186 . April 2006 Rosa-Luxemburg-Stiftung

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VorSatz 291 Essay HEINRICH SENFFT Erich Kuby 293 Gesellschaft – Analysen & Alternativen HEINZ-J. BONTRUP Wirtschaftsdemokratie statt Shareholder-Kapitalismus 299 STEFAN SJÖBERG Kollektive Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand 311 Debatte Grundsicherung MICHAEL OPIELKA Gerechtigkeit durch Sozialpolitik? 323 KATJA KIPPING,MICHAEL OPIELKA,BODO RAMELOW »Sind wir hier bei ›Wünsch dir was?‹« Thesen für einen neuen Sozialstaat 333 DIETER ZAHN Grundsicherung bedarfsorientiert gestalten 337 Neue Medien TOBIAS SCHULZE Internet und Brechts Radiotheorie 346 Standorte FRITZ KLEIN Fallstudie von besonderem Reiz Zur Wolfgang-Steinitz-Biographie 361 Monatliche Publikation, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 186 . April 2006

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VorSatz 291

EssayHEINRICH SENFFTErich Kuby 293

Gesellschaft – Analysen & AlternativenHEINZ-J. BONTRUPWirtschaftsdemokratie statt Shareholder-Kapitalismus 299

STEFAN SJÖBERGKollektive Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand 311

Debatte GrundsicherungMICHAEL OPIELKAGerechtigkeit durch Sozialpolitik? 323

KATJA KIPPING, MICHAEL OPIELKA, BODO RAMELOW»Sind wir hier bei ›Wünsch dir was?‹«Thesen für einen neuen Sozialstaat 333

DIETER ZAHNGrundsicherung bedarfsorientiert gestalten 337

Neue MedienTOBIAS SCHULZEInternet und Brechts Radiotheorie 346

StandorteFRITZ KLEINFallstudie von besonderem ReizZur Wolfgang-Steinitz-Biographie 361

Monatliche Publikation,herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung186 . April 2006

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Konferenzen & VeranstaltungenKLAUS STEINITZIn der Stagnationsfalle.Perspektiven kapitalistischer Entwicklung 365

FestplatteWOLFGANG SABATHDie Wochen im Rückstau 372

Bücher & ZeitschriftenDavid Harvey:Der neue Imperialismus(MARTIN SCHIRDEWAN) 374

Wolfgang Stegemann:Fürstenberg/Havel – Ravensbrück.Beiträge zur Kulturgeschichte einer Regionzwischen Brandenburg und Mecklenburg, Bd. 1:Von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jh.

Ders./Wolfgang Jacobeit (Hrsg.):Fürstenberg/Havel – Beiträge zur Alltags- undSozialgeschichte einer Region zwischen Brandenburgund Mecklenburg, Bd. 2: Im Wechselder Machtsysteme des 20. Jh.(JENS LANGER) 375

Riccardo Bavaj:Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarischesDenken in der Weimarer Republik(MARCEL BOIS) 376

Stuart Hall:Ideologie, Identität, Repräsentation.Ausgewählte Schriften 4, hrsgg. von Juha Koivistound Andreas Merkens(ALBAN WERNER) 378

Dieter Sauer: Arbeit im Übergang. Zeitdiagnosen(Marcus Schwarzbach) 379

Hermann Scheer:Energieautonomie(JÜRGEN MEIER) 380

Summaries 382

An unsere Autorinnen und AutorenImpressum 384

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Drum prüfe, wer sich ewig bindet, im Privaten wie im Politischen.Natürlich ist das oft nicht mehr als ein frommer Wunsch. Ein Blickauf die Scheidungsquote blamiert ihn, einer auf die permanentenDiadochenkämpfe in der Politik ohnehin. Die Linke bildet da, wie sohäufig und wie ein Blick in ihre Geschichte beweist, keine Ausnahme.

Nach der Gründung der KPD am Jahreswechsel 1918/1919 tobteLeo Jogiches, ein erfahrener Revolutionär und Organisator derpolnisch-litauischen SDKPiL, später der Spartakusgruppe und dannauch der KPD, daß man den ganzen Laden eigentlich gleich wiederhätte auseinanderschlagen müssen. Zu unterschiedlich sei das, wasda zusammengekommen war: einerseits gebildete Arbeiter und In-tellektuelle unter dem Zeichen des Spartakus’, die schon lange vorder Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskreditenam 4. August 1914 im Krieg ausschließlich Barbarei erkannt hatten;andererseits der Anhang der Internationalen Kommunisten, die umdie seit 1916 in Bremen von John Knief und Paul Frölich herausge-gebene Wochenzeitung »Arbeiterpolitik« herum entstanden waren.

Mit der »Arbeiterpolitik«, der einzigen legalen Stimme der Linken,hatten nicht wenige neue Anhänger gewonnen werden können, dar-unter viele durch den Krieg Verbitterte und Radikalisierte, zumeistohne systematische Bildung, dafür zu allem, auch zu allem Abenteu-erlichen, entschlossen – wenn es nur revolutionär klang. DieseGruppe hatte auf dem Gründungsparteitag mit dem Ruf »Alle Machtden Räten« in der Frage der Beteiligung an den Parlamentswahleneinen Sieg über die Spartakisten – unter ihnen Rosa Luxemburg,Karl Liebknecht, Leo Jogiches und Paul Levi – davongetragen.

Levi, der als einziger der Spartakusführer die Massaker der Kon-terrevolution vom Januar und März 1919 überlebt hatte, versuchte,aus der von außen in die Illegalität und von innen in die Sekte ge-zwungenen Partei eine legale – und revolutionäre Realpolitik be-treibende – Arbeiterpartei zu machen. Im Oktober 1919, auf demHeidelberger Parteitag, gegen den der Gründungsparteitag eine ge-sittete Veranstaltung gewesen war, spaltete er, in seiner Not der Ob-struktionspolitik der Radau-Sozialisten müde, die KPD.

Die Ausgeschlossenen fanden sich in der »Kommunistischen Ar-beiterpartei Deutschlands« (KAPD) zusammen, die vor allem unterden durch den Weltkrieg Entwurzelten eine halbe Million Mitgliedergewann; radikal in der Phrase, ziel- und harmlos in der Politik.

Levi hingegen bereitete mit einer Mehrheit der USPD, die sich alslinke Massenpartei 1917 von der Kriegspartei SPD abgespalten hatte,

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eine Vereinigung vor, die im Dezember 1920 auch vollzogen wurde.Da hatte Levi aber längst, ohne es begriffen zu haben, in Moskaumächtige Feinde gegen sich aufgebracht. Lenin, Sinowjew und Ra-dek wollten nicht die politisch erfahrenen Antimilitaristen und Marx-Anhänger aus der USPD – die die neuen Herren Rußlands schon alseinflußlose Emigranten gekannt hatten –; sie wollten die formbarenund scheinbar zu allem bereiten »Kader« der KAPD.

Der Plan scheiterte zwar, denn die KAPD fiel so schnell in sich zu-sammen, wie sie aufgestiegen war; aber da war Levi längst zumRücktritt gezwungen und wenige Wochen später zusammen mit etli-chen Spartakisten aus der Partei ausgeschlossen worden.

Vor der KAPD hatte schon die USPD in großer Zahl Verzweifelteund Orientierungslose angezogen; viele von ihnen waren 1920 in dieKPD gegangen. Aus ihnen formte sich die Führung der Bolschewikiab 1924 eine bedingungslos gehorsame, weil finanziell abhängigedeutsche Bürokratenpartei, die während der Weltwirtschaftskrise zwarkurzzeitig an Masseneinfluß gewann, aber im Frühjahr 1933 fastgeräuschlos zusammenstürzte, während viele Mitglieder quasi ohneFührung den Kampf gegen den Faschismus fortführten und nichtselten mit dem Leben bezahlten. In und mit der proletarischenKriegspartei von 1914 bis 1918, der SPD, ereignete sich ähnliches.

Am Ende des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges stand,anders als 1918, keine Revolution, sondern an der Elbe die Rote Ar-mee – und die nächste Vereinigung bevor, dieses Mal der ehemalsverfeindeten Apparateparteien SPD und KPD; was politisch zwei-fellos sinnvoll war. Doch es wurde keine Vereinigung wie die von1920 zwischen KPD und USPD – von der unter dem FirmennamenUSPD völlig unangefochten nach 1920 eine Minderheit fortbestan-den und 1922 in Teilen den Rückweg in die SPD angetreten hatte.Das Hauptziel der von Stalin im Herbst 1945 beschlossenen Verei-nigung bestand nicht in der Schaffung einer starken linken Partei.Es ging um das Verschwinden der verhaßten SPD – wogegen sichnicht wenige ihrer Mitglieder wehrten –, außerdem um Nibelungen-treue gegenüber der Besatzungsmacht, und dann erst um Stärke.

Trotzdem: Eine plumpe Zwangsvereinigung, wie sie bis heute vomverordneten Antikommunismus propagiert wird, war es nicht. Dennviele Sozialdemokraten glaubten als die »eigentlich Unbelasteten«,mit der SED zwischen den Besatzungsmächten in Ost und West ver-mitteln und so zur entscheidenden Kraft werden zu können. Ein Irr-tum; sie wurden, wie ein böses Wort dieser Zeit, geprägt in der altenArbeiterbewegungsmetropole Leipzig, besagte, nur zu »Fahrstuhlfüh-rern an die Macht«. Letztlich war die Vereinigung von allem etwas.

Als die SED gleichgeschaltet wurde, redete Wilhelm Pieck auf der13. Tagung des Parteivorstands im September 1948 Klartext: »Wirhaben uns vereinigt unter den Möglichkeiten, die uns die sowjetischeBesatzungsmacht gab. Wir konnten es nicht machen, wie es in Un-garn und Polen geschehen ist, daß sich die fortschrittlichen Kräfte derSozialdemokratie von den reaktionären Elementen trennen. Wir ha-ben also sehr viele Kräfte in unserer Partei, die innerlich noch nichtvon der Notwendigkeit der Vereinigung überzeugt waren«.

Diverse »Verbindungen« – genügend Stoff zum »Prüfen«.JÖRN SCHÜTRUMPF

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Kurt Tucholsky alias Peter Panter, Theobald Tíger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser

haßt liebt

das Militär Knut Hamsundie Vereinsmeierei jeden tapferen FriedenssoldatenRosenkohl schön gespitzte Bleistifteden Mann, der immer in der KampfBahn die Zeitung mitliest die Haarfarbe der Frau,Lärm und Geräusch die er gerade liebt»Deutschland« Deutschland

Das Deutschland in der Rubrik »haßt« ist seltsam in eine Art Gänse-füßchen gesteckt – etwa damit man es nicht so ernst nimmt? Dasschrieb er 1928.

Ein Jahr später schrieb er in »Deutschland, Deutschland über alles«im Schlusskapitel »Heimat«: »Wer aber weiß, was die Musik derBerge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Land-schaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als dass er zu Hauseist; dass das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nichteinen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Poli-tik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir liebenes, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der unsgewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nichtaufzählen kann, die uns nicht einmal bewusst sind und die doch tief imBlut sitzen … Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch derOberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelm allein sindDeutschland. Wir sind auch noch da … Wir haben das Recht, Deutsch-land zu hassen – weil wir es lieben.«

Und so endet dieser Text: »Deutschland ist ein gespaltenes Land.Ein Teil von ihm sind wir. Und in allen Gegensätzen steht – uner-schütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität undohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.«

Diese Heimat hat ihm seine Liebe nicht gedankt – sie hätte ihn, wäreer geblieben, ermordet, die geliebte Heimat.

Auch wenn es nach dem neuesten Stand der Forschung so aussieht– Sie kennen die Biographie von Michael Hepp –, als habe sichTucholsky in der Emigration nicht umgebracht, so hat er doch zeitle-bens an Deutschland gelitten. Und da war er nicht allein – auch Erich

Heinrich Senfft – Dr., Publizist und Rechtsanwalt,lebt in London, vertrat unter anderem Gregor Gysiund Markus Wolf.Publikationen u. a.: Die sogenannte Wiedervereini-gung, Berlin Verlag 1999.

Laudatio für den PublizistenErich Kuby (1910-2005)anlässlich der postumenVerleihung des Kurt-Tucholsky-Preises 2005.

Michael Hepp: KurtTucholsky. BiographischeAnnäherungen, Reinbek bei Hamburg 1993.

UTOPIE kreativ, H. 186 (April 2006), S. 293-298 293

HEINRICH SENFFT

Erich Kuby

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Kuby hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als mit diesem Landbeschäftigt. Wir haben es eben gehört – Susanna Kuby, die heutenatürlich mit ihrem und Kubys Sohn Daniel hier ist, hat die Texte aus-gesucht, die wir anstelle einer Ansprache von Erich Kuby gehörthaben.

Natürlich gibt es in einem kleinen Land wie dem unseren allerleiVerbindungen: zum Beispiel Friedrich Sieburg, auch einer, der unterDeutschland gelitten und immer wieder darüber geschrieben hat. Erkam von der »Weltbühne« und war viele Jahre Korrespondent der»Frankfurter Zeitung« in Paris und Autor des berühmten Buches»Gott in Frankreich?«; er war in den zwanziger und den ersten dreißi-ger Jahren mit Tucholsky befreundet – es gibt da allerlei anrührendeFamilien-Ausflugsphotos und Briefe. Tucholsky und andere Emigran-ten taten sich nach 1933 mit einem wie Sieburg, der deutscher Korres-pondent blieb, natürlich schwer. Aber Sieburg hatte es auch mitDeutschland schwer: Bald nach Hitlers Regierungsübernahme schrieber in der »Frankfurter Zeitung«, das ging damals noch, nun komme erin eine schwierige Situation, weil er sein Land draußen gegen vielesin Schutz nehmen müsse, was er im Grunde nicht verteidigen wolle.Das hat seiner Beziehung zu den Emigranten am Ende natürlich nichtgeholfen, weil er sich, ein Nationaler, von seinem Lande trotz Hitlernicht trennen mochte. Vor 1933 hatte er Hitlers Regierungsübernahmeals Kostgänger Schleichers zu verhindern gesucht – und ist dann spä-ter, zur Zeit der deutschen Besatzung als Botschaftsrat in Paris dochnoch ausgerutscht. Ich spreche von ihm nicht nur, weil sein Leben,seine unentschiedene Entscheidung besonders exemplarisch waren,sondern weil er auch mit Tucholsky zu tun hatte – und später meineMutter heiratete, mein letzter Stiefvater war.

Ich erwähne diese seltsamen Querverbindung in einem unglückli-chen, kranken Land – und das ist es bis heute geblieben –, weil ich denErich Kuby schon kannte, als Sieburg noch lebte – der starb 1964 –,aber ich wollte Ihnen nicht verschweigen, mit welch seltsamem – undKuby bekanntem – Hintergrund wir uns kannten, allmählich mitein-ander befreundet waren und uns immer wieder sahen, in Hamburg, inMünchen, in Venedig, und auch mit Susanna und Daniel zu einemWeihnachten bei uns in Cortona.

Natürlich kannte ich Kuby schon viele Jahre aus seiner Schreiberei,aber 1962 kam er zum »stern«, dessen – freier – Redaktionsanwalt ichdamals und bis zu den trostlosen Hitler-Tagebüchern 1983 war, überdie und deren Hintergründe keiner so gnadenlos und richtig wie Kubygeschrieben hat. Ich habe damals meinen Beratungsvertrag gekündigt.1962 war das Jahr der Spiegel-Affäre, als Augstein und Ahlers wegenangeblichen Landesverrats verhaftet und eingesperrt und die Redak-tion – damals noch wie ZEIT und »stern« – im Pressehaus in Hamburgdurchsucht und auf den Kopf gestellt wurden. Man erinnere sich bittedes Aufschreis, der damals nicht gerade durchs ganze Land, aberdurch die Medien und die Politik ging. Man erinnere sich des – aller-dings vergleichsweise geringeren – Aufsehens, das 1970 bis 1976 un-ser Münchener Prozess der CSU gegen den stern machte, als es um dieCSU-Spielbanken-Affäre ging – wir hatten Körbe voller Zeitungs-meldungen und Kommentare – und als es später, in den achtziger Jah-ren in München vor Gericht darum ging, dass der »stern« behauptet

Friedrich Sieburg (1893-1964) – Schriftsteller undPublizist, Dr. phil., schrieb inden zwanziger Jahren fürdie »Weltbühne« sowie denRosa Luxemburg gewidme-ten Gedichtband »Die Erlö-sung der Straße«, seit 1924Auslandskorrespondent der»Frankfurter Zeitung«, be-kannte sich 1933 zum Na-tionalsozialismus, 1940 imbesetzten Frankreich nebenErnst Jünger im kulturpoliti-schen Koordinierungsstab,verließ nach Differenzen1942 die Deutsche Bot-schaft, 1945 Schreibverbot,1948 Mitherausgeber derZeitschrift »Die Gegenwart«,1956-1964 Leiter derwöchentlichen Literaturbei-lage der »Frankfurter Allge-meinen Zeitung«, einer dereinflussreichsten Publizistender Adenauerzeit, befürwor-tete die Verständigung mitFrankreich.

