Adorno Kafka Pris Men

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Adorno Kafka

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Über dieses Buch

Theodor W. Adorno schrieb die vorliegenden zwölf Essayszwischen 1937 und 1953. Kulturkritik ist dem Autor nichtästhetischer Selbstzweck, sie bezieht sich auf Struktur undFunktion der Gesellschaft. Unter diesem Kennzeichen ge-winnt Adornos Interpretation stets einen erregenden, durchbegriffliche Pointierungskunst gesteigerten Akzent. Ob ersich mit Oswald Spenglers >Untergang des Abendlandes <,mit Thorstein Veblens Angriff auf die Kultur oder mitHuxleys Verhältnis zum Utopischen auseinandersetzt: stetszielt die Kritik auf das denkerische Verhältnis der Schrei-benden zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ab. In der Korre-spondenz zwischen Stefan George und Hugo von Hof manns-thal scheint die Problematik moderner Geisteshaltung ebensofaszinierend auf wie in der Gegenüberstellung von Paul Va-lery und Marcel Proust. Walter Benjamin und Franz Kafkasind weitere Themen-Figuren dieser vielseitigen, in ihrerdialektischen Spannung nicht nur anregenden, sondern auchaufregenden Essaysammlung. Beiträge zu musikalischenFragen unserer Zeit (Arnold Schönbergs Bedeutung für diemoderne Musik; Massenphänomen Jazz; Johann SebastianBachs Werk im Spiegel moderner Interpreten) bereicherndiese kulturkritischen Prismen um interessante Brechungen.

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Ungekürzte AusgabeNovember 1963Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,MünchenLizenzausgabe mit freundlicher Genehmigungdes Suhrkamp VerlagesCopyright 1955 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.Alle Rechte vorbehaltenAusstattung: Celestino-FiattiGesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei,NördlingenPrinted in Germany

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Theodor W. Adorno:PrismenKulturkritik und Gesellschaft

DeutscherTaschenbuchVerlag

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Aufzeichnungen zu Kafka

Für Gretel

Si Dieu le Père a créé les chosesen les nommant, c'est en leurôtant leur nom, ou en leur don-nant un autre que l'artiste lesrecrée. Marcel Proust

Die Beliebtheit Kafkas, das Behagen am Unbehaglichen, dasihn zum Auskunftsbüro der je nachdem ewigen oder heu-tigen Situation des Menschen erniedrigt und mit quickemBescheidwissen eben den Skandal wegräumt, auf den dasWerk angelegt ist, weckt Widerwillen dagegen, mitzutunund den kurrenten Meinungen eine sei's auch abweichendeanzureihen. Aber gerade der falsche Ruhm, die fatale Va-riante des Vergessens, das Kafka bitter ernst sich gewünschthätte, zwingt zur Insistenz vor dem Rätsel. Weniges vondem, was über ihn geschrieben ward, zählt; das meiste istExistentialismus. Er wird eingeordnet in eine etablierteDenkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was dieEinordnung erschwert und eben darum die Deutung er-heischt. Als ob es der Sisyphusarbeit Kafkas bedurft hätte,als ob es die Maelstrom-Gewalt seines Werkes erklärte, wenner nichts anderes sagte, als daß dem Menschen das Heil ver-loren, der Weg zum Absoluten verstellt, daß sein Lebendunkel, verworren oder, wie man das heute so nennt, insNichts gehalten sei, und daß ihm nichts bleibe, als beschei-den und ohne viel Hoffnung die nächsten Pflichten zu be-sorgen und einer Gemeinschaft sich einzufügen, die genaudies erwartet und die Kafka nicht hätte vor den Kopf zustoßen brauchen, wenn er darin mit ihr eines Sinnes ge-wesen wäre. Werden Deutungen dieses Typus damit erläu-tert, daß Kafka mit so dürren Worten es freilich nicht aus-gesprochen, sondern als Künstler der Realsymbolik sich be-fleißigt habe, so meldet das zwar das Ungenügen an den

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Formeln an, aber nicht viel mehr. Denn eine Darstellung istentweder realistisch oder symbolisch; gleichgültig wie dichtgefügt die Symbole auch sein mögen, ihr Eigengewicht anRealität tut dem Symbolcharakter keinen Abtrag. Goethes>Pandora< steht gewiß an sinnlicher Gestaltung nicht hintereinem Roman von Kafka zurück, und trotzdem kann an derSymbolik des Fragments kein Zweifel sein, mag auch dieKraft der Symbole darin, etwa der Elpore, welche Hoffnungverkörpert, weiter reichen als das unmittelbar Vermeinte.Wenn der Symbolbegriff in der Ästhetik, mit dem es über-haupt nicht recht geheuer ist, irgend etwas Triftiges besagensoll, so einzig, daß die einzelnen Momente des Kunstwerksaus der Kraft ihres Zusammenhangs über sich hinaus weisen:daß ihre Totalität bruchlos übergehe in einen Sinn. Nichtsaber paßt schlechter auf Kafka. Selbst in Gebilden wie jenemGoetheschen, das mit allegorischen Momenten so tiefsinnigspielt, geben doch diese, vermöge des Zusammenhangs, indem sie stehen, ihre Bedeutung ab an den Schwung desGanzen. Bei Kafka aber ist alles so hart, bestimmt, abge-setzt wie möglich; wie in Abenteuerromanen, nach jenerMaxime, die James Fenimore Cooper dem >Roten Frei-beuter < voranstellte: »Das wahre Goldene Zeitalter der Li-teratur kann nicht erscheinen, bis die Werke in ihrem Druckgenau sind wie ein Schiffsbuch — in ihrem Inhalt körnig wieein Wachtrapport.« Nirgends verdämmert bei Kafka dieAura der unendlichen Idee, nirgends öffnet sich der Hori-zont. Jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet. Bei-des ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, son-dern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischenblendet der grelle Strahl der Faszination. Kafkas Prosa hältes, trotz dem Protest seines Freundes, auch darin mit denVerfemten, daß sie eher der Allegorie nacheifert als demSymbol. Benjamin hat sie mit Grund als Parabel definiert.Sie drückt sich nicht aus durch den Ausdruck sondern durchdessen Verweigerung, durch ein Abbrechen. Es ist eine Pa-rabolik, zu der der Schlüssel entwendet ward; selbst der,welcher eben dies zum Schlüssel zu machen suchte, würdein die Irre geführt, indem er die abstrakte These von KafkasWerk, die Dunkelheit des Daseins, mit seinem Gehalt ver-wechselte. Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will

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es dulden. Jeder erzwingt mit der Reaktion »So ist es« dieFrage: woher kenne ich das; das déjà vu wird in Permanenzerklärt. Durch die Gewalt, mit der Kafka Deutung gebietet,zieht er die ästhetische Distanz ein. Er mutet dem angeblichinteresselosen Betrachter von einst verzweifelte Anstren-gung zu, springt ihn an und suggeriert ihm, daß weit mehrals sein geistiges Gleichgewicht davon abhänge, ob er rich-tig versteht, Leben oder Tod. Unter den VoraussetzungenKafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplativeVerhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist.Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnenund ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sonderndaß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß,das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publi-kum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik. Solcheaggressive physische Nähe unterbindet die Gewohnheit desLesers, mit Figuren der Romane sich zu identifizieren. Umjenes Prinzips willen kann der Surrealismus mit Recht ihnfür sich in Anspruch nehmen. Er ist die Schrift gewordeneTurandot. Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen,muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mitdem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß esihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzu-schrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz.Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leserschuldig.

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Mehr als leicht für einen anderen gilt für Kafka, daß zwarnicht verum, wohl aber falsum index sui sei. Zur Verbrei-tung des Falschen jedoch hat er selbst einiges beigetragen.Den beiden großen Romanen >Schloß< und >Prozeß< schei-nen, wenn schon nicht im Detail, so jedenfalls im großenPhilosopheme auf die Stirn geschrieben, die trotz ihres ge-danklichen Gewichts den Titel Betrachtungen über Sünde,Leid, Hoffnung und den wahren Weg< keineswegs Lügenstrafen, den man einem theoretischen Konvolut Kafkas ver-liehen hat. Immerhin ist dessen Inhalt nicht kanonisch für

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die Dichtung. Der Künstler ist nicht gehalten, das eigeneWerk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zumZweifel, ob Kafka es vermochte. Jedenfalls reichen seineAphorismen kaum an die enigmatischsten Stücke und Epi-soden heran, wie die >Sorge des Hausvaters < oder den >Kü-belreiter<. Kafkas Gebilde hüteten sich vor dem mörde-rischen Künstlerirrtum, die Philosophie, die der Autor insGebilde pumpt, sei dessen metaphysischer Gehalt. Wäre siees, das Werk wäre totgeboren: es erschöpfte sich in dem,was es sagt, und entfaltete sich nicht in der Zeit. Vorm Kurz-schluß auf die allzu frühe, vom Werk schon gemeinte Be-deutung vermöchte als erste Regel zu schützen: alles wört-lich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken.Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zumBuchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmalhelfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkeltund zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Gene-ralklausel der Unbestimmtheit auf. Kafka hat diese Regel zusabotieren gesucht, indem er an einer Stelle verkünden läßt,die Mitteilungen aus dem Schloß wären nicht »wortwörtlich«zu nehmen. Gleichviel, will man nicht jeden Boden unterden Füßen verlieren, so muß man festhalten, daß am An-fang des Prozesses steht, jemand müsse Josef K. verleum-det haben, »denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurdeer eines Morgens verhaftet«. Man darf auch nicht in denWind schlagen, daß K. am Anfang des Schlosses fragt: »Inwelches Schloß habe ich mich verirrt? Ist denn hier einSchloß?«, also unmöglich berufen sein kann. Auch ist ihmnichts von jenem Grafen West-west bekannt, dessen Namenur einmal genannt, dessen allmählich weniger und dann garnicht mehr gedacht wird, so wie, nach einer Parabel Kafkas,Prometheus eins wird mit dem Felsen, an den er geschmiedetist, und dann vergessen. Das Prinzip der Wörtlichkeit, wohlErinnerung an die Thora-Exegese der jüdischen Tradition,findet aber seine Stütze an manchen Kaf kaschen Texten. Zu-weilen lösen die Worte, insbesondere Metaphern, sich losund gewinnen eigene Existenz. »Wie ein Hund« stirbt JosefK., und Kafka teilt die Forschungen eines Hundes mit. Ge-legentlich wird die Wörtlichkeit bis zum Assoziationswitzgetrieben. So in der Geschichte der Familie des Barnabas im

