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 7.578 GS 10.1, 123 Zeitlose Mode. Zum Jazz Zeitlose Mode Zum Jazz 1 Über mehr als vierzig Jahre, seit 1914 in Amerika die ansteckende Begeisterung für den Jazz ausbrach, hat dieser als Massenphänomen sich behauptet. Die Pro- zedur, deren Vorgeschichte bis auf gewisse Liedchen wie ›Turkey in the Straw‹ und ›Old Zip Coon‹ aus der ersten Hälfte des neunze hnten Jahrhun derts zurückda- tiert, blieb im wesentlichen, allen Erklärungen propa- gandistischer Historiker zum Trotz, unverändert. Jazz is t Mu si k, die be i si mp el st er me lo disc he r, harmo- nischer, metrischer und formaler Struktur prinzipiell den musikalischen Verlauf aus gleichsam störenden Synkopen zusammenfügt, ohne daß je an die sture Einheit des Grundrhy thmus, die identisch durchge hal- tenen Zählzeiten, die Viertel gerührt würde. Das will nicht heißen, es sei im Jazz nichts geschehen. So wurde das einfarbige Klavier aus der Vorherrschaft, die es im Ragtime innehatte, von kleinen Ensembles, meist Bläsern, verdrängt; so haben die wild sich ge- bärdenden Praktiken der frühen Jazzbands aus dem Süden, vor allem Ne w Orlea ns, und aus Chica o sich  Theoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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Zeitlose Mode

Zum Jazz

1

Über mehr als vierzig Jahre, seit 1914 in Amerika dieansteckende Begeisterung für den Jazz ausbrach, hatdieser als Massenphänomen sich behauptet. Die Pro-zedur, deren Vorgeschichte bis auf gewisse Liedchenwie ›Turkey in the Straw‹ und ›Old Zip Coon‹ aus der

ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zurückda-tiert, blieb im wesentlichen, allen Erklärungen propa-gandistischer Historiker zum Trotz, unverändert. Jazzist Musik, die bei simpelster melodischer, harmo-nischer, metrischer und formaler Struktur prinzipiellden musikalischen Verlauf aus gleichsam störendenSynkopen zusammenfügt, ohne daß je an die stureEinheit des Grundrhythmus, die identisch durchgehal-tenen Zählzeiten, die Viertel gerührt würde. Das willnicht heißen, es sei im Jazz nichts geschehen. Sowurde das einfarbige Klavier aus der Vorherrschaft,

die es im Ragtime innehatte, von kleinen Ensembles,meist Bläsern, verdrängt; so haben die wild sich ge-bärdenden Praktiken der frühen Jazzbands aus demSüden, vor allem New Orleans, und aus Chica o sichheoder W. Adorno: Gesammelte Schriften

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mit zunehmender Kommerzialisierung und breitererRezeption gemildert, um stets in fachmännischen Ver-

suchen wieder belebt zu werden, die dann aber regel-mäßig, mochten sie Swing oder Bebop heißen, aber-mals dem Geschäft verfielen und rasch ihre Schärfeverloren. Vollends ist das Prinzip selbst, das sich zuAnfang übertreibend hervorheben mußte, mittlerweile

so selbstverständlich geworden, daß es jener Akzenteauf den schlechten Taktteilen entraten kann, derenman früher bedurfte. Wer heute noch mit solchen Ak-zenten musizierte, würde als corny verspottet, altmo-disch wie Abendkleider von 1927. Widerspenstigkeit

hat sich in Glätte zweiten Grades verwandelt, die Re-aktionsform des Jazz derart sich niedergeschlagen,daß eine ganze Jugend primär in Synkopen hört undden ursprünglichen Konflikt zwischen diesen und demGrundmetron kaum mehr austrägt. All das ändert abernichts an einer Immergleichheit, die das Rätsel auf-

gibt, wieso Millionen von Menschen des monotonenReizes immer noch nicht überdrüssig sind. Der heuteals Kunstredakteur des Magazins ›Life‹ weltbekannteWinthrop Sargeant, dem das beste, zuverlässigste undbesonnenste Buch über den Gegenstand zu danken ist,

schrieb vor siebzehn Jahren, daß der Jazz keineswegsein neues musikalisches Idiom, sondern »noch in sei-nen komplexesten Erscheinungen eine sehr einfacheAngelegenheit unablässig wiederholter Formeln«[99]

