21) Vgl. hierzu Christoph Wolff, Bachs Handexemplar der ...

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21) Vgl. hierzu Christoph Wolff, Bachs Handexemplar der Schübler Choräle, in: BJ 1977, s. 120ff. 22) Christoph Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachseher Werke, in: Geck (Hrsg.), a.a.O., S. 165. 23) Vgl. dagegen Randolph N. Currie, Cyclic Unity in Bach's Sechs Chorale: A New Look at the "Schüblers'' in: Bach, Riemenschneider Institute, Ohio, 4/I (1973), S. 26-28 und 4/II (1973), S. 25-39, der die Schübler-Choräle als originäre Orgelkompo- sitionen ansieht. 24) Die bei Hoffmeister & Comp., Wien 1804 erschienene Ausgabe des 3. Teils der Klavierübung übernimmt die Akkoladenanordnung und Schlüsselvorzeichnung des Originaldrucks, Bezeichnend sind Feststellungen in NBA, IV/5 und 6, KB, Unter den dort aufgeführten abschriftlichen Quellen entstammen solche mit Notation auf drei Systemen der 1, Hälfte des 19, Jh,, während die früheren Quellen für Präludien und Fugen nur zwei Systeme benutzen. 25) Cäcilia, Tonstücke für die Orgel zum Studium, Concertvortrag und zum Gebrauch beim öffentlichen Gottesdienst, herausgegeben von Carl Ferdinand Becker, Leipzig 1845, Bd. I, Nr. 4, Detlef Gojowy: BACHS HARMONIK - TONAL - ATONAL? Dieser Beitrag möchte nicht mehr als die fast vergessenen Forschungen Max Zulaufs · zu Bachs Harmonik in Erinnerung bringen, die dieser 1924 als Schüler Ernst Kurths in sei- ner Berner Dissertation 1 darlegte, und entsprechend der Idee dieses Kongresses einige Überlegungen daranknüpfen, wie sich Bachs Harmonik in die Erfahrungen und Begriffe unseres Jahrhunderts einordnen lasse. Zulaufs Ergebnisse werden in der Bachforschung wohl mitunter zitiert, aber kaum umfassend berücksichtigt. Eher weckten sie anderwärts Inspirationen. Als Ludwik Bronarski in den 30er Jahren die Harmonik Chopins untersuchte 2 , konnte er an das Gedankensystem Zulaufs geradezu bruchlos anknüpfen: eben weil Chcpin in der Struktur seiner Harmonik von Bach so unendlich viel gelernt und übernommen hatte. Als systematischer Kontrapunktiker wurde Bach im allgemeinen als ein retrovertierter Komponist gesehen - erst Musikwissenschaftler wie Hans Heinrich Egge- brecht3 betonen auch in dieser Hinsicht seine revolutionäre Rolle. Seine revolutionäre Rolle als Harmoniker wurde dagegen übersehen oder als Abfallprodukt seiner kontra- punktischen Künste unterschätzt, so klagt Max Zulauf: Wo der Reichtum seiner Harmonik "erkannt und gefühlt wurde, wertete man ihn doch allzu sehr als selbstverständliche Folge der Kontrapunktik, als sekundärer Natur 114 • Er hält die Feststellung Hugo Riemanns dagegen: "Bachs Musik ist so durch und durch harmonisch konzipiert, daß wir ••• nichts Gescheiteres tun können, als an Bachs Werken das Wesen der Harmonie, das Stilprinzip unserer Zeit zu studieren 115 Und er weist darauf hin, daß selbst Ernst Kurth "in der Ausprägung des linearen Prinzips, welches er stets nur als Teil und die eine von zwei Grundeinstellungen bezeichnet, die Macht eines dabei unbewußt die Wege leitenden Harmo- niegefühles116 betont habe. 434

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21) Vgl. hierzu Christoph Wolff, Bachs Handexemplar der Schübler Choräle, in: BJ 1977, s. 120ff.