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Schloß, wo von dem Beamten Sortini gesagt ist, er sei wäh-rend des Festes des Feuerwehrvereins »bei der Spritze« ge-blieben. Die hemdsärmelige Redensart für die Pflichttreuewird ernst genommen, die Respektsperson bleibt bei derFeuerspritze, und zugleich wird wie in Fehlleistungen aufdie grobe Begierde angespielt, die den Beamten den ver-hängnisvollen Brief an Amalia schreiben läßt - Kafka, Ver-ächter der Psychologie, ist überreich an psychologischenEinsichten, gleich der von der Beziehung zwischen trieb-haftem und Zwangscharakter. - Das Prinzip der Wörtlich-keit, ohne dessen Maß das Vieldeutige ins Gleichgültige zer-fließen müßte, verbietet den geläufigsten Versuch, in derAuffassung Kafkas den Anspruch auf Tiefe mit Unverbind-lichkeit zu vereinen. Mit Recht hat Cocteau darauf aufmerk-sam gemacht, daß die Einführung von Befremdendem alsTraum stets den Stachel entfernt. Kafka selber hat zur Ver-hinderung solchen Mißbrauchs den Prozeß an einer ent-scheidenden Stelle durch einen Traum unterbrochen — daswahrhaft ungeheure Stück publizierte er im >Landarzt< —und durch den Kontrast dieses Traums alles andere alsWirklichkeit bekräftigt, wäre es auch jene aus den Träumengeschöpfte, an welche zuweilen in >Schloß< und >Amerika<so qualvoll ausgesponnene Partien gemahnen, daß der Leserfürchten muß, nicht wieder auftauchen zu können. Unterden Schockmomenten ist nicht das schwächste, daß er dieTräume ä la lettre nimmt. Weil alles ausgeschieden ist, wasnicht dem Traum und seiner prälogischen Logik gliche, istder Traum selber ausgeschieden. Nicht das Ungeheuerlicheschockiert, sondern dessen Selbstverständlichkeit. Kaumhat der Landvermesser aus seinem Zimmer im Wirtshausdie lästigen Gehilfen vertrieben, so kommen sie durchs Fen-ster wieder herein, ohne daß der Roman, über die bloße Mit-teilung hinaus, sich auch nur mit einem Wort darüber auf-hielte ; der Held ist zu müde, um sie nochmals zu vertreiben.So aber wie Kafka zu dem Traum sich verhält, soll der Le-ser zu Kafka sich verhalten. Nämlich auf den inkommen-surablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen be-harren. Daß Lenis Finger durch eine Schwimmhaut verbun-den sind oder daß die Exekutoren wie Tenöre aussehen, istwichtiger als die Exkurse übers Gesetz. Das betrifft zugleich

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Darstellungsweise und Sprache. Oft setzen Gesten Kontra-punkte zu den Worten: das Vorsprachliche, den IntentionenEntzogene fährt der Vieldeutigkeit in die Parade, die wieeine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat.»>Den Brief<, begann K., >habe ich gelesen. Kennst du denInhalt?< >Nein<, sagte Barnabas, sein Blick schien mehr zusagen als seine Worte. Vielleicht täuschte sich K. hier imGuten, wie bei den Bauern im Bösen, aber das Wohltuendeseiner Gegenwart blieb.« Oder: »>Nun<, sagte sie versöhn-lich, >es war Grund zum Lachen. Sie fragten, ob ich Klammkenne, und ich bin doch< - hier richtete sie sich unwillkür-lich ein wenig auf, und wieder ging ihr sieghafter, mit dem,was gesprochen wurde, gar nicht zusammenhängender Blicküber K. hin - >ich bin doch seine Geliebte. <« Oder, in derSzene der Trennung Friedas vom Landvermesser: »Friedahatte ihren Kopf an K.s Schulter gelegt, die Arme umeinan-der geschlungen, gingen sie schweigend auf und ab. > Wärenwir doch<, sagte dann Frieda langsam, ruhig, fast behaglich,so als wisse sie, daß ihr nur eine ganz kleine Frist der Ruhean K.s Schulter gewährt sei, diese aber wolle sie bis zumletzten genießen, >wären wir doch gleich noch in jenerNacht ausgewandert, wir könnten irgendwo in Sicherheitsein, immer beisammen, deine Hand immer nahe genug, siezu fassen; wie brauche ich deine Nähe, wie bin ich, seitdemich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen, deine Nähe ist,glaube mir, der einzige Traum, den ich träume, keinen an-dern.<« Solche Gesten sind die Spuren der Erfahrungen,die vom Bedeuten zugedeckt werden. Der jüngste Standeiner Sprache, die denen im Munde quillt, die sie sprechen;die zweite babylonische Verwirrung, der ohnehin Kafkasernüchterte Diktion ohne zu ermüden widersteht, nötigtihn dazu, das geschichtliche Verhältnis von Begriff und Ge-stus spiegelbildlich umzukehren. Der Gestus ist das »So istes«; die Sprache, deren Konfiguration die Wahrheit seinsoll, als zerbrochene die Unwahrheit. »>Auch sollten Sieüberhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles, wasSie vorhin gesagt haben, hätte man auch, wenn Sie nur einpaar Worte gesagt hätten, Ihrem Verhalten entnehmen kön-nen, außerdem war es nichts für Sie übermäßig Günstiges.<«Den in den Gesten sedimentierten Erfahrungen wird einmal

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die Deutung folgen, in ihrer Mimesis ein vom gesundenMenschenverstand verdrängtes Allgemeines wiedererken-nen müssen. »Durch das offene Fenster erblickte man wiederdie alte Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zudem gegenüberliegenden Fenster getreten war, um auchweiterhin alles zu sehen«, heißt es in der Verhaftungsszeneam Anfang des Prozesses. Wer hätte nicht schon, in einerPension, auf die gleiche, genau die gleiche Weise von Nach-barn sich beobachtet gefühlt, und wem wäre nicht daransamt allem Abstoßenden, Altgewohnten, Unverständlichenund Unvermeidlichen das Bild des Schicksals aufgeblitzt.Der aber solche Rebusse aufzulösen vermöchte, wüßte mehrvon Kafka, als wer in ihm die Ontologie illustriert findet.

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Nahe liegt der Einwand, dem dürfe die Deutung so wenigsich anvertrauen wie irgendeinem anderen Element vonKafkas verstörtem Kosmos. Jene Erfahrungen seien nichtsals zufällig-private, psychologische Projektionen. Wer glaubt,die Nachbarn beobachteten ihn aus Fenstern, oder aus demTelefon töne dessen eigene singende Stimme - und Kaf-kas Schriften wimmeln von solchen Aussagen -, der leide anBeziehungs- und Verfolgungswahn, und wer daraus eineArt System mache, sei von der Paranoia angesteckt; ihmtaugten Kafkas Werke einzig dazu, die eigene Beschädigungzu rationalisieren. Der Einwand ist zu widerlegen bloßdurch Reflexion aufs Verhältnis von Kafkas Werk selber zujener Zone. Sein Wort »Zum letztenmal Psychologie«, seineBemerkung, alles von ihm ließe psychoanalytisch sich inter-pretieren, nur bedürfte diese Interpretation dann weitererad indefinitum - solche Verdikte sollten so wenig wie dergeweihte Hochmut, die jüngste ideologische Abwehr desMaterialismus, zur These verführen, Kafka habe nichts mitFreud zu tun. Schlecht wäre es um die Tiefe bestellt, die manihm nachrühmt, wenn in ihr verleugnet würde, was druntenwest. Die Ansicht von der Hierarchie bei Kafka und Freudist kaum zu unterscheiden. Eine Stelle aus >Totem undTabu< lautet: »Das Tabu eines Königs ist zu stark für seinen

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Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu großist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Ver-mittler zwischen ihnen machen. Das heißt aus der Sprachedes Tabus in die normale Psychologie versetzt: der Unter-tan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm dieBerührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgangdes Beamten vertragen, den er nicht so sehr zu beneidenbraucht und dessen Stellung ihm vielleicht selbst erreichbarerscheint. Der Minister aber kann seinen Neid gegen denKönig durch die Erwägung der Macht ermäßigen, die ihmselbst eingeräumt ist. So sind geringere Differenzen der inVersuchung führenden Zauberkraft weniger zu fürchten alsbesonders große.« Im Prozeß sagt ein Hochgestellter:»Schon den Anblick des dritten Türhüters kann nicht ein-mal ich mehr ertragen«, und Analoges kommt im Schloßvor. Licht fällt von hier zugleich auf einen entscheidendenKomplex bei Proust, den Snobismus als den Willen, durchAufnahme unter die Eingeweihten die Angst vorm Tabu zubeschwichtigen: »denn nicht Klamms Nähe an sich war ihmdas Erstrebenswerte, sondern daß er, K., nur er, kein ande-rer mit seinen, mit keines andern Wünschen an Klamm her-ankam, nicht um bei ihm zu ruhen, sondern um an ihm vor-beizukommen, weiter, ins Schloß«. Der ebenfalls für dieSphäre des Tabus zuständige, von Freud zitierte Ausdruckdélier de toucher trifft genau den sexuellen Zauber, der beiKafka Menschen, zumal niedrige mit höheren, zusammen-treibt. Selbst auf die von Freud geargwöhnte »Versuchung«- die des Mords an der Vaterfigur - wird bei Kafka ange-spielt. Am Ende des Kapitels aus dem Schloß, wo die Wir-tin dem Landvermesser auseinandersetzt, es sei unbedingtunmöglich für ihn, Herrn Klamm selbst zu sprechen, be-hält er das letzte Wort: »>Was fürchten Sie also? Sie fürch-ten doch nicht etwa für Klamm? < Die Wirtin sah ihm schwei-gend nach, wie er die Treppe hinabeilte und die Gehilfenihm folgten.« Man wird dem Verhältnis zwischen dem Er-forscher des Unbewußten und dem Paraboliker der Un-durchdringlichkeit am nächsten kommen, wenn man sichdaran erinnert, daß Freud eine archetypische Szene wie dieErmordung des Urhordenvaters, eine vorzeitliche Erzäh-lung wie die von Moses, oder die Beobachtung des Bei-

