37. Jahrgang Mitteilungsblatt, Dezember 2017...Getarnt als Ferienkind - Christliche Tante...

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LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ - FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER Mitteilungsblatt, Dezember 2017 37. Jahrgang Auschwitz war das Ziel vieler Deportationszüge. Sie brachten aus fast allen europä- ischen Ländern die zur Vernichtung bestimmten Menschen in das größte deutsche KZ. (Beim Bild handelt es sich um eine Fotografie von einer Karte im Stammlager.) MB-2017-2-internet.qxd 06.11.2018 22:42 Uhr Seite 1

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LAGERGEMEINSCHAFT AUSCHWITZ -FREUNDESKREIS DER AUSCHWITZER

Mitteilungsblatt, Dezember 201737. Jahrgang

Auschwitz war das Ziel vieler Deportationszüge. Sie brachten aus fast allen europä-ischen Ländern die zur Vernichtung bestimmten Menschen in das größte deutsche KZ.(Beim Bild handelt es sich um eine Fotografie von einer Karte im Stammlager.)

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Inhaltsverzeichnis Seite

,,Mein schönstes Weihnachten” - Lieselotte Thumser-Weil 1

Ein grauenvoller Tag unterm Weihnachtsbaum - Hermann Reineck 4

Weihnachtsspende 2017 5Das Bedauern nicht gefragt zu haben - Agnes Grunwald-Spier 8

Wiedersehen nach 70 Jahren - Chana Weingarten trifft Trude Simonsohn 9

Eine Lüge rettet Chanas Leben - 11

Als Siebenjährige im ,,Wartezimmer des Todes” - Edith Erbrich 12sollte am am 9. Mai 1945 vergast werden

Getarnt als Ferienkind - Christliche Tante beschützte Andrei Dorobantu 14Jugendliche im Konzentrationslager 16Maurice Cling - ein Kind in Auschwitz 17VW und die Öfen von Birkenau 20Zwei Bauernhäuser in Birkenau 21Entzifferung des ,,Unbeschreiblichen” - Marcel Nadjarys Brief 26Der Auschwitz-Häftling Alberto Errera 29

Impressum:Herausgeber: Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

35516 Münzenberg, Freiherr-vom-Stein-Str. 27Vorsitzender: Uwe Hartwig, 61239 Ober-Mörlen, Usinger Str. 7 (Korrespondenz bitte an diese Adresse)Internet: www.lagergemeinschaft-auschwitz.de

Redaktion : Hans Hirschmann, Tel. (06101) 32010

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Bei Spenden bitte Adresse deutlich schreiben, damit die Bescheinigung für die Steuererklärung zugeschickt werden kann.

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,,Mein schönstes Weihnachten,meinallerschönstes Weihnachten,vom Klein-kindalter bis zum heutigen Tag, warWeihnachten 1944. Es gab schon nichtmehr genug zu essen.Die Fenster in derBaracke waren kaputt.An der Tür hingeine zerrissene Kolter, weil die Türfül-lung von irgendjemand eingetreten wor-den war. Wir hatten 44/45 in Ravens-brück chaotische Zustände. Es sind vonallen Lagern Menschen zu uns gekom-men, sie wurden teilweise wieder in an-dere Lager weggebracht,aber sie kamenerst zu uns nach Ravensbrück.In diesemheillosen Durcheinander hat man gelebtwie die Tiere. Wir lagen zu fünft odersechst in einer Stellage, ich habe dasKartoffelhurte genannt: eine dreht sichum,die ganze Kolonne muß sich mit um-drehen, Kopf oben, Kopf unten, Füßeoben,Füße unten.In diesem Ding lagenwir und es war Heiliger Abend.Ich kannnicht mehr sagen, ob wir vorne am La-

Am 20. November wäre Lieselotte Thumser-Weil hundert Jahre alt geworden. Ge-storben ist die Überlebende des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück 1995.Die letzten Jahre ihres Lebens war sie Vorstandsmitglied unserer Lagergemein-schaft Auschwitz. Sie hat uns alle und besonders viele Jugendliche nachhaltig be-eindruckt, denen sie ihr Schicksal erzählte. Obwohl ihr dies alles andere als leichtgefallen ist, hat sie sich doch gefreut, dass wir ihre Geschichte hören wollten undunsere Lehren daraus für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen versprachen.Dass sie ihr schönstes Weihnachten ausgerechnet während ihrer KZ-Haft inRavensbrück erlebt hat, hat sie in einem langen Interview Jutta von Freyberg undUrsula Krause-Schmitt vom Studienkreis Deutscher Widerstand in Frankfurtberichtet.Ausschnitte daraus sind in einer früheren Ausgabe unseres Mitteilungs-blattes schon einmal abgedruckt worden. Lieselottes hunderster Geburtstag istnun Anlass für eine Wiederholung ihrer eindrucksvollen Schilderung.

* Das gesamte Interview ist nachzulesen in ,,Informationen”, Nr. 37/38, Nov. 1993,Hrsg. Studienkreis Deutscher Widerstand. Internet: www.widerstand-1933-1945.de;dort können auch noch Kopien des Heftes bestellt werden.

Lieselotte 1993 in Auschwitz bei einer Stu-dienfahrt mit Jugendlichen einer Dietzen-bacher Schule. (Foto: Barbara Kratz, Stu-dienkreis Deutscher Widerstand)

Heiligabend 1944 im KZ Ravensbrück hat Lieselotte nie vergessen

,,Mein schönstes Weihnachten”

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gerplatz einen Christbaum hattenoder nicht, das war für mich ohneBelang und ohne Eindruck, sonsthätte ich es behalten.

Plötzlich,es war schon dunkleNacht, kamen drei Frauen inRupfensäcken und mit einerKerze, die hat gebrannt, und siesangen auf russisch Weihnachts-lieder mit so viel Kraft. Ich habein meiner Baracke gekniet undnur nach den Gesichtern ge-guckt,die Tränen liefen mir übersGesicht. Das dauerte zehn Minu-ten, mehr nicht. So heimlich, wiesie gekommen waren, gingen siewieder. Ob sie noch zu weiterenBlocks gegangen sind, weiß ichnicht. Zehn Minuten herrlicheKlänge, wunderschön. ÜberallZerstörung, alles kaputt, überallElend, Du selber bist ausgehun-gert: Da stehen nun drei Men-schen und bringen Dir eine Freu-de - für mich war das das Licht desLebens. Wenn die drei Frauenbeim Klauen des Rupfensackes er-wischt worden wären, wären sie er-

schossen worden, wenn sie erwischtworden wären, wie sie sich die Kerzen

beschafft haben, wären sieerschossen worden, wenn sienach zehn Uhr auf der Lager-straße erwischt wordenwären, wären sie erschossenworden oder mindestens inden Bunker gekommen.

Und wenn Du all dieseDinge zusammenzählst: diesedrei Frauen riskierten das, nurum anderen Hoffnung zu ge-ben und Freude. Gibt es etwasSchöneres? Ich habe später mitmeinen Kindern Weihnachtengefeiert.Aber das ist Schablone

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Lieselotte bei der Auseinandersetzung um denBörne-Platz in Frankfurt am Main im Jahr 1987.(Foto: Studienkreis Deutscher Widerstand)

Lieselotte und Hermann Reineck, 1996 bei der Feiervon Hermanns 75. Geburstag in Laubach.

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geblieben. Das war mein schönstesWeihnachten und ich träume heutenoch davon. Und wenn ich vor demChristbaum bei meiner Tochter stehe,dann sehe ich nicht den Baum, sondernmeine drei Russinnen.Ich weiß bis heu-te nicht, wer sie waren. Kein Menschweiß es. Ich spreche auch mit nieman-dem darüber. Es ist mein Heiligtum.

Und alle diese Dinge haben DirHoffnung gegeben. Da hast Du Dirgesagt, die können Dir alle nichts an-

haben. Du schaffst es. Du glaubst janicht, zu welchen Hilfsmitteln mangreift. Ich persönlich habe mich ein-fach in Träume eingesponnen. Dakonnte um mich passieren, was wollte,das habe ich gar nicht wahrgenom-men. Einfach abschalten, den Weg zusich selber suchen. Aber das Ganzehatte auch eine sehr negative Seite.Duhast es schwer mit dem Umfeld, mitDir selber, Dich bei anderen wiedereinzufinden.” •

Lieselotte Thumser-Weil hat sich gegen den Willen ihres Vaters,eines über-zeugten Nazis, als Krankenschwester ausbilden lassen. In einem Heim hat siedanach behinderte Kinder betreut. Als sie sich weigerte, diese für die Trans-porte in die Euthanasie-Todesanstalten ,,versandfertig” zu machen, wurde sieals Krankenschwester an die Ostfront dienstverpflichtet. Zuvor hatte sie inihrem Geburtsort Schwäbisch Gmünd bereits jüdischen Nachbarn zur Fluchtin die Schweiz geholfen.Während eines Heimaturlaubes half sie zwei aus demKZ Dachau geflohenen Häftlingen, ein Versteck zu finden. Dies flog auf undLieselotte wurde ins KZ Ravensbrück deportiert.

In dem Interview mit Jutta von Freyberg und Ursula Krause-Schmitt (sieheSeite 1) berichtete Lieselotte sehr ausführlich über die Konflikte mit ihrem Na-zi-Vater und viele weitere Stationen ihres Lebens. Nun würdigte Ursula Krau-se-Schmitt erneut Lieselottes Widerständigkeit gegen die Euthanasie-Verbre-chen und das gesamte Nazi-Deutschland in einem Beitrag,der im aktuellen Heftder vom Studienkreis Deutscher Widerstand 1933- 1945 in Frankfurt herausge-bebenen ,,Informationen” zu finden ist; es ist die Nr. 86, November 2017.

Die letzten Jahre ihres Lebens wohnte Lieselotte in Frankfurt/Main. 1992hat ihr die Stadt die Johanna-Kirchner-Medaille verliehen.Sie erzählte uns spä-ter, dass sie nur wenige Minuten vor der Übergabefeier eine Begegnung hatte,die ihr mindestens ebenso wichtig war, wie die Auszeichnung selbst: Lieselottehatte sich verspätet und musste ein Taxi nehmen.Als die junge Taxifahrerin dasZiel hörte, fragte sie, ob da nicht die Verleihung stattfindet, über die gerade imRadio eine Nachricht gebracht wurde. Lieselotte bejahte und beantworteteauch einige weitere Fragen.An der Paulskirche angekommen, stellte die Fah-rerin das Taxometer auf Null und sagte sich verabschiedend, sie würde sichschämen, wenn sie von Lieselotte Fahrgeld annehmen würde (siehe Nachrufim Mitteilungsblatt, August 1995). Hans Hirschmann

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Für Hermann Reineck,Auschwitz-Häftling Nr. 63.387 und Gründer un-serer Lagergemeinschaft und desFreundeskreises, war Weihnachten einGreuel. Nur einmal sei es ihm gelun-gen, sich nach seiner Befreiung überdas Fest zu freuen: Das war 1945, als ermit bescheidenen Mitteln, ,,mit so ei-nem kleinen Bäumchen ..., aber end-lich frei von allem Druck” habe feiernkönnen. Warum das in all den Jahrendanach nicht mehr ging, hat er in ei-nem Interview beschrieben, das derWestdeutsche Rundfunk (wdr) am24. Dezember 1995 sendete. Passagendaraus hat er im Mitteilungsblatt Nr. 9(Dezember 1986) abgedruckt, die hiernun wiederholt werden:

,,Wenn ich daran denke, dann kom-men immer diese Weihnachten 1942 inmeine Erinnerung an Auschwitz. DieSS hatte einen Weihnachtsbaum auf-gestellt vor dem Küchengebäude, undalle Häftlinge waren angetreten,es warAppell, und dann hat man - dieserWeihnachtsbaum war mit elektrischenKerzen beleuchtet - Häftlinge,die ganzabgemagert waren,wir sagten zu ihnenMuselmänner, also so lebende Skelet-te, die brachte man dann herbei undhat sie unter diesen Weihnachtsbaumgelegt. Sie waren so schwach, daß sienicht mehr gehen konnten. Und dortunter dem Weihnachtsbaum - es warbitterkalt, ich weiß das noch ganz ge-nau, wir haben damals 34° Minus ge-

habt, und dann hat die SS befohlen, ei-ne Kette zu machen, und Häftlingemußten Wassereimer herbeibringen.Und dieses Wasser wurde auf die dortam Boden unter dem WeihnachtsbaumLiegenden gegossen. Der Appell dau-erte etwa zweieinhalb Stunden. Unddanach war das wie ein Eisblock, indem die Häftlinge eingefroren waren... Und außer diesem Weihnachten1945, weil das eben diese Lösung vondiesem ungeheuren Druck war, habeich eigentlich Weihnachten nie mehrals schönen Feiertag empfunden. Ichkann seitdem Weihnachten nicht mehrfeiern, wie das andere machen, dasgeht nicht mehr.”

