Konzept der Kybernetik und den Techniken der Kontroll- und Kommunikationsgesellschaften auf. Mit seinem Imperativ der Zirkulation von Waren und Informationen und unter dem Alibi von Liberalismus und Demokratie ist der »kybernetische Kapitalismus« zu der ge­genwärtig alles beherrschenden Ideologie geworden.Wie immer die Alternativen lauten, ob »Ökologie«, »Grenzen des Wachstums« oder »Partizipative Demokratie«, ein Jen­seits von Tausch und Akkumulation wird mit solchen Re­formkonzepten nicht zu erreichen sein. Vielmehr bedarf es radikalerer Mittel von Widerstand und Revolte: Kurzschluß und Abklemmen von Knotenpunkten, Verlangsamung und Fehlleitung - Taktiken einer notwendig diffusen Guerilla. »Eine Zone der Undurchsichtigkeit zu schaffen, in der man frei experimentieren kann, ohne die Informationsströme des Empires weiterzuleiten, bedeutet, >anonyme Singularitäten zu schaffen und die Bedingungen einer möglichen Erfahrung wiederherzustellen, einer Erfahrung, die nicht unmittelbar durch eine binäre Maschine, die ihr einen Sinn zuweist, platt­gemacht werden kann...«

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Jacques Rändere Zehn Thesen zur Politik

ISBN 978-3-03734-031-8 / Broschur 48 Seiten, € 5,00 / CHF 9,50

Nicht erst die traurige Realität der heutigen Demokratie, als bloße Herrschaft der Massen und ihrer Bedürfnisse, nicht nur die Omnipräsenz des Ökonomischen und seiner Verwerfun­gen erfordern es, Politik neu zu denken.

In Gestalt von zehn prägnanten Thesen und in expliziter Ab­wendung von den modischen Formeln eines »Endes« oder einer »Wiederkehr der Politik« fragt Jacques Ranciere nach dem Spezifischen, dem Eigentlichen von Politik. Sowohl von der Kategorie der Ökonomie als auch von jener der Staatlich­keit klar zu unterscheiden, ist das Eigentliche der Politik viel­mehr in einer Beziehung zweier das Subjekt kontradiktorisch festlegender Termini zu suchen. Politik erscheint somit als eine im Kern paradoxale Handlung, die sich durch die Exi­stenz eines Subjekts bestimmt, welches sich durch seine Par­tizipation an Gegensätzen definiert.

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Bruno Latour Elend der Kritik

Aus dem Französischen von Heinz Jatho ISBN 978-3-03734-021-9 / Broschur 80 Seiten, € 8,00 / CHF 15,50

Der Wissenschaftsforscher Bruno Latour wendet sich gegen eine um sich greifende antiaufklärerische Haltung der Kri­tik, der Geisteswissenschaften, die unappetitliche Verwandt­schaften hervorbringt. Wie erklärt es sich, daß unter Intellek­tuellen weithin unhinterfragt Verschwörungstheorien - etwa bezüglich des 11. September - als Wahrheiten ins Feld ge­führt werden? Bruno Latour macht in einem lange gepfleg­ten, exzessiven Mißtrauen in unverrückbare Tatsachen, die allzu leichtfertig als ideologische Vorurteile ausgegeben wer­den, eine Hauptgefahr für diese beunruhigende (da selbstent­machtende) Bewegung aus. Generiert womöglich die Kritik selbst diese Effekte, hat sie ihre eigenen »kritischen« Werk­zeuge nicht mehr im Griff? Ist Kritik ganz und gar zahnlos geworden?Latour fordert, das eigene Rüstzeug einer kritischen Betrach­tung zu unterziehen - und, wenn nötig, komplett auszu­wechseln: »Ist es etwa zuviel verlangt, von unser aller intel­lektuellen Existenz zu fordern, wenigstens einmal im Jahr­hundert ein paar neue kritische Werkzeuge bereitzustellen? Ist es nicht äußerst demütigend, mitanzusehen, daß Militärs wendiger, wachsamer, innovativer sind als wir?«

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Judith Butler, Gayatri Chakravorty Spivak Sprache, Politik, Zugehörigkeit

Aus dem Englischen von Michael Heitz und Sabine Schulz ISBN 978-3-03734-013-4 / Broschur 80 Seiten, € 8,00 / CHF 15,50

Dieses Buch vereint zwei der einflußreichsten Theoretike- rinnen des letzten Jahrzehnts. Im Streitgespräch erkunden Gayatri Chakravorty Spivak - gebürtige Inderin und führen­de Vertreterin der postcolonial studies - und die Philosophin und Feministin Judith Butler gemeinsam Vergangenheit, Ge­genwart und Zukunft des Staates in Zeiten der Globalisie­rung.In einer Welt kultureller, wirtschaftlicher, kriegerischer und klimatischer Verwerfungen, Krisen und Katastrophen, in ei­ner Welt, die durch Migration, wechselnde Zugehörigkeiten und sich wandelnde Bindungen geprägt ist, werden Staaten immer mehr zu Provisorien und ihre Bewohner zunehmend »staatenloser«.

Das leidenschaftliche und engagierte Gespräch spannt einen Bogen vom Palästina-Problem zum Denken des Staates in der Aufklärung und der zeitgenössischen Philosophie; von einer kritischen Diskussion der Thesen Hannah Arendts und Gior­gio Agambens zu der scheinbaren Detailfrage, ob die ameri­kanische Nationalhymne - wie schon einmal - auch mit spa­nischem Text gesungen werden sollte.

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Giorgio Agamben Mittel ohne Zweck

Aus dem Italienischen von Sabine Schulz ISBN 978-3-935300-10-0 / Französisch Broschur 144 Seiten, € 18,90 / CHF 34,00

Warum konstituiert der Ausnahmezustand die Grundstruk­tur einer jeden staatlichen Ordnung? Weshalb hat der Begriff >Menschenrechte< ausgedient? Was hat die Ununterscheid­barkeit von Öffentlichem und Privatem zur Folge? Inwiefern ist das >Lager< der biopolitische >nomos< der Moderne? Was wäre der Ort und was der Raum einer künftigen >polis<?

Die hier versammelten Texte formulieren eine radikale Kri­tik von Politik im Zeitalter entleerter Kategorien. In engem Rückbezug auf Hannah Arendt, Carl Schmitt und Michel Fou- cault skizziert Giorgio Agamben neue Perspektiven des Poli­tischen im Kontext der heutigen demokratisch-spektakulären Gesellschaften.

Entwürfe über die >Lebens-Form<, die Sprache als Ort des Politischen par excellence und das Gestische als eine Sphä­re der >reinen Mittel ohne Zweck< markieren das Feld eines kommenden Denkens.

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