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sei. So unbefangen läßt sich das wohl nur in Amerikawahrnehmen: in Europa, wo der Jazz noch nicht zur

alltäglichen Einrichtung wurde, neigen zumal jeneGläubigen, die ihn weltanschaulich betreiben, dazu,ihn als Durchbruch ursprünglicher und ungebändigterNatur, als Triumph über die musealen Kulturgütermißzuverstehen. So wenig aber Zweifel an den afrika-

nischen Elementen des Jazz sein kann, so wenig auchdaran, daß alles Ungebärdige in ihm von Anfang an inein striktes Schema eingepaßt war und daß dem Ge-stus der Rebellion die Bereitschaft zu blindem Parie-ren derart sich gesellte und immer noch gesellt, wie es

die analytische Psychologie vom sadomasochistischenTypus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt unddennoch insgeheim sie bewundert, ihr es gleichtunmöchte und die verhaßte Unterordnung wiederum ge-nießt. Eben diese Tendenz leistete der Standardisie-rung, kommerziellen Ausschlachtung und Erstarrung

des Mediums Vorschub. Nicht etwa haben erst böseGeschäftsleute von außen der Stimme der Natur einLeids getan, sondern der Jazz besorgt es selber undzieht durch die eigenen Gebräuche den Mißbrauchherbei, über den dann die Puristen des unverwässerten

reinen Jazz sich entrüsten. Schon die Negro Spiritu-als, Vorformen des Blues, mögen als Sklavenmusikdie Klage über die Unfreiheit mit deren unterwürfigerBestätigung verbunden haben. Übrigens fällt es

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schwer, die authentischen Negerelemente des Jazz zuisolieren. Das weiße Lumpenproletariat hatte offenbar

ebenfalls an seiner Vorgeschichte teil, ehe er insScheinwerferlicht einer Gesellschaft gerückt ward, dieauf ihn zu warten schien, mit seinen Impulsen durchCake-walk und Steptänze längst vertraut.

Gerade der schmale Vorrat an Verfahrungsweisen

und Eigentümlichkeiten jedoch, der rigorose Aus-schluß jeglichen unreglementierten Ansatzes, machtdie Beharrlichkeit einer nur notdürftig und meist zuReklamezwecken mit Änderungen ausstaffierten Spe-zialität so schwer verständlich. Während der Jazz in-

mitten einer sonst nicht eben statischen Phase sich füreine kleine Ewigkeit eingerichtet hat und nicht diemindeste Bereitschaft zeigt, von seinem Monopoletwas nachzulassen, sondern einzig die, sich je nach-dem hochtrainierten oder undifferenziert rückständi-gen Hörern anzupassen, hat er doch vom Charakter

der Mode nichts eingebüßt. Was da vierzig Jahre langveranstaltet wird, ist so ephemer, als währte es eineSaison. Jazz ist eine Manier der Interpretation. Wiebei Moden geht es um Aufmachung und nicht um dieSache; leichte Musik, die ödesten Produkte der Schla-

gerindustrie werden frisiert, nicht etwa Jazz als sol-cher komponiert. Die Fanatiker – amerikanisch nen-nen sie sich abgekürzt fans –, die das wohl spüren,berufen sich deshalb mit Vorliebe auf die improvisa-

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torischen Züge der Darbietung. Aber das sind Flau-sen. Jeder gewitzigte Halbwüchsige in Amerika weiß,

daß die Routine heutzutage der Improvisation kaummehr Raum läßt und daß, was auftritt, als wäre esspontan, sorgfältig, mit maschineller Präzision einstu-diert ist. Selbst dort aber, wo einmal wirklich impro-visiert ward, und in den oppositionellen Ensembles,

die vielleicht heute noch auf dergleichen zu ihremVergnügen sich einlassen, bleiben die Schlager daseinzige Material. Daher reduzieren sich die sogenann-ten Improvisationen auf mehr oder minder schwächli-che Umschreibungen der Grundformeln, unter deren

Hülle das Schema in jedem Augenblick hervorlugt.Noch die Improvisationen sind in weitem Maß ge-normt und kehren stets wieder. Was im Jazz über-haupt vorkommen darf, ist so beschränkt wie irgend-ein besonderer Schnitt von Kleidern. Angesichts derFülle der Möglichkeiten, musikalisches Material

selbst in der Unterhaltungssphäre, falls es derendurchaus bedarf, zu erfinden und zu behandeln, zeigtder Jazz sich völlig verarmt. Was er von den verfüg-baren musikalischen Techniken anwendet, ist ganzwillkürlich. Allein das Verbot, die Grundzählzeit mit

dem Fortgang eines Stückes lebendig abzuwandeln,engt das Musizieren derart ein, daß ihm eifrig zu will-fahren eher psychologische Regression als ästheti-sches Stilbewußtsein erheischt. Nicht minder fesseln

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die Restriktionen metrischer, harmonischer, formalerArt. Die Immergleichheit des Jazz besteht insgesamt

nicht in einer tragenden Organisation des Materials,in der wie in einer artikulierten Sprache Phantasie freiund ungehemmt sich regen könnte, sondern in der Er-hebung einiger definierter Tricks, Formeln und Cli-chés zur Ausschließlichkeit. Es ist, als klammere man

sich krampfhaft an den Reiz des en vogue und ver-leugne den Ausdruck des Bildes einer Jahreszahl,indem man das Kalenderblatt abzureißen sich weigert.Mode selbst inthronisiert sich als Bleibendes undbüßt eben darüber die Würde der Mode ein, die ihrer

Vergänglichkeit.