Für Hermann Reineck war Weihnachten kein Festtag mehr

Ein grauenvoller Tag unterm Weihnachtsbaum

Titel des MBs vom Dezember 1986.

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Während der Studienfahrt im Ok-tober dieses Jahres war es das ersteMal, dass wir nur für den Aufenthaltin Auschwitz einen ehemaligen Häft-ling (es war Prof. Waclaw Dlugobor-ski) für ein Gespräch gewinnen konn-ten. In Krakau ist, wie bereits im Mit-teilungsblatt vom September berich-tet, unser bisheriger Gesprächspart-ner Emanuel Elbinger im Sommergestorben. Seine noch lebenden Ka-meraden sind schon seit längeremkrank und nicht mehr in der Lage, beieinem Zusammentreffen mit unserenFahrtteilnehmern zu berichten.

Auch wenn es immer wenigerÜberlebende der Konzentrationsla-ger gibt, haben wir wieder einen Ge-samtbetrag von rund 10.000 Euronach Polen an die dortigen Vereini-gungen der NS-Opfer überwiesen.Denn trotz geringer werdender An-zahl der Überlebenden ist der Bedarffür deren medizinische und pflegeri-sche Betreuung veständlicherweisegestiegen.

Deshalb bitten wir auch in diesemDezember um eine Weihnachtsspen-de, mit der wir dieser Aufgabe weiter-hin nachkommen können, solange esnoch möglich ist. Dies ist sicher auchim Sinne der verstorbenen Häftlinge,die uns allen, insbesondere den Teil-nehmern der Studienfahrten, über ihrVerfolgungsschicksal und das ihrerermordeten Familien und Kameradenberichtet haben. Dieses uns entgegen-

gebrachte Vertrauen war alles andereals selbstverständlich.

Neben der direkten Unterstüt-zung ehemaliger KZ-Häftlinge hatunser Verein mit Ihren Mitglieds-beiträgen und Spendengeldern auchanderweitige Aufgaben finanziertoder bezuschusst. Die verschiedenenEinladungen von Zeitzeuginnen undZeitzeugen sowie von Autoren, diesich mit dem Holocaust und den Fol-gen bis in unsere heutige Zeit hineinbeschäftigen, sprechen für sich (siehedie Seiten 8 - 15).

Auch sei erwähnt, dass wir hin undwieder Zuschüsse an Menschen verge-ben haben, die an „unseren Themen“arbeiten. Dem Förderverein für die Ju-gendbegegnungsstätte in Oswiecim ha-ben wir eine zweckgebundene Spendeüberwiesen für ein deutsch-polnisch-ukrainisches Seminar in der Gedenk-stätte, für das die Mittel für die ukraini-sche Seite fehlten. Im vorigen Jahr ha-ben wir einer Lehrerin einen Zuschussgewährt, die eine Klassenfahrt nachAuschwitz mit der Erstellung einer öf-fentlichen Ausstellung ausgewertet hat.

Ein besonderes Ereignis in diesemJahr war die Teilnahme am Konventdes Internationalen Auschwitz-Komi-tees (IAK) im August in Auschwitz.Das IAK hatte als Thema gestellt, wiees weitergehen solle mit der Bewah-rung der Erinnerung an Auschwitzund wie die nachfolgenden Genera-tionen in diese Arbeit einzubeziehen

Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Unterstützung

Weihnachtsspende 2017

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seien. Wir haben deshalb vier jüngereMenschen von außerhalb des Vorstan-des zu diesem Kongress eingeladen.

Mit dabei war Andreas Kilian, ehe-maliger Freiwilliger in der Jugendbe-gegnungsstätte und durch seine fun-dierten Artikel u. a. in unserem Mit-teilungsblatt bekannt. Andreas lerntein den 1990er Jahren noch Überleben-de des jüdischen Sonderkommandoskennen und begleitete sie bei ihrerSpurensuche in Auschwitz. Vor allemdie Sonderkommandos sind nochheute sein Forschungsgebiet.

Lisa Gehrlein beschäftigt sich alsPsychologin mit der die Generatio-nen überschreitenden Weitergabevon Traumata der Überlebenden. Sie

hat dazu Interviews u. a. mitAnita Lasker-Wallfisch und de-ren Tochter geführt und darü-ber veröffentlicht.

Tobias Reckeweg arbeitetzu den jüngsten Auschwitz-Prozessen nach der juristi-schen Neubewertung der Tä-terschaft in Folge des Demjan-juk-Prozesses (siehe Mittei-lungsblatt vom Dezember2016). Bei seinen Recherchenin Kanada traf er auf RafiYablonski, einen Enkel vonAuschwitz-Überlebenden.

Alle vier haben beim Kon-vent des IAK ihre Arbeitsbe-reiche vorgestellt. Dies warnicht nur für sie selbst, sondernauch für ihr Publikum, darun-

ter auch einige hochbetagteÜberlebende, ein sehr emotio-nales Erlebnis.

In diesem Zusammenhang soll ausdem Pressebericht des IAK zur Tagungzitiert werden: “Bewusst hatte sich dasIAK für diese Generalversammlung ne-ben den Berichten aus der Arbeit derMitgliedsländer eine Debatte des,,Übergangs” vorgenommen, die diezukünftigen Schwerpunkte des Engage-ments des Komitees diskutieren undWeichen für eine Ergänzung des Präsi-diums des IAK durch jüngere Mitglie-der stellen sollte. Noah Klieger (Israel),Eva Fahidi (Ungarn), Esther Bejarano(Deutschland), Prof. Felix Kolmer(Tschechien) und Marian Turski (Po-len) beschrieben in ihren Stellungnah-men und Berichten als Überlebende

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Sie berichteten auf Einladung der LGA bei der Ta-gung des Internationalen Auschwitz-Komitees überihre Projekte: (im Uhrzeigersinn) Rafi Yablonski,Lisa Gehrlein,Tobias Reckeweg und Andreas Kilian.

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von Auschwitzebenso wieHenri Gold-berg (Brüssel)nicht nur ihreErfahrungenaus zahlrei-chen Ge-sprächen mitjungen Men-schen in derganzen Welt, sondern vor allem ihre As-soziationen und Überlegungen ange-sichts des wachsenden Populismus invielen Ländern, der sich zunehmend inautoritären Bewegungen widerspiegeltund in eine Sprache des Hasses und derIntoleranz mündet. Marian Turski stell-te in diesem Zusammenhang die Frage,die alle Überlebenden umtreibt: ,,Wielange sind wir noch in der Lage zu ru-fen, einzuschreiten und uns gegen Ver-fälschungen und Hass zu wehren?” Erbetonte: ‘Never more - das meint heutevor allem die Auseinandersetzung umdas Denken der Menschen zu führen’,und er fügte hinzu ‘Es war unsere Auf-gabe nach dem Holocaust, nach demfast vollständigen Verlust unserer Fami-

lien und unserer Welt, eine entsetzlicheund große Leere zu füllen. Diese Aufga-be - die Leere zu beschreiben und siemit Analysen und Erinnerungen zu fül-len - geht jetzt auf die nächste Generati-on über.’"

Dieser Blick in die Zukunft hatauch unseren Vereinsgründer Herr-mann Reineck angetrieben, Mitstrei-ter unter den Nachgeborenen zu fin-den. Insofern fühlt sich die Lagerge-meinschaft der Aufforderung von Ma-rian Turski seit jeher verpflichtet.

Noch vor Weihnachten treffen wirmit der Internationalen Jugendbegeg-nungsstätte in Oswiecim eine Verein-barung, nach der wir zwei Überleben-de der Konzentrationslager Ausch-witz und Ravensbrück mit einer mo-natlichen Zuwendung im Jahr 2018unterstützen werden, um deren not-wendige Betreuung abzusichern. Diekorrekte Verwendung dieser Gelderwird vor Ort von uns bekannten Ver-trauten organisiert und garantiert.

Solche unmittelbare persönlicheUnterstützung war immer auch Be-streben von Hermann Reineck.

In diesem Sinne dankenwir allen Mitgliedern, Freun-dinnen und Freunden sowieUnterstützerinnen und Unter-stützern für ihr Interesse undihre Zuwendungen.

Wir wünschen Ihnen allenfriedvolle Weihnachtstage,Gesundheit, einen guten Jah-resausklang und viel Energiefür das kommende Jahr 2018.

Der Vorstand der LGA

Marian Turski

Holocaust-Überlebende Eva Fahidi.Rechts:ChristophHeubner, Geschäftsführender Vizepräsident des IAK.

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Sie habe „durchaus Schuldgefühle,überlebt zu haben“,zitiert die Reporterindes Kreisanzeigers Büdingen,was AgnesGrunwald-Spier den Jugendlichen inKonradsdorf eingestand.Ihr gehe es dar-um, die einzigartige Schrecklichkeitwährend der NS-Zeit bewusst zu ma-chen. Deshalb berichte sie darüber undhat bisher zwei Bücher geschrieben:TheOther Schindlers.Why some people Cho-se to save the Jews in the Holocaust han-delt von Menschen,die Juden das Lebengerettet haben und bei Who Betrayed theJews? The Realities of Nazi Persecution inthe Holocaust geht es um Menschen, dieJuden verraten haben.

Agnes Grunwald-Spier wurde im Juli1944 in Budapest geboren. Im Alter vonnur vier Monaten wurde sie mit ihrerMutter Leona Grunwald in das Ghettoder ungarischen Hauptstadt deportiert.

Dort wurden sie im Januar 1945 be-freit, nachdem sie zuvor nur knappeinem Transport in die Ungewissheitentkommen waren.Ein ihr bis heuteunbekannter Mann verhinderte,dassMutter und Kind getrennt wurden.Ihr Vater war da bereits zur Zwangs-arbeit an die Ostfront deportiertworden, als Minensucher. „MeineMutter muss damals sehr stark gewe-sen sein,obwohl sie eine kleine Personwar. Sie stillte mich, obwohl es kaum

zu essen gab“,berichtet Grunwald-Spier.Zwei Jahre nach Kriegsende siedel-

te die Familie nach England über, woAgnes Grunwald-Spier heute noch lebt.Ihr Vater nahm sich 1955 das Leben,und die Tocher bedauert, dass sie ihnnie nach seinen Erlebnissen als Minen-sucher an der Front gefragt hatte. Sieselbst habe mehrere Jahrzehnte ver-sucht,ihre eigene Geschichte und damitauch die der Eltern zu ignorieren. Erstmit 51 Jahren begann sie, sich mit die-sem Thema und auch ihrem eigenenSchicksal auseinanderzusetzen. Anlasshierzu war eine Ausstellung zu AnneFrank in England und das erwachendeBedürfnis, ihren drei Söhnen mehr er-zählen zu können.Sie nahm auch ein Stu-dium auf, um einen Master im BereichHolocauststudien zu absolvieren.

Hans Hirschmann

Die Holocaust-Überlebende war vom 3. bis 7. Oktober auf Einladung der LGA zueiner Vortragsreise in Hessen.Sie hat in der Ortenberger Gesamtschule Konradsdorfund an der Gießener Ostschule gesprochen und an der Universität Gießen bei eineröffentlichen Veranstaltung in Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

Bedauert nicht gefragt zu habenAgnes Grunwald-Spier ignorierte lange ihre Familiengeschichte

Agnes Grunwald-Spier und LGA Vorstandsmit-glied Wolfgang Gehrke in Gießen.

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Was als am Rande ihres Besuchs lie-gend erschien, erwies sich für ChanaWeingarten als Höhepunkt ihrer Vor-tragsreise in Hessen Anfang Juni. Siehatte sich auf Vermittlung der Journali-stin und Autorin Hannelore Brenner-Wonschick bereit erklärt, für einige Ta-ge nach Bad Nauheim zu kommen, umin Schulen zu sprechen und während ei-ner Abendveranstaltung über ihr Le-ben zu berichten. Auf der Fahrt vomFlughafen nach Bad Nauheim erwähn-te sie, dass in Frankfurt wohl „die FrauSimonsohn“ lebe. Ihr habe sie viel zuverdanken und vielleicht sei es möglich,sie zu treffen.Ein telefonischer Kontaktmit Frau Simonsohn war rasch herge-stellt. Sie erinnerte sich sofort an FrauWeingartens Mädchennamen HankaWertheimer und sagte ein Treffen aufeinen Kaffee nachmittags in zwei Tagenzu. So trafen sie, Trude Simonsohn (96)und Chana Weingarten (88), an einem

Juni-Nachmittag in Frankfurt zusam-men. Es begrüßten sich zwei fröhlichealte Damen, die sich nach Jahrzehntensofort erkannten und anfingen, von den„alten Zeiten“ zu sprechen. Erst vonden guten, dann von den bösen Zeiten.