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hatte, der bayerische Minister Gerold Tandler habe sich mit einem ge-fälschten Dokument ein Grundstück aus einem Nachlass herausge-holt, hat schon kaum noch einer zugehört, geschweige denn wie früherdarüber geschrieben, aber – ungedruckt – gesagt, so sei das eben in un-serem Lande. Die wahrhaft letzte Aufregung war die Neue-Heimat-Affäre – und auch das ist schon viele, viele Jahre her.

Wenn Innenminister Schily heuer veranlasst, die »Cicero«-Redak-tion zu durchsuchen, hören in diesem Lande allmählich wieder einpaar mehr Leute hin, da wird ein wenig berichtet, wie sich’s heuergehört – aber regen sich etwa wirklich viel im Lande darüber auf, gehteiner auf die Straße, um zu demonstrieren oder gar eine Fenster-scheibe einzuschlagen, weil unsere Freiheit vernichtet und jeder ein-geschüchtert werden soll? Wie abgestumpft und ängstlich sind nun so-gar schon die Journalisten dieses Landes? Was muss passieren, damitsich noch einer aufregt wie Kurt Tucholsky oder Erich Kuby, der 1963zur »Spiegel«-Affäre schrieb: »Das Volk ist in keiner Weise aufge-standen, da mache man sich nichts vor«? Sieburg schrieb gleich 1962einen FAZ-Leitartikel, in dem es hieß: »Der Zauber ist gebrochen, oh,nicht für immer; die selbstzufriedene Stimmung in der Bundesrepub-lik wird sich schon wieder einstellen.« So recht hatten sie wohl beidenicht haben mögen.

Gibt es solche archaischen Typen überhaupt noch? Und hört nocheiner zu? Damit sich etwas ändert? Damit nicht alles in den Grabengeht? Wer will noch schreien und gehört werden, damit wenigstensdas meiste so bleibt, wie es ist, damit’s nicht noch schlimmer wird?Mehr kann der Journalismus ohnehin kaum je ausrichten. Wenig ge-nug ist es allemal. Mit gutem Grund hatte Kuby 1957 seinem Buch»Das ist des Deutschen Vaterland« diesen Wortwechsel von BertBrecht vorausgeschickt:

»Sagredo: Galilei, du sollst Dich beruhigen!Galilei: Sagredo, du sollst Dich aufregen.« Friedrich Sieburg besprach das Kuby-Buch in der FAZ voller Ach-

tung, war aber damals, eben 1957, von der Wirkung des »Donner-keils« der Kubyschen »massiven Polemik« nicht überzeugt: »Die bun-desdeutsche Gegenwart ist an polemischen Unternehmungen nichtreich, einmal, weil unserer Publizistik das Talent dazu abgeht, zum an-deren aber, weil die totale Wirkungslosigkeit von vornherein feststeht.Der Polemiker mag schreiben, was er will, niemand, der an der Machtbeteiligt ist, wird auf ihn hören, es sei denn, dass ›Unannehmlichkei-ten‹ zu befürchten seien.« Aber das war der Blick aus den verschlafe-nen fünfziger Jahren. Mit der »Spiegel«-Affäre 1962 hat sich dannschon einiges verändert – Strauß musste damals zurücktreten – sonstwäre er am Ende Bundeskanzler geworden –, später, 1978 auch Fil-binger – sonst wäre er wohl Bundespräsident geworden!

Man soll ja vor allem als einer der Alten nie sagen, früher sei allesbesser gewesen. Aber eines war wirklich besser: es gab in den sechzi-ger und siebziger Jahren keine oder kaum Arbeitslose – und dasmachte die Menschen freier, offener, sie hatten weniger Angst undwagten mehr – und in so einem Kreis fühlte sich einer wie Erich Kubynaturgemäß wohler. Kommt man heute in Redaktionen, herrschtAngst; Angepasstheit und Mittelmaß sind erschreckend. Fast allefürchten, ihren Job zu verlieren, weil es hunderte gibt, die ihn gern hät-

Erich Kuby erhielt denTucholsky-Preis 2005postum für sein Gesamt-werk. Veröffentlichungen(Auswahl): Das ist desDeutschen Vaterland –70 Millionen in zwei Warte-sälen, Stuttgart 1957;Rosemarie, des deutschenWunders liebstes Kind,Stuttgart 1958; Nur nochrauchende Trümmer. DasEnde der Festung Brest,Rowohlt 1959; Mein Krieg.Aufzeichnungen aus 2129Tagen, München 1975;Verrat auf deutsch. Wie dasDritte Reich Italien ruinierte,Hamburg 1982; Meinärgerliches Vaterland,München 1989; LauterPatrioten. Eine deutscheFamiliengeschichte,München 1996

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ten und bereit sind, ohne zu maulen oder gar aufzubegehren, zu arbei-ten – so wie es von oben gewünscht wird.

Sieburg ernannte Kuby in einer Rezension zum »Bundesnonkonfor-misten« – und das ist er auch geblieben. Kuby hatte wahrlich besserejournalistische Zeiten als wir sie heute vorfinden – und er hatte bessereNerven, er nahm sich Freiheit, die freilich auch etwas mit seiner pri-vilegierten Herkunft und seinem eigenwilligen, bockigen Leben zutun hatte, über das man in seinem Buch »Lauter Patrioten – Eine deut-sche Familiengeschichte 1800 – 2000« viel erfährt. Wer sich traut,über seine Familie zu schreiben, der gibt sich Blößen, die, auch wenner sie zu verbergen sucht, mehr über ihn aussagen, als ihm lieb ist. BeiErich Kuby war das schon immer anders: Er hat sich getraut und niegescheut, etwas von sich preiszugeben; er ist dem Leser als »Kas-sandra vom Dienst« mit bedingungsloser Opposition auf den Leibgerückt, indem er direkt und – wie Tucholsky – unideologisch allesaussprach, was Leser weder hören noch gar zugeben mochten. Das do-kumentiert sich besonders deutlich in seinem Buch »Mein Krieg« ausdem Jahre 1975, das schildert, wie er den Zweiten Weltkrieg erlebthatte, als ewiger Gefreiter, ab September 1944 als Kriegsgefangener,immer begleitet von seiner Schreibmaschine, auf der er jeden Tag undin jeder Situation schrieb.

Kuby kam aus einer überwiegend bürgerlichen Familie, in der In-tellektuelle allerdings nicht vorkamen, wohl aber Reeder, Bankiers,Weinhändler, Beamte, Richter und Ärzte. In beiden Jahrhundertenfehlt es aber auch an Metzgern nicht. Kubys Vater hatte sich 1901 einGut in Westpreußen gekauft, nach einem Jahr aber schon alles ver-wirtschaftet. Er zog nach München zurück und wollte seine Stimmeausbilden lassen. Dort traf er Dora Süßkind. 1910 kam Sohn Erich zurWelt. Ab 1913 lebte die Familie im bayerischen Voralpenland, wo derVater ein Gut übernahm. Im Jahr darauf zog er mit all den patrioti-schen Bürgern, die sich nicht vorstellen konnten, dass »da oben« et-was nicht stimmte, in den Krieg. Der zurückgekehrte Vater glaubte anden »Dolchstoß« und nahm Erich 1923 zu dem im Weilheimer Be-zirksamt festgesetzten Hitler mit, sprach mit seinem darob verstörtenSohn indessen nie darüber. Der bekam bei einem jüdischen Gymnasi-allehrer indes anderen, wirksamen Unterricht: »Sie machen Hitler zugroß, sagte Lamm (der Lehrer). Solche Hitlers haben auch andere Völ-ker, aber sie bleiben Randfiguren. Hier nicht. Er erzieht nicht das Volk,das Volk hat ihn erfunden. Haben Sie mir nicht gesagt, Ihr Vater habenoch im Sommer 1918 den Krieg nicht für verloren gehalten? Ver-rückt? Keine Spur, ein ganz normaler Deutscher.« Das konnte ErichKuby nicht vergessen.

Er studierte Volkswirtschaft, wurde Werfthilfsarbeiter bei Blohm &Voss in Hamburg und schrieb seine ersten Texte über die Arbeitswelt,die er dort erlebte. 1933 forderte ihn seine jüdische Freundin auf, mitihr das Land zu verlassen. Aber: »Ich wollte nicht nur aus der Fernean der Entwicklung teilnehmen, ich wollte dem Selbstfindungsprozessmeines Volkes, der ein Fäulnisprozess gewesen ist, nahe sein, ihnriechen und schmecken.« 1938 heiratete er die Tochter des BerlinerNationalökonomen Hermann Schumacher, des Gegenspielers vonWerner Sombart, nachdem er 1936 in Berlin begonnen hatte, für denScherl-Verlag zu arbeiten. Die Schwester seiner Frau war mit dem

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Physiker Werner Heisenberg verheiratet. Kuby war überzeugt, dieEinberufung zur Wehrmacht sei für ihn selber gerade im rechtenMoment gekommen – er wollte sich die Hände nicht schmutzigmachen.

Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft ar-beitete er als Berater der »Information Control Division« in München.1947 wurde er Chefredakteur der legendären Zeitschrift »Ruf«, nach-dem die US-Militärregierung die ersten Herausgeber Alfred Anderschund Hans Werner Richter abgesetzt hatte. Aber Kuby teilte bald dasSchicksal seiner Vorgänger: Schon nach einem Jahr wurde er gefeuert,weil er Texte und vor allem einen Leserbrief veröffentlicht hatte, dieden Lizenzträgern gar nicht gefielen, sodass sie, wie Kuby schreibt,»mit der Absicht umgingen, jemand für den »Ruf« zu finden, der ih-rer stinkbürgerlichen Gesinnung eher entsprach«. So kam Erich Kubyzur Süddeutschen Zeitung, wo er unablässig und erbittert gegen dieWiederbewaffnung und die Ausstattung der Bundeswehr mit Atom-waffen wetterte.

Wirklich richtig berühmt wurde Kuby 1958 durch sein Buch »Ro-semarie, des deutschen Wunders liebstes Kind«, das mit Nadja Tillerverfilmt wurde. Es wurde in siebzehn Sprachen übersetzt – er war derÉmile Zola der deutschen Wirtschaftswunderjahre, denn er schildertedie Bundesrepublik der mittfünfziger Jahre so gnadenlos, dass einemder Geschmack an CDU, Wirtschaftswunder und dem »Wir sind wie-der wer« vollends verging – und man sich fragte: Waren wir je »wer«oder haben wir in den beiden Weltkriegen nur unsere nicht enden wol-lenden Minderwertigkeitskomplexe überkompensiert, weil wir es inbald dreihundert Jahren zu nichts mehr gebracht hatten? Das merkeich jetzt besonders eindrucksvoll, seit ich in London lebe und täglichspüre, wie viel angenehmer und beruhigender es ist, dreihundert Jahredie Welt regiert zu haben als in einem Jahrhundert zwei Weltkriege an-zufangen – und verloren zu haben.

In diesem Jahr, 1958, landete Kuby für eine Weile bei der »Welt«,verließ sie aber bald wieder, nachdem sich das Blatt, ja der ganze Ver-lag nach Axel Springers und Hans Zehrers Moskau-Reise in eineKampftruppe des Kalten Krieges verwandelt hatten. 1962, ich er-wähnte es schon, ging Kuby zum »stern«, wo er aber auch seine Prob-leme hatte: Als Chefredakteur Henri Nannen 1964 Franz JosefStrauß eine vierzehntägige Kolumne angeboten hatte, schmiss Kubyalles hin und ging zum »Spiegel«, kam aber nach anderthalb Jahrenwieder zum »stern« zurück.

Und er schrieb ein Buch nach dem anderen, vor allem eines, das seinganzes Leben veränderte: Für den »stern« recherchierte er, wie dieDeutschen nach dem Badoglio-Putsch 1943 in Italien gehaust hatten.Da er kein Italienisch sprach und der wissenschaftlichen Assistenz be-durfte, suchte und fand er Susanna Böhme, die, wie es der Zufall sowollte, bald seine zweite Frau wurde und Daniel zur Welt brachte. Der»stern« druckte die Italien-Geschichte nicht, aber ihm blieben Su-sanna und das sehr erfolgreiche und für die Deutschen gar nicht ange-nehme Buch »Verrat auf deutsch – wie das Dritte Reich Italien rui-nierte«. Bücher halten ja sehr lange, aber diese Ehe hielt auch bis zuseinem Tod – will man noch mehr verlangen? Und Daniel hat sehrlange, nicht lange genug, einen außergewöhnlichen Vater gehabt.

Aus Anlass des 60. Todes-tages von Kurt Tucholskywurde 1995 der Kurt-Tucholsky-Preis für literari-sche Publizistik gestiftet. Alle zwei Jahre werden mitihm engagierte deutsch-sprachige Publizisten oderJournalisten ausgezeichnet,die der »kleinen Form«wie Essay, Satire, Song,Groteske, Traktat oderPamphlet verpflichtet sindund sich in ihren Textenkonkret auf zeitgeschicht-lich-politische Vorgängebeziehen. Ihre Texte sollen im SinneTucholskys der Realität-sprüfung dienen, Hinter-gründe aufdecken und demLeser bei einer kritischenUrteilsfindung helfen. Die Auswahl der Preisträgererfolgt durch eine fünf-köpfige Jury; das Preisgeldbeträgt 3 000 Euro.Erich Kubys EhefrauSusanna Böhme-Kuby hatauf eine Auszahlung desPreisgeldes verzichtet, dassomit für die kommendePreisvergabe wieder zurVerfügung steht.

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Da Susanna in Italien Universitäts-Arbeit hatte, zog die Familie nachVenedig, in eine Ecke, die von Touristen nicht überschwemmt wird –und dort schrieb Erich Kuby noch ziemlich viele Jahre für den »Frei-tag«, dessen Mit-Herausgeber der im vergangenen Jahr zu früh undunersetzlich gestorbene Günter Gaus war, seine wöchentliche Presse-schelte, die seine Unabhängigkeit und sein unbestechliches Urteil do-kumentierten. Tempi passati.

Man muss ja nicht gleich Ernst Jünger übertreffen – in keiner Hin-sicht. Aber aus Versehen hätte Erich Kuby es wohl bald geschafft. Wirwerden ja allmählich fast alle viel zu alt – aber den Erich Kuby hättenwir gerne noch eine Weile unter uns gehabt. Dann hätte er sich auchüber diesen Preis freuen können.

Als wir noch jünger starben, gab’s ein paar Alte, die über die Ver-gangenheit sagen konnten, was sie wollten, weil keiner mehr da war,der hätte widersprechen können. Kuby hätte sich das mit seinen hohenJahren auch leisten können, aber was hätte er erfinden sollen, was ernicht schon formuliert hatte? Vor allem nichts, um sich nach vorne zulügen und Aufmerksamkeit zu bekommen – die war ihm ohnehin biszuletzt sicher.

Manche, gar viele, die nicht wissen, wovon sie reden, manche, dienicht richtig lesen können, hielten und halten Kuby für einen Linken,gar für einen Kommunistenfreund.

Sie haben es eben gehört: 1965 hielt auch Kuby den Kurt Tucholskyzwar für keinen Marxisten, aber für »entschieden links«, für einen»empfindlichen Linken«. Ist Kuby da auf sich selbst hereingefallen?In Wahrheit war Tucholsky kein Linker – und er selbst, Kuby, warauch keiner. Beide waren freie, unabhängige Menschen, fern allerIdeologie, die sich immer das Recht nahmen, ihre Meinung zu sagen,auch wenn sie keinem passte – und danach zu handeln. Kuby zumBeispiel in den endsechziger Jahren, als er einen Hamburger Studen-ten-Revoluzzer wochenlang in seiner Wohnung in der Parkallee un-terbrachte, weil der vom Staatsschutz gesucht wurde. Links? Nein:frei. Da er seine Unabhängigkeit dokumentierte, die fast wie Arroganzanmutete, haben ihn viele angefeindet, fast gehasst – und doch res-pektiert. Er hat sich nie auf faule Kompromisse eingelassen.

Wie Tucholsky und so viele andere litt er unter diesem Land undwar imstande, dieses Unbehagen, diese Wut zu formulieren. Wie är-gerlich war er oft, wenn die Nachkriegsdeutschen die Nazizeit zu ver-drängen, zu verharmlosen suchten, da sie doch in Wahrheit die Zeitder größten deutschen Selbstverwirklichung war, wie er nicht nur ein-mal formulierte.

Es gilt hier und heute, einen Widerspenstigen, einen Aufsässigen, ei-nen Herren zu ehren, der nie wegschaute, sondern immer alles auf-schrieb, was er gesehen hatte, gleichgültig, ob es ihm, seiner Redaktionoder seinen Lesern gefiel. Er war unbarmherzig auch mit sich, wenn erformulierte – und er fand immer jemanden, der ihn druckte – zuletztden »Freitag«. Kuby war nicht etwa kompromissunfähig, wenn er im-mer einmal wieder von einigen nicht gedruckt werden wollte – aber erhatte instinktiv sichere Grenzen, die er nicht zu überschreiten bereitwar; dann ging er sofort. Deshalb ist er auch der richtige Preisträger fürTucholsky – das sind zwei, die zusammenpassen. Es wird schwer wer-den, in Zukunft einen zu finden, der da mithalten kann.