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schlafs der Eltern in der frühen Kindheit nicht als Verdich-tungen der Phantasie, sondern weithin als reale Begeben-heiten auffaßte. In solchen Exzentrizitäten folgt KafkaFreud, mit eulenspiegelhafter Treue, bis zum Absurden. Erentreißt die Psychoanalyse der Psychologie. Diese selbst be-reits ist, indem sie das Individuum aus amorphen und diffu-sen Trieben, das Ich aus dem Es herleitet, in gewissem Sinndem spezifisch Psychologischen entgegen. Die Person wirdaus einem Substantiellen zum bloßen Organisationsprinzipsomatischer Impulse. Bei Freud wie bei Kafka ist die Gel-tung des Beseelten ausgeschaltet; ja Kafka hat eigentlich vonAnbeginn kaum Notiz davon genommen. Er unterscheidetvon dem viel Älteren, naturwissenschaftlich Gesinnten sichnicht durch zartere Spiritualität, sondern indem er ihn in derSkepsis gegen das Ich womöglich noch überbietet. Dazutaugt die Kafkasche Buchstäblichkeit. Wie in einer Versuchs-anordnung studiert er, was geschähe, wenn die Befunde derPsychoanalyse allesamt nicht metaphorisch und mental, son-dern leibhaft zuträfen. Er pflichtet ihr bei, soweit sie Kulturund bürgerliche Individuation ihres Scheins überführt; ersprengt sie, indem er sie genauer beim Wort faßt als sie sich sel-ber. Freud zufolge widmet die Psychoanalyse ihre Aufmerk-samkeit dem »Abhub der Erscheinungswelt«. Er denkt dabeian Psychisches, an Fehlleistungen, Träume und neurotischeSymptome. Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachteSpielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als ausdem Kehricht der Realität. Das Bild der heraufziehendenGesellschaft entwirft er nicht unmittelbar - denn Askeseherrscht bei ihm wie in aller großen Kunst gegenüber derZukunft -, sondern montiert es aus Abfallsprodukten, wel-che das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegen-wart ausscheidet. Anstatt die Neurose zu heilen, sucht er inihr selbst die heilende Kraft, die der Erkenntnis: die Wun-den, welche die Gesellschaft dem Einzelnen einbrennt, wer-den von diesem als Chiffren der gesellschaftlichen Unwahr-heit, als Negativ det Wahrheit gelesen. Seine Gewalt ist einedes Abbaus. Er reißt die beschwichtigende Fassade vormUnmaß des Leidens nieder, der die rationale Kontrolle mehrstets sich einfügt. Im Abbau - nie war das Wort populärerals in Kafkas Todesjahr - hält er nicht, wie die Psychologie,

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beim Subjekt inne, sondern dringt auf das Stoffliche, bloßDaseiende durch, das im ungeminderten Sturz des nach-gebenden, aller Selbstbehauptung sich entäußernden Be-wußtseins auf dem subjektiven Grunde sich darbietet. DieFlucht durch den Menschen hindurch ins Nichtmenschliche -das ist Kafkas epische Bahn. Dies Fallen des Ingeniums, diekrampfhafte Widerstandslosigkeit, die mit Kafkas Moral soganz übereinkommt, wird paradox belohnt durch die zwin-gende Autorität ihres Ausdrucks. Der zum Zerreißen an-gespannten Entspannung fällt, was Metapher, Bedeutung,Geist war, unmittelbar, intentionslos zu, als »spirituellerLeib«. Es ist, als würde die philosophische Lehre von derkategorialen Anschauung, die zur gleichen Zeit sich aus-breitete, als Kafka schrieb, in der Hölle honoriert. Diefensterlose Monade bewährt sich als Laterna magica, Mutteraller Bilder wie bei Proust und Joyce. Worüber Individua-tion sich erhebt, was sie verdeckt und was sie selber aus sichhervortrieb, ist allen gemein, aber nirgends als in der Ver-lassenheit und der Versenkung, die nicht um sich blickt, läßtes sich greifen. Wer nachvollziehen will, wie es zu den ab-normen Erfahrungen kommt, die bei Kafka die Norm um-schreiben, muß einmal in einer großen Stadt einen Unfall er-litten haben: ungezählte Zeugen melden sich und erklärensich als Bekannte, als hätte das ganze Gemeinwesen sich ver-sammelt, um dem Augenblick beizuwohnen, da der mäch-tige Autobus in die schwache Autodroschke hineinfuhr. Daspermanente dejä vu ist das dejä vu aller. Daher der ErfolgKafkas, der zum Verrat wird erst, wenn das Allgemeine ausseinen Schriften abdestilliert wird und die Anstrengung dertödlichen Verschlossenheit erspart. Vielleicht ist das ver-borgene Ziel seiner Dichtung überhaupt die Verfügbarkeit,Technifizierung, Kollektivierung des dejä vu. Das Beste,das man vergißt, wird erinnert und in die Flasche gebanntwie die cumäische Sibylle. Nur verwandelt es sich dabei insSchlimmste: »Sterben will ich«, und das wird ihm versagt.Die verewigte Vergängnis ereilt ein Fluch.

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Verewigte Gesten bei Kafka sind ein erstarrt Momentanes.Der Schock ist wie die surrealistische Veranstaltung dessen,den alte Photographien dem Betrachter erteilen. Eine solche,undeutlich, fast verblichen, spielt im Schloß ihre Rolle. DieWirtin, die sie als Überbleibsel ihrer Berührung mit Klamm-und dadurch mit der Hierarchie - aufbewahrt, zeigt sie K.,der nur mühsam etwas darauf erkennen kann. Vorgestriggrelle Tableaux, der Zirkussphäre entstammend, zu derKafka mit der Avantgarde seiner Generation Affinität fühlte,sind vielfach in sein Werk eingelassen; vielleicht hätte allesTableau werden sollen, und einzig ein Überschuß an Inten-tion hat es durch lange Dialoge verhindert. Was auf derSpitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf denHinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immerwähren. Das grausigste Exempel enthält wohl der Prozeß:Josef K. öffnet die Rumpelkammer, in der am Tag zuvorseine Wächter geprügelt wurden, um die Szene getreu, auchmit der Anrufung seiner selbst, wiederholt zu finden. »So-fort warf K. die Tür zu und schlug noch mit den Fäustengegen sie, als sei sie dann fester verschlossen.« Das ist dieGebärde von Kafkas eigenem Werk, das, wie manchmalschon das Poes, von den äußersten Gesichten sich abwendet,als könnte kein Auge den Anblick überleben. In diesemdurchdringen sich das Immergleiche und das Ephemere.Stets wieder malt Titorelli jenes abgestandene Genrebild,die Heidelandschaft. Gleichheit oder intrigierende Ähnlich-keit einer Mehrzahl rechnet zu den hartnäckigsten MotivenKafkas; alle möglichen Halbgeschöpfe treten paarweise auf,oftmals mit der Signatur des Kindischen und Albernen, oszil-lierend zwischen Gutmütigkeit und Grausamkeit wie Wildeaus Kinderbüchern. So schwer ist den Menschen die Indivi-duation geworden, und so schwankend blieb sie bis zumheutigen Tag, daß sie tödlich erschrecken, wenn ihr Schleierum ein weniges sich hebt. Proust wußte von dem leisen Un-behagen, das den überrieselt, der auf seine Ähnlichkeit miteinem ihm fremden Verwandten aufmerksam gemacht wird.Bei Kafka ist es zur Panik gesteigert. Das Reich des dejä vuwird von Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Po-

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jatzen, chassidischen Tänzern, Knaben, die den Lehrer nach-machen und plötzlich uralt aussehen, archaisch; einmalzweifelt der Landvermesser, ob seine Gehilfen ganz amLeben sind. Zugleich aber Abdrücke des Heraufziehenden,Menschen, die im Fließbandverfahren hergestellt sind, me-chanisch reproduzierte Exemplare, Huxleysche Epsilons.Der gesellschaftliche Ursprung des Individuums enthülltsich am Ende als die Macht von dessen Vernichtung. KafkasWerk ist ein Versuch, diese zu absorbieren. Nichts Irres -wie bei dem Erzähler, dem er Entscheidendes absah, RobertWalser - ist in seiner Prosa, jeden Satz hat der seiner selbstmächtige Geist geprägt, aber jeden Satz hat er auch zuvorder Zone des Wahnsinns entrissen, in die wohl im Zeitalterder universalen Verblendung, welche der gesunde Men-schenverstand bloß befestigt, jegliche Erkenntnis sich ge-trauen muß, um eine zu werden. Das hermetische Prinziphat unter anderem die Funktion einer Schutzmaßnahme: denandrängenden Wahn draußen zu halten. Das heißt aber: dieeigene Kollektivierung. Das Werk, das die Individuationzerrüttet, will um keinen Preis nachgeahmt werden: darumwohl ordnete er an, es zu vernichten. Wohin es sich begab,dort soll kein Fremdenverkehr aufblühen; wer aber so sichgebärdete, ohne dort gewesen zu sein, verfiele der purenUnverschämtheit. Er möchte den Reiz und die Gewalt derVerfremdung ohne Risiko einheimsen. Ohnmächtige Manierwäre die Folge. Karl Kraus, zu gewissem Maß auch Schön-berg, haben darin ähnlich reagiert wie Kafka. Solche Un-nachahmbarkeit affiziert aber auch die Lage des Kritikers.Seine Position Kafka gegenüber ist nicht mehr zu beneidenals die des Nachfolgers: sie wäre vorweg Apologie derWelt. Nicht daß es an Kafkas Werk nichts zu kritisierengäbe. Unter den Mängeln, die in den großen Romanen oben-auf liegen, ist der empfindlichste die Monotonie. Die Dar-stellung des Vieldeutigen, Ungewissen, Versperrten wirdendlos wiederholt, oft auf Kosten der überall angestrebtenAnschaulichkeit. Die schlechte Unendlichkeit des Darge-stellten teilt sich dem Kunstwerk mit. Wohl mag in diesemMangel einer des Gehalts zutage kommen, ein Übergewichtder abstrakten Idee, die selber der Mythos ist, den Kafka be-fehdet. Die Gestaltung will das Unsichere nochmals unsicher

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machen, aber provoziert die Frage: wozu die Anstrengung?Wenn ohnehin alles fraglich ist, warum dann nicht ans ge-gebene Minimum sich halten. Kafka würde darauf erwidern,gerade zur hoffnungslosen Anstrengung forderte er auf, ähn-lich wie Kierkegaard durch Weitschweifigkeit den Leserverärgern und damit aus der ästhetischen Kontemplationaufscheuchen wollte. Erwägungen über Recht und Unrechtsolcher literarischen Taktik sind aber darum so fruchtlos,weil Kritik sich immer nur auf das an einem Werk beziehenkann, worin es Muster sein will; wo es spricht: so wie ichbin, so soll es sein. Genau dieser Anspruch wird von demungetrösteten So ist es Kafkas emphatisch fortgewiesen.Trotzdem hat die Gewalt der Bilder, die er beschwört, ihreIsolierschicht zuweilen zerrissen. Einige stellen die Selbst-besinnung des Lesers, vom Autor zu schweigen, auf eineharte Probe: Strafkolonie und Verwandlung, Berichte, wiesie erst durch die von Bettelheim, Kogon und Rousset ein-geholt wurden, etwa wie Aufnahmen der von Bomben zer-störten Städte aus der Vogelperspektive den Kubismusdurch die Verwirklichung dessen, worin er die Wirklichkeitaufgekündigt hatte, gleichsam versöhnten. Kennt KafkasWerk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in denmilderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußerstenstandzuhalten, indem es Sprache wird. Sind es auch dieseWerke, welche den Schlüssel zur Deutung bieten? Fast wärees zu vermuten. In der >Verwandlung < läßt sich die Bahnder Erfahrung an der Wörtlichkeit rekonstruieren, als Ver-längerung der Linien. »Diese Reisenden sind wie Wanzen«,heißt die Redensart, die Kafka aufgegriffen haben muß, auf-gespießt wie ein Insekt. Wanzen, nicht wie die Wanzen. Waswird aus einem Menschen, der eine Wanze ist, so groß wieein Mensch? So groß aber müßten einem Kind die Erwach-senen aussehen und so verschoben, mit riesigen, zertreten-den Beinen und fernen, winzigen Köpfen, wenn der kind-liche Blick des Schreckens ganz isoliert, festgebannt würde;mit schräger Kamera läßt sich das photographieren. Einganzes Leben reicht bei Kafka nicht aus, um ins nächsteDorf zu kommen; und das Schiff des Heizers, das Wirtshausdes Landvermessers sind von so unmäßigen Dimensionen,wie nur in verschollener Frühe dem Menschen das von Men-