22) Christoph Wolff, Ordnungsprinzipien in den Originaldrucken Bachseher Werke, in: Geck (Hrsg.), a.a.O., S. 165.

23) Vgl. dagegen Randolph N. Currie, Cyclic Unity in Bach's Sechs Chorale: A New Look at the "Schüblers'' in: Bach, Riemenschneider Institute, Ohio, 4/I (1973), S. 26-28 und 4/II (1973), S. 25-39, der die Schübler-Choräle als originäre Orgelkompo-sitionen ansieht.

24) Die bei Hoffmeister & Comp., Wien 1804 erschienene Ausgabe des 3. Teils der Klavierübung übernimmt die Akkoladenanordnung und Schlüsselvorzeichnung des Originaldrucks, Bezeichnend sind Feststellungen in NBA, IV/5 und 6, KB, Unter den dort aufgeführten abschriftlichen Quellen entstammen solche mit Notation auf drei Systemen der 1, Hälfte des 19, Jh,, während die früheren Quellen für Präludien und Fugen nur zwei Systeme benutzen.

25) Cäcilia, Tonstücke für die Orgel zum Studium, Concertvortrag und zum Gebrauch beim öffentlichen Gottesdienst, herausgegeben von Carl Ferdinand Becker, Leipzig 1845, Bd. I, Nr. 4,

Detlef Gojowy:

BACHS HARMONIK - TONAL - ATONAL?

Dieser Beitrag möchte nicht mehr als die fast vergessenen Forschungen Max Zulaufs ·zu Bachs Harmonik in Erinnerung bringen, die dieser 1924 als Schüler Ernst Kurths in sei-ner Berner Dissertation1 darlegte, und entsprechend der Idee dieses Kongresses einige Überlegungen daranknüpfen, wie sich Bachs Harmonik in die Erfahrungen und Begriffe unseres Jahrhunderts einordnen lasse. Zulaufs Ergebnisse werden in der Bachforschung wohl mitunter zitiert, aber kaum umfassend berücksichtigt. Eher weckten sie anderwärts Inspirationen. Als Ludwik Bronarski in den 30er Jahren die Harmonik Chopins untersuchte2, konnte er an das Gedankensystem Zulaufs geradezu bruchlos anknüpfen: eben weil Chcpin in der Struktur seiner Harmonik von Bach so unendlich viel gelernt und übernommen hatte. Als systematischer Kontrapunktiker wurde Bach im allgemeinen als ein retrovertierter Komponist gesehen - erst Musikwissenschaftler wie Hans Heinrich Egge-brecht3 betonen auch in dieser Hinsicht seine revolutionäre Rolle. Seine revolutionäre Rolle als Harmoniker wurde dagegen übersehen oder als Abfallprodukt seiner kontra-punktischen Künste unterschätzt, so klagt Max Zulauf: Wo der Reichtum seiner Harmonik "erkannt und gefühlt wurde, wertete man ihn doch allzu sehr als selbstverständliche Folge der Kontrapunktik, als sekundärer Natur 114 • Er hält die Feststellung Hugo Riemanns dagegen: "Bachs Musik ist so durch und durch harmonisch konzipiert, daß wir ••• nichts Gescheiteres tun können, als an Bachs Werken das Wesen der Harmonie, das Stilprinzip unserer Zeit zu studieren115 • Und er weist darauf hin, daß selbst Ernst Kurth "in der Ausprägung des linearen Prinzips, welches er stets nur als Teil und die eine von zwei Grundeinstellungen bezeichnet, die Macht eines dabei unbewußt die Wege leitenden Harmo-niegefühles116 betont habe.