Die bisherigen Tucholsky-Preisträger sind: Der Jour-nalist und SchriftstellerErich Kuby, der JournalistWolfgang Büscher, derAutor und HochschullehrerHarry Pross, der Lieder-macher Konstantin Wecker,der Journalist HeribertPrantl, der SchweizerSchriftsteller Kurt Martiund die SchriftstellerinDaniela Dahn.

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»Die Demokratisierung der Wirtschaft im Mikro-, ebenso wie imMakrobereich, stellt,« so Rudolf Hickel, »die wichtigste gesellschafts-politische Aufgabe der Gegenwart, aber vor allem auch der Zukunftdar. Denn erst mit der Demokratisierung der Wirtschaft werden diegesellschaftsstrukturierenden Machtzentren zurückgedrängt und ei-ner direkten Planung und Kontrolle unterzogen. Gleichzeitig wirddamit auch eine für die herrschende Staatsauffassung typischeDichotomie überwunden. Während das System der parlamentari-schen Demokratie von der Idee lebt, es reiche aus, die politischenStrukturen eines Landes zu demokratisieren, fordert eine radikale –d. h. eine an den gesellschaftlichen Wurzeln ansetzende – Demokra-tisierung auch und eben die Einbeziehung der Wirtschaft.«1 Entge-gen dieser spätestens seit der Weimarer Zeit von den Gewerkschaf-ten erhobenen Forderung nach einer Demokratisierung stoßen bisheute unnachgiebig die parlamentarisch-demokratischen Strukturen– in einem Bundes- und Sozialstaat föderal in der Verfassung ange-legt – auf eine weitgehend autokratische (paternalistische) Führungs-und Herrschaftsstruktur in der Wirtschaft. Diese wurde seit Mitte der1970er Jahre unter dem Regime des Neoliberalismus noch verstärkt.Selbst die nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzlich verankerte Mitbe-stimmung, die letztlich keine wirklich gleichberechtigte wirtschaft-liche Mitbestimmung zwischen Kapital und Arbeit erlaubt, wirdnoch unterminiert. Der wirtschaftspolitische neoliberale Paradigmen-wechsel hin zu einem sozial entfesselten Kapitalismus2 hat nicht nurdie bis dahin zumindest einigermaßen bestehende Machtbalancezwischen Kapital und Arbeit aus dem Lot gerissen, sondern auch denzuvor vorherrschenden keynesianischen Staatsinterventionismus ab-gelöst, der der fordistischen/tayloristischen Massenproduktion eineadäquate Massenkaufkraft bzw. -nachfrage zuführte. Schlimmer noch:die Herrschafts- und Machtverhältnisse sind mit der radikalen Öff-nung und Liberalisierung der weltweiten Märkte seit Beginn der1990er Jahre fast vollkommen auf die Wirtschaft übergegangen. DieGlobalisierung hat die nationale Politik zum Getriebenen der Märktegemacht. Der Raum der kapitalistischen Verwertung ist global ge-worden und der Vergleich der Verwertungsmöglichkeiten von Kapi-tal, hinweg über Branchen, Länder und Kapitalformen (vom Geld-kapital bis zum Humankapital), ebenfalls. Dabei zählt heute nurnoch der Shareholder-Value, der zu einem unterstellten und von denShareholdern (Kapitaleignern) geforderten Zinssatz den Wert einesUnternehmens kapitalisiert.3 Hierdurch ist es letztlich zu schwerwie-

Heinz-J. Bontrup –Jg. 1953, Prof. Dr. rer. pol.,Hochschullehrer für Wirt-schaftswissenschaft an derFachhochschule Gelsenkir-chen mit dem SchwerpunktArbeitsökonomie, Mitgliedder Arbeitgruppe AlternativeWirtschaftspolitik. ZahlreicheBuch- und Zeitschriften-veröffentlichungen zurArbeitsökonomie, Wirt-schaftspolitik sowie Preis-und Wettbewerbstheorie.Zuletzt erschien sein Buch»Arbeit, Kapital und Staat.Plädoyer für eine demo-kratische Wirtschaft«, Papy-Rossa Verlag Köln 2005.

1 Rudolf Hickel: DieDemokratisierung desUnternehmens. Die Neo-marxistische Konzeption, in:Internationale Stiftung Hu-manum (Hrsg.): Neomarxis-mus und Pluralistische Wirt-schaftsordnung, Bonn 1979,S. 150.

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genden sozialen und ökonomischen Verwerfungen gekommen. Un-zureichende Wachstumsraten, Massenarbeitslosigkeit und einschrumpfender Sozialstaat haben zu immer mehr prekären Arbeits-und Lebensverhältnissen geführt. Soll dem Einhalt geboten und einneuer Aufschwung in Richtung einer »sozialen Arbeitsgesellschaft«eingeleitet werden, die auf einer uneingeschränkten materiellen undimmateriellen Partizipation der abhängig Beschäftigten beruhenmuss, so sind die ökonomischen Prozesse sowohl auf einzel- alsauch auf gesamtwirtschaftlicher Ebene demokratisch zu gestaltenund auszusteuern. Dies will der folgende Beitrag aufzeigen.

Marktwirtschaftliche Ideologie und ökonomische DemokratieEs heißt, in marktwirtschaftlichen Ordnungen gebe es idealtypischkeine Macht. Weder die Unternehmen noch ihre Eigentümer könn-ten hier auf Grund ihrer nur geringen Größe und einer vollkomme-nen Konkurrenz Märkte beeinflussen, Preise und sonstige Konditio-nen setzen oder die Nachfrageseite des Marktes manipulieren. ImGegenteil: Eine Marktwirtschaft diene der Gesellschaft über Konsu-menteninteressen als Ganzes mit niedrigen Preisen bei bester quan-titativer und qualitativer Marktversorgung. Der Markt wird mit einerKonsumentensouveränität gleichgesetzt, also mit der Macht desVerbrauchers zu entscheiden, welche Waren erzeugt, angeboten undverkauft werden. Die Produzenten, genauer die Kapitaleigner, müss-ten sich dem unterwerfen. Sie erhielten daher im Marktgleichgewichtauch keinen Gewinn. Dieser werde zu Gunsten der Konsumenten imWettbewerb der Unternehmen untereinander wegkonkurriert. DieKapitaleigner würden lediglich, setzen sie ihre eigene Arbeitskraftim Produktionsprozess ein, mit einem kalkulatorischen Unterneh-merlohn bedacht, und die abhängig Beschäftigten würden mit ihrerGrenzproduktivität bzw. mit ihrem Wertgrenzprodukt der Arbeit ent-lohnt.4 Auch seien die Kapitaleigner gegenüber ihren Beschäftigtenunter den Bedingungen einer vollbeschäftigten Wirtschaft weitge-hend machtlos. Der Staat habe nur eine »Nachtwächterfunktion«.Er setze lediglich die Rahmenbedingungen. Jede staatliche Markt-intervention führe zu schlechteren sozialen und ökonomischen Er-gebnissen.

Dieser theoretischen Form und Interpretation einer marktwirtschaft-lichen Ordnung mit einer immanent unterstellten »ökonomischenDemokratie«, die auch dem heute vorherrschenden marktradikalenNeoliberalismus als Rechtfertigungsideologie dient, steht allerdingsdie wirtschaftliche Realität einer kapitalistischen Ordnung gegen-über.5 In dieser ist nicht nur ein widersprüchliches Lohn-Kapital-Verhältnis angelegt, sondern es dominiert auf Grund des Privatei-gentums am eingesetzten Unternehmenskapital ausschließlich derKapitaleigner, der Shareholder. »Neben der nur durch Arbeitsgesetzeeingeschränkten Verfügungsgewalt über die Arbeitskräfte wird denKapitalgebern die Aneignung des wirtschaftlichen Erfolges zuge-standen. Auch die einseitige Orientierung der Unternehmen an derGewinnerzielung als ausschließlichem Ziel ist eine Konsequenz die-ser Machtstruktur und nicht die zwangsläufige Schlussfolgerung ausder Marktkoordination und Marktsteuerung.«6 Von gleichberechtig-ten demokratischen Mitsprachestrukturen der abhängig Beschäftig-

2 Vgl. Joachim Bischoff:Entfesselter Kapitalismus,Hamburg 2003.

3 Vgl. Elmar Altvater: DasEnde des Kapitalismus, wiewir ihn kennen. Eine radi-kale Kapitalismuskritik,Münster 2005, S. 63.

4 Vgl. Heinz-J. Bontrup:Lohn und Gewinn, Volks-und betriebswirtschaftlicheGrundzüge, München-Wien2000, S. 92 ff.

5 Zum Begriff bzw. zurGeschichte des Begriffs»Kapitalismus«, der erst-mals im 18. Jahrhundertverwendet wurde, sich aller-dings erst sehr viel späterdurchsetzte, vergleicheElmar Altvater: Das Endedes Kapitalismus, a. a. O.,S. 34-42. Nach dem Zwei-ten Weltkrieg wurde derBegriff auf Grund der nega-tiven Assoziationen, diedurch Ausbeutung, Enteig-nung und Machtanwendunggeprägt waren, in »Markt-wirtschaft« umbenannt. Diesist aber nichts als eine»Täuschung«, schreibt derbekannte amerikanischeÖkonom John KennethGalbraith. »Ökonomen,Führungspersönlichkeitenaus der Wirtschaft undPolitik, (...) sprechen heutelieber von ›der Marktwirt-schaft‹, weil dieser Terminuskeine negativen Assoziatio-nen weckt. Zwar kann mandas Wort ›Kapitalismus‹noch hie und da hören, abernur selten aus dem Mundeder scharfsinnigen und elo-quenten Verteidiger derbestehenden Wirtschafts-ordnung. (...) Die Rede voneinem marktwirtschaftlichenSystem ist aber (...) nichts-sagend, falsch und schön-färberisch. Hinter dieserUmbenennung stand derWunsch nach Schutz vorden leidvollen Erfahrungen,

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ten kann jedenfalls keine Rede sein. Das kapitalistisch orientierteUnternehmen, ob als kleiner Handwerksbetrieb oder als großer in-ternational agierender Konzern, verfolgt ausschließlich ein profitma-ximierendes Kapitalinteresse, ohne dabei Rücksicht auf Natur undMensch zu nehmen. Weder wird ohne eine staatliche Interventiondie Natur (Umwelt) in das »marktwirtschaftliche« Preissystem in-ternalisiert, noch erfolgt eine Beteiligung der abhängig Beschäftig-ten am Wert ihrer Arbeit. Sie erhalten lediglich ein Lohnäquivalentin Höhe des Wertes ihrer Arbeitskraft, so dass sich der Kapitaleigner,der Kapitalist, auf Grund des Kapitalvorschusses und des Eigentumsden Überschuss, den Mehrwert (Profit), aneignen kann. Markt- undwettbewerbsimmanente Konzentrations- und Zentralisationspro-zesse haben dabei im Kapitalverwertungs- und einem erweitertenAkkumulationsprozess immer größere Unternehmenseinheiten ent-stehen lassen, die, entgegen marktwirtschaftlicher Ideologie, kapita-listisch alles daran setzen, »Preise nach eigenem Belieben festzuset-zen und künstlich Nachfrage nach ihren Gütern zu schaffen. Zudiesem Zweck nutzen sie das gesamte Instrumentarium der Mono-pol- und Oligopolpreisbildung, der Produktgestaltung und -differen-zierung, der Werbung und sonstiger Methoden der Verkaufs- undHandelsförderung.«7 Insbesondere der Konzern ist hier für JoelBakan »eine pathologische Institution, gefährlich, da im Besitz einerungeheuren Macht, die er über Menschen und Gesellschaft ausübt.«8

Von Konsumentensouveränität kann dabei keine Rede sein. Im Ge-genteil: Die Macht der Konzerne sichert ihnen eine Extraprofitstel-lung und wirkt gleichzeitig durch ihre ausbeuterische Kraft der Um-verteilung negativ auf das ganze System zurück. Die Ausgebeuteten,die Konsumenten, die abhängig Beschäftigten und die kleinen undmittleren Unternehmen, zahlen die Zeche.

Gefährlich für die realiter gegebene kapitalistische Ordnung istauch ihr nicht krisenfreies wirtschaftliches Wachstum. Konjunktu-relle Zyklen und langfristig (säkular) abnehmende Wachstumsratenführen zu allgemeinen Gewinneinbußen und struktureller Arbeitslo-sigkeit. Die Antwort hierauf war, zumindest für eine gewisse Zeit,ein politisch intendiertes Projekt, der Keynesianismus. Man traute –vor dem Erfahrungshintergrund der Weltwirtschaftskrise von 1929bis 1933 – dem sich selbst überlassenen Markt und dem unkontrol-lierten Kapital nicht mehr. Die bis dahin dominante Theorie desmarktwirtschaftlichen Laissez-faire und eine staatliche Deflations-politik hatten als Therapie in der Weltwirtschaftskrise völlig versagt.Daher war spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg in Theorie undpolitischer Praxis die Erkenntnis gereift, dass der Staat in den Markt-mechanismus intervenieren muss. Einerseits zur Begrenzung derwirtschaftlichen Macht der Großunternehmen und Konzerne und an-dererseits zur Erhöhung der Massenkaufkraft durch ein sozialstaatli-ches Gefüge, das auch durch eine Umverteilung der primären Markt-einkommen zu den nicht so Leistungsfähigen in einer Gesellschaftherbeigeführt werden sollte. Der sich selbst überlassene Marktschafft dies nicht. »Der Markt hat kein Herz«, stellt Amerikas be-rühmtester Ökonom Paul A. Samuelson fest.9

Speziell in Deutschland wurde zwischen 1945 und 1947 sogar dieSystemfrage gestellt.10 Selbst die CDU formulierte in ihrem »Ahle-

die mit der Ausübung kapi-talistischer Macht verbun-den waren. (...) Heute glaubtman, dass das einzelneUnternehmen, der einzelneKapitalist, keine Machtbesitze. Unerwähnt bleibtdabei, dass der Marktgeschickt und umfassendmanipuliert wird. Darinbesteht die Täuschung.«John Kenneth Galbraith:Die Ökonomie des unschul-digen Betrugs. Vom Rea-litätsverlust der heutigenWirtschaft, München 2005,S. 29 f.

6 Joachim Bischoff: DasEnde des Neoliberalismusund die Zukunft der Wirt-schaftsdemokratie, in:UTOPIE kreativ, Heft 173(März 2005).

7 John Kenneth Galbraith:Die Ökonomie des unschul-digen Betrugs, a. a. O.,S. 28.

8 Joel Bakan: Das Endeder Konzerne. Die selbst-zerstörerische Kraft derUnternehmen, Hamburg2005, S. 8.

9 Vgl. Gespräch mit PaulA. Samuelson, in: Der Spie-gel, Nr. 38/2005, S. 86.

10 Vgl. Alfred C. Mierze-jewski: Ludwig Erhard. DerWegbereiter der SozialenMarktwirtschaft, München2005, S. 75 ff.; MarianneWelteke: Theorie und Praxisder Sozialen Marktwirt-schaft, Frankfurt a. M. 1976,S. 34 f.

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ner Programm« vom 3. Februar 1947, dass »das kapitalistische Wirt-schaftssystem den staatlichen und sozialen Lebensinteressen desdeutschen Volkes nicht gerecht geworden« sei. Die SPD sah nur ineiner »Sozialisierung« und »Vergesellschaftung« eine zukünftigeLösung für die Wirtschaft, die dem Recht und der Würde des Men-schen genügten. In den Gewerkschaften erinnerte man sich an die inder Weimarer Republik im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Ge-werkschaftsbundes (ADGB) von Fritz Naphtali (1928) entwickeltenVorstellungen über eine Wirtschaftsdemokratie. Auf dieser Basis er-arbeitete Erich Potthoff11 nach dem Zweiten Weltkrieg für die nochinoffizielle Gewerkschaftsführung in der britischen Besatzungszonekonzeptionelle Vorschläge, die eine Sozialisierung der großen Un-ternehmenskomplexe in Form einer Verstaatlichung vorsahen, wobeidiese Maßnahmen in eine globale staatliche Wirtschaftsplanung ein-zubetten wären12. »Das Wirtschaftsleben würde erst dann wirklichdemokratisch, wenn der entsprechende Einfluss der Gewerkschaftenund der Betriebsräte auf die Verwaltung der einzelnen Unterneh-mungen gewährleistet (ist), indem diese in den Aufsichtsräten pa-ritätisch mit den übrigen Vertretern beteiligt sind.«13 Die Ausarbei-tungen von Potthoff gingen 1949 als politische Forderungen in daserste »Grundsatzprogramm« des Deutschen Gewerkschaftsbundes(DGB) ein. Dort heißt es:

• »(Es ist) eine Wirtschaftspolitik (umzusetzen), die unter Wah-rung der Würde freier Menschen die volle Beschäftigung aller Ar-beitswilligen, den zweckmäßigen Einsatz aller volkswirtschaftlichenProduktivkräfte und die Deckung des volkswirtschaftlichen Bedarfssichert.