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Um zu verstehen, warum ein paar Rezepte eine ganzeSphäre umschreiben, als ob es nichts anderes gäbe,wird man von all den Phrasen über Vitalität undRhythmus der Zeit sich freimachen müssen, welche

die Reklame, ihr journalistischer Anhang und schließ-lich auch die Opfer herbeten. Gerade rhythmisch ist,womit der Jazz aufwartet, äußerst bescheiden. Dieernste Musik seit Brahms hatte alles, was am Jazzetwa auffällt, längst aus sich heraus hervorgebracht,

ohne dabei zu verweilen. Vollends fragwürdig ist esum die Vitalität eines noch in den Abweichungenstandardisierten Fließbandverfahrens bestellt. DieJazzideologen zumal in Europa begehen den Fehler,eine Summe psychotechnisch kalkulierter und auspro-bierter Effekte für den Ausdruck jener Seelenlage zuhalten, deren Trugbild von dem Betrieb im Hörer er-weckt wird, etwa wie wenn man jene Filmstars, derenebenmäßige oder leidvolle Gesichter nach irgendwel-chen Porträts berühmter Leute stilisiert sind, ebendarum für Wesen wie Lucrezia Borgia oder die Lady

Hamilton hielte, falls nicht gar diese selber schon ihreeigenen Mannequins gewesen sein sollten. Was en-thusiastisch verstockte Unschuld als Urwald ansieht,ist durch und durch Fabrikware, selbst dort noch, wo

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in Sonderveranstaltungen Spontaneität als Sparte desGeschäfts ausgestellt wird. Die paradoxe Unsterblich-

keit des Jazz gründet in der Ökonomie. Die Konkur-renz des Kulturmarkts hat eine Anzahl von Zügen,wie Synkopierung, halb vokalen, halb instrumentalenKlang, gleitende impressionistische Harmonik, üppi-ge Instrumentation nach dem Grundsatz »Bei uns

wird nicht gespart«, als besonders erfolgreich erwie-sen. Diese sind dann aussortiert und kaleidoskopischzu immer neuen Kombinationen zusammengesetztworden, ohne daß zwischen dem Schema des Ganzenund den kaum minder schematischen Details je auch

nur die leiseste Wechselwirkung stattgehabt hätte.Die Resultate der Konkurrenz, die vielleicht selberschon nicht so frei war, sind allein übriggelassen wor-den, das ganze Verfahren eingeschliffen, insbesonderewohl durchs Radio. Die Investitionen, die in denname bands, den durch wissenschaftlich gelenkte Pro-

paganda berühmten Jazzorchestern stecken, und wohlmehr noch das Geld, das die Firmen, welche Radio-zeit für Reklamezwecke kaufen, für musikalischebest-seller-Programme wie die hit parade aufwenden,machen jede Divergenz zum Risiko. Darüber hinaus

bedeutet die Standardisierung immer festere Dauer-herrschaft über die Hörermassen und ihre conditionedreflexes. Man erwartet, daß sie einzig das verlangen,woran sie gewöhnt sind, und in Wut geraten, wenn

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etwas die Ansprüche enttäuscht, deren Erfüllungihnen als Menschenrecht des Kunden gilt. Würde der

Versuch, mit etwas anders Geartetem durchzudringen,in der leichten Musik überhaupt noch gewagt, so wäreer durch die ökonomische Konzentration vorweg hoff-nungslos.

In der Unüberwindlichkeit eines der eigenen Art

nach Zufälligen und Willkürlichen spiegelt sich etwasvon der Willkür gegenwärtiger sozialer Kontrolle. Jevollständiger die Kulturindustrie Abweichungen aus-merzt und damit die Entwicklungsmöglichkeiten deseigenen Mediums beschneidet, um so mehr nähert

sich der lärmend dynamische Betrieb der Statik an.Wie kein Jazzstück, im musikalischen Sinn, Ge-schichte kennt; wie alle seine Bestandteile umzumon-tieren sind, und wie kein Takt aus der Logik des Fort-gangs folgt, so wird die zeitlose Mode zum Gleichniseiner planmäßig eingefrorenen Gesellschaft, gar nicht

so unähnlich dem Schreckbild aus Huxleys ›BraveNew World‹. Ökonomen mögen erwägen, ob darineine Tendenz der überakkumulierenden Gesellschaftzur Rückbildung aufs Stadium der einfachen Repro-duktion von der Ideologie sei's ausgedrückt, sei's ge-

troffen ist. Die Befürchtung, die der am Ende gründ-lich enttäuschte Thorstein Veblen in seinen Spät-schriften hegt: daß das wirtschaftliche und gesell-schaftliche Kräftespiel in einem negativ-geschichtslo-