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Der Reichtum und die Konsequenz von Bachs Harmonik wurde dann auch vor allem von Komponisten erfühlt und benannt. Anton Bruckner kam in seinen Harmonielehre-Vorlesungen an der Universität Wien auf das Prinzip des vollständigen Quintfalls zu sprechen und erklärte seinen Studenten: "Das ist die Septakkordkette, auf welcher besonders Bach herumgeritten ist 117 • Arthur Louri~, der wichtigste Komponist im Kreis der Petersburger Futuristen, erinnert sich an seinen Unterricht bei dem eher als konservativ geltenden Alexander Glasunow: " 'Johann Sebastian Bach in seiner Zeit schuf er ein konservatives oder ein revolutionäres Werk?', fragte Glasunow in einem Examenskurs am Petersburger Konservatorium. 'Ein revolutionäres, ganz gewiß!' - Diese Antwort, mehr aus Instinkt denn aus Überlegung gegeben, war eben die, die der gute Meister hören wollte, und er verbreitete sich, nicht ohne Genugtuung, über den Irrtum jener, die Bach nur als den großen Akademiker im Bereich der Musik sehen wollten. In Wirklichkeit zeug-ten das Wesen seines Denkens und seiner Satzweise von einer Kühnheit, von der die Kontrapunktisten strenger Observanz, die seine Vorläufer waren, nicht einmal geträumt hätten. 'Bach', so schloß er, 'war ein echter Innovator' 118 •

Ernst Ullmann hat kürzlich in seinem Referat "Anmerkungen zu Weltbild und Architek-tur der Bachzeit" auf der Leipziger Bachkonferenz im März 19859 darauf hingewiesen, daß der mathematische Begriff des Unendlichen erst zur Bach-Zeit entdeckt worden sei, und ihn in Beziehung gebracht zur Anlage von Schlössern und Gärten jener Periode. Es erscheint nicht abwegig, diesen Gedanken mit dem zyklischen, enzyklopädischen Ansatz gerade J.S. Bachs in Verbindung zu bringen, mit seinem Komponieren in allen 24 Ton-arten, mit seinem systematischen Aufgreifen und Durchführen einer kompositorischen Idee in einer logischen Reihe. Durch die Reform Andreas Werckmeisters wurden ja erstmals die gleichrangige und unbegrenzte Verwendung aller Dur- und Molltonarten sowie unendliche Modulationen zwischen ihnen möglich, und Bach war der erste, der auf diese Möglich-keiten koflpositorisch reagierte. Zulauf sieht ihn als den "ersten Großen ••• , der das Prinzip der modernen Tonalität in allen seinen formalen und symbolischen Konsequenzen angewendet und sanktioniert hat 1110 • Aber das zyklische Prinzip, die Kreisbewegung beherrscht Bachs Denken noch in viel konkreterer und minder symbolischer Hinsicht, Zulauf identifiziert das vollständige Kreisen der Bachsehen Harmonik durch alle denkbaren und verfügbaren Stufen im Vollzug einer Quint fallkadenz als eines ihrer wesentlichen Prinzipien - unzählige seiner Fugenthemen seien auf dieser vollständigen Kadenz aufgebaut. Wenn wir "Stufen" sagen und nicht etwa "Funktionen", haben wir uns damit für ein System möglicher Betrachtung der harmonischen Phänomene entschieden und gegen ein anderes; wir haben für das "Sechtersche Stufensystem" und gegen das "Riemannsche Funktionssystem" votiert. Beide Systeme spielten in dem Fächerkanon deutscher Musikhochschulen bisweilen eine konkurrierende Rolle: So wurde in Berlin nach Sechter und in Leipzig nach Riemann unterrichtet; Bruckner stützte sich bei seinen Vorlesungen auf das Sechtersche System, das die Stufen der diatonischen Skala, auf der die Harmonien angesiedelt sind, einfach von I bis VII durchnumeriert, statt eine kompliziertere Einteilung nach Tonika, Dominante, Subdominante, Medianten und deren Stellvertretungen vorzunehmen. Es scheint auf der Hand zu liegen, daß dieses komplizierte System für statische, auf ein Zentrum bezogene harmonische Verhältnisse besser geeignet ist, während das einfach numerierende System den Verhältnissen einer rascher beweglichen, zentrifugalen Harmonik eher beikommt; dieser Art ist nun ganz eindeutig die Harmonik Johann Sebastian Bachs zumindest in der Mehrzahl seiner Instrumentalwerke, Zulauf vermeidet für die vollständige Quintfallkadenz die in seiner Umgebung übliche Bezeichnung "Sechtersche Kadenz", um einen Anachronismus zu umgehen11 , denn das Sechtersche System12 ist im Grunde aus den Werken J. S. Bachs abstrahiert. In