Chana Weingarten wurde 1929 alsHanka Wertheimer, Kind jüdischerEltern in Znaim, Südmähren, geboren.1943 wird sie ins Ghetto Theresienstadtverschleppt, 1944 nach Auschwitz undvon dort nach sechs Wochen nach Neu-engamme und im März 1945 nachBergen Belsen, wo sie ihre Befreiungerlebt.Ihr Vater wird 1942 in Dachau er-mordet, ihre Mutter stirbt vier Wochennach der Befreiung in Bergen-Belsenan den Folgen der Lagerhaft. 1939 warHankas Schwester nach Palästina aus-gereist. Völlig mittellos schlägt sichHanka Wertheimer allein nach Pragdurch. Hier bereitet sie ihre Ausreisenach Palästina vor. Eine Tuberkulose

Hanitschka - jung, schön und gesundBegegnung nach 70 Jahren:Trude Simonsohn - Chana Weingarten

Trude Simonsohn (rechts) mit Chana Weingarten und Uwe Hartwig.

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erzwingt einen dreijährigen Aufenthaltin einem Sanatorium in Davos. Das Sa-natorium ist von den jüdischen Ge-meinden der Schweiz finanziert, umMitglieder der zionistischen Jugendbe-wegung zu heilen, die in den Lagern er-krankt waren.Eine der Krankenschwe-stern war Trude Simonsohn.

Im Gespräch äußert Frau Simon-sohn immer wieder, wie glücklich siesei, Frau Weingarten zu treffen. Mankann entnehmen,dass Frau Weingartenim Sanatorium sehr beliebt war. Mehr-fach wiederholt Frau Simonsohn daswohl damals geflügelte Wort „Hanit-schka – jung, schön und gesund“. Sietauschen sich aus über die Zeit desÜberlebens in den Lagern. Mir als stil-lem Beobachter bleiben zwei Sätze inErinnerung: Frau Simonsohn be-schreibt, wie sie und ihre Mitgefange-nen sich in den Lagern immer wiedervornahmen: „Wenn wir nicht reden,werden wir’s überhaupt nicht schaffen.“Frau Weingarten berichtet in anderemZusammenhang: „Ich habe zehn Jahreimmer wieder von meiner Mutter ge-träumt.“ Bald kommt das Gespräch aufgrundsätzliche Fragen. Eine verhaltengeführte Kontroverse über die Beurtei-lung der Judenältesten kann die liebe-volle Zuneigung nicht beeinträchtigen.Das Gespräch wäre lebhaft weiterge-gangen,wenn nicht der Vortrag in Butz-bach den Abschied gefordert hätte.

Nach dreijährigem Kuraufenthaltin Davos kehrt Hanka Wertheimernach Prag zurück und betreibt ihreAusreise nach Palästina. Ihre Schwe-ster und weitere Verwandte leben dortschon lange. In einem Kibbuz lernt

Hanka ihren Mann Abraham kennen.Sie gehen zum Studium nach Amerikaund arbeiten dann in der ganzen Welt– als Futtermittelfachmann undErnährungswissenschaftlerin. Jederihrer drei Söhne wird in einem ande-ren Land geboren. Der mittlere lebt inTel Aviv in ihrer Nähe.Am zweiten Tagihres Besuchs in Bad Nauheim schick-te er mir eine mail: er fragte nach demBefinden seiner Mutter und trug mirauf: „Send my love to my mother“. Erhat seinen Namen ins Hebräischeübertragen.

Durch Chana Weingartens Vorträ-ge zog sich als Grundstimmung einmehrmals ausgesprochener Satz: DieMenschen haben mir geholfen. Nebenihrer eigenen Stärke und – wie sieselbst sagt – jugendlichen Unbeküm-mertheit hat ihr Überleben gesichertdie Hilfe vieler Menschen. Die gab estrotz Terror und Verbrechen.

Uwe Hartwig

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Chana Weingarten war gerne der Ein-ladung der LGA gefolgt.

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,,Ihr sollt davon wissen!”Eine Lüge rettete Chana Weingarten das Leben

Bei ihrem Be-such in der Karl-Weigand-Schule inFlorstadt wurdeChana Weingartenauch vom Schulde-zernenten des Wet-teraukreises, JanWeckler, begrüßt.Die Klasse warkurz zuvor von ei-ner Studienfahrt zuder Gedenkstättedes ehemaligenKonzentrationsla-gers Buchenwaldzurückgekommen.Weckler sprach die Jugendlichen daraufdirekt an: „Vieles, von dem, was Ihr inden Geschichtsbüchern lest, werdet Ihrüber kurz oder lang vergessen. Das aber,was Ihr bei solchen Gedenkstättenfahrtenerlebt oder in dem direkten Dialog mit ei-nem Zeitzeugen, das bleibt bei vielen aufDauer haften.“ Das Gleiche gelte für dieBerichte von Überlebenden wie ChanaWeingarten.

1938, Chana war gerade neun Jahrealt, packte die Mutter die Koffer, um fürein paar Tage zu einem Onkel zu fahren,bis sich die Situation an der Grenze wie-der beruhigt haben würde. „Ich habemeine Heimatstadt nicht wiedergesehen.Wir waren Flüchtlinge geworden. Wirhatten alles verloren.“ Sie flüchtetenweiter nach Prag, aber als die deutscheWehrmacht dort einmarschierte, änder-te sich das Leben noch mehr. „Wir durf-ten nicht mehr in die normale Schule ge-hen. Kino, Theater und vieles andere wa-

ren tabu. Täglich kamen neue Gesetzemit Einschränkungen für uns Juden.“

1941 begannen die Transporte in dieKonzentrationslager. Chana Weingartenwurde mit ihrer Mutter nach Theresien-stadt deportiert und nach einigen Mona-ten weiter nach Auschwitz. Alle Jüdin-nen zwischen 16 und 40 Jahren solltennach rechts, die anderen nach links tre-ten. „Ich habe mich älter und meine Mut-ter hat sich jünger gemacht. So wurdenwir zur Arbeit eingeteilt, während die an-deren sofort ermordet wurden.“

Ein weiterer Transport führte Chanaund ihre Mutter ins KZ Neuengamme inHamburg. „Hier haben wir in Fabrikengearbeitet und Straßen gebaut. Manchmalhaben uns auch Deutsche heimlich etwaszugesteckt: eine Kartoffel, eine Karotte,deren Wert für uns unglaublich war.“

Nächste Station war das Konzentrati-onslager Bergen-Belsen, in das sie im März1945 sechs Wochen vor der Befreiung

Im Gespräch: ein Schüler der Karl-Weigand-Schule, ChanaWeingarten, Uwe Hartwig und Jan Welcker, Schuldezer-nent des Wetteraukreises.

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durch die Briten kamen. „Überall lagenLeichen.“ Chana Weingarten erkrankteschwer an Tuberkulose. Ihre Mutter starbeinen Monat nach der Befreiung noch inBergen-Belsen an Typhus. Chana reisteweiter nach Prag, wo eine Lungentuberku-lose festgestellt wurde.Damals wog die fast16-Jährige nur noch 35 Kilogramm.

30 Jahre lang hat sie über ihre Er-lebnisse geschwiegen. Dann brach esaus ihr heraus. „Ich muss davon er-

zählen“, sagte sie zu den Schülerinnenund Schülern. „Erzählt Euern Kindernund Enkeln davon, dass Ihr mit jeman-dem gesprochen habt, der das erlebthat.“ Bei all dem, was Chana Weingar-ten erlebt hatte, war sie jünger als diejungen Leute, die ihr heute zuhörten.„Ihr sollt davon wissen… Deshalb er-zähle ich fremden Menschen von mei-nem Leben“, bekräftigt sie.

Hans Hirschmann

14 Lagergemeinschaft Auschwitz - Freundeskreis der Auschwitzer

nicht erpres-sen und sagtesich nicht vonihrer Familielos. Warumund wer dafürsorgte,dass sienach 21 TagenHaft trotzdemfreikam, „dasist bis heuteunklar“, kom-mentiert ihreTochter.

Edith und ihrer Schwester wurde je-doch das „J“ in den Ausweis gestempelt,und sie durften nicht mehr zur Schule ge-hen. Am 14. Februar 1945 wurden Nor-bert Bär und seine Töchter Edith undHella (geb. 1933) ins Lager Theresien-

„Hass ist ein schlechter Begleiter,abervergeben und vergessen kann ich nicht“,sagt Edith Erbrich während der Veran-staltung in der Bad Vilbeler Stadtbiblio-thek. Sie wisse noch genau um ihreAngst, als sie ins Lager Theresienstadtdeportiert wurde. Als sie bereits imViehwaggon war,wurde die kleine Edithnoch einmal hochgehoben, ihre Mutterwollte sie noch einmal sehen: „Da sahich sie weinen.“

Edith Erbrich wurde 1937 in Frankfurtam Main als Edith Bär geboren. Susanna,ihre katholische Mutter, wurde in Beuge-haft genommen und sollte sich von ihremjüdischen Mann scheiden lassen. „Warumwird so viel Gedöns wegen der Juden ge-macht – die werden doch alle vergast“, hatman ihr vorgehalten, wie ihre TochterEdith berichtet. Susanna Bär ließ sich

Als Siebenjährige im ,,Wartezimmer des Todes”Am 9. Mai 1945 sollte Edith Bär vergast werden

Edith Erbrich, als „Halbjüdin“ dem rassistischen Verfolgungswahn Nazi-Deutsch-lands nur knapp entkommen, war im Januar und Anfang Februar unsere erste Zeit-zeugin im Jahr 2017, die wir zu Vorträgen an Schulen und für öffentliche Veranstal-tungen vermittelt haben.Auch später hat sie in Begleitung unseres VorstandsmitgliedWolfgang Gehrke solche Termine wahrgenommen, um zu berichten, worüber sie zu-vor mehr als 50 Jahre geschwiegen hat

Hella Bärs Kennkarte

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stadt deportiert, das als „Wartezimmerdes Todes“ galt.

Zu diesem Zeitpunkt waren die SS-Bewacher von Auschwitz bereits geflo-hen, das Konzentrationsla-ger war am 27. Januar vonder Roten Armee befreitworden. Die Organisatorendes Holocaust hatten jedochzuvor schon festgelegt, dassdie Bärs und die anderenmit dem Transport XII/10von Frankfurt aus Depor-tierten am 9. Mai in Ausch-witz hätten vergast werdensollen. Dies hatte NorbertBär erfahren,als er nach derBefreiung von Theresien-stadt am 8. Mai bei der Erledigung derbürokratischen Formalitäten wegen derRückkehr nach Frankfurt in der Kom-mandantur die Gestapo-Akten einsehenkonnte.

Einen Tag, bevor sie eigentlich inAuschwitz in die Gaskammer geschicktwerden sollten, konnten die Bärs dieRückkehr nach Frankfurt antreten. Vonden Großeltern, die bereits 1942 nachThersienstadt deportiert worden waren,überlebte nur Norbert Bärs Mutter dieLagerhaft.

Die Täter hatten weder Rücksicht aufKinder noch Senioren genommen, siequälten und schlugen tagsüber Menschentot, und am Abend feierten sie oder ,,er-holten”sich bei klassischer Musik.So wieeine Aufseherin in ihrer Baracke im KZTheresienstadt, die die kleine Edith zurStrafe einen Tag lang ohne Trinken undEssen den Holzfußboden schrubben ließ.„Man nahm uns jede Würde. Wir durftennoch nicht einmal die Tür vom WCschließen. Ich werde nie verstehen, welcheMenschen diese Aufseher waren.“

In Thersienstadt bestimmten Angst,großes Heimweh, stundenlanges strapa-ziöses Stehen in der Kälte, das Einteilender Essensrationen und vor allem der

„Hunger, der immer dawar“ das Leben von Edithund den anderen Mäd-chen.„Es haben sich Dingeereignet, die nimmt einemniemand ab“, kann esEdith Erbrich noch heutekaum glauben. Und diesgeschah nicht nur in The-resienstadt, sondern be-reits zuvor in Frankfurt,woNachbarn als schadenfro-he Gaffer den Abtransportder Familie beobachteten.

Edith Erbrich schildert aber nicht nurdie unvorstellbaren Schrecken, die siedurchlitt,sondern berichtet auch von „stillenHelfern und Helden“, die dem Terror unterGefahr ihres eigenen Lebens Menschlich-keit und Wärme entgegensetzten.