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sen hierarchischen Zustand, einer Art potenziertemFeudalsystem stillgelegt werde, hat zwar wenig Wahr-

scheinlichkeit für sich, wohnt jedoch dem Jazz alsdessen Wunschbild inne. Die imago der technischenWelt enthält ohnehin ein Geschichtsloses, das sie zummythischen Blendwerk von Ewigkeit tauglich macht.Die geplante Produktion scheint dem Lebensprozeß,

aus dem sie das Ungelenkte, nicht Absehbare undnicht Vorausberechnete ausscheidet, damit das eigent-lich Neue zu entziehen, ohne das Geschichte schwergedacht werden kann, und die Form des standardisier-ten Massenprodukts teilt auch dem zeitlich aufeinan-

der Folgenden etwas vom Ausdruck der Immergleich-heit mit. An einer Lokomotive von 1950 wirkt para-dox, daß sie anders ist als eine von 1850: darum wer-den die modernsten Schnellzüge angelegentlich mitPhotographien altertümlicher dekoriert. Seit Apolli-naire haben die Surrealisten, die manches mit dem

Jazz verbindet, auf diese Erfahrungsschicht angespro-chen: »Ici même les automobiles ont l'air d'être an-ciennes«. Bewußtlos sind Spuren dessen in die zeitlo-se Mode eingegangen; der Jazz, der sich nicht um-sonst mit der Technik solidarisiert, wirkt als streng

wiederholte, doch gegenstandslose Kulthandlung mitam »technologischen Schleier« und täuscht vor, daszwanzigste Jahrhundert wäre ein Ägypten von Skla-ven und endlosen Dynastien. Täuscht vor: denn wäh-

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rend die Technik nach dem Modell des einförmigkreisenden Rades symbolisiert wird, entfalten sich

ihre eigenen Kräfte ins Ungemessene, und sie ist voneiner Gesellschaft umklammert, deren Spannungenweitertreiben, deren Irrationalität fortbesteht und dieden Menschen mehr an Geschichte angedeihen läßt,als ihnen lieb ist. Zeitlosigkeit wird auf die Technik

von einer Weltverfassung projiziert, die sich nichtmehr verändern möchte, um nicht zu stürzen. Die fal-sche Unvergänglichkeit jedoch wird Lügen gestraftvon dem schlecht Zufälligen und Minderen, das sichals allgemeines Prinzip einrichtet. Die Herren der tau-

sendjährigen Reiche von heutzutage sehen wie Ver-brecher aus, und die perennierende Gebärde der Mas-senkultur ist die Asozialer. Daß gerade dem Synko-pentrick die musikalische Diktatur über die Massenzufiel, mahnt an Usurpation, die bei aller Rationalitätder Mittel im Endzweck irrationale totalitäre Kontrol-

le. Im Jazz liegen Mechanismen, welche in Wahrheitder gesamten gegenwärtigen Ideologie, aller Kulturin-dustrie angehören, sichtbar obenauf, weil sie ohnetechnische Kenntnis nicht ebenso leicht sich festna-geln lassen wie etwa im Film. Doch auch der Jazz

trifft seine Vorsichtsmaßnahmen. Parallel zur Stan-dardisierung läuft Pseudoindividualisierung. Je mehrdie Hörer an die Kandare genommen werden, destoweniger dürfen sie es merken. Es wird ihnen weisge-

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macht, sie hätten es mit einer ihnen auf den Leib ge-schnittenen »Konsumentenkunst« zu tun. Die spezifi-

schen Effekte, mit denen der Jazz sein Schema aus-füllt, insbesondere die Synkopierung selber, präsen-tieren sich jeweils als Ausbruch oder Karikatur uner-faßter Subjektivität – virtuell der des Zuhörers – oderauch als pikfeine Nuance zu dessen höherer Ehre. Nur

fängt sich die Methode im eigenen Netz. Während sieunablässig dem Hörer etwas Apartes versprechen,seine Aufmerksamkeit anstacheln, vom grauen Einer-lei sich abheben muß, darf sie doch andererseits selbstnie den abgesteckten Bannkreis überschreiten; sie

muß immer neu und immer dasselbe sein. Daher sinddie Abweichungen ebenso standardisiert wie die Stan-dards und nehmen sich im gleichen Augenblick zu-rück, in dem sie auftreten: der Jazz, wie alle Kulturin-dustrie, erfüllt Wünsche nur, um sie zugleich zu ver-sagen. So sehr das Jazz-Subjekt, der Stellvertreter des

Hörers in der Musik, sich als Sonderling aufführt, sowenig ist es doch es selber. Die individuellen Züge,die mit der Norm nicht übereinstimmen, sind von die-ser geprägt, Male der Verstümmlung. Voll Angstidentifiziert es sich mit der Gesellschaft, die es fürch-

tet, weil sie es zu dem machte, was es ist. Das verleihtdem Jazzritual den affirmativen Charakter: den derAufnahme in die Gemeinde unfreier Gleicher. In derenZeichen kann der Jazz mit teuflisch gutem Gewissen