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sehen Gemachte dünkt. Der so blicken will, muß sich insKind verwandeln und vieles vergessen. Er erkennt denVater wieder als den Oger, den er immer schon in winzigenAnzeichen gefürchtet hat, der Ekel vor Käserinden erweistsich als die schmähliche vormenschliche Begierde nach ihnen.Sichtbar umdunstet die Zimmerherren, als ihre Emanation,der Horror, der vordem unmerklich fast in dem Wort mit-schwang. Die schriftstellerische Technik, die durch Asso-ziation an Worte sich heftet, wie die Proustische der unwill-kürlichen Erinnerung an Sinnliches, bewirkt deren Gegen-teil: anstelle des Eingedenkens ans Menschliche die Probeaufs Exempel der Entmenschlichung. Ihr Druck nötigt dieSubjekte zu einer gleichsam biologischen Rückbildung, wiesie den Kafkaschen Tierparabeln den Boden bereitet. DerAugenblick des Einstands aber, auf den alles bei ihm abzielt,ist der, da die Menschen dessen innewerden, daß sie keinSelbst - daß sie selbst Dinge sind. Die langen und ermüden-den bilderlosen Partien verfolgen, seit dem Gespräch mitdem Vater im >Urteil<, den Zweck, den Menschen zu demon-strieren, was kein Bild vermöchte, ihre Unidentität, das Kom-plement ihrer kopienhaften Ähnlichkeit untereinander. Dieminderen Beweggründe, die dem Landvermesser von derWirtin und dann auch von Frieda schlüssig nachgewiesenwerden, sind ihm fremd - den späteren psychoanalytischenBegriff des Ichfremden hat Kafka großartig antizipiert. Aberder Landvermesser gibt jene Motive zu. Sein individuellerund sein Sozialcharakter klaffen auseinander wie bei Chap-lins Monsieur Verdoux; Kafkas hermetische Protokolle ent-halten die soziale Genese der Schizophrenie.

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Trist und ramponiert ist die gesamte Bilderwelt Kafkas, auchdort, wo sie hoch hinaus will, im >Naturtheater von Okla-homa< - als hätte er die Wanderungen von Arbeitern ausdiesem Staat vorausgesehen - oder in der Sorge des Haus-vaters ; der Schatz der Blitzlichtaufnahmen kreidig und mon-goloid wie eine kleinbürgerliche Hochzeit Henri Rousseaus;der Geruch der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot

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von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen; die Angst,die Kafka hervorruft, die vorm Erbrechen. Und doch ist dasmeiste in seinem Werk Reaktion auf grenzenlose Macht.Benjamin hat diese Macht, die wütender Patriarchen, para-sitär genannt: sie zehrt von dem Leben, auf dem sie lastet.Aber das parasitäre Moment ist eigentümlich verschoben.Gregor Samsa, nicht sein Vater wird zur Wanze. Nicht dieMächte, sondern die ohnmächtigen Helden erscheinen über-flüssig, keiner leistet gesellschaftlich nützliche Arbeit; selbstdaß der angeklagte Bankprokurist Josef K., vom Prozeßpräokkupiert, nichts Rechtes zustande bringt, wird verbucht.Sie kriechen eigentlich zwischen Requisiten umher, dielängst amortisiert sind und ihnen ihr Dasein nur als Almosengewähren, indem sie über die eigene Lebensdauer hinausfortexistieren. Die Verschiebung ist der ideologischen Ge-wohnheit nachgebildet, welche die Reproduktion des Le-bens zum Gnadenakt der Verfügenden, der »Arbeitgeber«verklärt. Sie beschreibt ein Ganzes, in dem die überzähligwerden, die es umklammert und durch die es sich erhält.Aber darin erschöpft das Schäbige bei Kafka sich nicht. Esist das Kryptogramm der auf Hochglanz polierten kapita-listischen Spätphase, die er ausspart, um sie desto genauer inihrem Negativ zu bestimmen. Kafka nimmt die Schmutz-spuren unter die Lupe, welche von den Fingern der Macht inder Prachtausgabe des Lebensbuchs zurückbleiben. Dennkeine Welt könnte einheitlicher sein als die beklemmende,die er durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zu-sammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und desSinnes bar wie jegliches System. Alles, was er erzählt, gehörtder gleichen Ordnung an. Alle seine Geschichten spielen indemselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessenFugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmaletwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat, wieSpanien und Südfrankreich an einer Stelle des Schlosses,während ganz Amerika, als imago des Zwischendecks, jenemRaum einverleibt ist. So hängen Mythologien untereinanderzusammen wie Kafkas labyrinthische Schilderungen. DasMindere, Abstruse, Angestochene ist aber ihrem Kontinuumso wesentlich wie Korruption und verbrecherische Asozia-lität der totalitären Herrschaft und wie die Liebe zum Kot

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dem Kultus der Hygiene. Systeme des Gedankens und derPolitik wollen nichts, was ihnen nicht gleicht. Je mehr siesich jedoch verstärken, je mehr sie was ist gleichnamigmachen, desto mehr unterdrücken sie es zugleich, destoweiter entfernen sie sich davon. Deshalb gerade wird ihnendie geringste »Abweichung« als Bedrohung des gesamtenPrinzips so untragbar, wie den Mächten bei Kafka Fremdeund Einzelgänger es sind. Integration ist Desintegration,und in ihr findet der mythische Bann mit der herrschaftlichenRationalität sich zusammen. Das sogenannte Problem derZufälligkeit, an dem die philosophischen Systeme sich ab-quälen, wird von ihnen selbst gezeitigt: nur um ihrer eige-nen Unerbittlichkeit willen wird ihnen zum Todfeind, wasdurch ihre Maschen schlüpft, so wie die mythische Königinkeine Ruhe hat, solange weit über den Bergen eine lebt, dieschöner ist als sie, das Kind des Märchens. Kein Systemohne Bodensatz. Aus ihm weissagt Kafka. Wenn alles, wasin seiner Zwangswelt sich ereignet, mit dem Ausdruck desschlechthin Notwendigen den des schlechthin Zufälligenkombiniert, der dem Schäbigen eignet, so entziffert er dasverruchte Gesetz in seiner Spiegelschrift. Die vollendeteUnwahrheit ist der Widerspruch ihrer selbst, darum brauchtihr nicht ausdrücklich widersprochen zu werden. Kafkadurchschaut den Monopolismus an den Abfallsproduktender liberalen Ära, die von jenem liquidiert wird. Dieser ge-schichtliche Augenblick, nicht ein angeblich durch Ge-schichte hindurch scheinendes Überzeitliches ist die Kristalli-sation seiner Metaphysik, und Ewigkeit bei ihm keine andereals die des endlos wiederholten Opfers, aufgehend am Bildedes jüngsten. »Nur unser Zeitbegriff läßt uns das JüngsteGericht so nennen, eigentlich ist es ein Standrecht.« Dasjüngste Opfer ist immer das gestrige. Darum gerade wirdfast jeder offene Hinweis auf Historisches - der aus derKohlennot herausgesponnene Kübelreiter ist eine selteneAusnahme — bei Kafka vermieden. Hermetisch verhält sichsein Werk auch zur Geschichte: über ihrem Begriff liegt einTabu. Der Ewigkeit des geschichtlichen Augenblicks korre-spondiert die Ansicht von der Naturverfallenheit und Inva-rianz des Weltlaufs; der Augenblick, das absolut Vergäng-liche, ist Gleichnis der Ewigkeit des Vergehens, der Ver-

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dammnis. Der Name von Geschichte darf nicht genannt wer-den, weil das, was Geschichte wäre, das Andere noch nichtbegonnen hat. »An Fortschritt glauben, heißt nicht glauben,daß ein Fortschritt schon geschehen ist.« Inmitten scheinbarstatischer, oft handwerkerlicher oder bäuerlicher Verhält-nisse, solcher der einfachen Warenwirtschaft, wird Ge-schichtliches von Kafka nur als Gerichtetes vorgeführt, sowie jene Verhältnisse selber gerichtet sind. Seine Szenerie istimmer obsolet; von dem »niedrigen langen Gebäude«, dasals Schule fungiert, wird gesagt, es vereinige »merkwürdigden Charakter des Provisorischen und des sehr Alten«.Schwerlich sind die Menschen anders. Das Veraltete ist dasSchandmal des Gegenwärtigen; von solchen Malen hat Kafkaein Inventar aufgenommen. Zugleich aber das Bild dessen,woran Kindern, die es mit dem Abfall der historischen Weltzu tun haben, Geschichtliches überhaupt aufgeht, das »Kin-derbild der Moderne«, die ihnen vermachte Hoffnung, daßeinmal noch Geschichte sein könnte. »Das Gefühl eines, derin Not ist, und es kommt Hilfe, der sich aber nicht freut, weiler gerettet wird — er wird gar nicht gerettet —, sondern weilneue junge Menschen kommen, zuversichtlich, bereit, denKampf aufzunehmen, zwar unwissend hinsichtlich dessen,was bevorsteht, aber in einer Unwissenheit, die den Zu-schauenden nicht hoffnungslos macht, sondern ihn zur Be-wunderung, zur Freude, zu Tränen bringt. Auch Haß gegenden, dem der Kampf gilt, mischt sich ein.« Zu diesem Kampfgibt es einen Aufruf: »In unserem Haus, diesem ungeheurenVorstadthaus, einer von unzerstörbaren mittelalterlichenRuinen durchwachsenen Mietskaserne, wurde heute amnebeligen eisigen Wintermorgen folgender Aufruf verbrei-tet:

An alle meine Hausgenossen!Ich besitze fünf Kindergewehre. Sie hängen in meinem

Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu denandern kann sich melden, wer will. Melden sich mehr als vier,so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbrin-gen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlich-keit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vor-wärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Ver-wendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist ver-

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dorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knackennoch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch wei-tere solche Gewehre zu beschaffen. Aber im Grunde sindmir für die erste Zeit auch Leute ohne Gewehre recht. Wir,die wir Gewehre haben, werden im entscheidenden Augen-blick die Unbewaffneten in die Mitte nehmen. Eine Kampfes-weise, die sich bei den ersten amerikanischen Farmern gegen-über den Indianern bewährt hat, warum sollte sie sich nichtauch hier bewähren, da doch die Verhältnisse ähnlich sind.Man kann also sogar für die Dauer auf die Gewehre verzich-ten, und selbst die fünf Gewehre sind nicht unbedingt nötig,und nur weil sie schon einmal vorhanden sind, sollen sieauch verwendet werden. Wollen sie aber die vier andernnicht tragen, so sollen sie es bleiben lassen. Dann werde alsoich allein als Führer eines tragen. Aber wir sollen keinenFührer haben, und so werde auch ich mein Gewehr zerbre-chen oder weglegen.