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diesem Zusammenhang nennt er die "Scheidung der Tonalitätsakkorde in Haupt- und Nebenstufen", bei der den letzteren jede Selbständigkeit abgesprochen wird, "unberechtigt", soweit sie auf das Werk Bachs bezogen werde. Der Denkfehler scheint ihm in einer "zentralisierenden Auffassung" zu liegen13• Für Bach dagegen treffen andere Prinzipien zu, und Zulauf zitiert in dieser Beziehung seinen Lehrer Ernst Kurth14 :

"Das gewöhnliche Bild Bachseher Harmonik in einfachen Sätzen (z.B. Präludien) ist das foigende: Der Anfang kehrt nach ganz wenigen, meist nur beide Dominanten berührenden Kadenzschritten rasch wieder in den Tonikaklang zurück; hingegen beginnen sich dann die Kreisungen um diesen zu vergrößern, er erscheint erst nach längerem, viel durch Zwischendominanten durchsetztem Ausgreifen in die Tonartsklänge wieder, mehrmals und in ungleichen Abständen; ••• die Kreise streichen zwar über den Tonika-Akkord, der jedoch (besonders in den Steigerungen der Mittelteile) öfter nicht in seiner reinen Dreiklangsform, sondern mit Sept oder starken Vorhaltsbildungen verschleiert erscheint, so daß auch hier sein Abschlußcharakter gemieden ist; gegen den Schluß der Sätze zieht Bach diese Kreisungen wieder kleiner".

Nach Zulaufs Beobachtung resultiert aus dieser Vermeidung der Tonika in Bachs großen Kreisbewegungen eine gewisse stiefmütter liehe Sonderbehandlung der Subdominante, die nicht durch kadenzierende Klauseln bestätigt wird.

Was die großen Kreisbewegungen freilich noch attraktiver und selbständiger werden läßt, sind künstliche Dominantwirkungen, denen Zulauf als "zwischendominantischer Aus-weichung" ein ganzes Kapitel widmet15• Dazu dienen Alterationen, die im Grunde die leitereigenen Töne bereits verlassen, jedoch: "Wenn auch die Zwischendominante bei Bach schon so selbständig geworden ist, daß sie gar nicht mehr als Teilalteration eines ur-sprünglich leitereigenen Klanges empfunden wird, sondern nur mehr als Dominante ihres unmittelbar folgenden Auflösungsakkordes, so weist ihr Auftreten innerhalb der leiter-eigenen vollständigen Kadenz mit überraschender Deutlichkeit auf ihre Wurzel zurück1116 • Gemeint ist die Tonalität. Mit diesen künstlichen, nicht mehr unbedingt leitereigenen Dominanten, die eigentlich nur das Gefühl der Tonalität mittels der vertrauten Quint-fallkadenz befestigen und bekräftigen sollen, beginnt nun allerdings die Kalamität. Einmal erhalten die "Zwischendominanten als Medianten zu den ihnen vorangehenden Klängen eine Leuchtkraft und Spannungsintensität, die weit über Bach hinaus schon Farbeneffekte der romantischen Harmonik vorwegnimmt. Noch kommt dazu, daß mit dieser einfachsten Art der Ausweichung schon die Möglichkeit gegeben ist, Kreuz- und B-Ton-arten, hell und dunkel aufeinanderprallen zu lassen ••• 1117 Zu den Möglichkeiten dieser Ausweichungen gehört auch der verminderte Septakkord18 , der in tonaler Hinsicht be-kanntlich ziemlich unzuverlässig und in mannigfachsten Richtungen ausdeutbar ist, zumal wenn er selber am Ende noch Gegenstand chromatischer Verschiebung ist. Zulauf bemerkt auch, daß seine Tradition vor Bach zurückreicht, indem der verminderte Septakkord der VII. Stufe von Moll auch nach Dur übernommen wurde19• Von den traditionellen "alter-rierten Akkorden" benutzt Bach z.B. auch den "neapolitanischen Sextakkord", aber nicht nur in dieser traditionellen Lage und Funktion20 • Und als Novum ist im Zuge seiner har-monischen Kreisbewegungen festzustellen, was Zulauf "leiterfremde Ausweichungen" nennt21 , d.h. auf lange Sicht auch Modulationen. "Noch hat nicht eine einzige Form to-nalitätsgefährdende Bedeutung", resümiert Zulauf die bisherigen Beobachtungen22 • Bach sei sparsam mit den Ausdrucksmitteln, zumal wo kontrapunktische Entfaltungen keine har-monischen Überraschungen nötig hätten23 ; andererseits sei festzuhalten, daß "die voll-ständige Kadenz weit mehr als die sekundäre Folge einer melodisch bedingten Sequenz bedeutet1124•