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sich auf die Hörermassen selbst berufen. Standardver-fahren, die unbestritten herrschen und über sehr lange

Zeiträume gehandhabt werden, bringen Standardreak-tionen hervor. Viel zu harmlos wäre die Ansicht, esließe bei geänderter Programmpolitik, wie sie wohl-meinenden Erziehern vorschwebt, den vergewaltigtenMenschen etwas Besseres oder auch nur Abwechs-

lung sich aufdrängen. Ernsthafte Änderungen der Pro-grammpolitik würden, sofern sie nicht über den ideo-logischen Bereich der Kulturindustrie weit hinausgrif-fen, in der Tat entrüstet abgelehnt. Die Bevölkerungist so an den Unfug gewöhnt, der ihr widerfährt, daß

sie selbst dann nicht auf ihn verzichten mag, wenn sieihn halb durchschaut; im Gegenteil, sie muß die eige-ne Begeisterung andrehen, um sich die Schmach alsGunst einzureden. Der Jazz entwirft Schemata einesgesellschaftlichen Verhaltens, zu dem die Menschenohnehin genötigt sind. An ihm exerzieren sie jene

Verhaltensweisen und lieben ihn obendrein, weil erihnen das Unvermeidliche leichter macht. Er reprodu-ziert seine eigene Massenbasis, ohne daß doch darumdie weniger schuld wären, die ihn hervorbringen. DieEwigkeit der Mode ist ein circulus vitiosus.

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Die Anhänger des Jazz gliedern sich, wie erneut vonDavid Riesman nachdrücklich hervorgehobenwurde[100], in zwei recht deutlich getrennte Gruppen.Im Innern hausen die Experten oder solche, die sich

dafür halten – denn sehr oft sind die Fanatiker, diemit einer selbst bereits lancierten Terminologie umsich werfen und mit gewichtigem Anspruch Jazzstileunterscheiden, kaum fähig, in präzisen, technisch-mu-sikalischen Begriffen Rechenschaft von dem zu

geben, wovon sie hingerissen sein wollen. Meist hal-ten sie sich, in einer Konfusion, die heute allenthalbenzu beobachten ist, für avantgardistisch. Unter denSymptomen des Zerfalls von Bildung ist nicht dasletzte, daß der wie sehr auch fragwürdige Unterschiedvon autonomer »hoher« und kommerzieller »leichter«Kunst zwar nicht kritisch durchschaut, dafür aberüberhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Nachdemeinige kulturdefaitistische Intellektuelle diese gegen jene ausspielten, haben die banausischen Championsder Kulturindustrie auch noch die stolze Zuversicht,

an der Spitze des Zeitgeistes zu marschieren. Diemittlerweile selber nach dem Schema lowbrow,middlebrow und highbrow für Hörer erster, zweiterund dritter Programme organisierte Scheidung von

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»Kulturniveaus« ist widerwärtig. Aber sie läßt sichnicht dadurch überwinden, daß sich lowbrow-Sekten

zu highbrows erklären. Das berechtigte Unbehagen ander Kultur bietet den Vorwand, aber keinen Grunddafür, eine hochrationalisierte Sparte der Massenpro-duktion, die jene Kultur erniedrigt und ausverkauft,ohne im mindesten sie zu transzendieren, als Auf-

bruch eines neuen Weltgefühls zu verherrlichen undmit dem Kubismus, der Lyrik von Eliot und der Prosavon Joyce durcheinanderzubringen. Regression istnicht Ursprung, aber dieser die Ideologie für jene.Wer sich von der anwachsenden Respektabilität der

Massenkultur dazu verführen läßt, einen Schlager fürmoderne Kunst zu halten, weil eine Klarinette falscheTöne quäkt, und einen mit dirty notes versetzten Drei-klang für atonal, hat schon vor der Barbarei kapitu-liert. Die zur Kultur herabgesunkene Kultur wird vonder Strafe ereilt, daß man sie, je mehr sie ihr Unwesen

ausbreitet, um so hilfloser mit ihren eigenen Abfall-produkten verwechselt. Selbstbewußtes Analphabe-tentum, dem der Stumpfsinn des tolerierten Exzessesfürs Reich der Freiheit gilt, zahlt dem Bildungsprivi-leg heim. In schwächlicher Rebellion sind sie schon

wieder bereit zu ducken, ganz so wie der Jazz esihnen vormacht, indem er Stolpern und Zufrühkom-men mit dem kollektiven Marschschritt integriert.Auffällig ist eine gewisse Ähnlichkeit des Typus des

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Jazzenthusiasten mit manchen jugendlichen Adeptendes logischen Positivismus, die mit demselben Eifer

die philosophische Bildung abschütteln wie jene diemusikalische. Die Begeisterung ist auf Ernüchterungübergesprungen, die Affekte heften sich an eine Tech-nik, feindlich allem Sinn. Man fühlt sich geborgen ineinem System, das so wohl definiert ist, daß keine