• (Es muss eine) Mitbestimmung der organisierten Arbeitnehmerin allen personellen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen, in derWirtschaftsführung und Wirtschaftsgestaltung (eingeführt werden).

• Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, insbe-sondere des Bergbaus, der Eisen- und Stahlindustrie, der Großche-mie, der Energiewirtschaft, der wichtigsten Verkehrseinrichtungenund der Kreditinstitute.

• (Es ist) soziale Gerechtigkeit durch angemessene Beteiligungaller Werktätigen am volkswirtschaftlichen Gesamtertrag und Ge-währung eines ausreichenden Lebensunterhaltes für die infolge Al-ter, Invalidität oder Krankheit nicht Arbeitsfähigen (zu garantieren).

Eine solche wirtschaftspolitische Willensbildung und Wirtschafts-führung verlangt eine zentrale volkswirtschaftliche Planung, damitnicht private Selbstsucht über die Notwendigkeit der Gesamtwirt-schaft triumphiert.«14

Diese Forderungen nach einer demokratischen Wirtschaft ließensich nach der ersten Bundestagswahl in der Bundesrepublik 1949nicht mehr umsetzen. Die mehrheitlich gewählte rechts-liberaleKoalition von CDU/CSU/FDP und der Deutschen Partei (DP), ge-führt von Konrad Adenauer (CDU) als Bundeskanzler, machte sehrschnell deutlich, dass eine wie auch immer geartete »Vergesellschaf-tung von Schlüsselindustrien« und eine »zentrale volkswirtschaft-liche Gesamtplanung« nicht auf ihrer Agenda stand, und selbsteine Mitbestimmung in den Unternehmen allenfalls auf »kleinsterFlamme« in Frage kam. »Spätestens jetzt war klar, dass die Kapita-

11 Erich Potthoff war nachseinem Studium der Be-triebswirtschaft in Köln von1937 bis 1940 wissen-schaftlicher Assistent desBegründers der modernenBetriebswirtschaftslehre,Eugen Schmalenbach. Von1946 bis 1949 und von1952 bis 1956 leitete er daswirtschaftswissenschaftlicheInstitut der Gewerkschaften,das heutige Wirtschafts-und SozialwissenschaftlicheInstitut (WSI) in der HansBöckler Stiftung.

12 Erich Potthoff, in:Protokoll der Gewerk-schaftskonferenz 1946 inHannover, S. 10 ff.

13 Gloria Müller: Struktur-wandel und Arbeitnehmer-rechte. Die wirtschaftlicheMitbestimmung in derEisen- und Stahlindustrie1945–1975, Essen 1991,S. 129.

14 Zitiert nach Gewerk-schaften und Mitbestim-mung. Schriftenreihe derBundeszentrale für politi-sche Bildung, Bd. 128,Bonn 1977, S. 223.

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lismus-Kritik des »Ahlener Programms« der CDU graue Vergangen-heit war.«15

Dennoch wurde in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkriegeine »Soziale Marktwirtschaft« konstituiert. »Das zukünftige Wirt-schaftssystem sollte das Prinzip der Marktwirtschaft mit dem des so-zialen Ausgleichs verbinden; mit dem von Müller-Armack geprägtenBegriff der »Sozialen Marktwirtschaft« konnten sich auch die stär-ker planwirtschaftlich orientierte Bevölkerung und vor allem dieGewerkschaften identifizieren.«16 Der Aufbau eines Sozial- undWohlfahrtsstaates und die Nicht-Wiederherstellung einer »Laissez-faire-Wirtschaft« standen hier im Mittelpunkt. Für Alfred Müller-Armack stand außer Frage, dass zum Wesen einer »Sozialen Markt-wirtschaft« eine staatliche Intervention in die ansonsten instabilenund unsozialen Märkte gehört.17 Gleichzeitig wollte man hiermit deraufgekommenen »Systemkonkurrenz« mit dem »sozialistischen La-ger« bzw. der zentralisierten planwirtschaftlichen Ordnung begeg-nen. Der Kapitalismus musste zeigen, dass er auch sozial ist. Dazuwurden die Produktivitätssteigerungen zumindest verteilungsneutralzwischen den Kapitaleignern und den abhängig Beschäftigten auf-geteilt und Lohnerhöhungen zugestanden. Diese waren wiederumdie Bedingung dafür, dass die mit der Steigerung der Produktivitätebenfalls steigende Gütermenge über eine kaufkräftige Massennach-frage abgesetzt werden konnte. Das kapitalistische Klassenverhält-nis von Kapital und Arbeit wurde so befriedet. Es kam zu Wachstumund Vollbeschäftigung. Die Abwesenheit einer »Reservearmee« derArbeitslosen war neben der produktivitätsorientierten Lohnpolitikauch die Basis für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen undfür eine Humanisierung der Arbeitswelt. Außerdem wurden von denGewerkschaften verkürzte Arbeitszeiten durchgesetzt. Der Staatkonnte auf Grund hoher Wachstumsraten bei Vollbeschäftigung unddaraus entstehenden Steuereinnahmen die Sozialversicherungssys-teme ausbauen.

Die Einrichtung einer Wirtschaftsdemokratie, selbst nur bezogenauf eine gesetzliche paritätische Mitbestimmung in Aufsichtsrätenvon Großunternehmen, wurde dagegen von Anfang an, nicht zuletztvon Ludwig Erhard, dem ersten Bundeswirtschaftsminister, striktablehnt und bekämpft. Erhard hielt die Mitbestimmung in den Un-ternehmen allgemein für unvereinbar mit dem freien Markt. DieKapitaleigentümer müssten zur Gründung und zum Ausbau ihrerUnternehmen Risiken auf sich nehmen und sollten daher die allei-nige Kontrolle haben.18 Diesbezüglich bekam er große Unterstützungaus der Wirtschaft, deren Vertreter grundsätzlich der Auffassung wa-ren, dass Wirtschaftsdemokratie so unsinnig sei wie eine Demokra-tisierung der Schulen, der Kasernen oder der Zuchthäuser.19 Die Ge-werkschaften hielten dagegen. Sie hatten, sieht man von demMontan-Mitbestimmungsgesetz aus dem Jahr 1951 ab, mit dem1952 im Deutschen Bundestag verabschiedeten Betriebsverfassungs-gesetz und der so genannten unternehmerischen »Drittelparität« inAufsichtsräten von Kapitalgesellschaften und Genossenschaften mitmehr als 500 Beschäftigten eine schwere Niederlage erlitten. DasBetriebsverfassungsgesetz sah und sieht bis heute keine wirtschaft-liche Mitbestimmung vor und die »Drittelparität« ist eine Schein-

15 Michael Kittner:Arbeitskampf. Geschichte,Recht, Gegenwart,München 2005, S. 598.

16 Norbert Reuter: Arbeit-geber-Marktwirtschaft, in:Blätter für deutsche undinternationale Politik, Heft10/2001, S. 1.168.

17 Vgl. Alfred Müller-Ar-mack: Wirtschaftsordnungund Wirtschaftspolitik,Bern/Stuttgart 1976.

18 Vgl. Alfred C. Mierze-jewski: Ludwig Erhard,a. a. O., S. 152.

19 Vgl. Industriekurier vom7. Oktober 1965.

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mitbestimmung, da nur ein Drittel der Aufsichtsratsmandate auf Ar-beitnehmervertreter entfallen. Otto Brenner, langjähriger Vorsitzen-der der IG Metall, konkretisierte und begründete daher 1961 nocheinmal die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie. Er schrieb: »DerGedanke der Mitbestimmung bedeutet im Grunde nichts anderes alseine Ausprägung der gewerkschaftlichen Idee der Freiheit. Freiheitist für uns nicht nur ein politischer Begriff, sondern vor allem aucheine soziale Kategorie. Wir wissen, dass die Freiheit des Menschenaußerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist,solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft andererunterworfen bleibt. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens,das freie Wahl-, Versammlungs-, Rede- und Presserecht bedarf derErgänzung durch die Demokratisierung der Wirtschaft, durch Mit-bestimmung der arbeitenden Menschen über die Verwendung ihrerArbeitskraft und der von ihnen geschaffenen Werte. Die Forderungnach Mitbestimmung der arbeitenden Menschen ist historisch ent-standen in einer Wirtschaftsordnung, die auf dem privaten Besitz anProduktionsmitteln beruht, auf der Trennung des Arbeiters von denProduktionsmitteln und vom Produkt seiner Arbeit und auf der da-mit gegebenen Bevorzugung der Produktionsmittelbesitzer. Mit an-deren Worten: Wir haben es mit einer Wirtschaftsordnung zu tun, inder es keine Freiheit im sozialen Bereich und keine Demokratie imWirtschaftsleben gibt. Der Gedanke der Mitbestimmung bedeutetnichts anderes als einen Versuch, Freiheit und Demokratie auch imBereich der Wirtschaft, auch für die Arbeitnehmer zu verwirkli-chen.«20

Brenner hatte 1960 die Konzeption einer Wirtschaftsdemokratie inAnlehnung an das erste Grundsatzprogramm des DGB von 1949 ineiner Drei-Stufen-Theorie – auf einer Makro-, Meso- und Mikro-ebene – konkretisiert. Demnach sollte durch eine adäquate makro-ökonomische Gesamtplanung für Vollbeschäftigung und soziale Ge-rechtigkeit gesorgt werden. Auf der Mesoebene war eine Kontrollewirtschaftlicher (unternehmerischer) Macht vorgesehen und auf derMikroebene eine Partizipation der abhängig Beschäftigten an denunternehmerischen Entscheidungsprozessen.21

Neoliberale Angriffe auf Mitbestimmung und DemokratieVon der Etablierung demokratischer Strukturen, die auf Partizipationder Lohnarbeitenden an dem von ihnen geschaffenen Überschuss-produkt und auf ihre Teilnahme an den Entscheidungsprozessen inBetrieb und Wirtschaft setzt, sowie den demokratisch verfasstenStaat in die Verpflichtung nimmt, suboptimale und ungerechte Markt-ergebnisse durch staatliche Wirtschaftspolitik zum Vorteil für dieMehrheit der Staatsbürger zu berichtigen, ist die bundesdeutscheWirtschaft seit etwa Mitte der 1970er Jahre weiter entfernt als jemalszuvor. Selbst das wenige an heute bestehender Mitbestimmung wirdseitdem durch die einseitige Hinwendung zu einem neoliberal orien-tierten Finanzkapitalismus bedroht.22 Der Schweizer Jean Zieglerbetont, die Welt wurde einer »marktradikalen Gehirnwäsche« unter-zogen. Das Kapital diktiere der eigentlich dem gesamten Volk ver-pflichteten staatlichen Politik, mittlerweile nicht einmal mehr ver-steckt, sondern völlig offen und einseitig, die Bedingungen und

20 Otto Brenner: Auseinem Referat im Juni 1961,in: Ders.: Aus Reden undAufsätzen, Frankfurt a. M.1972, S. 58.

21 Vgl. Otto Brenner: DieGewerkschaften in dermodernen Industriegesell-schaft, in: Protokoll des6. ordentlichen Gewerk-schaftstages der IG Metall,Frankfurt a. M. 1960.

22 So wollen restaurativeKräfte, wie u.a. der ehema-lige BDI-Vorsitzende,Michael Rogowski, derdemokratische Mitbestim-mungsstrukturen für einen»Irrtum der Geschichte«hält, heute selbst diewenigen in der Wirtschaftvorliegenden unternehmens-bezogenen und betriebli-chen Mitbestimmungsrechteder abhängig Beschäftigtenzusammenstreichen odersogar ganz abschaffen.Dabei unterliegen nur rund13 v. H., dies sind etwa4 Millionen der gut 30 Mil-lionen abhängig Beschäftig-ten in der Wirtschaft einerunternehmerischen Mit-bestimmung – einschließlichder Drittelparität. Auf be-trieblicher Ebene habenlediglich 17 v. H. allerUnternehmen (47 v. H. allerBeschäftigten) in West-deutschland und sogar nur15 v. H. (38 v. H.) in Ost-deutschland einen Betriebs-rat. Man muss also ehervon »mitbestimmungsfreienZonen« sprechen.

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Ansprüche an das gesellschaftlich arbeitsteilig erwirtschaftete Volks-einkommen. Dahinter steht ein weltweit gespanntes System, dessenIdeologie im »Konsens von Washington« von den herrschenden Oli-garchien des Finanzkapitals festgelegt und von der Politik eingefor-dert wurde.23 Es lässt sich als Trias aus Liberalisierung, Deregulie-rung und Privatisierung zusammenfassen. »Die neuen Herren derWelt« (Ignacio Ramonet)24 wollten eine Entfesselung der Märkte, siewollten den weltweit globalen Markt, die Privatisierung des Plane-ten, um sich noch mehr bereichern zu können und gleichzeitig dieArmen dieser Welt auszuschließen bzw. territorial einzusperren.25

Das Primat der demokratisch gewählten und legitimierten Politikwurde »entpolitisiert« (Pierre Bourdieu) und durch eine weltweiteDominanz des Finanzkapitals ausgehebelt.26 Die Macht- und Herr-schaftseliten erhoben den Anspruch auf eine wachsende Entdemo-kratisierung bzw. auf eine Rückverlagerung der Macht ausschließlichauf die Seite der Kapitaleigner. »Die Distribution der gesellschaftli-chen Ergebnisse der kapitaldominierten Marktwirtschaft wurde soimmer stärker in Richtung der leistungslosen Vermögenseinkommenverschoben.«27 Dies wurde geschickt hinter blinden und anonymenGesetzen des Marktes und einer Hochstilisierung des Wettbewerbsgetarnt. Der Markt (und sein Synonym Konsument) sei der Sou-verän, dem sich alle zu beugen hätten, und der Markt würde imGegensatz zum Staat die gesamtökonomisch besseren Ergebnisseliefern. Der Staat »stranguliere« durch seine ständigen Marktinter-ventionen die Dynamik der marktwirtschaftlichen (preislichen)Selbststabilisierung der Konkurrenzwirtschaft. Deshalb seien grund-sätzlich staatliche Eingriffe in Marktprozesse auf Ausnahmen zu be-schränken. Der Staat habe lediglich die Rahmenbedingungen für dieWirtschaftstätigkeit festzulegen und dem Leistungswillen und derEigenverantwortung des Einzelnen im Wettbewerb genügend Raumzu lassen. Freiheit und Eigentum seien dabei konstitutive Elemente.Beide Elemente würden nachhaltig durch Mitbestimmung, durcheine demokratische Partizipation der Arbeitnehmer in den Unterneh-men die Rechte der Kapitaleigner verletzen. Dies alles ist nicht nurvor dem Hintergrund der Erfahrungen mit einer »Sozialen Markt-wirtschaft«, sondern auch deshalb grundlegend falsch, weil die Frei-heit der einen in einer kapitalistisch angelegten Ordnung die Unter-drückung der anderen ohne Kapitaleigentum automatisch nach sichzieht, wenn diese Freiheit nicht von politischen Regeln und Inter-ventionen staatlicherseits eingeschränkt wird. Der sich selbst über-lassene und immanent instabile kapitalistische Markt garantiert denabhängig Beschäftigten heute nicht einmal mehr den Verkauf ihrerWare Arbeitskraft. Dies bezeichnet Oskar Negt zu Recht als einen»kapitalistischen Gewaltakt, als einen Anschlag auf die körperlicheund seelisch-geistige Integrität der davon betroffenen Menschen.«28

Sächliche Produktionsmittel und die unternehmerische Freiheit sindverfassungsrechtlich durch das Eigentum mehr geschützt als dielebendige menschliche Arbeit. Diese Asymmetrie ist inakzeptabel.Der Mensch darf nicht einer Sache untergeordnet werden. Dennochprivilegiert unsere Rechtsordnung bei der Regelung des Unterneh-mens das Kapital.29 Wolfgang Däubler fordert daher konsequenter-weise im Hinblick auf Artikel 1 des Grundgesetzes (der »Würde des

23 Vgl. Jean Ziegler: Dieneuen Herrscher der Weltund ihre globalen Wider-sacher, München 2005,S. 51 ff.

24 Vgl. Ignacio Ramonet:Die neuen Herren der Welt.Internationale Politik an derJahrtausendwende, Zürich1998.

25 Vgl. Jean Ziegler: Dieneuen Herrscher der Welt,a. a. O., S. 11.

26 Vgl. Jörg Huffschmid:Politische Ökonomie derFinanzmärkte, 2. Aufl.,Hamburg 2002.

27 Joachim Bischoff: DasEnde des Neoliberalismusund die Zukunft der Wirt-schaftsdemokratie, a. a. O.,S. 203.

28 Oskar Negt: Arbeitund menschliche Würde,2. Aufl., Göttingen 2002,S. 54.

29 Vgl. Ekkehart Stein: De-mokratisierung der Markt-wirtschaft, Baden-Baden1995, S. 56.

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Menschen«) einen Verfassungsrang für eine paritätische Mitbestim-mung der abhängig Beschäftigten in den Unternehmen, wie er nochin der Weimarer Verfassung gegeben war.30