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Die harmonischen Kreisbewegungen haben ihren eigenen Automatismus, der einerseits zu einer Bekräftigung und Befestigung der Tonalität in Quintfallkadenzen führt, andererseits aber in Ausweichungen und Ausweitungen weit darüber hinaus und damit letztlich von der Tonalität weg: weg z.B. in chromatische Rückungen eines verminderten Septakkordes wie in der Schlußkadenz des d-Moll-Präludiums aus dem I. Teil des "Wohl-temperierten Klaviers 1125 • "Tonalitätsdurchbrechende Weiterungen" betitelt Zulauf dann das entsprechende Kapitel, in dem er feststellt: "Die für Bach allgemeinste Farm eines Tonalitätsdurchbruches ist die unmittelbare Aneinanderreihung einer Kette von vermin-derten Septimenakkorden1126 • Er schränkt diese Feststellung freilich ein: "Je größer aie Weitungskreise des Bachsehen Harmoniesystems, je mehr sie sich von dem Tonikazentrum entfernen, desto überwältigender erscheint die Geschlossenheit des Organismusses. Bach weiß freilich dfä Ordnungen der Tonalität zu durchbrechen, d.h. Fortschreitungen harmo-nischer Natur zu finden, die nicht in direktem tonalen Zusammenhang untereinander stehen, aber - und darin liegt das Wunderbare - auch die tonalitätssprengenden Elemente sind derart im Gefüge des Gesamtaufbaues verankert, daß dem Begriffe 'Tonalitätsdurch-bruch' schließlich nur mehr relative Bedeutung zukommt. Vom Standpunkt der Totalbe-trachtung Bachseher Aufbaugesetze gesehen, wird der Tonalitätsdurchbruch zu einer letzten Ausspannung der harmonischen Weitungswege, zur letzten Stufe in der Reihe der Erscheinungen, die sich Ausweichungen und Modulationen nennen1127 •

Als Musterstücke und Spitzenleistungen in dieser Hinsicht sieht Zulauf die Orgelphantasie g-Moll (BWV 542) und die Chromatische Fantasie (BWV 903) an: Sie seien vom harmonischen Standpunkt das, was in Bezug auf die kontrapunktische Stilrichtung das "Musikalischen Opfer" und die "Kunst der Fuge" darstellten: eine "jeder erschöpfenden Ausdeutung spottende Offenbarung des Bachsehen Könnens1128 •

Freilich ließe sich auch die "Kunst der Fuge" auch in harmonischer Hinsicht unter diese Musterbeispiele einreihen: Hans Heinrich Eggebrecht findet ohnehin, daß in ihr "eine diatonische und eine chromatische Sphäre zu unterscheiden 1129 seien, ähnlich wie man im byzantinischen Tonsystem zwischen dem diatonischen, dem chromatischen und dem enharmonischen Geschlecht unterscheiden muß. ·Aus dem XI. Contrapunctus der "Kunst der Fuge" verdeutlichen die Takte 25.-50 den genannten Sachverhalt.