Fehler unterlaufen können, und die verdrängte Sehn-sucht nach dem, was draußen wäre, äußert sich in un-duldsamem Haß und einer Miene, in der das Besser-wissen des Eingeweihten mit dem Anspruch des Illu-sionslosen sich paaren. Auftrumpfende Trivialität, das

Befangensein in der Oberfläche als zweifelsfreie Ge-wißheit, verklärt die feige Abwehr jeglicher Selbstbe-sinnung. All diese altgewohnten Reaktionsformenhaben neuerdings ihre Unschuld verloren, werfen sichals Philosophie auf und werden damit erst ganz böse.

Um die Sachverständigen einer Sache, an der es

wenig zu verstehen gibt außer Spielregeln, kristalli-sieren sich die unartikulierten, vagen Anhänger. Meistberauschen sie sich an dem Ruhm der Massenkultur,den diese manipuliert; sie können ebensogut sich inKlubs zur Verehrung von Filmstars zusammenfinden

oder Autogramme anderer Prominenzen sammeln.Ihnen kommt es auf die Hörigkeit als solche, auf Identifikation an, ohne daß sie viel Aufhebens vondem jeweiligen Inhalt machten. Sind es Mädchen, so

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haben sie sich geschult, bei der Stimme eines crooner,eines Jazzsängers, in Ohnmacht zu fallen. Ihr auf ein

Lichtsignal einschnappender Beifall wird bei populä-ren Radioprogrammen, deren Sendung sie beiwohnendürfen, gleich mit übertragen; sie nennen sich selbst jitterbugs, Käfer, die Reflexbewegungen ausführen,Schauspieler der eigenen Ekstase. Überhaupt von

etwas hingerissen sein, eine vermeintlich eigeneSache haben, entschädigt sie für ihr armes und bilder-loses Dasein. Der Gestus der Adoleszenz, entschlos-sen für diesen oder jenen von einem zum andern Tagzu »schwärmen«, mit der immer gegenwärtigen Mög-

lichkeit, morgen schon als Narrheit zu verdammen,was man heute eifernd anbetet, ist sozialisiert. Frei-lich wird in Europa leicht übersehen, daß die Jazzan-hänger dort keineswegs denen in Amerika gleichen.Das Exzessive, Unbotmäßige, das am Jazz in Europaimmer noch mitgefühlt wird, fehlt heute in Amerika.

Die Erinnerung an die anarchischen Ursprünge, dieder Jazz mit allen rezipierten Massenbewegungen derGegenwart teilt, ist gründlich verdrängt, wiewohl sieunterirdisch weitergeistern mag. Jazz als Institutionist vorgegeben, taken for granted, stubenrein und gut

gewaschen. Das Moment der Gefügigkeit im parodi-stischen Überschwang jedoch teilen die Jazzbegeister-ten aller Länder. Darin mahnt ihr Spiel an den tieri-schen Ernst von Gefolgschaften in totalitären Staaten,

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mag auch der Unterschied von Spiel und Ernst auf den von Leben und Tod hinauslaufen. Die Reklame

für irgendeinen Schlager, den eine berühmte nameband spielte, lautete: »Follow Your Leader, X.Y.«Während in europäischen Diktaturstaaten die Führerbeider Schattierungen wider die Dekadenz des Jazzeiferten, hatte die Jugend der anderen schon längst

sich von den synkopierten Gehtänzen, deren Kapellenicht umsonst von der Militärmusik abstammt, elek-trisieren lassen wie von Märschen. Die Zweiteilung inKerntruppen und unartikulierte Gefolgsleute hatetwas von der zwischen der Partei-Elite und den rest-

lichen Volksgenossen.

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Das Jazzmonopol beruht auf der Ausschließlichkeitdes Angebots und der ökonomischen Übermacht da-hinter. Aber es wäre längst gebrochen, enthielte nichtdie allgegenwärtige Spezialität ein Allgemeines, auf 

das die Menschen ansprechen. Der Jazz muß eine»Massenbasis« besitzen, die Technik muß an ein Mo-ment in den Subjekten anknüpfen, das freilich wiederauf die soziale Struktur und auf typische Konfliktezwischen Ich und Gesellschaft zurückverweist. Auf 

der Suche nach jenem Moment wird man zunächst anden Excentric-Clown denken oder Parallelen mit älte-ren Filmkomikern ziehen. Die Kundgabe individuellerSchwäche wird widerrufen, das Stolpern als eine Arthöherer Geschicklichkeit bestätigt. In der Integrationdes Asozialen berührt sich das Schema des Jazz mitdem ebenso standardisierten des Kriminalromans undseiner Ableger, wo regelmäßig die Welt so verzerrt –oder enthüllt – ist, als wäre das Asoziale, das Verbre-chen die alltägliche Norm, und wo man zugleichdurch den unvermeidlichen Sieg der Ordnung die lok-

kende und bedrohliche Anfechtung wegzaubert. Demallen wäre wohl einzig die psychoanalytische Theorieangemessen. Ziel des Jazz ist die mechanische Repro-duktion eines regressiven Moments, eine Kastrations-