Mit ihrem Engagement als Zeitzeuginwill sie die Perspektiven der Opfer undihrer Nachkommen in den Mittelpunktstellen und nicht die der Täter. Das An-liegen von Edith Erbrich ist, dass sichKinder und Jugendliche mit ihrer Hilfeein Bild von diesem menschenverachten-den Teil der deutschen Geschichte ma-chen können. Deshalb begann 2001 nachihrer Erwerbstätigkeit ihr zweites Lebenals Zeitzeugin.Am 4. Oktober 2007, „amGeburtstag meines Papas“, erhielt EdithErbrich das Bundesverdienstkreuz.

Christine Fauerbach

Edith Erbrich hat ihre Lebensge-schichte dem Journalisten Peter Holleerzählt. Sie wurde 2014 veröffentlicht:„Ich hab’ das Lachen nicht verlernt“, edi-tion monos, Neu-Isenburg.

Edith Erbrich in Bad Vilbel

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Andrei Dorobantu wurde am 23.Juni 1933 in Oradea, einer Stadt imNorden Siebenbürgens, geboren. SeinVater war Jude, seine Mutter Christin.Er überlebt die deutsche Besatzung,getarnt als Ferienkind bei der Tanteseiner Mutter am anderen Ende derStadt. In Oradea (deutsch: Großward-ein; ungarisch: Nagyvarad) lebten29.000 Jüdinnen und Juden, 3.500 vonihnen überlebten den Holocaust.

Im Friedberger Kreishaus eröffneteSozialdezernentin Stephanie Becker-

Bösch die Veranstaltung, zu der nebenSchülerinnen und Schülern der Sing-bergschule Wölfersheim und der Ge-samtschule Konradsdorf auch Auszubil-dende der Wetterauer Kreisverwaltungin den Plenarsaal gekommen waren.Frau Becker-Bösch erinnerte an die hi-storischen Umstände der Pogromnacht,in der die Nationalsozialisten und ihreHelfershelfer „die Maske der Bürger-lichkeit fallen ließen und den Mob mitmörderischer Offenheit aufforderten,Pogrome zu begehen.“ In der Presseer-

klärung der Kreisverwaltungwird erinnert, dass ab 1933die deutsche Regierung sy-stematisch gegen Minderhei-ten hetzte, sie diskriminierteund auch gesetzlich aus-grenzte. „Schändlich niedrigwar die Zahl derer, die akti-ven Widerstand geleistet ha-ben.“ Auch heute gebe eswieder Politiker, die offenmit rassistischen und diskri-minierenden Parolen für sichWerbung machten. „Wer ge-gen Fremde agitiert, weil sie

nicht unsere Religion, nicht

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Getarnt als Ferienkind überlebtAndrei Dorobantu überlebte getrennt von seinen Eltern

Nach Edith Erbrich,Chana Weingarten und Agnes Grunwald-Spier war mit And-rei Dorobantu ein weiterer Zeitzeuge Gast bei Veranstaltungen der Lagerge-meinschaft. Er berichtete vor Schülerinnen und Schülern des Johanneums inHerborn, war in der Karl-Weigand-Schule Florstadt zu Gast ebenso wie in Fried-berg im Kreishaus, als der Wetteraukreis Jugendliche verschiedener Schulensowie Auszubildende der Kreisverwaltung eingeladen hatte.Zudem sprach er am9. November im Museum der Stadt Butzbach bei einer Gedenkveranstaltung.

Andrei Dorobantu mit zwei Jugendlichen der Karl-Weigand-Schule Florstadt.

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unsere Hautfarbe haben, die Menschengeringer achten, weil sie nicht unsereSprache sprechen, dem darf man nichtdas Feld überlassen“, warnte Becker-Bösch vor falscher Toleranz und warbdafür, sich für demokratische Grund-werte zu engagieren.

Dies unterstrich auch AndreiDorobantu. „Gerade Ihnen“, sagte eran die jungen Zuhörer gewandt,„kommt eine wichtige Rolle zu beimAufbau einer friedlichen Welt.“ Er be-richtete, wie in seiner Heimatstadt mitder Besetzung Ungarns durch deut-sche Truppen die Juden enteignet unddrangsaliert wurden. So durften Judennur noch zwischen 9 und 10 Uhr ihreWohnung verlassen. Als dann die De-portationen in die Vernichtungslagerbegannen, war es für die meisten un-möglich noch zu fliehen.

Von den 29.000 Juden in Oradeawurden 19.000 in das Konzentrations-lager Auschwitz deportiert. Dort wur-den auch die jüdischen Großeltern

von Andrei Dorobantu ermordet.Vonden 19.000 Deportierten kamen nurwenige zurück. So überlebte von den5.000 deportierten Kindern nur einesden Massenmord der Nazis.

Über den Holocaust zu sprechen,hält Andrei Dorobantu für wichtigund notwendig, denn es könne wiedergeschehen und das müsse verhindertwerden. „Ich fordere Achtung und Re-spekt“, sagte er und empfahl seinenjungen Zuhörern, im Gespräch mitden Mitmenschen zu bleiben.

Wie beeindruckt die Jugendlichenvon dem Zusammentreffen mit And-rei Dorobantu waren, bestätigte einLehrer, der der Kreispressestelle mit-teilte, dass seine Schülerinnen undSchüler auch nach der Veranstaltungmit Andrei Dorobantu über das The-ma diskutierten. Dass diese sich durchsolche Veranstaltungen eingebundenfühlen in die Gedenkkultur an die Op-fer, sei von großer Bedeutung.

Hans Hirschmann

Andrei Dorobantu bei der Eröffnung der Gedenkfeier in der Kreisverwaltung in Fried-berg mit Stephanie Becker-Bösch, Sozialdezernentin des Wetteraukreises.

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Vergiss deinen Namen nicht, AlwinMeyers Standardwerk zum Thema,,Kinder in Auschwitz“ wurde im Mittei-lungsblatt (Dez. 2016) eingehend be-sprochen und damit auf die besonderstragische Lebenswelt der jüngsten Op-fer von Auschwitz hingewiesen.

Die eigene Lebensgeschichte, Iden-tität (im Sinne von Erik H. EriksonsIdentitätstheorie) und LebenserfahrungVOR der traumatischen Erfahrung mitAuschwitz verkürzte sich bei den jungenund jüngsten Deportierten und Inhaftier-ten in zahlreichen Fällen dem Lebensal-ter entsprechend erheblich. Das Lebenvon im Konzentrationslager Auschwitzgeborenen Säuglingen hatte überhauptkeine Geschichte VOR Auschwitz.

Diese Problematik und ihre Auswir-kungen wurde während einer einmali-gen Gedenkstätten-Begehung zahlrei-cher ehemaliger Kinder von Auschwitzthematisiert, die im März 1995 von derHistorikerin des Staatlichen Auschwitz-Museums, Helena Kubica, organisiertworden war. Kubica veröffentlichte indeutscher Sprache u.a. im Jahre 1997 im20. Band der Hefte von Auschwitz denBeitrag „Dr. Mengele und seine Verbre-chen im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“, 1999 den Beitrag „Kinderund Jugendliche im KL Auschwitz“ im2. Band von „Auschwitz 1940-1945. Stu-dien zur Geschichte des Konzentrations-und Vernichtungslagers Auschwitz“,

2002 den Gedenkband „Man darf sienie vergessen“ sowie 2010 die Samm-lung der Zeitzeugen-Berichte „Voicesof Memory 5: Pregnant Women andChildren Born in Auschwitz“.

Die überwiegende Mehrzahl der ge-genwärtig letzten von ehemals schät-zungsweise 80.000 Auschwitz-Überle-benden erlebte das Grauen der Konzen-trations- oder Vernichtungslager alsKind und Jugendliche/r. Unter ihnen be-fand sich auch der im Alter von 15 Jah-ren deportierte Franzose Maurice Cling,der kurz nach seiner Befreiung einen be-eindruckenden Erinnerungsbericht ver-fasste, den er allerdings erst 1999 unterdem Titel „Vous qui entrez ici..., Un en-fant à Auschwitz“ („Ihr, die ihr hier ein-tretet…, Ein Kind in Auschwitz“) in fran-zösischer Sprache veröffentlichte (2008in einer überarbeiteten Neuauflage so-wie in polnischer Übersetzung).

Cling war zudem Mit-Herausgeberdes mehrsprachigen Tagungs-Bands derAuschwitz-Stiftung „Ces visages quinous parlent/these faces talk to us“ („Die-se Gesichter sprechen zu uns“) über dieinternationale Konferenz zum ThemaErinnerungsberichte von Überlebendender nationalsozialistischen Konzentrati-ons- und der Vernichtungslager vom 16. -18. September 1994 sowie Verfasser desVorworts von „Mémoires de survivants :Des camps de la mort nazis“ („Überle-benden-Erinnerungen: die nationalsozia-

Jugendliche im KonzentrationslagerZur Besprechung von Maurice Clings Erinnerungsbericht

Die Erinnerungen der ehemaligen Kinder von Auschwitz haben einen besonderenStellenwert unter den Zeitzeugenberichten der Überlebenden. Maurice Cling(1929 geboren) kam als 15-Jähriger nach Auschwitz und hat seine Erinnerungenkurz nach der Befreiung 1945 aufgeschrieben, aber erst 1999 veröffentlicht - nacheiner sprachlichen Überarbeitung.

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muss ab Mai 1942 den gelben Stern tra-gen, aber Maurice leidet nicht wirklichdarunter. Er ist noch ein Kind, dessen Le-benskreis sich auf die Familie, die Schule,die Lehrer beschränkt, und vor allem aufseine Mitgliedschaft bei den israelitischenPfadfindern, die ihm so viel bedeutet.

So ist er wirklich völlig naiv, als er inAuschwitz ankommt. Umso brutaler istder Schock. Gleich bei der Ankunft auf

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listischen Todeslager“, Paris 2004). Die-ses Buch beschäftigt sich mit deportier-ten Widerstandskämpfern, die in Kon-zentrationslagern inhaftiert waren.

Maurice Cling war Professor fürAnglistik und von 1997 bis 2006 Präsi-dent der französischen Vereinigung derDeportierten und internierten Wider-standskämpfer („Fédération Nationaledes Déportés et Internés Résistants et Pa-

triotes“) und damit auch über seine eige-ne Geschichte hinaus ein Bewahrer derErinnerung an Auschwitz.

Der folgende Bericht über ClingsZeugnis ist auch das Porträt eines enga-gierten Menschen und Zeitzeugen, dersein Wissen vor allem an junge Men-schen seit vielen Jahren öffentlich undunermüdlich weitergibt.*

Andreas Kilian

Maurice Cling berichtet anläßlich derFilmvorstellung zu „Il faudra raconter...“(Regie: Daniel und Pascal Cling, 2004, 57minutes, Iskra – Arte: Archiv Cling).

Zunächst handelt es sich um das Zeit-zeugnis eines sehr jungen Heranwachsen-den, am Anfang und am Ende des Buchsblickt dann aber auch mittels persönli-cher Reflexionen der reife Erwachseneauf sein Erleben als Jugendlicher zurück.

Maurice Cling war im achten Schul-jahr, als er in seiner Klasse der EcoleLavoisier im 5. Arrondissement am Tagseines 15. Geburtstags, dem 4. Mai 1944,von den Deutschen verhaftet wurde.Mit seinem älteren Bruder Willy, kaum17, seiner Mutter Simone, 41, und sei-nem Vater Jacques, 50, vor Jahren ausRumänien eingewandert, französischerStaatsbürger, freiwillig in den ErstenWeltkrieg gezogen und mehrfach aus-gezeichnet, wird er in Drancy interniertund am 20. Mai 1944 mit dem TransportNr. 74 nach Auschwitz deportiert.

Maurice wurde im engen Familien-kreis großgezogen, besonders beschütztund verhätschelt von seiner Mutter. DieBesetzung und die antisemitischen Ge-setze zwingen seinen Vater, sein Kürsch-nergeschäft aufzugeben und ,,illegal” zuHause zu arbeiten. Die ganze Familie

Maurice Cling - ein Kind in AuschwitzPortrait und Buchbesprechungvon Maryvonne Braunschweig

* Ein Interview mit Maurice Cling ist online unter folgendem Pfad verfügbar:www.sueddeutsche.de/politik/kz-ueberlebender-maurice-cling-kz-ueberlebender-maurice-cling-1.1109860

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der Rampe geschieht die Selektion, zu-erst die endgültige Trennung von seinerMutter, dann von seinem Vater, die un-mittelbar in die Gaskammer geschicktwerden (was er später erfährt). Er bleibtmit Willy zusammen und kommt mit ei-ner Kolonne von etwa hundert Männernund Jungen ins Lager Auschwitz I.