Der heute vorherrschende Finanzkapitalismus oder Shareholder-Kapitalismus im Sinne von Alfred Rappaport31 fordert dagegen nurnoch eins: den Respekt vor dem Privateigentum des Kapitals. DieHerrschenden und die Ideologen des Ultraliberalismus hatten wäh-rend der zwei »Wirtschaftswunderjahrzehnte« nach dem ZweitenWeltkrieg unermüdlich gegen die mächtige keynesianische mixedeconomy und ihre daraus abgeleitete und vom Kapital empfundeneEigentumsenteignung kämpfen müssen. Es war unter dem Regimedes Keynesianismus eine »soziale Arbeitsgesellschaft« entstanden,auch unter Akzeptanz des angestellten Managements in den Kapital-gesellschaften, die auf Wachstum und Vollbeschäftigung setzte. Dieweltweite Liberalisierung der Finanzmärkte hat diese Logik und ge-sellschaftliche Sozialverträglichkeit nachhaltig zerstört. Das Kapitalhat heute die Option zwischen der Anlage in beschäftigungschaf-fende Realinvestitionen oder in Finanzinvestitionen, zwischen einerArbeits- oder Geldwirtschaft wählen zu können. Hinzu kommt dieMöglichkeit einer jederzeitigen Ausstiegsoption aus einem börsen-notierten Kapitalunternehmen und damit die Rückverwandlung vonKapitaleigentum in Liquidität. Das Eigentum »springt« in Form derLiquidität von einem Unternehmen zum anderen und setzt dabeinicht primär auf eine Dividenden- bzw. Mehrwertpartizipation, dievom Unternehmen real erwirtschaftet wird, sondern auf die Speku-lation des Börsenwertes. Alles unterliegt so nur noch einem kurzfris-tigen Profitinteresse. Katalysatoren sind dabei die Finanz- und be-sonders die aggressiven Hedge- und Private Equity-Fonds, die daskollektive gesamtwirtschaftliche Sparvermögen, auch angelegt inPensionsfonds zur Alterssicherung, weltweit nach der Maßgabe ma-ximaler Profiterzielung anlegen.32 Die Kapitalrisiken werden unterdem neuen Finanzregime externalisiert, d. h. den Beschäftigten auf-geladen. Es kommt zu einer Verkehrung kapitalistischer Logik.Nicht der Profit ist das Residualeinkommen, sondern der Lohn. Pro-fite werden zu ex-ante in ihrer Höhe festgelegte Kontrakteinkom-men. Die Deutsche Bank z. B. verlangt diesbezüglich 25 v. H. Kapi-talrendite. Die Löhne und der Beschäftigungsstand werden so zuAnpassungsvariablen mit Erpressungscharakter. Hierdurch werdennicht nur die Arbeitnehmerinteressen negiert und Mitbestimmungals »Störfaktor« diskreditiert, sondern es ist unter dem Regime desNeoliberalismus,33 der nur wettbewerbs- und profitgetrieben daher-kommt, sogar zu einer Prekarisierung von Beschäftigungsverhält-nissen, verbunden mit einem gefährlichen gesamtwirtschaftlichenLohndumping, gekommen. Die wichtige gesellschaftliche Macht-balance zwischen Kapital und Arbeit hat sich dabei zunehmendzu Gunsten des Kapitals und der Marktlogik, die keinen sozialenFortschritt vorantreiben kann, aufgelöst. Die Einkommens- undVermögensverteilung ist zunehmend aus dem Gleichschritt mit denProduktivitätssteigerungen geraten34 und zerstört so zunehmend dieökonomische Basis und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ohneeinen Paradigmenwechsel in Politik und Ökonomie – weg vom Neo-liberalismus und der Ideologie der herrschenden Oligarchien des

30 Vgl. Wolfgang Däubler:Das Grundrecht auf Mit-bestimmung und seineRealisierung durch tarifver-tragliche Begründung vonBeteiligungsrechten, Frank-furt a. M. 1973. Der ameri-kanische Ökonom JohnKenneth Galbraith hatgerade in seinem neuestenBuch »Die Ökonomie desunschuldigen Betrugs« vorder im Shareholder-Kapita-lismus entstandenenMachtkonzentration einesweitgehend verselbstän-digten und selbstherrlichenManagements, das sicheine eigene Bürokratiegeschaffen hat, gewarnt.Er fordert eine wirksamereKontrolle. Diese kann nurdurch Gegenmachtbildung(»Countervailing power«)erreicht werden. Dazu mussder Faktor Arbeit mit Machtausgestattet werden.

31 Vgl. Alfred Rappaport:Shareholder Value als Maß-stab für Unternehmens-führung, Stuttgart 1995.

32 Vgl. Lothar Kamp,Alexandra Krieger: DieAktivitäten von Finanzinves-toren in Deutschland,Düsseldorf 2005.

33 Vgl. Werner Gold-schmidt, Dieter Klein, KlausSteinitz: Neoliberalismus.Hegemonie ohne Perspek-tive, Heilbronn 2000.

34 Vgl. Claus Schäfer:Weiter in der Verteilungsfalle– Die Entwicklung der Ein-kommensverteilung in 2004und davor, in: WSI-Mittei-lungen, Heft 11/2005,S. 603-615.

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Finanzkapitals – wird es daher keine Wirtschaftsdemokratie geben.Im Gegenteil: Es ist sogar ein weiterer Abbau der heute schon nichtausreichenden gesetzlichen Mitbestimmung zu befürchten.

Zur Ausgestaltung einer demokratischen WirtschaftDie Veränderungen des neoliberal getriebenen Kapitalismus und derDruck des völlig entfesselten Finanzkapitals geben im Grunde dieWege zur Rückeroberung einer sozialen Arbeitsgesellschaft vor. Derdemokratisch legitimierte Staat, die gewählte Politik, muss hierbeifür eine übergreifende wirtschaftspolitische Strategie sorgen, derenEckpunkte in Vollbeschäftigung, sozialer Sicherheit, ökologischerNachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit bestehen.35 Dazu darf derStaat nicht weiter, gemäß neoliberaler Diktion, zu einem Annex derWirtschaft verkümmern, sondern der Staat hat die Wirtschaft auszu-steuern und zu kontrollieren, ansonsten entstehen im Markt- undWettbewerbsgeschehen noch weitere wirtschaftliche Machtgebilde.Die »originären« Marktergebnisse sind nie gesellschaftlich akzeptableund gerechte Ergebnisse. Sie verlangen nicht nur nach einer staatli-chen Kontrolle des Wettbewerbs und nach einer Internalisierung ex-terner Effekte in die jeweiligen Preisstrukturen zum Vorteil der Um-welt, sondern auch nach einer Umverteilung durch eine adäquateSteuer- und Abgaben- sowie Ausgabenpolitik.36 Dies nicht zuletztzur Aussteuerung des der Marktwirtschaft immanenten Konjunktur-zyklus. Dieser ist keynesianisch-antizyklisch zu glätten. Dabeisollte auf europäischer Ebene unter den einzelnen Ländern ein Makro-dialog angestrebt werden, der zielorientiert, d.h. gegenüber der je-weiligen nationalstaatlichen Finanzpolitik, eine adäquate Geldpoli-tik einschließt. Bezüglich der Finanzpolitik ist der europäischeStabilitäts- und Wachstumspakt kein Selbstzweck. Er darf nicht zueiner finanzpolitischen »Zwangsjacke« werden, die dann gesamt-wirtschaftlich nur schadet. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatin diesem Kontext nicht nur eine Preisniveaustabilität zu berück-sichtigen, sondern sie hat auch Verantwortung für Wachstum undBeschäftigung zu übernehmen. Bezüglich einer solchen fortschrittli-chen Wirtschaftspolitik versagen aber bis heute die politischen Insti-tutionen der EU auf der ganzen Linie. Hier muss schnellstens inEuropa – auch unter dem politischen Einfluss Deutschlands – fürAbhilfe gesorgt werden.

Neben der Makroebene muss es auf der ökonomischen Mesoebenezu einer Einbeziehung gesellschaftlicher Ziele in die Unternehmens-politik kommen. Unternehmen müssen als gesellschaftliche Veran-staltungen und nicht als private Angelegenheiten begriffen werden.Hier ist vor dem Hintergrund der erreichten hohen Konzentration inder Wirtschaft eine Zurückdrängung von Marktmacht notwendig: alsMarktmacht im Sinne beherrschender Positionen von Unternehmengegenüber Konkurrenten an Absatz- und Beschaffungsmärkten37 undals Macht des immer mehr angewachsenen Finanzkapitals an denweltweiten Finanzmärkten. Auch gehört dazu die Bekämpfung vonMacht, die Unternehmen gegenüber den Konsumenten als Endver-braucher ausüben. Dies muss in Anbetracht heute bestehender viel-fältiger grenzüberschreitender unternehmerischer Marktstrategienund Unternehmensbeteiligungen durch eine drastische Verschärfung

35 Vgl. Joachim Bischoff:Das Ende des Neoliberalis-mus und die Zukunft derWirtschaftsdemokratie,a. a. O., S. 200-211.

36 Vgl. dazu die jährlicherscheinenden Memoran-den der Arbeitsgruppe Al-ternative Wirtschaftspolitik,so das Memorandum von2005 unter dem Titel:»Sozialstaat statt Konzern-Gesellschaft«, Köln 2005.

37 Hier ist in den ver-gangenen Jahren an denBeschaffungsmärkten ins-besondere die Nachfrage-macht von Unternehmendramatisch angestiegen.Vgl. speziell dazu: Heinz-J. Bontrup: Kann der Mittel-stand überleben?, in:VDI-Nachrichten, Nr. 37vom 16. September 2005,S. 2.

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europäischer kartell- und wettbewerbsrechtlicher Vorschriften um-gesetzt werden.38

Ein wichtiger Bereich zur Demokratisierung der Wirtschaft aufder Mesoebene ist die Tarifpolitik. Der Staat muss diesen ansonstenautonomen Bereich (Tarifautonomie) durch eine begleitende Min-destlohn- und Arbeitszeitpolitik stützen. Tarifpolitik zwischen Ge-werkschaften und Arbeitgeberverbänden ist immer Lohn- undArbeitszeitpolitik. Die Lohnpolitik muss mindestens den verteilungs-neutralen Spielraum, also die Produktivitäts- und die Inflationsrate,ausschöpfen, und die Arbeitszeitpolitik muss Verantwortung für einSchließen der immer mehr auseinanderklaffenden gesamtwirtschaft-lichen Produktions-Produktivitätsschere übernehmen. Sonst kommtes zu schwerwiegenden Störungen im gesamtwirtschaftlichen Kreis-laufgefüge, wie die bestehende Massenarbeitslosigkeit und die seitlangem nur schwache Binnennachfrage in Deutschland mehr alsdeutlich zeigen. Damit zukünftig nicht weiterhin die Arbeitgeber-verbände eine wirtschaftliche Krisensituation zur Durchsetzung ih-rer Partialinteressen zum Schaden der Gesellschaft ausnutzen kön-nen, weil die Gewerkschaften in Zeiten von Massenarbeitslosigkeitgeschwächt sind und in den Tarifverhandlungen permanent nur»zweiter Sieger« bleiben, sollte der Staat durch eine gesetzlichePflichtmitgliedschaft der abhängig Beschäftigten in Gewerkschaftenund von Unternehmen in Arbeitgeberverbänden für einen Machtaus-gleich sorgen. Unter der Kuratel einer Pflichtmitgliedschaft könntenArbeitnehmer dann nur noch ein Arbeitsverhältnis mit einem Unter-nehmen konstituieren, wenn sie Mitglied einer Gewerkschaft wären.Hierdurch würde die Existenz der Institution Gewerkschaft als drin-gend notwendige gesellschaftliche Gegenmacht zum Kapital lang-fristig gesichert. Ebenso müsste auf der Arbeitgeberseite einePflichtmitgliedschaft der Unternehmen im Arbeitgeberverband vor-geschrieben werden, um eine Unterminierung der verfassungsrecht-lich garantierten Tarifautonomie durch Verbandsaustritt zu verhindern.Der Staat sollte die Tarifpolitik auch im Sinne einer umverteilendengerechteren Vermögensbeteiligung durch Gewinn- und/oder Kapital-beteiligungsmodelle39 fördern und nicht zuletzt auf der Mesoebeneeine arbeits- und sozialrechtliche Gesetzgebung zum Schutz und imSinne des Menschen im Produktionsprozess ausbauen – und nichtwie heute abbauen.

Als Gegenmacht zum privatwirtschaftlichen Unternehmenssektorwäre außerdem ein Ausbau von öffentlichen und genossenschaftli-chen Unternehmen ein wesentlicher weiterer Reformschritt in Rich-tung Wirtschaftsdemokratie. Die Privatisierung der gesellschaftlichbedeutenden Bereiche der Post- und Telekommunikation sowie desBahnverkehrs war ein großer Fehler. Diese Bereiche der öffentlichenDaseinsvorsorge gehören unter gesellschaftliche und demokratischeKontrolle und dürfen nicht nach dem Gewinnprinzip und der Höhevon Börsenwerten ausgesteuert werden. Dies gilt auch für die Berei-che der Energieversorgung (Strom, Gas, Wasser), die man mit denfatalen Folgen von Konzentration, Beschäftigungsabbau, höherenPreisen und höheren Gewinnen für private Kapitaleigner einem Pseu-dowettbewerb ausgesetzt hat. Die Ergebnisse sind hier, ebenso wieim Post- und Bahnbereich, gesellschaftlich insgesamt suboptimal.

38 Vgl. Heinz-J. Bontrup:Arbeit, Kapital und Staat.Plädoyer für eine demokra-tische Wirtschaft, 3. Aufl.,Köln 2005, S. 201-245.

39 Vgl. Heinz-J. Bontrup:Gewinn- und/oder Kapital-beteiligungen – ökonomi-sche Utopie oder Notwen-digkeit?, in: Intervention,Heft 1/2005, S. 95-114.

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Zu einer Wirtschaftsdemokratie gehört auch die Vergesellschaftung,d. h. die Nutzung von Produktionsmitteln für gesellschaftliche Zieleund Zwecke, die dem Gemeinwohl dienen. Das Grundgesetz bietetgemäß Art 15 (Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzenund Produktionsmitteln) dazu die Möglichkeit. Diese Forderungwird im Umfeld einer kapitalistisch geprägten Wirtschaftsordnungund vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der osteuropäischenPlanwirtschaften heute am meisten abgelehnt und ideologisch be-kämpft. Hier sei noch einmal an die Forderungen nach Sozialisie-rung wirtschaftsrelevanter Unternehmen und Branchen nach demZweiten Weltkrieg sowohl aus den Reihen der Politiker als auch ausden Gewerkschaften erinnert. Es sei dabei darauf verwiesen, dassder Staat in der Vergangenheit und auch heute in vielen Branchenwie beispielsweise der Luft- und Raumfahrtindustrie oder der Werft-und Stahlindustrie, nicht zu vergessen im Bergbau, gewaltige Sub-ventionen gezahlt hat. Hier wurden nicht selten die Verluste soziali-siert und die Gewinne privatisiert.

Auf der mikroökonomischen (unternehmerischen und betrieblichen)Ebene muss schließlich das Verhältnis von Arbeit und Kapital in denUnternehmen von der unternehmerischen Ausübung von Klassen-macht gegenüber den abhängig Beschäftigten befreit werden. Dazumuss der Faktor Arbeit mit einer Gegenmacht (»Countervailing po-wer«) gegenüber dem Kapital in den Unternehmen durch eine ge-setzliche Absicherung ausgestattet werden. Wirkliche Gegenmachtentsteht erst durch eine uneingeschränkte rechtliche Gleichstellungvon Arbeit und Kapital auf unternehmens- und betriebsbezogenerEbene.

Deshalb sollten die heute vorliegenden drei unterschiedlichen un-ternehmerischen Mitbestimmungsgesetze (Montan-Mitbestimmung,Drittelparität, »76er« Mitbestimmung) abgeschafft und durch eineinheitliches neues Mitbestimmungsgesetz ersetzt werden. Dies neueGesetz sollte für alle Unternehmen mit mehr als ständig 500 Be-schäftigten (ohne Auszubildende), unabhängig von der Gesellschafts-bzw. Rechtsform und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bran-che, Gültigkeit haben. Die Zusammensetzung des Aufsichtsrats wärenach dem heutigen Modell der Montan-Mitbestimmung festzulegen.Dies schließt eine paritätische (quantitative) Vertretung von Kapitalund Arbeit im Aufsichtsrat ein, allerdings ergänzt um einen staatli-chen Vertreter mit Beratungs- und Informationsstatus, aber ohneStimmrecht. Dies deshalb, weil Unternehmen auch eine öffentlicheVerantwortung haben. Die »Pattauflösung« bei möglichen Kampf-abstimmungen im Aufsichtsrat soll, wie heute in der Montan-Mit-bestimmung, durch ein weiteres neutrales Mitglied erfolgen. Der»neutrale Mann« ist dabei einvernehmlich zwischen den Mitgliederndes Aufsichtsrats zu bestellen und abzuberufen. Dem Leitungsorgan(Vorstand/Geschäftsführung) muss außerdem, wie im Montan-Mitbestimmungsgesetz, ein gleichberechtigtes Mitglied (Arbeits-direktor) angehören, der insbesondere den personellen und sozialenGeschäftsbereich vertritt.