Das war der erste Aufruf. In unserem Haus hat man keineZeit und keine Lust, Aufrufe zu lesen oder gar zu über-denken. Bald schwammen die kleinen Papiere in demSchmutzstrom, der, vom Dachboden ausgehend, von allenKorridoren genährt, die Treppe hinabspült und dort mitdem Gegenstrom kämpft, der von unten hinaufschwillt.Aber nach einer Woche kam ein zweiter Aufruf:

Hausgenossen!Es hat sich bisher niemand bei mir gemeldet. Ich war, so-

weit ich nicht meinen Lebensunterhalt verdienen muß, fort-während zu Haus und für die Zeit meiner Abwesenheit, wäh-rend welcher meine Zimmertür stets offen war, lag auf mei-nem Tisch ein Blatt, auf dem sich jeder, der wollte, einschrei-ben konnte. Niemand hats getan.« Das ist die Figur der Re-volution in Kafkas Erzählungen.

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Klaus Mann hat auf der Ähnlichkeit des Kafkaschen Reichesmit dem Dritten bestanden. So fern gewiß die unmittelbarepolitische Anspielung einem Werk liegt, dessen »Haß gegenden, dem der Kampf gilt«, viel zu unversöhnlich war, als

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daß es die Fassade durch die leiseste Konzession an einen wieimmer gearteten ästhetischen Realismus, durchs Hinnehmendessen, wofür sie sich gibt, hätte bestätigen dürfen — jeden-falls zitiert der Stoffgehalt jenes Werkes eher den National-sozialismus als das verborgene Walten Gottes. Seine Be-schlagnahmung für die dialektische Theologie mißglückt,außer wegen des mythischen Charakters der Mächte, vondem Benjamin mit Recht handelt, weil bei Kafka Vieldeutig-keit und Unverständlichkeit keineswegs bloß, wie in >Furchtund Zittern<, dem schlechthin Anderen zugeschrieben wer-den, sondern ebenso den Menschen und ihren Verhältnissen.Gerade der »unendliche qualitative Unterschied«, den Barthmit Kierkegaard lehrt, ist eingeebnet; zwischen Dorf undSchloß sei eigentlich kein Unterschied. Kafkas Methodeward verifiziert, als die veraltet liberalen, der Anarchie derWarenproduktion abgeborgten Züge, die er überhöht, inder politischen Organisationsform der sich überschlagendenÖkonomie wiederkehrten. Nicht bloß Kafkas Prophezeiungvon Terror und Folter ward erfüllt. »Staat und Partei«: sotagen sie auf Dachböden, hausen in Wirtshäusern wie Hitlerund Goebbels im Kaiserhof, eine als Polizei installierte Ver-schwörerbande. Ihre Usurpation offenbart das Usurpato-rische am Mythos der Macht. Im Schloß tragen die Beamteneine Spezialuniform wie die SS, die man als Paria zur Notauch sich selber zusammenflicken kann; auch die Eliten imFaschismus haben sich selber ernannt. Verhaftung ist Über-fall, Gericht Gewalttat. Mit der Partei gab es für deren po-tentielle Opfer immerzu einen fragwürdigen, korrupten Ver-kehr wie mit Kafkas verrammelten Behörden; das WortSchutzhaft hätte er erfinden können, wäre es nicht bereitswährend des Ersten Krieges im Schwang gewesen. Dieblonde Lehrerin Gisa, wohl das einzige schöne Mädchen,grausam und tierlieb, das unverletzt, als spotte seine Härtedes Kafkaschen Strudels, von ihm geschildert wird, ist ausder präadamitischen Rasse der Hitlerjungfrauen, welche dieJuden hassen, längst bevor es diese gibt. Ungezügelte Ge-walt wird ausgeübt von Gestalten der Subalternität, Typenwie Unteroffizieren, Kapitulanten und Portiers. Das sindallemal Deklassierte, die im Sturz vom organisierten Kollek-tiv aufgefangen werden und überleben dürfen gleich dem

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Vater Gregor Samsas. Wie im Zeitalter des defekten Kapi-talismus wird die Last der Schuld von der Produktions-sphäre abgewälzt auf Agenten der Zirkulation oder solche,die Dienste besorgen, auf Reisende, Bankangestellte, Kell-ner. Arbeitslose - im >Schloß<-und Emigranten - in >Ame-rika< - werden wie Fossilien der Deklassierung präpariert.Die ökonomischen Tendenzen, deren Relikte sie darstellen,schon ehe jene sich durchgesetzt haben, waren Kafka keines-wegs so fremd, wie die hermetische Verfahrensweise ver-muten läßt. Eine merkwürdig empirische Stelle aus demAmerikaroman, dem frühesten, verrät das: »Es war eineArt Kommissions- und Speditionsgeschäft, wie sie, soweitsich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zufinden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwi-schenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Pro-duzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händ-lern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung allerWaren und Urprodukte für die großen Fabrikkartelle undzwischen ihnen besorgte.« Genau dieser monopolistischeVerteilungsapparat, »riesigen Umfangs«, hat den Handelund Wandel vernichtet, dessen hippokratisches AntlitzKafka verewigt. Das geschichtliche Verdikt ergeht von dervermummten Herrschaft. So bildet es sich dem Mythos ein,der blinden, endlos sich reproduzierenden Gewalt. In derenneuester Phase, der bürokratischen Kontrolle, erkennt erdie erste wieder; was sie ausscheidet, als urgeschichtlich.Risse und Deformationen der Moderne sind ihm Spuren derSteinzeit, die Kreidefiguren auf der Schultafel von gestern,die keiner wegwischte, die wahre Höhlenzeichnung. Dieabenteuerliche Verkürzung, in der solche Rückbildungen er-scheinen, trifft aber zugleich die gesellschaftliche Tendenz.Mit seiner Übersetzung in Archetypen verendet der Bürger.Die Preisgabe seiner individuellen Züge, die Aufdeckungdes wimmelnden Grauens unter dem Stein der Kultur mar-kiert den Verfall von Individualität selber. Das Grauen je-doch ist, daß der Bürger keinen Nachfolger fand; »niemandhat's getan«. Das meint vielleicht die Erzählung von Grac-chus, dem nicht mehr wilden Jäger, einem Mann der Ge-walt, dem das Sterben mißlang. So ist es dem Bürgertummißlungen. Zur Hölle wird bei Kafka die Geschichte, weil

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das Rettende versäumt ward. Diese Hölle hat das späte Bür-gertum selber eröffnet. In den Konzentrationslagern desFaschismus wurde die Demarkationslinie zwischen Lebenund Tod getilgt. Sie schufen einen Zwischenzustand, lebendeSkelette und Verwesende, Opfer, denen der Selbstmord miß-rät, das Gelächter Satans über die Hoffnung auf Abschaffungdes Todes. Wie in Kafkas verkehrten Epen ging da zu-grunde, woran Erfahrung ihr Maß hat, das aus sich herauszu Ende gelebte Leben. Gracchus ist das vollendete Wider-spiel der Möglichkeit, die aus der Welt vertrieben ward: altund lebenssatt zu sterben.

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Die hermetische Prägung von Kafkas Schriften verführtdazu, nicht nur ihre Idee so abstrakt der Geschichte gegen-überzustellen, wie über weite Strecken hin bei ihm verhan-delt wird, sondern auch das Werk selbst mit wohlfeilemTiefsinn aus der Geschichte zu sekretieren. Aber gerade alshermetisches hat es teil an der literarischen Bewegung desDezenniums um den Ersten Krieg, deren einer BrennpunktPrag war und deren Milieu das Kafkas. Nur wer aus denschwarzen Broschüren Kurt Wolffs, dem >Jüngsten Tag<,das >Urteil<, die >Verwandlung<, das >Heizer<-Kapitel kennt,hat Kafka in seinem authentischen Horizont erfahren, demdes Expressionismus. Seine epische Gesinnung hat dessenSprachgestus zu vermeiden getrachtet, obwohl Sätze wie:»Pepi, stolz, mit zurückgeworfenem Kopf, ewig gleichemLächeln, ihrer Würde unwiderlegbar sich bewußt, schwen-kend den Zopf bei jeder Wendung, eilte hin und her« oder:»Auf die wildumwehte Freitreppe trat K. hinaus und blicktein die Finsternis« großartig beherrscht ihn zeigen. Eigen-namen, zumal aus der Kleinen Prosa, der Vornamen beraubt,wie Wese und Schmar, mahnen an die Personenverzeich-nisse expressionistischer Stücke. Nicht selten desavouiertKafkas Sprache den Inhalt so verwegen wie bei jener rau-schenden Beschreibung des kleinen Hilfsausschankmäd-chens: ihr Schwung reißt den Vortrag mit weit ausgreifenderGebärde aus dem trostlos Stagnierenden der Fabel. Mit der