Dort erleiden sie in einem Block, iso-liert vom übrigen Lager, die brutaleDressur der Quarantäne und machen dieEntdeckung, wie ein unverständlicherPlanet funktioniert. Dann kommt die Ar-beit: Planierungskommando, Holzkom-mando, Schubkarren schieben, mit demSpaten umgehen, Holz spalten, Schläge,Blasen, Erschöpfung… Endlich eine Ver-besserung: Arbeit im Effektenlager ,,Ka-nada”, wo die den Juden gestohlenen Sa-chen aufbereitet werden, und wo man,,organisieren” und ,,klauen” kann, wasman zum Überleben braucht.

Das dauert aber nur eine Zeit, dannkommt das Kohlenkommando, dann wie-der Erdarbeiten, und das Müllkomman-do. Dort wird mitten in Kohlfeldern undriesigen Haufen von Erde, Mist, Kalk undKonservendosen der Müll herangebracht,sortiert und verbrannt, wobei auch hierein paar Kohlköpfe und sogar Marmela-de abfallen.Dort in der Nähe trifft Mauri-ce auch seinen künftigen ,,Schutzengel”,Eva, eine deportierte Französin, die fürdas Rajsko-Labor arbeitet und sowohl ei-ne relative Autonomie zu genießen alsauch eine Autorität sogar für die Kaposzu sein scheint.

Nach vier Monaten wird sein BruderWilly, seine Stütze, sein alter ego, Opfereiner Selektion im Innern des Lagers.Maurice, am Boden zerstört, ist jetzt ganzallein. Das ist die Zeit, wo er ganz untenist, er wird dem schlimmsten Kommandoinnerhalb des Müllkommandos zugeteilt,dem ,,Scheißkommando”! Das ist die

tiefste Erniedrigung: von allen zurückge-wiesen, übel riechend, verlassen.

Aber da lernt er auch die Solidaritätkennen. Schnee kündigt sich an, er wirdimmer schwächer, ein Unterkapo weistihn ins ,,Revier” ein, was für ihn die Ret-tung ist. Der Blockarzt ,,behandelt” ihn– soweit das ohne Medikamente geht –und Eva übermittelt ihm ein Geschenk.Er nimmt an Kräften wieder zu. Undanstatt jetzt mitten im Winter wieder zuden Außenkommandos hinausgeschicktzu werden, wird er als Stubendienst ge-braucht, und das bis zur Evakuierung.

Ein neues schreckliches Erlebnis, derTodesmarsch, beginnt am 17. Januar 1945.Bald kann er nicht mehr und will sich inden Schnee fallen lassen, als ein unbe-kannter belgischer Deportierter ihn wie-der in die Reihen zieht und ihm die Kraftzum Weitergehen vermittelt. Die Evaku-ierten werden dann in offenen Güterwa-gons weitergebracht: Kadaver, Kälte,Hunger, Durst. Maurice kommt halb be-wusstlos im Lager Dachau an. Er lässtsich auf einen Haufen toter Körper fallen,und wieder rettet ihn die Solidarität: einBlockältester ergreift ihn und führt ihn zuden anderen in die Kolonne zurück.

Von da an vegetiert er hungerndund ohne Tätigkeit in einem Block. DieZustände sind nicht so schlimm wie inAuschwitz, aber die Tage sind lang undleer.Am 19.April wird er wieder evaku-iert, zunächst in einem Personenzug,dann zu Fuß in Richtung Alpen, undschließlich kommt nach vielem Hin undHer die Befreiung durch die US-Armeein Mittenwald in Oberbayern.

Dann kehrt er endlich nach Pariszurück, kommt am 18. Mai ins HotelLutetia, genau ein Jahr nach seiner Ver-haftung. Maurice Cling wiegt in dieserZeit höchstens 28 Kilogramm. In Pariskommt er wieder mit seinen Groß-

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eltern, seiner Tante und seinem Vetterzusammen, die nicht deportiert wordenwaren. In der Folge bekommt Mauricevier Söhne, er wird Englischlehrer undLinguist an der Universität.

Was zeichnet dieses Zeitzeugnis ge-genüber anderen aus?

Zunächst wurde es von einem Kindgeschrieben, das nach Auschwitz depor-tiert wurde, wie das von Nadine Heftleroder Ana Novac. Tatsächlich beruht dasBuch von Maurice im Wesentlichen aufAufzeichnungen, die der Sechzehnjähri-ge kurz nach seiner Rückkehr verfassthatte. Fünfzig Jahre später wurden siein Buchform gebracht.

Dieses Zeitzeugnis ist also auf mehre-ren Ebenen zu lesen. Zunächst ist es dasZeugnis eines sehr jungen Heranwach-senden, es ist aber auch, am Anfang undam Ende des Buchs,der Blick eines reifenErwachsenen auf sein Erleben als jungerMensch.Besonders interessant und erhel-lend ist die beeindruckende Reihe vonAnmerkungen mit Belegen am Ende desBuchs – das Ergebnis von minutiösen undpräzisen Nachforschungen –, die die er-lebten Fakten, die Maurice, als er sie er-lebte und nicht verstehen konnte, er-klären und ergänzen, oder sie immer sehrsachlich in ihren Kontext stellen.

Diese Erzählung ist so etwas wie derVoltairesche Candide in der Hölle (vgl.Voltaires Novelle aus dem Jahre 1759,,Candide oder der Optimismus”)! Mauri-ce ist 15 und ist extrem arglos, ja verblüf-fend naiv. Maurice versucht immer wiedersich anzupassen, hat aber nicht wirklichdie Fähigkeit dazu. Überleben im Lagerverlangt, schlau und verschlagen zu seinoder es sehr schnell zu werden, Mauriceist das völlige Gegenteil. Selbst wenn erglaubt, verstanden zu haben, wird er nochübers Ohr gehauen, aus nichts kann er et-was lernen. Wie er im Rückblick selbst

sagt: Er war im Lager ,,ein schwaches undweinerliches Kind”. Umgekehrt waren esvermutlich gerade diese Schwächen, dieMitleid erregten und ihm Hilfe brachten.

Diese Erzählung ist die des Lebensund täglichen Überlebens, sie widmetsich mit der Genauigkeit des Entomolo-gen den wahren kleinen Details des täg-lichen Lebens sowohl während der Be-setzung als auch während der Deportati-on, was sie fesselnd macht. Die Spracheist von großer Klarheit, vermutlich weilder Text lange nach der Niederschriftvon einem Linguisten überarbeitet wur-de. Die Erzählung ist auch didaktischwohl konstruiert, was sie selbstverständ-lich auch pädagogisch interessant macht.

Maryonne Braunaschweig

CLING Maurice, Vous qui entrez ici...,Un enfant à Auschwitz, Graphein/FN-DIRP, 1999, Neuausgabe Un enfant à Aus-chwitz,Verlag de l’Atelier/FNDIRP, 2008

Für die Druckgenehmigung danken wir derAutorin,dem Übersetzer aus dem Französi-schen Ulrich Hermann sowie für die freund-liche Vermittlung Nicole Mullier von „Cer-cle d’étude de la Déportation et de la Shoah -Amicale d’Auschwitz“. Insbesondere dan-ken wir Maurice Cling dafür, seine Erfah-rungen und Erlebnisse mit uns zu teilen.

Maurice Cling, Klassenfoto 1943-1944kurz vor seiner Verhaftung (mittlere Rei-he, zweiter von links; Archiv Cling)

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Zum Alltagswissen gehört,dass Archiveund Sammlungen immer wieder Neuesoder Erstaunliches zu Tage fördern.Dass an viel besuchten, durchsuchtenund untersuchten Orten Überraschen-des gefunden wird, ist erstaunlich.

Wieslaw Swiderski, unser Guide inAuschwitz, von dem die Gruppen im-mer den Eindruck haben, dass er je-des Detail kenne, erzählte unswährend der Führung durch Bir-kenau, zwei Mal hätten ihn Jugendli-che in der Kinderbaracke im Frauen-lager gefragt, was es mit den Metall-teilen – vermutlich von Öfen – dahin-ten in der Ecke auf sich habe, auf de-nen doch das VW-Signet zu sehen sei.

Die ersten Frager wimmelte ernoch ab, das gebe es hier nicht. Zumzweiten Mal gefragt, reagierte er wie-der abweisend, ließ sich aber zu denbewussten Ecken hinführen. Tatsäch-lich zeigten ihm die Jugendlichen dieunscheinbaren Teile. Sie waren viel-leicht nur deswegen auf sie aufmerk-sam geworden, weil ihnen das VW-Sig-net aufgefallen war. Die Jugendlichengehörten zu einer Gruppe von VW-Auszubildenden, wie sie der Konzernseit Jahren in die Gedenkstätte Ausch-witz führt, wo sie über Auschwitz ler-nen und ihre berufliche Kompetenzeinsetzen bei der Pflege, Reparatur, Si-cherung und Konservierung der Restevon Stammlager und Birkenau.

Die Recherchen von Wieslaw Swie-derski ergaben:VW hat 1941/42 220.000solcher Öfen für die Organisation Todtproduziert. Sie sollten an die Ostfront

geliefert werden. Offensichtlich hat dieLieferfirma Öfen für Birkenau abge-zweigt. Für VW bedeutete diese Pro-duktion 6 Mio Bruttoeinnahmen und2 Mio Nettogewinn.In einer der zahlrei-chen Veröffentlichungen zur Zwangsar-beit bei VW finden sich Fotographien,auf denen die Öfen und Arbeiter bei de-ren Produktion zu sehen sind.

Immer wieder finden sich Belege –nicht nur für den Terror und die Ver-brechen des NS-Staates, sondern auchdafür, dass die Liste der Profiteure desNS-Mord- und Kriegsregimes sichliest wie das „Who is Who“ der bun-desrepublikanischen Wirtschaft.

Uwe Hartwig

VW und die Öfen in den Birkenau-Baracken

Einer der alten Öfen mit dem VW-Signet.

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Da ab Frühjahr 1942 die Zahl derDeportationen von Juden nach Ausch-witz ständig zunahm, hatten die Deut-schen einige praktische Probleme zulösen. Das Krematorium im Stammla-ger mit nur einer einzigen Gaskammerhatte nicht genügend Kapazitäten(340 Leichen pro Tag), den Massen-mord in dem von den Dienststellen imBerliner Reichssicherheitshauptamt(RSHA) vorgegebenem Tempo zu be-wältigen. Lagerkommandant RudolfHöß, der für die Deportationen zu-ständige Adolf Eichmann und SS-Ge-neral Hans Kammler, der als Archi-tekt für die Planung und den Aufbausowie die Oberaufsicht über alle La-gerbauvorhaben inklusive Gaskam-mern und Krematorien zuständig war,bestimmten deshalb als Standort füreine neue weitere Vernichtungsanlagedas Dorf Brzezinka (Birkenau).

Dort fiel die Wahl auf ein verlasse-nes Gehöft, das einem polnischen Bau-ern gehört hatte.Es war abgelegen,vonHecken und blühenden Bäumen um-geben und nicht weit von der Bahn ent-

fernt. Das Innere dieses sogenanntenkleinen roten Hauses wurde in wenigenWochen zu zwei Gaskammern umge-baut, die am 20. März 1942 „in Betriebgingen“. Die SS bezeichnete diese Ver-nichtungsstätte als Bunker 1.

Höß rechnete mit ungefähr 800Menschen, die hier bei einer „Aktion“durch Gas (Zyklon B) getötet werdenkönnten. Dazu wurden in dem Hauszwei Zwischenräume entfernt, die Fen-steröffnungen zugemauert und die Zu-gänge abgedichtet. Um das Zyklon Beinzuwerfen, wurden an der Außen-wand für jede der Gaskammern zweiÖffnungen angebracht. Zur Täuschungder Opfer waren auf den Türen Schildermit der Aufschrift ,,Zur Desinfektion”befestigt. Die Häftlinge bezeichnetendas Haus wegen seiner roten Ziegel-steine als ,,das kleine Rote Haus”.