Mit dieser Rahmenfestlegung für eine wirkliche paritätische Un-ternehmensmitbestimmung ist es aber nicht getan. Hierzu gehört ent-scheidend auch die Aufhebung des so genannten Letztentscheidungs-

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rechts der Kapitalanteilseignerversammlung gemäß § 111 Abs. 4Aktiengesetz. Hierdurch können heute letztlich alle Entscheidungendes Aufsichtsrats auf Antrag der Geschäftsführung vom Kapitaleig-ner wieder aufgehoben und für nichtig erklärt werden. Im Gegensatzdazu muss der Aufsichtsrat mit Ausnahme von unternehmerischenSatzungsänderungen und von Kapitalerhöhungen sowie Kapitalher-absetzungen das Letztentscheidungsrecht haben.

Alle Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern, die keinerunternehmerischen Mitbestimmung per Aufsichtsrat unterliegen,blieben weiter den ausschließlichen Rechtsbestimmungen des Be-triebsverfassungsgesetzes unterstellt. Die Betriebsräte müssten dieFunktion der Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat übernehmen.Dazu müssten allerdings das Betriebsverfassungsgesetz entschei-dend in Richtung einer heute nicht gegebenen wirtschaftlichen Mit-bestimmung erweitert und die Rechte der Betriebsräte entsprechendausgebaut werden.

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In der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung war dieWirtschaftsdemokratie stets eine Kernfrage. Je nach gesellschaftlich-historischem Kontext, Land und Tradition wurde sie in unterschied-licher Form gestellt. Insgesamt kann gesagt werden: »Wirtschafts-demokratie wird unter zwei zentralen Perspektiven aufgefasst: erstenseiner Perspektive überbetrieblicher Strukturen für Eigentum an Pro-duktionsmitteln und Steuerung derselben und zweitens einer starken,von unten ansetzenden Perspektive, die auf demokratische Organi-sation, Selbstbestimmung und Einfluss abzielt.«1

Zur Wirtschaftsdemokratie gelangen wollte die Arbeiterbewegungin ihrer Geschichte auf zweierlei Wegen; man kann sie Paritätsprinzipund Eigentumsprinzip2 oder Mitbestimmungslinie und Eigentums-linie nennen. Die Mitbestimmungslinie war dominant in der Sozial-demokratie; sie entspricht dem klassischen Reformismus, der dieFunktionen und Rechte, die aus dem Kapitaleigentum hervorgehen,einschränken will, ohne die grundlegenden kapitalistischen Eigen-tumsverhältnisse selbst zu verändern.

Die Linke und die sozialistische Arbeiterbewegung kritisiertendiese strategische Linie vom marxistischen Standpunkt aus. Argu-mentiert wird dabei: Wenn man wirklich Wirtschaftsdemokratie –mit demokratischer Steuerung der Wirtschaft, realer Macht und rea-lem Einfluss der Arbeiter sowie gleichmäßiger Verteilung der produ-zierten Erlöse – erreichen will, dann wird das nicht möglich sein,ohne den geheiligten Kern des Kapitalismus zu ändern, nämlich: dasPrivateigentum an Produktionsmitteln und Kapital.

Ab und an wurde die Eigentumslinie auch in der Sozialdemokratievertreten. Beispiele boten (West)Deutschland und Schweden in den1970er Jahren, als die Strategien der kollektiven Vermögensbildungbzw. der Arbeitnehmerfonds verfochten wurden, um Wirtschaftsde-mokratie zu erreichen.

Die Frage der kollektiven Vermögensbildungzwecks Wirtschaftsdemokratie in DeutschlandAusgangs der 1950er Jahre sprachen Theoretiker aus dem Umfeldvon DGB und SPD von kollektiver Vermögensbildung seitens derArbeitnehmer als Weg zur Änderung der grundlegenden Macht- undEigentumsverhältnisse im Sinn der Wirtschaftsdemokratie. Vorkämp-fer der Vermögensbildungs-Strategie war Bruno Gleitze, ein demDGB nahe stehender Ökonom. Seine Ideen müssen in den histori-schen sozialökonomischen Zusammenhang gestellt werden, jenen

Stefan Sjöberg – Jg. 1967;Dr. der Soziologie, Univer-sität Uppsala; Dozent ander Universität Stockholm;Sekretär des Zentrums fürMarxistische Gesellschafts-studien, Stockholm; Koor-dinator eines Projektes zurWirtschaftsdemokratie,Transform!/GUENGL,Brüssel.

Neuere Publikationen:Power and Ownership(mit Johann Lönnroth, LisaRasmussen und CamillaSköld Jansson), SwedishLeft Party, Stockholm 2002;Löntagarfondsfrågan –en hegemonisk vändpunkt.En marxistisk analys, Uni-versitetstryckeriet, Uppsala2003; Kollektivfonds alseine Strategie für die Wirt-schaftsdemokratie. Lehrenaus der Geschichte derSchwedischen »Arbeitneh-merfonds« für die Zukunft,in: Sozialismus, Hamburg ,Heft 5/2004; Die Schwedi-

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STEFAN SJÖBERG

Kollektive Vermögensbildungin Arbeitnehmerhand

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spezifisch westdeutschen Bedingungen der Nachkriegszeit. Nachdem Krieg wurde die private Kapitalakkumulation durch wirtschafts-politische Maßnahmen unterstützt. Daraufhin konzentrierten sichKapital und Reichtum zunehmend in wenigen Händen. Eingangs der1960er Jahre besaßen 1,7 % der Bevölkerung 70 % der Produktions-mittel.3

Der Gleitze-Plan wurde zunächst 1957 unterbreitet.4 Gleitze hin-terfragt den Fakt, dass der durch Eigenfinanzierung in der Industrieerzielte Vermögenszuwachs den Kapitaleignern zufließt. Diese Ka-pitalakkumulation und -konzentration in wenigen privaten Händenverhindert eine Kapital- und Vermögensbildung seitens der Arbeit-nehmer. Gleitze meint, dieses Problem sei allein durch aktive Lohn-und Steuerpolitik nicht zu lösen. Er empfiehlt eine Vergesellschaf-tung der Kapitalakkumulation durch den Aufbau gewerkschaftlichkontrollierter »Sozialfonds«. Von Großunternehmen erzielte Profitesollten zu einem bestimmten Anteil an die Sozialfonds transferiertwerden. Mittels dieser überbetrieblichen Fonds sollten die Arbeit-nehmer an der Kapitalakkumulation in der Großindustrie beteiligtwerden. Das Fondssystem sollte sich nur auf Großunternehmen er-strecken, weil sich die Akkumulation von Kapital und Macht dortkonzentriere. Die Arbeitnehmer sollten individuelle, längerfristigunverkäufliche Fondsanteile erhalten, um zu garantieren, dass sichdas Kapital nicht wieder bei den Großeigentümern konzentriere.

Dieser Vorschlag war der Ausgangspunkt für eine lebhafte Dis-kussion über die kollektive Vermögensbildung und den Aufbau vonFonds sowohl in Deutschland als auch später in Schweden. Währendder 1960er Jahre wurden Gleitzes Ideen z. B. von einer Arbeitsgruppeim DGB zum »Buttner-Plan« sowie von bedeutenden Theoretikerndes DGB wie Wilfried Höhnen und Gerhard Leminsky verarbeitet.5

Eingangs der 1970er Jahre kamen DGB und SPD zu ersten Ent-schlüssen. Im Juni 1972 beschloss der Berliner DGB-Kongress aufmehreren Anträgen beruhende Vorschläge zur kollektiven Vermö-gensbildung. Erklärt wurde: »Die Arbeitnehmer aller Bereiche sinddurch ein überbetriebliches System der Ertragsbeteiligung am Pro-duktionsvermögen angemessen zu beteiligen.« Und in einem ande-ren Antrag: »Diese gewerkschaftliche Vermögenspolitik hat zumZiel, die in der Bundesrepublik herrschende Vermögenskonzentra-tion und die damit verbundenen einseitigen wirtschaftlichen und ge-sellschaftlichen Machtpositionen zu beseitigen.«6

Ein vom Kongress angenommener Antrag des Bundesvorstandsforderte, die Arbeitnehmer am Kapitalzuwachs in den Unternehmenzu beteiligen. Dazu wird vorgeschlagen, Vermögensbildungsfondsmit zwei Hauptzielen aufzubauen: erstens einem Umverteilungsziel,um die Lohnpolitik zu ergänzen und die Ungleichverteilung vonVermögen und Anteil am gesellschaftlichen Produkt zu korrigieren;und zweitens dem gesellschaftspolitischen Ziel, der Konzentrationvon Macht, Eigentum und Vermögen im Unternehmen seitens dergroßen Kapitaleigner entgegen zu wirken. Ein bestimmter Anteil(4 bis 15 %) am Jahresgewinn von Großunternehmen sollte aufregionaler Basis in Aktien an die Fonds transferiert werden. Zur Be-gründung hieß es, wenn die Gewinnanteile in Aktien- statt in Geld-form transferiert würden, werde die Liquidität der Unternehmen

sche Linkspartei: wirt-schaftsdemokratische Posi-tionen, in: Michael Brie,Cornelia Hildebrandt (Hrsg.):Für ein anderes Europa.Linke Parteien im Aufbruch,Texte 19 der Rosa-Luxem-burg-Stiftung, Berlin 2005.

Der vorliegende Text ent-stand mit Unterstützungeines Forschungsstipen-diums der Rosa-Luxem-burg-Stiftung Berlin. Eineerweiterte Fassung hat derAutor auf der Konferenz»Wirtschaftsdemokratie –eine Kernfrage für dieeuropäische Linke des21. Jahrhunderts?«, die am7. und 8. Dezember 2004als eine gemeinsame Ver-anstaltung der FraktionGUE/NGL im EuropäischenParlament und der Netz-werke »Transform!« undEURED im EuropäischenParlament in Brüssel statt-gefunden hat, vorgetragen.

1 Johann Lönnroth, StefanSjöberg, Camilla SköldJansson, Lisa Rasmussen:Vänstern, ägandet ochmakten, Stockholm 2001,S. 10 (Power and Owner-ship, Swedish Left Party,Stockholm 2002).

2 Horst-Udo Niedenhoff:Mitbestimmung in der Bun-desrepublik Deutschland,Köln 1979, S. 60 f.

3 Michael Take: Die Arbeit-nehmerfonds in Schweden,Frankfurt/Main 1988,S. 117 f.

4 Bruno Gleitze: Sozial-kapital und Sozialfonds alsMittel der Vermögenspolitik,in: WWI-Mitteilungen. Zeit-schrift des Wirtschaftswis-senschaftlichen Instituts desDeutschen Gewerkschafts-bundes, 1/1969.

5 Zu dieser Diskussionsiehe u. a. Rudolf Jettmar:

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nicht beeinträchtigt. Die Fonds sollten von den Arbeitnehmern kon-trolliert werden, die öffentliche Hand dabei auch repräsentiert sein.Die Fondsdelegierten sollten von allen Fondsanteilbesitzern be-stimmt werden. Ihre Räte sollten dann einen Aufsichtsrat ernennen,der zu einem Drittel aus Vertretern der öffentlichen Hand bestehenwerde.

Alle Fondseigner sollten ihren Anteilen entsprechende Zertifikateerhalten. Für den Umgang mit den Zertifikaten nannte der Kongresszwei Alternativen: Bei der ersten sollten sie nur in Ausnahmefälleneinlösbar sein, bei der zweiten nach zehn Jahren auf dem Aktien-markt verkauft werden können. Obwohl auf diese Alternativen hin-gewiesen wurde, wird die erste in der Begründung bevorzugt: Dieverteilungs- und die gesellschaftspolitischen Ziele der Vermögens-politik könnten nur auf dem Wege über grundsätzlich ewige Sperr-fristen erreicht werden.7

Der DGB hatte nun eine Grundsatzentscheidung für Fonds getrof-fen, und die SPD musste dazu Stellung beziehen. Auf dem Parteitagin Saarbrücken 1970 wurde ein Antrag des Vorstands zur Vermö-gensbildung angenommen. Er betraf Investmentfonds in dezentrali-sierten Formen unter öffentlicher Kontrolle, die genutzt werdenkönnten, um Arbeitnehmer am Kapitalzuwachs zu beteiligen und dieungerechte Kapital- und Eigentumsstruktur zu verändern.8

1971 beschloss der Bonner Parteitag, eine Vermögenskommissionzu wählen. Er ging davon aus, dass das dritte Vermögensbildungs-gesetz unzureichend war und dass andere Maßnahmen notwendigwaren, um die Arbeitnehmer am Kapitalzuwachs zu beteiligen. ImJuni 1972 erklärte der SPD-Vorstand, die Verwirklichung der Mitbe-stimmung beseitige nicht die ungerechte Vermögensverteilung in un-serer Wirtschaft. Sie ersetze deshalb nicht die Forderung nach einerstärkeren Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen.9

Wieder wurden dezentralisierte, von den Arbeitnehmern kontrol-lierte Fonds vorgeschlagen. Im selben Jahr befand der DortmunderParteitag, das 3. Vermögensbildungsgesetz sei gut für die Arbeitneh-mer, jedoch das Eigentum an Produktionsmitteln sei noch immer imBesitz einer kleinen Schicht.10

1973 bezog dann der ordentliche Parteitag der SPD in Hannovereine Position, die dem Kongressbeschluss des DGB von 1972 sehrnahe kam.11 Beschlossen wurde eine aufgrund eines Berichts derVermögenskommission ausgearbeitete Empfehlung für Fonds. Fest-gestellt wurde, dass das Eigentum am Produktivvermögen sich nochimmer in relativ wenigen Händen befinde. Zu den Zielen sozialde-mokratischer Politik gehöre es, die Arbeitnehmer am wachsendenProduktivvermögen der Wirtschaft zu beteiligen und auch auf dieseWeise zur Demokratisierung der Wirtschaft beizutragen. Großunter-nehmen sollten einen Teil des Gewinns einem zentralen Fonds über-weisen, der dann die Anteile an regionale Fonds zu vergeben habe.Die Kapitalzufuhr sollte nicht in Geld erfolgen, weil nicht die Ein-führung einer neuen Steuer, sondern eine Beteiligung der Arbeitneh-mer am Produktivvermögen beabsichtigt sei. Die Anteilseigner, d. h.die Arbeitnehmer, sollten eine Vertreterversammlung einberufen, dieeinen Verwaltungsrat zu wählen habe; dieser solle zu einem Dritteldie öffentliche Hand repräsentieren. Die Anteilseigner würden Zer-

Vermögensbildung – eineStandortbestimmung, Berlin1980, S. 46 f.; Das Mitbe-stimmungsgespräch, Hans-Böckler-Stiftung, Düssel-dorf, 2-3/1978; _ke Wredén:Kapital till de anställda,Stockholm 1976, S. 80;sowie Rolf Eidem, RolfSkog: Löntagarmakt i Väst-europa, Stockholm 1980.

6 Deutscher Gewerk-schaftsbund, Protokoll des9. Ordentlichen Bundeskon-gresses, Berlin 1972.

7 Vgl. Ebenda.

8 Vgl. Materialien zurVermögensbildung inArbeitnehmerhand –Thesen, Pläne, Gesetze.Dritte Folge: 1968 bis 1973,zusammengestellt und ein-geleitet von Dr. Günter Hal-bach, Bonn 1973, S. 44 f.

9 Vgl. Ebenda, S. 108.

10 Vgl. Ebenda, S. 146.

11 Vgl. Vermögensbildung,Parteitag Hannover 1973,Vorstand der SPD, Bonn1973.

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tifikate erhalten, die nach sieben Jahre zu Geld gemacht werdenkönnten. Das Fondsvermögen sei dazu gedacht, zur Stimulierungvon Infrastruktur-Investitionen verwendet zu werden.

Dieser Beschluss bedeutete, dass der gewerkschaftliche und derpolitische Teil der Sozialdemokratie nun vereint für die Grundzügeeines kollektiven Fondssystems zur Vermögensbildung in Arbeitneh-merhand eintraten. Gleichzeitig gab es bei den sozialdemokratischenAkteuren innere Spaltungen. Im DGB war eine starke Minderheit ge-gen die Vermögensbildungsfonds, und die wichtigste Gegenstimmeerhob die IG Metall. Sie bezog die Position, dass kollektive Ver-mögensbildung in Fonds durch Gewinnbeteiligung den Kampf fürhöhere Löhne und erweiterte Mitbestimmung schädigen könne. DieIGM war der Ansicht, die Ziele der Vorschläge für eine kollektiveVermögensbildung wären besser durch eine aktive Lohn- und Steu-erpolitik und den Kampf für die Mitbestimmung zu erreichen.12

Für die dem entgegen stehende sozialdemokratische Oppositionkann das Beispiel der Jungsozialisten stehen. Sie erklärten 1970 aufihrem Kongress, dass Vermögenspolitik, Steuerpolitik und Mitbe-stimmungspolitik untrennbar miteinander verbunden seien. Eine Än-derung der skandalösen Vermögensverteilung könne nur durch über-betriebliche Gewinnbeteiligung erreicht werden.13 Daher empfahlensie ein kollektives Fondssystem ohne individuelle Zertifikate.