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Liquidation des Traums durch dessen Allgegenwart ver-folgte der Epiker Kafka den expressionistischen Impuls soweit wie nur die radikalen Lyriker. Sein Werk hat den Tondes Ultralinken: wer es aufs allgemein Menschliche nivelliert,verfälscht ihn bereits konformistisch. Anfechtbare Formu-lierungen wie die von der »Trilogie der Einsamkeit« behal-ten ihren Wert, weil sie eine Voraussetzung hervorheben,die jedem Satz Kafkas innewohnt. Das hermetische Prinzipist das der vollendet entfremdeten Subjektivität. Nicht um-sonst hat er in den Kontroversen, von denen Brod berichtet,jeglicher sozialen Eingliederung widerstrebt; diese ist nurum solchen Widerstrebens willen im Schloß thematisch ge-worden. Schüler Kierkegaards ist er einzig im Zeichen »ob-jektloser Innerlichkeit«. Sie erklärt extreme Züge. WasKafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darumgräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut sub-jektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platzhat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der un-abdingbaren Entfremdung. Immer wieder wird das Raum-Zeit-Kontinuum des »empirischen Realismus« durch kleineSabotageakte lädiert wie die Perspektive in der zeitgenössi-schen Malerei; etwa wenn der umherwandernde Landvermes-ser vom viel zu frühen Einbruch der Nacht überrascht wird.Das Differenzlose der autarken Subjektivität verstärkt dasGefühl der Ungewißheit und die Monotonie des Wieder-holungszwangs. Der widerstandslos in sich kreisenden In-nerlichkeit wird versagt und zum Rätsel, was immer derschlecht unendlichen Bewegung Einhalt geböte. Ein Bannliegt über Kafkas Raum; das in sich verschlossene Subjekthält den Atem an, als dürfe es nichts anfassen, was nicht istwie es. Unter diesem Bann schlägt reine Subjektivität inMythologie, der konsequente Spiritualismus in Naturver-fallenheit um. Kafkas absonderliche Neigung zu Nacktkulturund Naturheilverfahren, seine sei's auch gebrochene Tole-ranz für den wüsten Aberglauben Rudolf Steiners sind nichtRudimente intellektueller Unsicherheit, sondern gehorcheneinem Prinzip, das, indem es unerbittlich das Unterschei-dende sich verbietet, die Kraft zur Unterscheidung einbüßtund von derselben Regression bedroht wird, über die Kafkaals Darstellungsmittel so souverän verfügt, vom Vieldeuti-

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gen, Amorphen, Namenlosen. »Geist setzt gegen Natur sichfrei und autonom, weil er sie als dämonisch erkennt: wie inder auswendigen Realität so bei sich selber. Indem aber derautonome Geist als leibhaft erscheint, nimmt Natur vomGeist Besitz, wo er am geschichtlichsten auftritt: im objekt-losen Innen . . . Der Naturgehalt bloßen, in sich geschicht-lichem Geistes mag mythisch heißen.« Die absolute Sub-jektivität ist zugleich subjektlos. Das Selbst lebt einzig inder Entäußerung; als sicherer Rest des Subjekts, der vormFremden sich verkapselt, wird er zum blinden Rest der Welt.Je mehr das Ich des Expressionismus auf sich selber zurück-geworfen wird, um so mehr ähnelt es der ausgeschlossenenDingwelt sich an. Vermöge dieser Ähnlichkeit zwingt Kafkaden Expressionismus, dessen Schimärisches er wie keinerseiner Freunde muß verspürt haben und dem er doch treublieb, zu einer vertrackten Epik; die reine Subjektivität, alsnotwendig auch sich selber entfremdete und zum Ding ge-wordene, zu einer Gegenständlichkeit, der die eigene Ent-fremdung zum Ausdruck gerät. Die Grenze zwischen demMenschlichen und der Dingwelt verwischt sich. Das machtden Grund der oft bemerkten Verwandtschaft mit Klee aus.Kafka nannte sein Schreiben »Kritzeln«. Das Dinghaftewird zum graphischen Zeichen, die gebannten Menschenhandeln nicht von sich aus, sondern als wäre ein jeglicher inein magnetisches Feld geraten1. Genau dies gleichsam äußer-liche Bestimmtsein inwendiger Figuren verleiht KafkasProsa den abgründigen Schein nüchterner Objektivität. DieZone des Nichtsterbenkönnens ist zugleich das Niemands-land zwischen Mensch und Ding: in ihm begegnet sichOdradek, den Benjamin als einen Engel Kleeschen Stils be-trachtete, mit Gracchus, dem bescheidenen Nachbild Nim-rods. Vom Verständnis dieser vorgeschobensten, inkommen-surabeln Produktionen und einiger anderer, die ebenfalls derkurrenten Vorstellung von Kafka sich entziehen, dürfte ein-

1 Das verurteilt alle Dramatisierungen. Drama ist nur so weit möglich, wie Freiheit, wäre esauch als sich entringende, vor Augen steht; alle andere Aktion bliebe nichtig. Die FigurenKafkas sind von einer Fliegenklatsche getroffen, ehe sie nur sich regen; wer sie als Helden aufdie tragische Bühne schleppt, verhöhnt sie bloß. Der Dichter von >Paludes< wäre Andre Gidegeblieben, wenn er nicht am >Prozeß< sich vergriffen hätte; er wenigstens hätte nicht im Zugedes fortschreitenden Analphabetismus vergessen dürfen, daß Kunstwerken, die es sind, ihrMedium nicht zufällig ist. Adaptations wären der Kulturindustrie vorzubehalten.

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mal das Ganze abhängen. Durchs gesamte Werk hindurchjedoch geht Depersonalisierung im Bereich des Sexuellen.Wie nach dem Ritus des Dritten Reichs die Mädchen denHoheitsträgern nicht nein sagen durften, so hat der Kafka-sche Bann, das große Tabu, alle jene geringeren Tabus aus-gelöscht, die der individuellen Sphäre zugehören. Der Schul-fall dafür ist die Bestrafung Amalias und ihrer Familie -Sippenhaft -, weil sie Sortini nicht zu Willen war. In denMächten triumphiert die Familie als archaisches Kollektivüber ihre spätere, individuierte Gestalt. Widerstandslos, auf-einander gehetzt wie Tiere müssen Männer und Frauen zu-sammenkommen. Kafka hat das eigene neurotische Schuld-gefühl, seine infantile Sexualität wie seine Obsession mit»Reinheit«, zum Instrument geschaffen, das den approbier-ten Begriff von Erotik wegkratzt. Das Wahl- und Erinne-rungslose der Verhältnisse von Angestellten in den Groß-städten des zwanzigsten Jahrhunderts wird, wie später ineiner berühmten Stelle aus Eliots >Waste Land<, zur imagoeines seit undenklichen Zeiten vergangenen Zustands. Erist alles eher als hetärisch. In der Suspension der Regeln derpatriarchalischen Gesellschaft wird deren eigenes Geheim-nis entblößt, das unmittelbarer barbarischer Unterdrückung.Frauen sind verdinglicht als bloßes Mittel zum Zweck: alsSexualobjekte und als Konnexionen. Aber mitten im Trübenfischt Kafka nach dem Bild vom Glück. Es ist aus dem Stau-nen des hermetisch abgeschlossenen Subjekts über das Para-doxon erzeugt, daß es gleichwohl geliebt werden kann. Sounbegreiflich wie die Neigung aller Frauen zu den Gefange-nen im Prozeß ist jegliche Hoffnung; Kafkas entzauberterEros ist zugleich überschwengliche männliche Dankbarkeit.Wenn die dürftige Frieda sich Klamms Geliebte nennt, sostrahlt die Aura des Wortes heller als in den erhobenstenAugenblicken bei Balzac oder Baudelaire; wenn sie, wäh-rend sie die Anwesenheit des unter dem Tisch Verstecktenvor dem forschenden Wirt verleugnet, ihm »ihren kleinenFuß auf die Brust setzt« und dann sich zu ihm hinabneigtund ihn »flüchtig küßt«, so findet sie die Geste, auf welchedie Sehnsucht eines Menschenlebens vergebens warten mag,und die Stunden, welche die beiden »in den kleinen PfützenBiers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden bedeckt

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war«, zusammenliegen, sind die der Erfüllung in einerFremde, »in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Hei-matluft« hat. Diese Schicht wurde von Brecht der Lyrik auf-geschlossen. Wie bei diesem jedoch ist bei Kafka die Spracheder Ekstase ganz fern der expressionistischen. Er hat dieQuadratur des Zirkels, dem Raum der objektlosen Inner-lichkeit die Worte zu finden, während doch der Umfangeines jeglichen über das absolute Dies da hinausreicht, dasangerufen werden soll - den Widerspruch, an dem alle ex-pressionistische Dichtung scheiterte -, ingeniös gemeistertdurchs visuelle Element. Als das der Gesten behauptet esden Vorrang. Nur von Sichtbarem läßt sich erzählen, wäh-rend es zugleich vollkommen zum Bilde verfremdet wird.Wahrhaft zum Bilde. Kafka rettet die Idee des Expressionis-mus, indem er, anstatt Urlauten vergebens nachzuhorchen,den Habitus expressionistischer Malerei auf die Dichtungüberträgt. Zu jener verhält er sich ähnlich wie Utrillo zu denAnsichtspostkarten, nach denen er seine fröstelnden Straßensoll gemalt haben. Dem panischen Blick, der alle affektiveBesetzung von den Objekten abgezogen hat, erstarren diesezu einem Dritten, weder Traum, der nur sich fälschen läßt,noch Nachäffung der Realität, sondern deren Rätselbild, zu-sammengefügt aus ihren zerstreuten Bruchstücken. Mancheentscheidenden Partien Kafkas lesen sich, als wären sie ex-pressionistischen Gemälden nachbuchstabiert, die hätten ge-malt werden müssen. Am Ende des Prozesses fallenjosef K.sBlicke »auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch an-grenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren dieFensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch,schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich miteinem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus.Wer war es? Ein Freund, ein guter Mensch?« Solche Trans-positionsarbeit bereitet Kafkas Bilderwelt. Sie beruht aufdem strikten Ausschluß alles Musikalischen im Sinn desMusikähnlichen, dem Verzicht auf die antithetische Abwehrdes Mythos; Kafka ist, Brod zufolge, nach den üblichen Be-griffen unmusikalisch gewesen. Sein stummes Schlacht-geschrei gegen den Mythos ist: ihm nicht widerstehen. Unddiese Askese beschenkt ihn mit der tiefsten Beziehung zurMusik an Stellen wie jenem Gesang des Telephons im

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>Schloß<, der Musikwissenschaft aus den Forschungen einesHundes< und in einer der letzten vollendeten Erzählungen,>Josefine<. Indem seine spröde Prosa alle musikalischen Wir-kungen verschmäht, verfährt sie wie Musik. Sie bricht ihreBedeutungen ab wie Lebenssäulen auf Friedhöfen des neun-zehnten Jahrhunderts, und erst die Bruchlinien sind ihreChiffren.