Im Zuge solcher chromatischen Konstruktionen werden wir bei Bach anderwärts ganze "Zwölftonfelder" beobachten können, z.B. im Rezitativ, Satz 2, der Kantate 167, "Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe", Takt 13-1930 , oder auch als bekanntes Beispiel im. Thema der h-Moll-Fuge aus dem I. Teil des "Wohltemperierten Klaviers".

Bei all solchen Uberlegungen scheint es wichtig, festzuhalten, daß Bach weder den Begriff "tonal" bzw. "Tonalität" kannte, der erst im 19. Jahrhundert durch Fetis geprägt wurde, noch das begriffliche Gegenstück des Atonalen. Unsere Uberlegungen sind insofern rein anachronistisch und wenden spätere Begriffe auf etwa Früheres an, das diesen Begriffen augenscheinlich nicht unterworfen war. Was Bach praktizierte, hatte für ihn noch keinen Namen, und was uns hierbei als gegensätzlich erscheinen möchte, war es für ihn offensichtlich noch nicht: Nach unseren Begriffen Tonales wie Atonales wuchs bei ihm auf demselben Holz, war Resultat derselben kompositorischen Dramaturgie.

Ein Seitenblick zeigt uns, daß das auch bei der späteren Entstehung atonaler Tonsatzsysteme nicht anders war. Als in den Jahren 1913-15 der Russe Nikolaj Andreevic Roslavec sein "neues, festes System der Tonorganisation" entwickelte, das er in einer futuristischen Vision berufen glaubte, das alte und endgültig überlebte klassische harmonische System zu ersetzen, damit die Komponisten wieder festen Boden unter ihre Füße bekämen, da meinte er dieses "Ersetzen" nicht im Sinne eines konkurrierenden Ver-

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drängens, sondern eines Einschließens und Weiterentwickelns: das neue System sollte all die alten Möglichkeiten bewahren, aber dazu die neuentwickelten Mittel wie die voll-ständig genutzte chromatische Skala oder die immer weiter gewucherten Akkorde der Sechs-, Sieben-, Acht- und Mehrklänge in eine systematische Ordnung bringen. Und dieser Versuch lief im Grunde auf eine Reformation, ein Komplettierung des Sechterschen Systems hinaus: Roslavec benutzt in seinen exemplarischen Kompositionen nicht mehr nur die sieben Stufen des alten Systems, sondern alle zwölf in planmäßiger Gleichrangig-keit, und auf diesen zwölf Stufen stehen dann nicht mehr nur Drei- und Vierklänge, sondern Gebilde jeglicher Art - zumeist Sechs- bis Achtklänge31 • Und dies wäre nur ein Beispiel für die "fließende" Entstehung atonaler Strukturen.

Es knüpft sich natürlich - hier wie bei Bach - die Frage an, ob die Entgegensetzung "tonal-atonal", die zweifellos nicht sinnlos ist, auch in jeglicher praktischen Anwen-dung einen Sinn habe. "Tonal" bedeutet: einer Hierarchie unterworfen, auf ein Zentrum bezogen - im allgemeinsten Sinne des Wortes, atonal das Gegenteil: eine Hierarchie der Töne negierend, die Bildung eines Zentrums nicht zulassend. Daß davon bei Bach keine Rede sein kann, stellt Zulauf zu Recht fest. Aber was in der Musik dann tatsächlich geschieht, entzieht sich solchem "Alles-oder-Nichts"-Denken: Das tonale Zentrum kann näher oder ferner rücken, kann vorübergehend aus dem Blickfeld verschwinden; eine Harmonik kann sich zentrifugal oder zentripetal verhalten. Für die Musik der Klassik und Romantik wäre dies am Ende eine sehr wichtige, vielleicht sogar die wi chtigere

Anmerkungen

1) Max Zulauf (8.5.1898-3.8.1980), Die Harmonik J.S. Bachs (Inaugural-Dissertation der philosophischen Fakultät der Universität Bern ••• ), Bern 1927.