Die SPD-Führung stand nun vor der Aufgabe, sich mit den ver-schiedenartigen Kritiken innerhalb der Sozialdemokratie zu beschäf-tigen und zugleich in einer Regierungskoalition mit der liberalenFDP zu wirken. Die FDP hatte zur Vermögensbildung die Position,dass die Fonds in Geldform, mit nach drei Jahren verkäuflichen in-dividuellen Anteilen, aufgestellt und so in den Finanzmarkt einbezo-gen werden sollten. Die FDP verlangte auch Sicherheit für das Pri-vateigentum und die alten Kapitaleigner.14

Die CDU unterbreitete ebenfalls Vorschläge zur Vermögensbildung.Sie war für persönlich verfügbares Miteigentum am Produktivver-mögen und gegen Kollektiveigentum,15 d. h. für individuelle Arbeit-nehmeranteile an Gewinnen und Kapital. Die schärfste Kritik an derkollektiven Vermögensbildung übte die Bundesvereinigung der Deut-schen Arbeitgeberverbände (BDA). Sie sah darin Bestrebungen desDGB zur Syndikalisierung der Wirtschaft, und sie meinte, dass dieseFonds durch eine solche Zwangsübertragung in absehbarer Zeit so-gar zu Mehrheitseigentümern werden würden.16

Zur Zeit der DGB- und SPD-Vorschläge von 1972/73 wurden dieVermögensbildungsfonds also von bourgeoisen Akteuren wie auchvon Akteuren innerhalb der Sozialdemokratie selbst kritisiert. Diezusammen mit der FDP regierende SPD-Führung hatte einen schwie-rigen Balanceakt zu vollbringen. 1974 entschied sich die Koalitions-regierung für einen Vorschlag, der grundsätzlich von denjenigen desDGB und der SPD abwich und eher dem Freiburger Programm derFDP entsprach.17 Dieser Vorschlag bedeutete, dass die DGB-interne,von der IG Metall angetriebene Opposition gestärkt wurde, und derneue Kanzler Helmut Schmidt erklärte im Frühjahr 1974, dass ernicht implementiert werde.18

In der deutschen Diskussion um kollektive Vermögensbildungs-fonds zwecks Wirtschaftsdemokratie trat danach Stille ein. Oder

12 Vgl. Winfried Fuest,Edmund Hemmer, SimonStrasser: Vermögensbildungin Arbeitnehmerhand. EineDokumentation, Köln 1997,S. 57.

13 Vgl. Ebenda, S. 70.

14 Vgl. Ebenda, S. 47u. 91.

15 Vgl. Ebenda, S. 32.

16 Vgl. Materialien zurVermögensbildung inArbeitnehmerhand,a. a. O. 1973, S. 18 f.

17 Materialien zur Vermö-gensbildung in Arbeitneh-merhand – Thesen, Pläne,Gesetze. Vierte Folge: 1973bis 1977, zusammengestelltund eingeleitet von Dr. Gün-ter Halbach, Bonn 1977,S. 43 ff.

18 Ebenda, S. 48.

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man kann vielleicht sagen, dass die Sache nach Schweden emigrierte.In die schwedische Diskussion eingebracht wurde sie von einemDeutschen, von Rudolf Meidner, der 1933 nach dem Reichstags-brand in Schweden Zuflucht gefunden hatte und später einer der be-deutendsten Theoretiker der LO (Landesorganisation der Gewerk-schaften), des schwedischen Gegenstücks zum DGB, geworden ist.

... und in SchwedenEtwa ein Jahrzehnt lang war die schwedische Gesellschaft stark vonder Debatte um die Arbeitnehmerfonds geprägt.19 Die sozialdemo-kratische Partei SAP war von 1932 bis 1976 an der Regierung. EinEckpfeiler des schwedischen Sozialstaatsmodells war die sozialde-mokratische Arbeitsmarktpolitik; sie beruhte auf aktiven Maßnah-men für Vollbeschäftigung in Verbindung mit der so genannten soli-darischen Lohnpolitik. Hauptarchitekten dieser Politik waren diebeiden LO-Mitarbeiter Gösta Rehn und Rudolf Meidner.

Ausgangs der 1960er Jahre wurde jedoch klar, dass die solidari-sche Lohnpolitik auch negative Folgen für die Kraft der Arbeiter-klasse mit sich brachte. In hochprofitablen Branchen bedeutete dies,dass die Kapitaleigner noch höhere Profitraten erzielten, »Extra-profite« geheißen. Sichtbar wurde, dass im sozialdemokratischen»Volksheim« zwar der Lebensstandard der Arbeiterklasse rasch ge-stiegen, zugleich aber die Konzentration von Kapital, Besitz undMacht bei den großen Kapitaleignern im Anstieg war. In den späten1960er Jahren verwies in Schweden auch eine Welle von außer Kon-trolle der LO geratenen wilden Streiks auf den Fakt, dass höhererLebensstandard, soziale Versorgung usw. nicht auch Demokratisie-rung der Arbeitsstellen, Mitbestimmung, reale Macht, realen Einflussusw. bedeutet hatten.

Die LO musste etwas tun, um dieser Lage zu begegnen. Einem Be-schluss des LO-Kongresses von 1971 folgend, berief der LO-Vor-stand eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Rudolf Meidner ein. ImAugust 1975 unterbreitete die Arbeitsgruppe ihren ersten Vor-schlag.20 Dieser erste Bericht lenkte den Blick unmittelbar auf diebestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse und deren grund-sätzliche Umgestaltung. Im »Meidner-Vorschlag« wird gesagt, dassArbeitnehmerfonds den Hauptzweck haben, das schwedische Unter-nehmenseigentum zu demokratisieren und dass kollektive Arbeit-nehmerfonds mit der Zeit die Aktienmehrheit der Großunternehmenerwerben werden.

Vorgeschlagen wurde ein Modell der Gewinnbeteiligung, das dieEigentums- und Machtstruktur der Unternehmen umschalten, aberihre Liquidität nicht beeinträchtigen würde. Einflüsse aus der DGB-Diskussion zur Vermögensbildung sind leicht ersichtlich. Nach demMeidner-Vorschlag sollte ein bestimmter Teil der Jahresgewinne vonGroßunternehmen (die Arbeitsgruppe sprach von 20 %) den Arbeit-nehmerfonds in Gestalt von neu emittierten Unternehmensaktien zu-fließen. Damit würden die Gewinne nicht aus dem Unternehmenabwandern, sondern Produktivvermögen bleiben. Der Umfang derNeuemission ließe sich aus dem Verhältnis der errechneten Summezum Gesamt des Aktienbestands ermitteln. Von individuellen Zerti-fikaten wurde, wie bei den deutschen Vorschlägen, Abstand genom-

19 Zur schwedischenDebatte um die Arbeitneh-merfonds siehe meineDoktordissertation: StefanSjöberg: Löntagarfondsfrå-gan – en hegemonisk vänd-punkt. En marxistisk analys(Die Arbeitnehmerfonds-Debatte – ein hegemonialerWendepunkt. Eine marxisti-sche Analyse), Uppsala2003. Für eine deutsch-sprachige Einführung vgl.Stefan Sjöberg: Kollektiv-fonds als eine Strategie fürdie Wirtschaftsdemokratie:Lehren aus der Geschichteder schwedischen »Arbeit-nehmerfonds« für die Zu-kunft, in: Sozialismus5/2004.

20 Vgl. Rudolf Meidnermit Anna Hedborg undGunnar Fond: Löntagar-fonder, Stockholm 1975.

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men, mit der Begründung, diese würden konsumiert werden undsomit nicht zu einem realen Wandel der grundlegenden Macht- undEigentumsverhältnisse beitragen. Das Fondssystem sollte nur Groß-unternehmen mit mindestens 50 bis 100 Beschäftigten erfassen, weilMacht und Eigentum bei diesen Unternehmen konzentriert seien.

Die Arbeitnehmerfonds sollten, dem Vorschlag zufolge, von denBeschäftigten durch ihre Gewerkschaften kontrolliert und die Fonds-vorstände von Gewerkschaftsvertretern berufen werden. In den ver-schiedenen Wirtschaftszweigen und -sektoren sollte eine Reihe vonFonds so aufgebaut werden, dass alle Großunternehmen je einesZweiges erfasst würden. Die Fondsvertreter in den jeweiligen Un-ternehmensvorständen sollten von den Fondsvorständen und denlokalen Gewerkschaften gemeinsam berufen werden. Für die Ebeneder Arbeitsstellen wurde weit reichende Selbstbestimmung vorge-schlagen mit der Bemerkung, der Vorschlag solle als Ergänzung,nicht als Gegensatz zur Mitbestimmungslinie und einem entspre-chenden (1977 implementierten) Gesetz betrachtet werden. Diesesursprüngliche Arbeitnehmerfonds-Modell hätte bedeutet, dass derAnteil der kollektiven Fonds an den Großunternehmen allmählichgegenüber den privaten Anteilen zugenommen hätte. Nach der Ein-schätzung der Arbeitsgruppe wären die schwedischen Großunter-nehmen binnen 20 bis 40 Jahren mehrheitlich im Besitz und unterKontrolle der Arbeitnehmerfonds gewesen.

Im Juni 1976 wurde eine überarbeitete Fassung dieses Vorschlagsvom LO-Kongress angenommen.21 Die mächtige Zentralgewerk-schaft, in der etwa 90 % aller Arbeiter organisiert waren, stand nunhinter den auf Wirtschaftsdemokratie abzielenden Arbeitnehmer-fonds.22 Die gesamte Organisation, von der Basis bis zur Spitze, warsehr enthusiastisch. In der LO-Verbandspresse konnte man Schlag-zeilen lesen wie »Mit den Fonds kommen wir an die Macht!« und»So werden wir die Kapitaleigner entmachten«.23 In einem Interviewfür den schwedischen Rundfunk erklärte Meidner unter Hinweis aufMarx und Wigforss, seiner Ansicht nach sei reale Wirtschaftsdemo-kratie nicht möglich, ohne die grundlegenden Eigentumsverhältnissezu ändern.

Im September 1976 verloren die Sozialdemokraten die Parlaments-wahlen. Die SAP erhielt 0,8 Prozentpunkte weniger Zustimmung alsbei den vorigen Wahlen. Dieser Verlust bedeutete, dass der SAP erst-mals seit 44 Jahren die Regierungsmacht genommen wurde. In dersozialdemokratischen Partei, speziell in der Führung, herrschte ver-breitet Skepsis gegenüber den Arbeitnehmerfonds. Sie wurden alsAbweichung vom klassischen Reformismus angesehen. Minister-präsident Olof Palmes Haltung zur gesamten Idee der Arbeitneh-merfonds erschien oft sehr ambivalent. Viele meinten, die Nieder-lage sei auf die Fonds-Angelegenheit zurück zu führen. Dann zeigtesich jedoch, dass die Atomenergie-Debatten eine größere Rolle ge-spielt hatten als die über die Arbeitnehmerfonds.

Die kommunistische Partei VPK hatte sich anfangs gleichfalls ab-seits gehalten, von links her weitere Kritik geübt und nicht mit derSozialdemokratie mitziehen wollen. Die Kritik seitens der VPKähnelte jener der deutschen IG Metall. Die VPK war für direkteNationalisierung, aktiven Lohnkampf und radikale Mitbestimmung.

21 Kollektiv kapitalbildninkgenom löntagarfonder,Rapport till LO-kongressen,Lund 1967.

22 Zum Inhalt dieserEmpfehlungen siehe indeutscher Sprache: RudolfMeidner: Kollektive Kapital-bildung in Arbeitnehmer-hand als Instrument derGewerkschafts- und Gesell-schaftspolitik, Wissen-schaftszentrum Berlin(West) 1981.

23 Vgl. Stefan Sjöberg:Löntagarfondsfrågan,a. a. O., S. 130 ff.

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Ein weiterer wichtiger Akteur war die AngestelltengewerkschaftTCO, die sich zunächst positiv zu den Arbeitnehmerfonds verhielt,aber später von inneren Konflikten gelähmt wurde.

Für die Akteure und die Presse der Bourgeoisie waren die ur-sprünglichen LO-Vorschläge für Arbeitnehmerfonds von 1975/76schockierend. Knallige Schlagzeilen lauteten: »Revolution in Schwe-den!« und, unter einem Bild von Rudolf Meidner: »Ist dies dergefährlichste Mensch in Schweden?« Die Konservativen (die Mode-raterna) hatten von Anfang an zu allen Formen von Kollektivfonds-bildung »Nein« gesagt und den ursprünglichen Vorschlag als »Sozia-lisierung« der schwedischen Unternehmen angesehen. Die liberalenParteien (die Folkpartiet und die Centerpartiet der Landwirte) wa-ren anfangs offener für Diskussionen über Fonds und deren Form.Nach innerer Mobilisierung zogen der Unternehmerverband SAFund andere Organisationen mit gewaltigem Aufwand in den ideolo-gischen Kampf. Es folgte eine Reihe von Kampagnen gegen dieFonds, und zu Beginn der 1980er Jahre waren alle bedeutenden bür-gerlichen Akteure in Schweden vereint gegen die »Sozialisten-fonds«.

Nach der Wahlniederlage von 1976 bildeten LO und SAP gemein-same Arbeitsgruppen, um die Arbeitnehmerfonds-Initiative neu zubewerten. 1983 reichte die nun wieder regierende SAP eine die Ar-beitnehmerfonds betreffende Regierungsvorlage ein, die dann vomParlament angenommen wurde.24

Allerdings unterschied sich die implementierte Arbeitnehmer-fonds-Initiative sehr von den ursprünglichen Vorschlägen der LO.Das Anliegen der Wirtschaftsdemokratie und das Ziel, die Macht-und Eigentumsverhältnisse zu verändern, waren ausgeblendet. DieFonds sollten nicht auf das mehrheitliche Eigentum an den Unter-nehmen abzielen, sondern höchstens jeweils 40 % der Anteile an ei-ner Firma erwerben dürfen. Die Gewinnanteile sollten nicht mehr alsWertpapiere transferiert werden, sondern als Geldbeträge, die dannin die Industrie zu investieren wären. Der Hauptzweck war nunmehr,die Unternehmen mit Risikokapital zu versorgen. Als 1991 wiedereine nichtsozialistische Allianz die Regierung übernahm, bestandeine ihrer ersten Amtshandlungen darin, die inzwischen akkumulier-ten Arbeitnehmerfonds zu liquidieren.

Die HegemoniefrageWährend es die gespaltene schwedische Arbeiterbewegung ver-säumte, einen hegemonialen Block zu formieren, schaffte es der(erweitert verstanden) bürgerliche Block rechtzeitig, eine vereinteHegemonialkraft im Sinn von Gramscis Begriff25 zu bilden. In denhegemonialen Kampf um die Arbeitnehmerfonds traten somit nachStärke und Machtressourcen unterschiedene Subjekte, wobei es dervereinte Bürgerblock rechtzeitig schaffte, eine gespaltene Arbeiter-bewegung in die Defensive zu drängen. Immer entschiedener in Ar-gumenten und Erklärungen, fester in seinen Positionen – unterstütztauch von dem internationalen Rechtsschwenk, wie er von der briti-schen Premierministerin Margaret Thatcher und US-Präsident Ro-nald Reagan repräsentiert wurde –, intensivierte er den Angriff aufdie Arbeitnehmerfonds, und zugleich geriet die gespaltene Arbeiter-

24 Regeringens proposi-tion 1983/84:50: Löntag-arfonder.

25 Vgl. Antonio Gramsci:Gefängnishefte, Berlin-Hamburg 1991-2002, darinz. B.: H. 13, § 1, 1536 zur»Übereinkunft der assoziier-ten Willen«. Vgl. für einegedrängte Gesamtschau aufden Begriff den Eintrag»Hegemonie« in: Historisch-kritisches Wörterbuch desMarxismus, Bd. 6/I, 1-29,Hamburg 2004.

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bewegung immer mehr in die Defensive, und ihre Argumente wur-den immer schwächer. Eine gespaltene Arbeiterbewegung kann einervereinten bürgerlichen Kraft nicht Stand halten, und das ist grund-sätzlich zu beachten, wenn man Erklärungen finden will für die all-mähliche Abwandlung der Fonds und letzthin den Sieg der Bourge-oisie. Die Implementierung der ursprünglichen LO-Vorschläge von1975/76 hätte eine Transformation der kapitalistischen Gesellschafts-ordnung in Richtung Wirtschaftsdemokratie und Sozialismus – alseiner Ordnung mit dominantem Gemeineigentum und gemeinschaft-lichem Besitz an Großunternehmen – bedeutet. Die Klasseninteres-sen der Bourgeoisie waren bedroht, und ein Hegemonialblock wurdemobilisiert, um die Arbeiterbewegung unter Gegendruck zu setzen.