In den ersten Monaten wurden dieDeportierten nach dem Ausstieg an deralten Judenrampe ohne Selektion di-rekt in das Rote Haus „geleitet“.Ab Ju-li 1942 wurden dann Selektionen durch-geführt. Von den Angekommenenwurden regelmäßig nur 25 bis 30 Pro-zent als Arbeitskräfte ins Lager einge-

Zwei Bauernhäuser in BirkenauDie Geschichte vom Roten und vom Weißen Haus

Der industriell betriebene Massenmord in Auschwitz-Birkenau begann im Stamm-lager mit der Vergasung von sowjetischen Kriegsgefangenen und kranken polni-schen Häftlingen in den Kellern von Block 11 und dann in dem zur Gaskammerumgebauten Leichenkeller des Krematoriums I. Bevor dann in Birkenau diegroßen Krematorien II - V mit Gaskammern gebaut waren, wurden die zur Ver-nichtung bestimmten Menschen in provisorischen Gaskammern, den sogenanntenBunkern 1 und 2, ermordet. Das war eine weitere wichtige Phase bei der Perfektio-nierung des industriell und nach staatlicher Weisung vollzogenen Völkermordes.

Von Alexander Wolf

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wiesen.Die Kranken,Invaliden,Müttermit Kindern, schwangere Frauen sowiePersonen mit schwächerem Körperbauwurden mit Lastwagen in den Bunker 1(Rotes Haus) gefahren. Falls es anLKW fehlte, wurden die Deportiertenzu Fuß querfeldein über Wiesen ge-führt, auf denen später Baracken desdritten Bauabschnitts (B III / Mexiko)des Lagers Birkenau errichtet wurden.

Angekommen am Roten Haus mus-sten sich die Opfer entkleiden und wur-den anschließend in die Gaskammer ge-führt. Nach der Mordaktion musste dasjüdische Sonderkommando* die Lei-chen auf eisernen Loren zu einem 100bis 150 Meter entfernten Ort fahren,wosie in tiefen Löchern (Massengräber)vergraben wurden. Zuvor waren denFrauen die Haare abgeschnitten undallen Leichen die Goldzähne ausgebro-chen worden.

Gestank und wie NebelDer Auschwitzhäftling Stanislaw Hantzschildert in seinen biografischen Erzäh-lungen Zitronen aus Kanada folgendeBeobachtung: „Anfang 1943 beobach-tete ich, wie ein Transport von der altenJudenrampe zum Roten Haus (Bunker1) geführt wurde. Ich wurde damals voneinem Oberkapo befohlen beim Ba-rackenbau in BIII sogen. - Mexiko -Dacharbeiten vorzunehmen.Vom Dach

aus konnte ich das ganz gut sehen.Es waren vielleicht 200 Leute,Frauen,

Männer und Kinder. Sie wurden mitLKW transportiert. Bei einem Transportwollten die Leute nicht herunterspringen.Kurzerhand machte der Fahrer die Kip-pe hoch, schmeißt die Menschen herun-ter. Da kommt das Sonderkommandound reißt den Frauen die Kleider und denMännern die Anzüge ab.Dann gehen al-le Leute rein ins Haus. Einer drückt dieTür zu und verschraubt sie, sowie bei ei-nem Rad zum Lenken. Danach kommtein SS-Mann und schüttet das Gas (Zy-klon B) hinein.Da sind allerdings Kinderübrig geblieben, da die Gaskammernschon voll waren.Vielleicht sechs bis zehnKinder, ich weiß es nicht mehr so genau.Dann nimmt ein SS-Mann ein Kind andie Hand, und das die Hand vom näch-sten Kind usw. Da sind Eisenbahnschie-nen, schmaler als normal, dort gehen sie.Bis zu einem Graben, wo ein Feuerbrennt. Dann nimmt der ein Kind undschmeißt es so in das Feuer.Dann erst einSchrei und dann wieder ruhig usw.bis al-le im Feuer verbrannt sind.Vielleicht einehalbe Stunde später kommt das Sonder-kommando und macht die Tür auf. EineLeiche nach der anderen wurde aus derGaskammer in die Rollwagen geschmis-sen und zu den dortigen Gruben gefah-ren. Der Gestank verbreitete sich imganzen Lager und nicht nur dort, son-

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* Das Sonderkommando (SK) bestand aus jüdischen Häftlingen. Sie wurden gezwun-gen, die Ermordung der Deportierten vorzubereiten und die Leichname anschließendin den Krematorien zu verbrennen.Als es diese Krematorien noch nicht gab oder dieKapazitäten nicht ausreichten, erfolgten die Verbrennungen im Freien. Dazu wurdenvom SK riesige Gräben ausgehoben. Als Zeitzeugen für die Verbrechen der Deut-schen wurden die Häftlinge in bestimmten Zeitabständen ermordet und immer wie-der durch andere Häftlinge bei den Selektionen/Zugängen ersetzt.

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dern noch 15 Kilometer in der Umge-bung. Das war, wenn es dort brennt, wieNebel, der sich nach Birkenau und bisnach Auschwitz zog. Das war für uns imLager nichts Neues.“

Das „Rote Haus“ war wegen dersteigenden Zahl von Transporten nichtmehr leistungsfähig, und irgendwannim Juni 1942 befahl Höß den Umbau ei-nes zweiten Gehöfts in Birkenau zu ei-ner Gaskammer. Die Wahl fiel auf dasAnwesen des Bauern Jozef Harmata.Da es weiß verputzt war, wurde es„kleines Weißes Haus“ genannt. Es lag800 Meter vom Roten Haus entferntund nur ca. 100 - 150 Meter von der so-genannten Zentralsauna in einem Bir-kenwäldchen, von Obstbäumen umge-ben, die im Frühjahr geblüht haben.

Höß ließ Ende August zur gleichenZeit wie bei Bunker 1 (Rotes Haus) drei

Baracken errichten, in denen sich dieOpfer auskleiden mussten. Die Um-bauten im Innern und Äußeren desWeißen Hauses gingen ähnlich wiebeim Roten Haus vonstatten. Aller-dings konnten jetzt aufgrund der größe-ren Räume bis bis zu 1200 Menschengleichzeitig in die vier Gaskammernhineingetrieben und ermordet werden.

Die VerbrennungsgrubenDa die Krematorien (Vernichtungsan-lagen) II - V in Birkenau noch nichtfertiggestellt waren, wurden die er-mordeten Menschen in riesigen Mas-sengräbern in der Nähe der beidenBunker verscharrt. Damit hatten aller-dings die Deutschen ein Problem. DerSommer in Birkenau war 1942 sehrheiß. Der SS-Unterscharführer PeryBroad* erinnerte sich an folgende

Fundament einer Pferdestallbaracke neben dem Asche-Teich bei Krematorium IV

* Pery Broad meldete sich 1941 freiwillig zur SS und wurde 1942 nach Auschwitzabkommandiert. Dort meldete er sich auch freiwillig zur Politischen Abteilung (La-ger-Gestapo) und hat regelmäßig an Exekutionen mitgewirkt (siehe: Ernst Klee:Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Frankfurt/Main, 2009).

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Situation: ,,Die Sommersonne brannteauf den Boden von Birkenau, die nichtverwesten, sondern nur faulenden Lei-chen begannen sich zu regen, und ausder aufbrechenden Erdkruste brodelteeine schwarzrote Masse, die einen mitWorten nicht zu beschreibenden Ge-stank verbreitete.Es musste also schleu-nigst etwas geschehen.”

Da der Tod ein Meister ausDeutschland ist*, hatten die Deut-schen auch dafür eine Lösung parat.Demzufolge wurde Ende 1942 in Bir-kenau mit der Verbrennung von frischvergasten Menschen auf Scheiterhau-fen begonnen. Auf eine Schicht Holzwurde eine Schicht Leichen gelegt,dann wieder Holz und wieder Lei-chen, bis so schließlich 2000 ermorde-te Menschen in Brand gesetzt wurden.

Gleichzeitig wurde mit der Ver-brennung ausgegrabener Leichen be-gonnen. Das Feuer wurde mit Abfall-produkten der Petroleumverarbeitung,Methanol sowie dem Fett, das die Lei-chen absonderten, in Gang gehalten.Bis Dezember 1942 waren vier Ver-brennungsgruben vorhanden. Sie wa-ren jeweils 30 Meter lang,7 Meter breitund 3 Meter tief. Von Mai bis Ende1942 wurden 120.000 Männer, Frauenund Kinder nur wenige Stunden nachihrer Ankunft in den Bunkern 1 und 2durch Gas ermordet.

Welche Qualen die für die Durch-führung und spätere Verbrennung derLeichen eingesetzten Mitglieder des jü-dischen Sonderkommandos durchle-ben mussten, lässt sich nicht in Worte

fassen.Teilweise mussten diese Männerdabei auch mit ansehen, wie ihre eige-nen Familienangehörigen,Freunde undNachbarn vergast und würdelos ver-brannt wurden. Nur wenige der Son-derkommandohäftlinge haben über-lebt. Einige konnten sich durchringen,darüber zu sprechen; ihre Zeitzeugen-aussagen sind unschätzbare Dokumen-te. Die erschütternden Berichte findensich wieder in den Büchern Wir weintentränenlos von Gideon Greif, Zeugenaus der Todeszone" von Eric Friedler,Barbara Siebert und Andreas Kilian,Meine Arbeit im Sonderkommando vonShlomo Venezia, Ich war Doktor Men-geles Assistent von Miklos Nyiszli undNur die Sterne waren wie gestern vonHenryk Mandelbaum.

Vergangenheit und GegenwartAm 2. Juni 1947 erklärte der polnischePräsident Boleslaw Bierut anlässlicheiner Gedenkfeier das Gelände desLagers Auschwitz zum staatlichen Mu-seum. Die polnische Regierung legteden Umfang fest, und zwar zwei Ein-heiten: Auschwitz 1, das Stammlager,und Auschwitz 2, das Vernichtungsla-ger Birkenau. Monowitz, das einstigeAuschwitz III, wurde den Kommunenüberlassen, zu denen es gehörte.

Die beiden Vernichtungsanlagen,Rotes Haus und Weißes Haus mit denMassengräbern wurden zunächstebenfalls nicht als authentische Ortedes Völkermords ins Konzept desstaatlichen Museums miteinbezogen.

Auf das bereits 1943 von den Deut-

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* Formulierung nach dem Gedicht Todesfuge von Paul Celan.

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schen abgerissene Rote Haus wurde inder Nachkriegszeit von dem Eigentü-mer des Grundstücks ein neues Hauserrichtet, und zwar auf den Fundamen-ten der Gaskammern. Im Jahre 2002wurde das Gelände vom Vorsitzendendes französischen Yad-Vashem-Komi-tees, Richard Prasquier, dem Eigentü-mer für 100.000 US-Dollar abgekauft.Die Leitung des Museums Auschwitz-Birkenau ließ das Haus abreissen underrichtete eine kleine Gedenkstätte mitErinnerungssteinen.

Am Rande dieser einstigen Ver-nichtungsanlagen entstand ein Wohn-viertel. Ich finde es beklemmend, dassnicht weit von dem Ort, an dem vorrund 75 Jahren etwa 100.000 Menschenermordet und in Massengräbern ver-

scharrt wurden, heute wieder Men-schen wohnen und leben.

Auf alle Fälle sollten die Massen-gräber und der historische Ort desRoten Hauses bei Rundgängen aufdem Gelände der Gedenkstätte Bir-kenau nicht außen vor gelassen wer-den. Mit der Zerstörung der Vernich-tungsstätten wollten die Deutschendes Dritten Reiches ihre Menschheits-verbrechen vertuschen - es sollte„Gras darüber wachsen“. Das darfnicht geschehen; insofern ist die Er-haltung der historischen Orte als Ge-denkstätten von wesentlicher Bedeu-tung. Die heutigen Generationensollen mit eigenen Augen sehen: Dawaren die Massengräber, die Ba-racken und die Gaskammern. •

Vier Gedenksteine vor dem Asche-Teich in Birkenau. Der englische Text lautet ,,To thememory of the men, women, and children who fell victim to the Nazi genocide. Here liether ashes. May ther souls rest in peace.” Auf den anderen Steinen steht der gleiche Textin Polnisch, Hebräisch und Jiddisch.

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Im Oktober diesen Jahres erregteeine Veröffentlichung internationalgroßes Aufsehen: Pavel Polians Artikel„Das Ungelesene lesen. Die Aufzeich-nungen von Marcel Nadjari, Mitglieddes jüdischen Sonderkommandos vonAuschwitz-Birkenau, und ihre Er-schließung“ in den Vierteljahrsheftenfür Zeitgeschichte (VfZ 4/2017) be-schreibt den Neurekonstruktionspro-zess und die Bedeutung eines 12-seiti-gen Briefs, der auf dem Hinterhof vonKrematorium II (III) von dem griechi-schen Sonderkommando-HäftlingMarcel Nadjary versteckt worden warund erst am 24. 10. 1980 von einemSchüler der Bryneker Forstwirtschafts-schule in etwa 40 cm Tiefe gefundenwurde. In Polians Artikel ist der Brieferstmals fast vollständig abgedrucktund mit nützlichen Anmerkungen so-wie wertvollen Hinweisen des Überset-zers publiziert worden.