2) Ludwik Bronarski, Harmonika Chopina, Warszawa 1935.

3) Hans Heinrich Eggebrecht, Bachs Kunst der Fuge. Erscheinung und Deutung, München 1984, u.a. S. 61: "••• daß sein kontrapunktisches Denken weit über jene Merkmale hinausgeht und kompositionstechnisch wie ausdrucksmäßig beständig in Neuland vor-stößt".

4) Zulauf, a.a.O., S. 2.

5) Ebenda nach Hugo Riemann, Handbuch der Fugenkomposition, Bd. III , Leipzig 2/1917, s. 16lf.

6) Zulauf, a.a.D., S. 2, wohl nach "Grundlagen des linearen Kontrapunkts 1917.

II ... ' Bern

7) Anton Bruckner, Vorlesungen über Harmonielehre und Kontrapunkt an der Universität Wien, hrsg. von Ernst Schwanzara, Wien 1950, S. 158.

8) Arthur Lourie, Lecons de Bach ( 1932), in: Profanation et sanctification du Temps (Journalmusical 1910-1960), Paris 1966, S. 45.

9) Kongreßbericht (in Vorbereitung).

10) Zulauf, a.a.O., S. 3.

11) A.a.O., S, 5.

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12) Simon Sechter (ll.10.1788-10.9.1867), österreichischer Komponist und Theoretiker. Sein theoretisches Hauptwerk, Die Grundsätze der musikalischen Komposition (3 Bde., Wien 1853-54) fußt u.a. auf der Theorie Rameaus.

13) Zulauf, a.a.O., S. 10.

14) Romantische Harmonik, Berlin 2/1923, S. 128f., Zulauf, a.a.O., S. 22.

15) Zulauf, a.a.O., S. 38ff.

16) Zulauf, a.a.O., S. 43. Im Original "Auslösungsakkord" scheint ein Druckfehler an-stelle des sinngemäßen Wortes "Auflösungsakkord".

17) Zulauf, a.a.O., s. 47.

18) A.a.O., s. 44.

19) A.a.O., s. 57, s. 72.

20) A.a.O., s. 60.

21) A.a.O., s. 63.

22) A.a.O., s. 63f.

23) A.a.O., s. 64.

24) A.a.O., s. 67.

25) A.a.O., s. 78 f.

26) A.a.O., s. 78.

27) A.a.O., S. 78.

28) A.a.O., S. 82f., S. 83.

29) Eggebrecht, a.a.O., S. 15f.

30) Hierzu vom Verfasser "Ein Zwölftonfeld bei Johann Sebastian Bach?", Bach-Studien 5 (Werner Neumann zum 65. Geburtstag), Leipzig 1975, S. 43-48.

31) Hierzu vom Verfasser "Nikolaj Andreevic Roslavec, ein früher Zwölftonkomponist", in: Mf 22 (1969), S. 22-38.

Herbert Anton Kellner:

BAROCKE AKUSTIK UND NUMEROLOGIE IN DEN VIER DUETTEN: BACHS "MUSICALISCHE TEMPERATUR"

1. Die innere Einheit von Bachs Musik In dem Bach-Heft der ÖMZ habe ich ein Forschungsprogramm erstellt, die Kompositionen

Bachs unter dem Gesichtspunkt der wohltemperirten Stimmung zu untersuchen1• Dieser pro-grammatische Vorschlag beruht auf der Beobachtung, daß Bach seine Musik vermittels eines Zahlensatzes strukturiert hat, der zu seiner ungleichschwebenden Cembalostimmung gehört. Dadurch erzielt Bach eine Unifikation zwischen Harmonie und Struktur in seinem

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