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symbolik, die zu bedeuten scheint: gib den Anspruchdeiner Männlichkeit auf, laß dich kastrieren, wie der

eunuchenhafte Klang der Jazzband es verspottet undproklamiert, und du wirst dafür belohnt, in einenMännerbund aufgenommen, welcher das Geheimnisder Impotenz mit dir teilt, das im Augenblick des In-itiationsritus sich lüftet1. Daß diese Deutung des

Jazz, von dessen sexuellen Implikationen die schok-kierten Feinde eine bessere Vorstellung haben als dieApologeten, nicht willkürlich und zu weit hergeholtist, ließe an zahllosen Details der Musik wie derSchlagertexte sich belegen. In dem Buch ›American

Jazz Music‹ beschreibt Wilder Hobson einen frühenJazzkapellmeister namens Mike Riley, der als musi-kalischer Exzentrik wahre Verstümmelungen an denInstrumenten muß verübt haben. »The band squirtedwater and tore clothes, and Riley offered perhaps thegreatest of trombone comedy acts, an insane rendition

of Dinah during which he repeatedly dismembered thehorn and reassembled it erratically until the tubinghung down like brass furnishings in a junk shop, witha vaguely harmonic honk still sounding from one ormore of the loose ends.«[101] Längst zuvor hatte Vir-

gil Thomson die Leistungen des berühmten Jazztrom-peters Armstrong mit denen der großen Kastraten desachtzehnten Jahrhunderts verglichen. Für die ganzeSphäre steht der Sprachgebrauch ein, der zwischen

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long-haired und short-haired musicians unterscheidet.Die letzteren sind die Jazzleute, die Geld verdienen

und sich gepflegtes Aussehen leisten können; die an-dern, etwa der Karikatur des slawischen Pianisten mitder langen Mähne nachgebildet, fallen unter ein ge-ringschätziges Stereotyp des zugleich hungerleiden-den und über konventionelle Anforderungen sich frech

hinwegsetzenden Künstlers. Soweit der manifeste In-halt jenes Sprachgebrauchs. Wofür aber das abge-schnittene Haar einsteht, bedarf kaum der Erläute-rung. Im Jazz werden die Philister, die über Simsonsind, in Permanenz erklärt.

Wahrhaft die Philister. Denn während die Kastrati-onssymbolik tief vergraben ist im Vollzug des Jazz,durch die Institutionalisierung des Immergleichenvom Bewußtsein abgezogen, wenn auch vielleichtdarum um so mächtiger, laufen die Praktiken des Jazzsozial auf die fast bis in die Physiologie des Subjekts

hinein fortgesetzte Anerkennung einer traumlos-reali-stischen, von jeglicher Erinnerungsspur ans nichtganz Eingefangene gereinigten Welt hinaus. Manmuß, um die Massenbasis des Jazz zu begreifen, sichRechenschaft geben von dem Tabu, das in Amerika,

allem offiziellen Kunstbetrieb zum Trotz, über demkünstlerischen Ausdruck, sogar den Ausdrucksregun-gen von Kindern liegt – die progressive education, diesie zum freien Produzieren anhält, ja Ausdrucksfähig-

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keit zum Selbstzweck erklärt, ist einzig eine Reaktiondarauf. Während der Künstler teils toleriert, teils als

»Unterhalter«, als Funktionär in die Konsumsphäreeingeschaltet, wie ein höher bezahlter Oberkellner derForderung nach Diensten unterworfen wird, ist dasStereotyp des Künstlers zugleich das des Introvertier-ten, des egozentrischen Narren, vielfach des Homose-

xuellen. Mögen immer solche Eigenschaften den Be-rufskünstlern nachgesehen, mag selbst ein skanda-löses Privatleben als Teil der Unterhaltung von ihnenerwartet werden – jeder andere macht durch die spon-tane, nicht vorweg gesellschaftlich gesteuerte künstle-

rische Regung sich bereits verdächtig. Ein Kind, daslieber ernste Musik hört oder Klavier übt, als sich einBaseballspiel anzuschauen oder fernzusehen, wird inseiner Klasse oder in den anderen Gruppen, denen esangehört und die ihm weit mehr Autorität verkörpernals Eltern oder Lehrer, als sissy, als weibischer

Schwächling, zu leiden haben. Der Ausdrucksregungselber gilt bereits die gleiche Kastrationsdrohung, dieim Jazz symbolisiert und mechanischrituell bewältigtwird. Trotzdem jedoch ist gerade während der Ent-wicklungsjahre das Ausdrucksbedürfnis, das mit