Aufgrund der starken Beschädigungkonnte das Manuskript erst am 31. Juli1981 ins Polnische übersetzt werden, al-lerdings waren nur 10 % des Textes ent-zifferbar. Bis dahin war (abgesehen vonder dreisprachigen Adressierung aufder ersten Seite) völlig unbekannt, wasin dem Brief überhaupt steht.

Im Jahre 1996 wurden die wenigenentzifferbaren Brief-Fragmente im vom

Verlag des Staatlichen Museums Ausch-witz herausgegebenen Sammelband derSonderkommando-Handschriften un-ter dem Titel „Inmitten des grauenvollenVerbrechens“ auf Deutsch veröffent-licht. In dieser Publikation wurden auchFeststellungen über Nadjary auf Grund-lage erhaltener Lagerverwaltungsaktengetroffen. Personenbezogene Angabenkonnten so aus einem Zugangsbuch so-wie von einer Karte der Häftlings-schreibstube des KL Mauthausen vom25.Januar 1945 gewonnen und dem Ver-fasser des Briefs zugeordnet werden.

Nicht bekannt war dem Ausch-witz-Museum hingegen, dass das Do-kument mit den meisten Informatio-nen, der originale Häftlings-Personal-

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,,Die Dramen, die meine Augen gesehen haben,sind unbeschreiblich”

Neuentzifferung des ,,Unbeschreiblichen” - die Veröffentlichung vonMarcel Nadjarys Brief und seine Bedeutung für die Auschwitz-Forschung

Marcel Nadjary 1943,©M.Leon Coll.,Centropa

Von Andreas Kilian

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bogen Nadjarys, im Archiv des YIVO(Jüdisches Wissenschaftliches Institut)in New York verwahrt wird, ausge-rechnet in der Stadt, in der Nadjarydie letzten 20 Jahre bis zu seinem Todim Jahre 1971 gelebt hatte. Das beson-dere Dokument wird in diesem Arti-kel erstmals publiziert.

Obwohl Nadjarys Brief das letzteZeugnis ist, das bislang auf dem Gelän-de der Krematorien in Auschwitz-Bir-kenau gefunden worden war und sichim Jahre 1980,36 Jahre nach seiner Ent-stehung, in entsprechend schlechtemZustand befand, konnte im Jahre 2016der russische IT-Experte Aleksandr Ni-kitjaev das Zeugnis - 36 Jahre nach sei-nem Auffinden - fast vollständig (90 %)mittels Multispektralanalyse rekonstru-ieren. Darunter konnten vier Seitenerstmals lesbar gemacht werden.

Das von Pavel Polian und Alek-sandr Nikitjaev angewandte Verfah-ren, das in Polians Artikel ausführlicherklärt wird, ist sicherlich nicht die ein-zige technische Methode, Unlesbareswieder sichtbar zu machen, aber offen-sichtlich eine sehr geeignete Lösung.

Im Fall von Nadjarys Brief ist heuteein anderes Textverständnis als nochvor wenigen Jahren möglich und einZuwachs von bedeutenden Informatio-nen erkennbar: Die Beschreibung derGaskammer (Blatt 4) und des vollstän-digen Vernichtungsprozesses (Blatt 4 -5) war zuvor nicht entzifferbar, genausowenig wie Zahlenangaben zum Sonder-kommando (Blatt 6), Informationenüber dessen Aufstand mit Namensnen-nungen von Opfern (Blatt 6 - 7) undNadjarys Schätzung der Gesamtzahl

von in Auschwitz-Birkenau ermorde-ten Menschen: „Insgesamt ungefähr1.400.000“ (Blatt 12). Sogar eine Datie-rung von Nadjarys Brief ist durch dieneu entzifferten Angaben möglich:

„(…) zuletzt trafen erstmals etwa 10000 Juden aus Theresienstadt in derTschechoslowakei ein. Heute kam einTransport aus Theresienstadt, aber Gottsei Dank haben sie die nicht zu uns ge-bracht, sie behielten sie in Lagern, eshieß, dass der Befehl kam, man sollekeine Juden mehr töten, und das stimmtallem Anschein nach, da haben sie jetztim letzten Moment ihre Meinung geän-dert – jetzt da allerdings kein einzigerJude mehr in Europa übrig gebliebenist, doch für uns liegt die Sache anders,wir müssen von der Erde verschwinden,

YIVO Archives, Reg.No.: RG 1400 – S2 –87 (microfilm MK 541, 00354)

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weil wir so Vieles wissen über die unvor-stellbaren Methoden ihrer Misshand-lungen und Vergeltungsaktionen.“

Der von Nadjary erwähnte Trans-port erreichte Auschwitz-Birkenau am30. 10. 1944. Zwischen dem 29. 9. und30. 10. 1944 trafen mindestens 18.400Menschen aus dem Ghetto Theresien-stadt in Auschwitz-Birkenau ein.

Laut einer auf dem Krematoriums-gelände ausgegrabenen „Kremie-rungs-Liste“, die dem Sonderkomman-do-Häftling Lejb Langfuß zugeschrie-ben wird, sind im Oktober 1944 schät-zungsweise 15.500 Deportierte ausTheresienstadt in den Krematorien Iund II, davon 7.000 Menschen in demKrematorium (II), in dem Nadjary ein-gesetzt wurde, vergast worden. Derletzte, am 30. 10. 1944 in Auschwitz ein-getroffene Transport aus Theresien-stadt fehlt auf Langfuß‘ Liste. Offenbarwurde ein Teil der Deportierten in dasBirkenauer Durchgangslager ohne Re-gistrierung verbracht und nicht vergast.

Das „Kalendarium Auschwitz“ da-tiert die Einstellung der Vergasungenin Auschwitz auf den 2. 11. 1944. Ne-ben der Langfuß-Liste belegt nunauch Nadjarys Brief als zweites glaub-würdiges schriftliches Zeugnis ausdem Sonderkommando, dass die Ver-nichtungsaktionen bereits vor demletzten Zugang aus Theresienstadteingestellt worden waren.

Aktuellen griechischen Untersu-chungen zufolge seien jüngst nochweitere Stellen in Nadjarys Brief ent-ziffert worden, darunter wohl auchdas Datum 3. 11. 1944. Wenn dies zu-träfe, liegt der Schluss nahe, dass der

Text nicht an einem Tag (30. 10. 1944)geschrieben und beendet worden ist.

Der Fall Nadjary lässt auf die Er-langung noch weiterer neuer Er-kenntnisse hoffen. Einzigartig an Nad-jarys Text ist auch, dass sein Verfasser alseinziger Sonderkommando-Häftling,dessen vergrabene Schriften entdecktworden sind, das Kriegsende überlebthatte und im Jahre 1947 sogar seine Er-innerungen in einem 58-seitigen Manu-skript dokumentierte, das 1989 erstmalsauszugsweise in der griechischen Erst-ausgabe von Berry Nahmias Buch ,,ACry for Tomorrow 76859…” undschließlich 1991 vollständig in NadjarysBuch ,,Chroniko” (beides in Griechisch)veröffentlicht wurde. Die Erinnerungs-Schrift aus der Nachkriegszeit bestätigteinerseits in den meisten Fällen die An-gaben im Krematoriums-Brief und er-gänzt sie auf der anderen Seite auf be-eindruckende Weise.Es bleibt zu hoffen,dass Nadjarys Gesamtwerk zukünftigauch in Deutschland verlegt wird.

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Erstveröffentlichung von Brief-Auszügen inder griech. Zeitung Rizospastis, 22. 4. 1982

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Hervorgehoben werden sollteauch, dass Nadjarys Brief ein wahr-haft vergessener Schatz war. Sein Ver-fasser verriet weder während seinerHäftlingszeit noch danach Kamera-den, Freunden, Bekannten und nochnicht einmal Familienangehörigen,dass er einen Brief in der Erde desKrematoriumshofs vergraben hatte.Nadjary erlebte die Entdeckung sei-nes Briefs tragischerweise nicht mehr.

Mit Polians Veröffentlichung inder VfZ liegt Nadjarys Brief nun aucherstmals in fast vollständiger deut-scher Übersetzung vor. Im Gegensatzzu anderen Schriften von Sonder-kommando-Chronisten, die nachKriegsende aufgefunden werdenkonnten, war Nadjarys Brief das amwenigsten beachtete Zeugnis. Zu Un-recht, wie der jetzt zugängliche Textbeweist. •

Im Schatten des Rechtsrucks inEuropa erscheinen 2017/2018 in Grie-chenland drei bedeutende Werke überAuschwitz: Leon Cohens erstmals 1996in englischer Sprache veröffentlichtesBuch „From Greece to Birkenau“, Mar-cel Nadjarys erstmals 1991 publiziertesBuch „Chroniko“, beide Werke vonÜberlebenden des Sonderkommandosverfasst und in ergänzter und überarbei-teter Fassung editiert, sowie GeorgePilichos erste umfangreiche Gesamtdar-stellung des Schicksals griechischerJuden in Auschwitz mit dem Titel„AUSCHWITZ - Greeks, NumbersCondemned to Death“, als späte Revisi-on des 2009 vom Hellenic Ministry ofForeign Affairs herausgegebenen fehler-haften Buchs „Greeks in Auschwitz-Bir-kenau“ von Photini Tomai. In allen dreiWerken wird ein Mann namens Erreraerwähnt, der im August 1944 als Sonder-kommando-Häftling für seine spekta-

kuläre Flucht vomOrt der Asche-Be-seitigung an derWeichsel berühmtgeworden war, dieer nicht überlebte.

Zudem wurdenim Internet mehre-re Beiträge überErrera veröffent-licht, die biografi-sche Angaben ent-halten, welche vonFamilienangehörigen Erreras nicht be-stätigt werden können. Sie folgen einerTradition, die bis in die 1940er Jahrezurückverfolgt werden kann. Im Folgen-den werden ausgewählte Beispiele desinternationalen Heldengedenkens anErrera (der auch mit den VornamenAlekos oder Alex erwähnt wird) undseiner Dynamik untersucht.

Das Flucht-Ereignis konnte 1944 vonvier überlebenden Augenzeugen be-

Zur Mythologisierung eines griechischen Helden des Widerstands

Der Auschwitz-Flüchtling Alberto Errera Von Andreas Kilian

Alberto Errera (o.J.,mit freundl. Geneh-migung seiner NichteMatthildi Eskinatzi)

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stätigt und an ihre Kameraden berichtetwerden. Ihren Aussagen zufolge habeErrera SS-Wachen niedergeschlagenund sei beim Durchschwimmen derWeichsel angeschossen worden. DemSonderkommando wurde der entstellteLeichnam zur Abschreckung zur Schaugestellt. Die Beschreibung wurde nachWeitergabe dann allerdings mehrfachverfälscht, so dass in der Literatur zahl-reiche Varianten zu finden sind. Ein Be-leg der Flucht findet sich in den Lager-verwaltungs-Akten. Überliefert wurdeder Eintrag einer Fluchtmeldung an diePolitische Abteilung K.L. Auschwitzdurch den Polizei-Anwärter der Schutz-polizei der Reserve Julden am 9. 8. 1944um 20:15 Uhr: „Jude Terrara Albert, Isra-el geb. 15.1.13 zu Larissa, am lk. Unter-arm tätowiert mit der Nr. 182552.“ (DerAnfangsbuchstabe war offenbar einSchreibfehler, da die bei RSHA-Trans-porten verteilten Häftlingsnummerngrundsätzlich alphabetisch der Reihen-folge nach vergeben worden waren undo.g. Nummer zwischen den Familienna-men mit „D“ und „G“ stand.Falsche An-gaben der Häftlinge gegenüber der La-gerverwaltung wie beim o.g. Geburtsortführen nicht selten zu Unplausibilitäten,denkbar wären auch Aufnahme- oderÜbertragungsfehler.)

Laut eidesstattlicher Erklärungseiner Witwe Matthildi Errera (geb.Eskinatzi) vor Gericht in Larisa am25.01.1983 wurde Alberto Errera1912 in Thessaloniki geboren und hei-ratete 1937 in Larisa. Fünf Jahre zu-vor hatte sie in der Gedenkstätte YadVashem noch das Geburtsjahr 1913angegeben.