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Expressionistische Epik ist paradox. Sie erzählt von dem,wovon sich nicht erzählen läßt, dem ganz auf sich einge-schränkten und damit zugleich unfreien, ja eigentlich garnicht recht seienden Subjekt. Dissoziiert in die Zwangs-momente der eigenen Befangenheit, der Identität mit sichselbst beraubt, kennt es keine Lebensdauer; die objektloseInnerlichkeit ist Raum in dem genauen Sinn, daß alles, wassie stiftet, dem Gesetz zeitfremder Wiederholung gehorcht.Dies Gesetz nicht zuletzt verhält das Kafkasche Werk zurGeschichtslosigkeit. Keine durch Zeit als Einheit des inne-ren Sinns konstituierte Form ist ihm möglich; er vollstreckteinen Richtspruch über die große Epik, dessen GewaltLukacs schon an so frühen Autoren wie Flaubert und Jacob-sen beobachtet hat. Das Fragmentarische der drei großenRomane, die übrigens kaum mehr vom Begriff des Romansgedeckt werden, wird bedingt von ihrer inneren Form. Sielassen sich nicht als zur Totalität gerundete Zeiterfahrungzu Ende bringen. Die Dialektik des Expressionismus resul-tiert bei Kafka in der Angleichung an Abenteuererzählungenaus aufgereihten Episoden. Er hat solche Romane geliebt.Durch die Übernahme ihrer Technik sagt er zugleich deretablierten literarischen Kultur ab. Seinen bekannten Mo-dellen wären außer Walser wohl etwa der Anfang von PoesArthur Gordon Pym und manche Kapitel aus KürnbergersAmerikamüdem wie die Beschreibung einer New YorkerWohnung hinzuzufügen. Vor allem aber solidarisiert sichKafka mit apokryphen literarischen Gattungen. Den Zugdes universal Verdächtigen, tief eingegraben der Physio-gnomie des gegenwärtigen Zeitalters, hat er dem Kriminal-

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roman abgelernt. In diesem hat die Dingwelt das Über-gewicht übers abstrakte Subjekt gewonnen, und Kafka be-nutzt es dazu, die Dinge zu allgegenwärtigen Emblemenumzuschauen. Die großen Werke sind gleichsam Detektiv-romane, in denen die Entlarvung des Verbrechers mißlingt.Aufschlußreicher noch das Verhältnis zu Sade, von dem da-hinsteht, ob er Kafka bekannt war. Wie Unschuldige beiSade - auch im amerikanischen Groteskfilm und in den»Funnies« - gerät das Kafkasche Subjekt, insbesondere derAuswanderer Karl Roßmann, aus einer verzweifelten undausweglosen Situation in die nächste: die Stationen epischerAbenteuer werden zu solchen der Leidensgeschichte. Dergeschlossene Immanenzzusammenhang konkretisiert sichals Flucht von Gefängnissen. Das Ungeheuerliche, zu demder Kontrast fehlt, wird wie bei Sade zur ganzen Welt, zurNorm, im Gegensatz zum unreflektierten Abenteuerroman,der es stets auf außergewöhnliche Begebenheiten abgesehenhat und damit die gewöhnlichen bestätigt. In Sade aber undKafka ist Vernunft am Werk, durchs principium stilisationisdes Wahns den objektiven hervortreten zu lassen. Beidegehören, auf verschiedenen Stufen, der Aufklärung an. BeiKafka ist ihr Entzauberungsschlag das »So ist es«. Er berich-tet, wie es eigentlich zugeht, doch ohne Illusion übers Sub-jekt, das im äußersten Bewußtsein seiner selbst - seiner Nich-tigkeit — sich auf den Schrotthaufen wirft, nicht anders alsdie Tötemaschine mit dem ihr Überantworteten verfährt.Er hat die totale Robinsonade geschrieben, die einer Phase,in der jeder Mensch sein eigener Robinson wurde und aufeinem mit zusammengerafftem Zeug beladenen Floß ohneSteuer umhertreibt. Die Verbindung von Robinsonade undAllegorie, die ihren Ursprung in Defoe selber hat, ist derTradition der großen Aufklärung nicht fremd. Sie gehörtdem frühbürgerlichen Kampf gegen die religiöse Autoritätan. Im VIII. Stück der wider den orthodoxen HauptpastorGoeze gerichteten Axiomata des von Kafka als Dichter hoch-geschätzten Lessing steht der Bericht von einem »abgesetz-ten, lutherischen Prediger aus der Pfalz« und seiner Familie,»die aus zusammengebrachten Kindern beiderlei Geschlechtsbestand«. Das Schiff scheitert, und die Familie rettet sichsamt einem Katechismus auf eine kleine unbewohnte Gruppe

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der Bermudas. Generationen später findet ein hessischer Pre-diger die Nachkommen auf der Insel. Sie sprechen einDeutsch, »in welchem er nichts als Redensarten und Wen-dungen aus Luthers Katechismus zu hören glaubte«. Sie sindorthodox, »einige Kleinigkeiten ausgenommen. Der Kate-chismus war, wie natürlich, in den anderthalbhundert Jahrenaufgebraucht, und sie hatten nichts davon mehr übrig als dieBretterchen des Einbands. In diesen Bretterchen, sagten sie,steht das alles, was wir wissen. - Hat es gestanden, meineLieben! sagte der Feldprediger. - Steht noch, steht nochweiter! sagten sie. Wir können zwar selbst nicht lesen, wis-sen auch kaum, was Lesen ist: aber unsere Väter haben esihre Väter daraus herlesen hören. Und diese haben den Manngekannt, der die Bretterchen geschnitten. Der Mann hießLuther und lebte kurz nach Christo.« Womöglich nochnäher dem Kafkaschen Duktus ist die >Parabel<, die mit ihmein gewiß ungewolltes Moment des Verdunkelten teilt. DerAdressat Goeze hat sie ganz mißverstanden. Die parabo-lische Form selbst aber ist von der aufklärerischen Intentionschwerlich zu trennen. Indem naturhaften Stoffen - stammtnicht der äsopische Esel von dem des Oknos ab? - mensch-liche Bedeutungen und Lehren eingelegt werden, erkenntder Geist in ihnen sich wieder. So bricht er den mythischenBann, dem sein Blick standhält. Einige Stellen der Lessing-schen Parabel, die er unter dem Titel >Der Palast im Feuer <neu herausbringen wollte, sind dafür um so exemplarischer,als ihnen das Bewußtsein mythischer Verstrickung ganz fernlag, zu dem sie in analogen Passagen bei Kafka erwachtsind. »Ein weiser, tätiger König eines großen, großen Rei-ches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von ganz un-ermeßlichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.Unermeßlich war der Umfang, weil er in demselben alle umsich versammelt hatte, die er als Gehülfen oder Werkzeugeseiner Regierung brauchte. Sonderbar war die Architektur:denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln.. .. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren nochin eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcherdie Baumeister die letzte Hand angelegt hatten: von außenein wenig unverständlich, von innen überall Licht und Zu-sammenhang. Wer Kenner von Architektur sein wollte,

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ward besonders durch die Außenseiten beleidigt, welche mitwenig hin und her zerstreuten großen und kleinen, rundenund viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aberdesto mehr Türen und Tore von mancherlei Form undGröße hatten . . . Man begriff nicht, wozu so viele und vie-lerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf jederSeite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tunwürde. Denn daß durch die mehreren kleinen Eingänge einjeder, der in den Palast gerufen würde, auf dem kürzestenund unfehlbarsten Wege gerade dahin gelangen solle, woman seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu Sinn. Und soentstand unter den vermeintlichen Kennern mancherleiStreit, den gemeiniglich diejenigen am hitzigsten führten,die von dem Inneren des Palastes viel zu sehen die wenigsteGelegenheit gehabt hatten. Auch war da etwas, wovon manbei dem ersten Augenblick geglaubt hätte, daß es den Streitsehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade ammeisten verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigstenFortsetzung die reichste Nahrung verscharrte. Man glaubtenämlich verschiedene alte Grundrisse zu haben, die sich vonden ersten Baumeistern des Palasts herschreiben sollten:und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichenbemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als ver-loren war . . . Einsmals, als der Streit über die Grundrissenicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war - einsmalsum Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter:Feuer 1 Feuer in dem Palaste! . . . Da fuhr jeder von seinemLager auf; und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem Palaste,sondern in seinem eigenen Hause, lief nach dem Kostbarstenwas er zu haben glaubte - nach seinem Grundrisse. Laßt unsden nur retten! dachte jeder. Der Palast kann dort nichteigentlicher verbrennen, als er hier steht! . . . Über diese ge-schäftigen Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennenkönnen, der Palast, wenn er gebrannt hätte. - Aber die er-schrockenen Wächter hatten ein Nordlicht für eine Feuers-brunst gehalten.« Es bedürfte bloß der geringsten Akzent-verschiebungen, um aus der Geschichte, einem Bindegliedzwischen Pascal und Kierkegaards Diapsalmata ad me ip-sum, eine von Kafka zu machen. Er hätte nur die bizarrenund monströsen Züge des Baus auf Kosten seiner Zweck-

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mäßigkeit stärker hervorzuheben, nur den Satz, der Palastkönnte nicht eigentlicher verbrennen, als er im Grundrißsteht, als Bescheid einer jener Kanzleien vorzubringen brau-chen, deren einziger Rechtsgrundsatz ohnehin quod non estin actis non est in mundo lautet, und es wäre aus der Apolo-gie der Religion gegen ihre verknöcherte Auslegung dieDenunziation der numinosen Macht selber durchs Mediumihrer eigenen Auslegung geworden. Die Verdunkelung, dasAbbrechen der parabolischen Intention sind Konsequenzender Aufklärung. Je mehr Objektives sie auf den Menschenreduziert, desto trostloser, undurchdringlicher liegen dieUmrisse des bloß Seienden vor ihm, das er nie vollends inSubjektivität aufzulösen vermag und aus dem er doch dasVertraute heraussaugte. Kafka reagiert im Geiste der Auf-klärung auf deren Rückschlag in Mythologie. Man hat ihnoft mit der Kabbala verglichen. Mit welchem Recht, könneneinzig die der Texte Kundigen entscheiden. Wenn aber in derTat die jüdische Mystik in ihrer späten Phase in Aufklärungverschwindet, dann ist Einsicht geboten in die Affinität desspäten Aufklärers Kafka zur antinomistischen Mystik.