Kunst ihrer objektiven Qualität nach gar nichts zu tunzu haben braucht, nicht ganz auszutreiben. Die Halb-wüchsigen sind noch nicht völlig vom Erwerbslebenund dessen seelischem Korrelat, dem »Realitätsprin-

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zip«, unterjocht. Ihre ästhetischen Impulse werdenvon der Unterdrückung nicht einfach ausgelöscht,

sondern abgelenkt. Der Jazz ist das bevorzugte Medi-um solcher Ablenkung. Den Massen der Jugendli-chen, die der zeitlosen Mode Jahr um Jahr zulaufen,vermutlich um sie nach ein paar Jahren zu vergessen,liefert er einen Kompromiß zwischen ästhetischer

Sublimierung und gesellschaftlicher Anpassung. Das»unrealistische«, praktisch unverwertbare, imagina-tive Element wird durchgelassen, soweit es im eige-nen Charakter derart sich verändert, daß es selber demRealbetrieb unermüdlich sich anähnelt, seine Gebote

in sich wiederholt, ihnen willfahrt und damit dem Be-reich wieder sich eingliedert, aus dem es ausbrechenwollte. Kunst wird entkunstet: sie tritt selber als einStück jener Anpassung auf, der ihr eigenes Prinzipwiderspricht. Von daher fällt Licht auf manche abson-derlichen Züge des Jazzverfahrens. So auf die Rolle

des Arrangements, die keineswegs bloß aus techni-scher Arbeitsteilung oder aus dem musikalischen Illi-teratentum der sogenannten Komponisten zulänglichsich erklärt. Nichts darf sein, was es an sich ist; allesmuß zurechtgestutzt werden, Spuren einer Zuberei-

tung tragen, die es, indem es dem schon Bekanntensich annähert, leichter auffaßbar machen, zugleichaber auch bezeugen, daß es bestimmt ist, dem Hörerzu Willen zu sein, ohne ihn zu idealisieren, und die

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schließlich es kenntlich machen als ein vom Gesamt-betrieb Gebilligtes, das keinerlei Distanz bean-

sprucht, sondern vorbehaltlos mitspielt: Musik, diesich nichts Besseres dünkt.

Ebenso gehorcht dem Primat der Anpassung diespezifische Art von Geschicklichkeit, welche der Jazzvon den Musikern und zu einigem Maß auch von den

Hörern, sicherlich von den Tänzern verlangt, welchedie Musik imitieren wollen. Ästhetische Technik, alsInbegriff der Mittel zur Objektivierung einer autono-men Sache, wird ersetzt durch die Fähigkeit, Hinder-nisse zu nehmen, sich nicht durch Störungsfaktoren

wie die Synkope irremachen zu lassen und dabei dochdie der abstrakten Spielregel unterstellte Sonderaktionschlau durchzuführen. Der ästhetische Vollzug wirdsportifiziert von einem Tricksystem. Wer seinermächtig bleibt, erweist sich zugleich als praktisch.Die Leistung des Jazzmusikers und -kenners addiert

sich zu einer Folge glücklich bestandener Tests. DerAusdruck aber, eigentlicher Träger des ästhetischenProtests, wird ereilt von der Macht, gegen die er pro-testiert. Vor ihr nimmt er den Klang des Hämischenund Jämmerlichen an, der eben noch flüchtig ins Grel-

le und Aufreizende sich kostümiert. Das Subjekt, dassich ausdrückt, drückt eben damit aus: ich bin nichts,ich bin Dreck, es geschieht mir recht, was man mitmir macht; es ist potentiell schon einer jener Ange-

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klagten russischen Stils, die zwar unschuldig sind,aber von Anbeginn mit dem Staatsanwalt kooperieren

und keine Strafe schwer genug für sich finden. Wareinmal das ästhetische Bereich, als eine Sphäre eige-ner Gesetze, aus dem magischen Tabu hervorgegan-gen, welches das Heilige vom Alltäglichen sonderteund jenes rein zu halten gebot, so rächt sich nun die

Profanität am Nachkommen der Magie, der Kunst.Diese wird am Leben gelassen nur, wenn sie aufsRecht der Andersheit verzichtet und der Allherrschaftder Profanität sich einordnet, an welche am Ende dasTabu überging. Nichts darf sein, was nicht ist wie das

Seiende. Jazz ist die falsche Liquidation der Kunst:anstatt daß die Utopie sich verwirklichte, verschwin-det sie aus dem Bilde.

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Fußnoten

1 Die Theorie ist entfaltet in der 1936 in der ›Zeit-schrift für Sozialforschung‹ erschienenen Studie›Über Jazz‹ (S. 252ff.) und ergänzt in einer Kritik derBücher von Sargeant und Hobson in den ›Studies in

Philosophy and Social Science‹, 1941, S. 175.