Späte EhrungErreras Person und Fluchtversuch

wurde in zahlreichen Publikationenweltweit seit 1946 ein Denkmal gesetzt.Anfangs in Erinnerungsmemoiren undGedenkbüchern von Auschwitz-Über-lebenden, Jahrzehnte später verstärktin der Sekundärliteratur. In seiner Hei-matstadt verfasste im Jahre 1997 LinaFolina von der Union der Poeten undSchriftsteller Larisas sogar eine Ode mit100 Strophen zu Erreras Ehren. Vonder Hellenischen Republik (amtlicherStaatsname Griechenlands) wurde Er-rera für seinen Akt des Widerstands am4.10.1989 posthum die „Erinnerungs-medaille des Nationalen Widerstands1941-1945 (…) für seine direkte Teilnah-me als individueller Kämpfer des Natio-nalen Widerstands des griechischenVolkes gegen die Besatzungsarmee“vom nationalen VerteidigungsministerIoannis Varvitsiotis verliehen, aller-dings als sehr später Akt des Geden-kens an ein griechisches Opfer des Na-tionalsozialismus, das 1.600 km von sei-ner Heimat entfernt ermordet wordenwar. Erreras Witwe erlebte die Ehrungnicht mehr, sie verstarb ein Jahr zuvor.

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Nationale Auszeichnung für Alberto Errera,© Matthildi Eskinatzi 2017

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Obwohl seiner Witwe und Ver-wandten zufolge eine Widerstands-tätigkeit Erreras in Griechenland nichtbekannt war, reichte seine spektakulä-re Flucht in Auschwitz offenbar aus,um mit Hilfe von Fürsprechern dafürgeehrt zu werden. Der Fluchtversuchwar nicht der erste und auch nicht derletzte, der von Sonderkommando-Häftlingen durchgeführt worden war,aber sicherlich einer der berühmtesten,da sich das Ereignis rasch im Lagerherum gesprochen hatte, nicht zuletztwegen der Verwundung oder behaup-teten Ermordung von SS-Angehörigendurch den Griechen.

Partisan oder PechvogelIm Internet kursierende Behaup-

tungen, dass Errera bereits in Grie-chenland im Widerstand aktiv gewesensei, sind unsubstantiiert. Möglicherwei-se beruhen sie auf Verwechslungenoder falschen Schlussfolgerungen:Tatsächlich soll ein Elias Errera demWiderstand angehört haben, ein Mau-rice Errera wurde am 5. 4. 1943 bei ei-nem Fluchtversuch aus dem BaronHirsch Ghetto erschossen. Er habe sichden Partisanen anschließen wollen.Al-berto Erreras Schwager Samuel Eski-natzi wurde eine Woche vor dem Endeder Kampfhandlungen am 6. 1. 1945 inKaza Biotias als Anführer der 10.Kompanie des 54. ELAS –Regiments(Griechische Volksbefreiungsarmee)im Kampf getötet, allerdings nicht vonden deutschen Besatzern (wie vonMatsas in „The Illusion of Safety“ 1997behauptet), die sich bereits im Oktober1944 aus Griechenland zurückgezogen

hatten, sondern von griechischen Re-gierungs- und britischen Truppen.

Marcel Nadjary schrieb 1947 in sei-nen Erinnerungen über einen Häftling,den er im März 1944 im Durchgangsla-ger Haidari kennengelernt hatte: ,,Einanderer Mann war Alekos Alexandridis.Wir wurden beste Freunde. Er wurde be-schuldigt, der Lieferant der Guerilla ge-wesen zu sein. Später enthüllte er mir,dass sein Name Alberto Errera war.”Nadjari schreibt nicht, dass sein Freundfür die Partisanen gearbeitet habe. DemUniv.-Prof. John Kalef-Ezra zufolge wä-re seinerzeit als Verhaftungsgrund häu-fig eine Verbindung mit den Partisanen(ELAS) unterstellt worden; in ErrerasFall sei die Anzeige einer abgewiesenenverliebten Frau dafür verantwortlich ge-wesen,dass Alberto unter falschem Vor-wand in Athen verhaftet worden sei.Tatsächlich sei Errera mit seiner Frauund Schwägerin unter dem falschen Na-men Alekos Alexandridis in Farsala un-tergetaucht und habe von dort aus Le-bensmittel und andere Waren transpor-tiert, bevor er an die Gestapo ausgelie-fert wurde. Laut Prof. Kalef-Ezra hättenviele versteckte Juden Thessaliens sein-erzeit von dieser Tätigkeit gelebt. Aufdem Weg nach Auschwitz habe der De-portationszug am 2. 4. 1944 an der Stati-on Farsala gehalten, wo Errera einemzufällig vorbeigehenden Freund nocheine Nachricht an seine Frau habe zuru-fen können, die daraufhin mit ihrerSchwester in die Gebirgsregion von Pi-lio geflüchtet sei. Mit Joseph Nechamas1949 erstmals veröffentlichter Darstel-lung im 2. Band von Michael Molhosunzuverlässigem Werk „In Memoriam“

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(dt. Übers. 1981, S. 355) verbreitete sichder Partisanen-Mythos bis in die Ge-genwart. Nechama schrieb seinerzeit:„Aber Alekos ist tapfer. Kürzlich, bevorer den Nazis ins Netz ging, hatte er inThessalien in der Résistance gekämpftund den Kerlen der Besatzungsarmeezugesetzt.“ Michael Matsas, der sich in„The Illusion of Safety“ auf Necha-mas/Molhos Darstellung bezieht (S.240), erweitert fast 50 Jahre später ohneBeleg Erreras Referenz: „Alberto Mois-si Errera kämpfte in Albanien und er-hielt eine Feldbeförderungfür Tapferkeit. Im Septem-ber 1943 ging er in die Ber-ge und später auf eine Wi-derstandsmission nachAthen.”

Offizier, Kapitän,Matrose oder Lebens-

mittelhändlerK.E. Fleming behaup-

tet in ihrem Standard-werk „Greece – a JewishHistory“ (2008), Errerasei ein ,,Armee Veteran“gewesen, der währendder Besatzungszeit denchristlichen Decknamen„Alekos Michaelides“angenommen habe (S.160). Vermutlich beziehtsie sich auf die Recher-chen von Nikos Stavrou-lakis,der 1983 den Anmer-kungsapparat in ErrikosSevillias Buch „Athens –Auschwitz“ verfasst hatteund Errera als „career of-

ficer in the greek army“ bezeichnete.Einige Sonderkommando-Überleben-de schrieben in ihren Erinnerungen,„Alex“ Errera sei Offizier in der grie-chischen Armee oder Marine gewesen,so Filip Müller 1979 in seinem Buch„Sonderbehandlung“ (S. 125), ShlomoVenezia in „Meine Arbeit im Sonder-kommando Auschwitz“ (2008, S. 138)und Daniel Bennahmias in dem vonRebecca Camhi Fromer verfasstenBuch „The Holocaust Odyssey“ (1993,S. 52; allerdings gibt Bennahmias in ei-

nem Video-Interview an,dass es nur einen einzigengriechischen Offizier imSonderkommando gege-ben habe: Joseph Baruch).Diese Behauptung tauchterstmals in Albert Men-asches frühem Werk „Bir-kenau“ aus dem Jahre1947 auf (S. 89).

Ohne Namens- undRangnennung schriebenbereits ein Jahr zuvor dieAuschwitz-ÜberlebendenErich Kulka und OtaKraus in ihrem bekanntenWerk „Die Todesfabrik“(dt. Übers. 1957, S. 129)über die Flucht.Allerdingslassen sie das Schicksal desSS-Manns offen. Leon Co-hen behauptete in seinemBuch „From Greece toBirkenau“ zudem, Errerasei „professioneller Ma-trose“ gewesen (S. 52, 77).

Diese Angabe mach-te auch Henryk Mandel-

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Aufnahme von AlbertoErrera in Saloniki (o. J.)

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baum („Ich aus dem KrematoriumAuschwitz“, 2017, S. 69). Erreras Ver-wandten war und ist davon allerdingsnichts bekannt. Cohen behauptet zu-dem (wie Eduard de Wind bereits1946 in seinem Buch „EndstationAuschwitz“, S. 167), Errera habewährend seines Fluchtversuchs einenSS-Mann mit der Schaufel getötet,was wiederum von dem Sonder-kommando-Überlebenden DanielBennahmias und Augenzeugen be-stritten wurde.

Lisa Pinhas teilt Cohens Darstellungin ihrem Buch „A Narrative of Evil“(2014, S. 109f.). Darin ist Errera Leut-nant der griechischen Armee und Füh-rer der griechischen Widerstandsgrup-pe im Sonderkommando, wie auchschon Menasche behauptet hatte. DieOpferzahl steigt bei Sevillias: In seinersehr ausführlichen und ausgeschmück-ten Darstellung (S. 40-42) habe Erreragleich zwei SS-Männer getötet, indemer die Bewusstlosen in die Weichselwarf. Er schließt mit den pathetischenWorten: ,,Das war die Geschichte vonAlbertos Erreras, von dessen Tapferkeitsie wochenlang im Lager sprachen. Erwar der einzige Gefangene,der versuchtezu entkommen, der immerhin zweiDeutsche tötete und etwas mit seinemLeben kaufte.” Sevilias Version folgtauch Photini Tomais in der eingangs er-wähnten Publikation aus dem Jahre2009, allerdings macht sie aus Errera ei-nen Reserve-Offizier.

Der Auschwitz-Überlebende HeinzSalvator Kounio lässt in seinem Buch„Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot“(2016) den „griechischen Offizier“ E–

rrera erst während des Aufstands am7.10.1944 flüchten und sterben (S. 92).

Familienangehörigen Erreras ist ei-ne vermeintliche Partisanentätigkeitoder Militärkarriere nicht bekannt, al-lerdings hätte sein Schwager SamuelEskinatzi den Rang eines Hauptmanns(Captain) geführt. So könnte die Be-zeichnung Albertos als „Officer“, „Cap-tain“ oder „Kapitän“ (bei Shlomo Ve-nezia) ein Mythos sein. Helden werdenaber nicht nur beim Militär geboren.

Über einen griechischen „Ka-pitän“ (gemeint ist auch hier offen-sichtlich der militärische Rang „Cap-tain“), der einen Freitodversuch un-ternommen hatte, schrieb bereits imJahre 1946 der im Krematorium be-schäftigte Pathologe Miklos NyiszliFolgendes: „Er ist nur unter diesemNamen bekannt. Zu Hause in Athenwar er, ein aktiver Offizier, der Erzie-her der Kinder des griechischen Kö-nigs.” Alberto Errera hingegen führteeinen Lebensmittelladen in Larissa.Offenbar wurde ein anderer Häftlingunter den schätzungsweise insgesamt150 griechischen Männern im Son-derkommando „Kapitän“ genannt.Allerdings ist nur im Fall von JosephBaruch zweifelsfrei belegt, dass ergriechischer Offizier war.

Die Herkunft zahlreicher Gerüchte,die sich um Alberto Erreras Person ran-ken, wird sich offenbar nicht mehrermitteln lassen; aufhalten lassen wirdsich ihre Verbreitung auch nicht. Er-reras Heldenmut würde aber auch dannnicht geschmälert, wenn zweifelsfreierwiesen wäre, dass er in seiner Heimatweder Offizier noch Partisan war. •

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Vergiss Deinen Namen nicht Die Kinder von Auschwitz

Alwin Meyer, Autor des gleichnamigen Buches, berichtet mit Fotos von seinen Begegnungen mit Überlebenden

Dienstag, 6. Februar 2018, 20 Uhr 61118 Bad Vilbel, Stadtbibliothek, Niddaplatz

Montag, 5. Februar 2018 *

63500 Seligenstadt, café K der evangelische Gemeinde,Aschaffenburger Straße 105

* Genaue Uhrzeit noch nicht bekannt,wahrscheinlich 20 Uhr oder etwas früher.Eventuell gibt es noch einen Termin mit Alwin Meyer am Mittwoch,7.Februar;für aktuelle Informationen - auch über weitere Veranstaltungen - bitten wirum Beachtung unserer Internetseite www.lagergemeinschaft-auschwitz.de.

S T U D I E N F A H R T E N 2 0 1 8Termin I: 8. März - 14. März 2018

Termin II: 28. September - 4. Oktober 2018- Rundgang im Stammlager Auschwitz - Rundgang im Vernichtungslager Birkenau - Gespräche mit Überlebenden - Besuch in Archiv und Kunstsammlung der Gedenkstätte Auschwitz - Besuch in Krakau (Führungen durch Kazimierz und das ehemalige Ghetto)

Kosten: 750 Euro (Flug, Unterkunft, Mahlzeiten, Eintritte, Honorare)ermäßigt: 350 Euro (auf Antrag für Studierende, Schülerinnen und Schülersowie Menschen mit geringem Einkommen)

Auskünfte und Anmeldungen für alle Termine beiUwe Hartwig, E-Mail [email protected], Telefon (06002) 7403

Die Studienfahrten sind als Lehrerfortbildung und als Bildungsurlaub anerkannt.

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