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Antinomistisch ist Kafkas Theologie - wenn anders voneiner solchen die Rede sein kann - gegenüber demselbenGott, dessen Begriff Lessing gegen die Orthodoxie verfocht,dem der Aufklärung. Das ist aber ein deus absconditus. Kafkawird zum Ankläger der dialektischen Theologie, der manihn irrig zurechnet. Ihr schlechterdings Verschiedenes kon-vergiert mit den mythischen Mächten. Der völlig abstrakte,unbestimmte, von allen anthropomorph-mythologischenQualitäten gereinigte Gott verwandelt sich in den schicksal-haft vieldeutigen und drohenden, der nichts erweckt alsAngst und Schauer. Seine »Reinheit«, dem Geiste nachge-schaffen, den bei Kafka die expressionistische Innerlichkeitals absolute aufrichtet, stellt im Entsetzen vorm radikal Un-bekannten das uralte der naturbefangenen Menschheit wie-der her. Kafkas Werk hält den Schlag der Stunde fest, da dergereinigte Glaube als unreiner, die Entmythologisierung als

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Dämonologie sich enthüllt. Aufklärer jedoch bleibt er imVersuch, den Mythos, der dergestalt hervortritt, zu rekti-fizieren, den Prozeß gegen ihn gleichwie vor einer Revi-sionskammer nochmals anzustrengen. Die Variationen vonMythen, die in seinem Nachlaß sich gefunden haben, bezeu-gen sein Bemühen um solche Korrektur. Der Prozeßromanselber ist der Prozeß über den Prozeß. Als Kritiker, nichtals Erbe hat er Motive aus Kierkegaards Furcht und Zitternverwandt. In Kafkas Eingaben an den, welchen es betreffenmag, wird das Gericht über den Menschen beschrieben, umdas Recht zu überführen. Am mythischen Charakter desletzteren hat er keinen Zweifel gelassen. Eine Stelle im Pro-zeß handelt von der Göttin der Gerechtigkeit, des Kriegesund der Jagd als Einer. Kierkegaards Lehre von der objek-tiven Verzweiflung greift auf die absolute Innerlichkeit selbstüber. Absolute Entfremdung, preisgegeben dem Dasein,von dem sie sich abgezogen hat, wird als die Hölle durch-forscht, die sie an sich schon, ohne es zu wissen, bei Kierke-gaard war. Als Hölle aus der Perspektive der Erlösung.Kafkas künstlerische Verfremdung, das Mittel, die objek-tive Entfremdung sichtbar zu machen, empfängt ihre Legi-timation aus dem Gehalt. Sein Werk fingiert einen Ort, vondem her die Schöpfung so durchfurcht und beschädigt er-scheint, wie nach ihren eigenen Begriffen die Hölle seinmüßte. Im Mittelalter hat man Folter und Todesstrafe anden Juden »verkehrt« vollzogen; schon an der berühmtenStelle des Tacitus wird ihre Religion als verkehrt angepran-gert. Delinquenten wurden mit dem Kopf nach unten auf-gehängt. So wie diesen Opfern in den endlosen Stundenihres Sterbens die Erdoberfläche muß ausgesehen haben,wird sie vom Landvermesser Kafka photographiert. Nichtum Geringeres als um solche ungemilderte Qual bietet ihmdie Optik des Heils sich dar. Seine Einreihung unter diePessimisten, die Existentialisten der Verzweiflung ist ver-fehlt wie die unter die Heilslehrer. Nietzsches Verdikt überdie Worte Optimismus und Pessimismus hat er geehrt. DieLichtquelle, welche die Schrunde der Welt als höllisch auf-glühen läßt, ist die optimale. Aber was der dialektischenTheologie Licht und Schatten war, wird vertauscht. Nichtwendet das Absolute dem bedingten Geschöpf seine ab-

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surde Seite zu - eine Doktrin, die schon bei Kierkegaard zuÄrgerem führt als bloß der Paradoxie und die bei Kafka aufdie Inthronisierung des Wahns hinausliefe. Sondern dieWelt wird als so absurd enthüllt, wie sie dem intellectusarchetypus wäre. Das mittlere Reich des Bedingten wird in-fernalisch unter den künstlichen Engelsaugen. So weitspannt Kafka den Expressionismus. Das Subjekt objekti-viert sich, indem es das letzte Einverständnis aufkündigt.Dem freilich widerspricht scheinbar, was an Lehre aus Kafkaherauszulesen ist, ebenso wie die Berichte vom byzantini-schen Respekt, den er als Person absonderlichen Mächtenskurril zollte. Aber die oft bemerkte Ironie dieser Züge rech-net selbst zu dem Lehrgehalt. Nicht Demut hat Kafka ge-predigt, sondern die erprobteste Verhaltensweise wider denMythos empfohlen, die List. Ihm ist die einzige, schwächste,geringste Möglichkeit dessen, daß die Welt doch nicht rechtbehalte, die, ihr recht zu geben. Wie der Jüngste im Mär-chen soll man ganz unscheinbar, klein, zum wehrlosen Opfersich machen, nicht auf dem eigenen Recht bestehen nach derSitte der Welt, der des Tausches, welcher ohne Unterlaß dasUnrecht reproduziert. Kafkas Humor wünscht die Versöh-nung des Mythos durch eine Art von Mimikry. Auch darinfolgt er jener Tradition von Aufklärung, die vom homeri-schen Mythos bis Hegel und Marx reicht, bei denen diespontane Tat, der Akt der Freiheit, gleichkommt dem Voll-zug der objektiven Tendenz. Seitdem aber ist die lastendeSchwere des Daseins außer allem Verhältnis zum Subjektangewachsen und mit ihr die Unwahrheit der abstraktenUtopie. Wie vor Jahrtausenden wird von Kafka Rettung ge-sucht bei der Einverleibung der Kraft des Gegners. DerBann von Verdinglichung soll gebrochen werden, indem dasSubjekt sich selbst verdinglicht. Was ihm widerfährt, soll esvollziehen. »Zum letztenmal Psychologie« - Kafkas Figurenwerden angewiesen, ihre Seele in der Garderobe zurückzu-lassen, in einem Augenblick des gesellschaftlichen Kampfes,in dem die einzige Chance des bürgerlichen Individuums beider Negation seiner eigenen Zusammensetzung steht undder der Klassenlage, die es zu dem verdammt hat, was es ist.Gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mitden Deserteuren. Anstelle der Menschenwürde, des obersten

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bürgerlichen Begriffs, tritt bei ihm das heilsame Eingeden-ken der Tierähnlichkeit, von der eine ganze Schicht seinerErzählungen zehrt. Die Versenkung in den Innenraum derIndividuation, die in solcher Selbstbesinnung sich vollendet,stößt aufs Prinzip der Individuation, jenes sich selbst Setzen,das die Philosophie sanktionierte, den mythischen Trotz.Wiedergutmachung wird gesucht, indem das Subjekt ihnfahren läßt. Kafka verherrlicht nicht die Welt durch Unter-ordnung, er widerstrebt ihr durch Gewaltlosigkeit. Vor die-ser muß die Macht sich als das bekennen, was sie ist, unddarauf allein baut er. Dem eigenen Spiegelbild soll der My-thos erliegen. Schuldig werden die Helden von Prozeß undSchloß nicht durch ihre Schuld - sie haben keine -, sondernweil sie versuchen, das Recht auf ihre Seite zu bringen. »DieErbsünde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat,besteht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und vondem er nicht abläßt, daß ihm Unrecht geschehen ist, daß anihm die Erbsünde begangen wurde.« Darum haben ihreklugen Reden, zumal die des Landvermessers, ein Törichtes,Tölpelhaftes, Naives: ihre gesunde Vernunft verstärkt dieVerblendung, gegen welche sie aufbegehrt. Kafka will durchdie Verdinglichung des Subjekts, die ohnehin von der Weltverlangt wird, diese womöglich noch überbieten: Toten-haftes wird zur Botschaft der sabbatischen Ruhe. Das istdie Kehrseite der Kafkaschen Lehre vom mißlingendenTod: daß die beschädigte Schöpfung nicht mehr sterbenkann das einzige Versprechen von Unsterblichkeit, das derAufklärer Kafka nicht mit dem Bilderverbot ahndet. Esknüpft sich an die Rettung der Dinge; derer, die nicht län-ger in den Schuldzusammenhang verflochten, die untausch-bar, unnütz sind. Auf sie hat es die innerste Bedeutungs-schicht des Obsoleten bei ihm abgesehen. Seine Ideenweltgleicht - wie im Naturtheater von Oklahoma - einer vonLadenhütern: kein Theologumenon könnte ihm näher kom-men als der Titel eines amerikanischen Filmlustspiels: Shop-worn Angel. Während in den Interieurs, in denen Menschenwohnen, das Unheil haust, sind Schlupfwinkel der Kindheit,verlassene Stätten wie das Treppenhaus, solche der Hoff-nung. Die Auferstehung der Toten müßte auf dem Auto-friedhof stattfinden. Die Schuldlosigkeit des Unnützen setzt

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den Kontrapunkt zum Parasitären: »Müßiggang aller LasterAnfang, aller Tugenden Krönung.« Nach dem Zeugnis vonKafkas Werk befördert in der verstrickten Welt jeglichesPositive, jeglicher Beitrag, fast könnte man denken, die Ar-beit selbst, die das Leben reproduziert, bloß die Verstrik-kung. »Das Negative zu tun, ist uns noch auferlegt: das Po-sitive ist uns schon gegeben.« Heilmittel gegen die halbeNutzlosigkeit des Lebens, das da nicht lebt, wäre einzig dieganze. So verbrüdert sich Kafka mit dem Tode. Die Schöp-fung gewinnt den Vorrang übers Lebendige. Das Selbst, dieinnerste Position des Mythos, wird zertrümmert, verworfender Trug bloßer Natur. »Der Künstler wartete, bis K. sichberuhigt hatte, und entschloß sich dann, da er keinen andernAusweg fand, dennoch zum Weiterschreiben. Der erstekleine Strich, den er machte, war für K. eine Erlösung, derKünstler brachte ihn aber offenbar nur mit dem äußerstenWiderstreben zustande; die Schrift war auch nicht mehr soschön, vor allem schien es an Gold zu fehlen, blaß und un-sicher zog sich der Strich hin, nur sehr groß wurde derBuchstabe. Es war ein J, fast war es schon beendet, dastampfte der Künstler wütend mit einem Fuß in den Grab-hügel hinein, daß die Erde ringsum in die Höhe flog. End-lich verstand ihn K.: ihn abzubitten war keine Zeit mehr;mit allen Fingern grub er in die Erde, die fast keinen Wider-stand leistete; alles schien vorbereitet; nur zum Schein wareine dünne Erdkruste aufgerichtet; gleich hinter ihr öffnetesich mit abschüssigen Wänden ein großes Loch, in das K.,von einer sanften Strömung auf den Rücken gedreht, ver-sank. Während er aber unten, den Kopf im Genick nochaufgerichtet, schon von der undurchdringlichen Tiefe aufge-nommen wurde, jagte oben sein Name mit mächtigen Zie-raten über den Stein. Entzückt von diesem Anblick er-wachte er.« Der Name allein, der offenbar wird durch dennatürlichen Tod, nicht die lebendige Seele steht ein fürsunsterbliche Teil.

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