Um die Wandlungen und den Ausgang zu verstehen, müssen auchdie gewandelten Bedingungen der schwedischen und der Weltwirt-schaft berücksichtigt werden. Wie die deutsche, hatte auch dieschwedische Nachkriegswirtschaft derart große Ergebnisse erzielt,dass sowohl der Lebensstandard der Arbeiterklasse als auch der Ver-mögenszuwachs für die Eigner gesteigert werden konnten. Das warder gemeinsame Hintergrund für das Anliegen der kollektiven Ver-mögensbildung in Arbeitnehmerhand. Doch als die schwedischenArbeitnehmerfonds endlich implementiert wurden, hatten sich dieDinge verändert. Die Weltwirtschaft – und in großem Maß auch dievom Export abhängige schwedische Wirtschaft – befand sich, vonÖlkrisen betroffen, nicht mehr in der Situation wachsender »Extra-profite«. Auch das erklärt, weshalb die Zielrichtung der Arbeitneh-merfonds so, wie geschehen, verschoben wurde. Man kann sehen,dass ökonomische Faktoren Ausschlag gebend auf die politische undideologische Entwicklung einwirkten.

In Sachen der Vermögensbildung lassen sich Ähnlichkeiten undUnterschiede zwischen dem deutschen und dem schwedischen Fallkennzeichnen. Ein fundamentaler Unterschied war, dass in Deutsch-land die deutsche SPD Kompromisse mit der FDP suchen musste,während die SAP in Schweden »nur« die passive Unterstützung derkommunistischen Partei VPK zu erreichen brauchte. Immerhinfasste in Deutschland die SPD einen Parteitagsbeschluss für kollek-tive Vermögensbildungsfonds mit Gewinnbeteiligung in Aktien, undwenn die schwedische SAP das auch machte, dann betraf das einerevidierte Form und erweckte den Eindruck, dass man eher der LOentgegen kommen wollte, um die historisch außergewöhnliche Spal-tung zwischen Partei und Gewerkschaft zu überwinden.

In Schweden machte sich die SAP nie den ursprünglichen radika-len Vorschlag für Arbeitnehmerfonds zu eigen, während in Deutsch-land die SPD-Position dem DGB sehr nahe kam – mit dem Unter-schied, dass der DGB ursprünglich zu einer kollektiven Lösung ohneindividuelle Zertifikate neigte. Somit scheinen DGB und SPD besserzu einer gemeinsamen Plattform gelangt zu sein als LO und SAP.Ein anderer Aspekt war die innere Spaltung im DGB, wo die IG Me-tall energisch gegen kollektive Vermögensbildungsfonds auftrat. InSchweden war umgekehrt die Gewerkschaft Metall die treibendeKraft hinter den ursprünglichen Arbeitnehmerfonds-Initiativen.

Wie kam das? Die IG Metall war für die Mitbestimmungslinie, siestrebte eine qualifiziert-paritätische Mitbestimmung an, ohne zu ver-

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suchen, die Eigentumsverhältnisse zu verändern. Zugleich wurdeeine aktive Lohn- und Steuerpolitik gefordert. Man kann sagen, dassdie IGM seinerzeit für eine Art von Funktionssozialismus war,während die schwedische Metall eine marxistisch beeinflusste Ei-gentumslinie vertrat, mit direkter Zielrichtung auf Veränderungen inden Grundstrukturen des Eigentums an Kapital und Produktionsmit-teln. Man kann das natürlich darauf beziehen, dass Metall den imKern das System transformierenden Charakter des ursprünglichenLO-Vorschlags – mit obligatorischer Gewinnbeteiligung in Aktienund ohne individuelle Zertifikate – erkannt hatte, während die IGMbefürchten konnte, dass die relativ schwache SPD nie fähig wäre,derartige Vorschläge zu implementieren, und die ganze Sache dannden aktiven Kampf für Löhne, Mitbestimmung usw. schädigenwürde. Weiter erhebt sich die Frage, ob nicht ein Aspekt der funda-mental unterschiedlichen Positionen von IGM und Metall darin be-stehen könnte, dass die IG Metall nicht so stark in eine solidarischeLohnpolitik eingebunden war wie die schwedische Metall. Wenn ja,könnte das bedeuten, dass Metall die Arbeitnehmerfonds als günstigfür die Solidarität des gesamten LO-Kollektivs ansah – das warwirklich eine Richtschnur für die Arbeitsgruppe –, während die IGMetall sie als nachteilig im Lohnkampf für ihre eigenen Mitgliederbetrachten konnte.

Das bedarf natürlich weiterer Nachprüfung. Aus den Erfahrungenmit kollektiven Vermögensbildungsfonds in Schweden und Deutsch-land kann man die Folgerung ziehen, dass die Arbeiterbewegungund die im weiten Sinn verstandene Linke, um solch eine das Sys-tem transformierende Strategie implementieren zu können, als He-gemonialkraft fungieren müssen. Sobald die Arbeiterbewegung dieFrage nach Umgestaltung der grundlegenden Macht- und Eigen-tumsverhältnisse stellt, wird sie auf eine vereinte bürgerliche Hege-monialkraft stoßen. Um fähig zu sein, die Sache der kollektiven Ver-mögens- und Fondsbildung und weiter der Wirtschaftsdemokratieerneut auf die Tagesordnung zu setzen, muss die Linke offenbar rea-len Druck auf die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ausüben.Dazu müssen die »alten« Linksparteien die Beziehungen zu denneuen Sozialbewegungen verbessern und festigen und die Fragenach einer anderen Ordnung stellen. Die Linksparteien haben hierdie Verantwortung, sowohl den neuen Bewegungen als auch der So-zialdemokratie strategische Alternativen vorzustellen. Auf dieseWeise könnte der sozialdemokratischen Linken geholfen werden,ihre Bewegung zu radikalisieren.

Eine Strategie für die Zukunft? Gewerkschaftliche Pensionsfondsund GesellschaftsfondsIn den letzten Jahrzehnten ist es um die Sache der Wirtschaftsdemo-kratie fast ganz still geworden, auch in der Arbeiterbewegung. Den-noch scheint diese Sache heute so bedeutsam zu sein wie zuvor. DieKapitalakkumulation und die Konzentration von Macht und Eigen-tum bei den großen Kapitaleignern ist für die Linke von heute einentscheidender Gegenstand der Auseinandersetzung.

Wird an neuen Strategien für Wirtschaftsdemokratie gearbeitet,dann sollten sich nützliche und wichtige Elemente in den deutschen

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und schwedischen Fondsstrategien finden lassen. Die Strategie kol-lektiver Vermögensbildungsfonds ist ein struktureller Reformismus,26

der – im Gegensatz zum klassischen sozialdemokratischen Refor-mismus – darauf abzielt, den Kern des Kapitalismus, das Privat-eigentum an Kapital und Produktionsmitteln, grundsätzlich zuverändern. Es geht um einen strukturellen Reformismus, der die ka-pitalistische Produktionsweise revolutioniert, und zwar nicht durchunmittelbaren Bruch bei bestimmter Gelegenheit, sondern in einemweit reichenden Transformationsprozess.27

In den letzten Jahren wurde erneut über kollektive Vermögensbil-dungsfonds diskutiert, bisher hauptsächlich unter linken Intellektu-ellen, aber in gewissem Maße auch in den Gewerkschaften. Zu die-ser Diskussion um die Möglichkeit, kollektive Pensionsfonds aufprogressive Weise zu verwenden, haben Theoretiker aus Großbritan-nien wie Richard Minns28 und Robin Blackburn29 besonders wichtigeBeiträge geleistet.

Andere, nicht auf öffentliche und kollektive, sondern auf privateund individuelle Basis gegründete Pensionsfondssysteme sind neu-erdings in mehreren Ländern Europas wie auch in anderen Welttei-len implementiert worden. In den Riesensummen des von Arbeiternakkumulierten Pensionsvermögens liegt ein potenzieller Beitrag zurEntwicklung einer auf Fonds gegründeten Strategie für Wirtschafts-demokratie. Im Anschluss an Marx kann man sagen, dass das Kapi-tal immer mehr gesellschaftlichen Charakter annimmt – z. B. in demSinn, dass das Pensionskapital ein Vermögen von Millionen Pensi-onssparern ist –, während das Eigentum daran, seinen Bedingungennach, noch immer privaten Charakter hat. Es erscheint vernünftig,dass die Gewerkschaften selbst kollektive Pensionsfonds einrichten,wo ihre Mitglieder freiwillig ihr Pensionsvermögen anlegen können,statt es an privat gesteuerte Institutionen, Investoren und Börsenjob-ber wegzugeben. Die Fondsvorstände könnten dann, wie nach demMeidner-Modell, von den Gewerkschaftskongressen demokratischgewählt werden. Die gewerkschaftlichen Fonds würden das Kollek-tivvermögen in Unternehmen und verschiedenen Sparten von Han-del und Gewerbe investieren. Ebenfalls wie nach dem Meidner-Mo-dell könnten die Fondsvertreter in den Unternehmensvorständen vonden Gewerkschaften und den Arbeitnehmern der jeweiligen Unter-nehmen berufen werden. Die gewerkschaftlichen Fonds könntenihre Verantwortlichkeit als Eigner sowie die Macht und den Einfluss,die aus dem Aktienbesitz erwachsen, beispielsweise dazu nutzen, dieSchließung profitabler Unternehmen oder die Verlagerung von Pro-duktionen in Niedriglohnländer zu verhindern. Da die Fonds demo-kratisch geleitet würden, könnten die Verwalter zu verantwortungs-bewusstem, soziale und ethische Aspekte achtenden Investierenangehalten werden.

Wenn Gewerkschaften möglicherweise ihre eigenen Pensionsfondseinrichten und ihren Mitgliedern anbieten, das Pensionsvermögendort anzulegen, würde das natürlich bedeuten, dass die Arbeiter überihre Gewerkschaften ein ungeheuer hohes Kollektivkapital in Hän-den hätten. Darin liegt ein aktuelles Potenzial für reale Macht undrealen Einfluss der Arbeiterbewegung. Wenn sie wollten, könntendie Arbeitergewerkschaften tatsächlich das Eigentum an Großunter-

26 Das ist ein im Euro-kommunismus der 1970erJahre z. B. von PalmiroTogliatti in der italienischenKP ausgearbeitetes Kon-zept.

27 Dieses Konzept istentwickelt in: Michael Brie,Michael Chrapa, DieterKlein: Sozialismus alsTagesaufgabe, Berlin 2002;siehe auch: Michael Brie,Dieter Klein: Die Wege –Revolution, Reform, Trans-formation – marxistisch in-spirierte Überlegungen, Riode Janeiro 2004, sowie:Dieter Klein: Einstiegspro-jekte in einen alternativenEntwicklungspfad, Berlin2004.

28 Richard Minns: TheSocial Ownership of Capi-tal, in: New Left Review,Nr. 219, 1996.

29 Robin Blackburn:Banking on Death, Or In-vesting in Life: The Historyand Future of Pensions,London 2002.

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nehmen auf diese Weise an sich bringen, sozusagen »aus dem In-nenleben« des kapitalistischen Systems heraus.

Wichtig ist es auch, sich über Mängel und Probleme solch einerFondsstrategie klar zu werden. Ein bedeutender Einwand betrifft,dass die Fonds Aktien kaufen und damit sowohl zur Marktspekula-tion als auch zu den Unternehmensprofiten beitragen. Es gibt auchdie Gefahr, dass gewerkschaftliche Fonds letztlich nur dem privatenBusiness Risikokapital liefern und nicht wirklich auf Mehrheitsei-gentum sowie auf reale Macht und realen Einfluss an den Arbeits-stellen abzielen. Alternativ schlägt Robin Blackburn vor, dass dieFonds auch in öffentliche Obligationen investieren könnten. Daswürde natürlich die Risiken begrenzen, und es könnte erheblich zuden notwendigen Investitionen in die öffentlichen Infrastrukturen,das Gesundheits- und das Bildungswesen usw. beisteuern. Wennman wirklich will, dass die Fonds die Macht- und Eigentumsver-hältnisse grundsätzlich verändern, ist es jedoch natürlich auch not-wendig, die Besitzanteile am Kapital im Unternehmen zu ändern.Eine ergänzende Alternative ließe sich als Gesellschaftsfonds be-zeichnen.30 Die Vorstellungen von Gesellschaftsfonds sind, außervon Meidner, aktuell von G. D. H. Cole beeinflusst, dem wichtigstenbritischen Theoretiker des Gilden-Sozialismus. Denkbar sind auf re-gionaler Basis gebildete Gesellschaftsfonds »in Besitz« der demo-kratisch vom Volk gewählten regionalen oder nationalen Parlamente,mit einem Ausgleichsfonds, der regionalen Ungleichheiten entge-genwirkt. Die parlamentarischen Körperschaften könnten jeweilsden Fondsvorstand berufen, und wenn die Fonds ein Ausmaß errei-chen, das zu Vertretungen in Unternehmensvorständen führt, könn-ten diese gemeinsam von den Fonds und den Beschäftigten an denArbeitsplätzen der betreffenden Unternehmen berufen werden. DieKapitalzufuhr könnte, wie in Meidners Modell, durch einen be-stimmten Anteil an den Unternehmensgewinnen in Gestalt neu emit-tierter Aktien des Unternehmens erfolgen. Mit diesem Gewinnbetei-ligungsmodell ließe sich die Eigentums- und Machtstruktur vonUnternehmen umschalten, ohne deren Liquidität zu beeinträchtigen,denn die Gewinne würden nicht aus dem Unternehmen abfließen,sondern Produktivvermögen bleiben.

Eingebaut wäre damit eine Strategie für das demokratischeTransformieren des privatkapitalistischen Eigentums und der ent-sprechenden Macht in demokratisches Gemeineigentum und denEntsprechungen an Macht und Einfluss (im mittleren und langfris-tigen Zeitraum von Jahrzehnten). Das könnte eine Fondsstrategiefür Wirtschaftsdemokratie sein, welche die Balance des Gilden-Sozialismus zwischen öffentlicher Macht und Arbeitermacht mitjener zwischen Makrozielrichtung auf die Eigentumsverhältnisseund Mikrozielrichtung auf Macht und Einfluss an der Arbeitsstelleverbindet. Dieses Machtteilungs-Modell könnte auch den Grup-penegoismus in erfolgreichen Unternehmen umgehen. Das Grund-prinzip des Fonds wäre eher »Ein Bürger – eine Stimme« als »EinGewerkschafter – eine Stimme«.31 Einige Basisstrukturen des an-gestrebten neuen Gesellschaftssystems wären bereits im Aufbaudes Fonds-Modells angelegt. Dies ist ein struktureller Reformis-mus, bei dem das neue System aus dem inneren Kern, dem Kapi-

30 Stefan Sjöberg:Samhällsfonder, in: Vän-stern, ägandet och makten,a. a. O.; siehe auch Ders.:Kollektivfonds, a. a. O.,bes. S. 35.

31 In der schwedischenDebatte um Arbeitnehmer-fonds gab es auch Vor-schläge für eine Art von»Bürgerfonds«, z. B. vonWalter Korpi.

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taleigentum selbst, hervor wächst und das kapitalistische Systemvon dorther transformiert.

In der globalisierten Wirtschaft von heute erscheint es unmöglich,solche Strategien allein auf regionale bzw. nationale Basen zu grün-den. Transnationale Unternehmen und Finanzinstitute würden, wiezuvor in der Geschichte, machtvolle Gegenmaßnahmen ergreifenund damit die Gesellschaftsfonds ernstlich behindern bzw. verhin-dern, dass diese etwas an den Macht- und Eigentumsstrukturen än-dern. Vorstellbar sind zu einem internationalen System vernetzte undauf irgendeiner internationalen Ebene implementierte regionale undnationale Fonds. Solch ein System könnte eine Gegenmacht untervielen anderen gegen das globale Kapital werden, und es wäre mitSicherheit weit mächtiger als etwa die in den letzten Jahren disku-tierte so genannte »Tobin-Steuer«. Heute muss man natürlich beach-ten, dass derartige Kollektivfonds-Strategien in weiter Ferne liegen.Aber es erscheint wichtig, wenigstens mögliche konkrete Elementezu kennzeichnen und die Diskussion auszulösen, um diese Sachenauf die Tagesordnung zu setzen und zu zeigen, dass die Strategie fürWirtschaftsdemokratie mehr ist als eine verschwommene Utopie.

Aus dem Englischen übersetzt von JOACHIM WILKE (Zeuthen)

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Gerechtigkeit ist multidimensional. Wenn Sozialpolitik Gerechtig-keit fördern soll, wird es notwendig komplex. Im Folgenden geht esum eine Reduktion dieser Komplexität, ohne sie zu verletzen. Wirkonzentrieren uns auf soziale Gerechtigkeit und lassen damit andereAspekte der Gerechtigkeit außer Acht, beispielsweise das gerechteHandeln in kleinen Gemeinschaften oder die Frage, wie der Einzelnegöttlichen wie natürlichen Gesetzen gerecht wird. Soziale Gerech-tigkeit kann auf den ersten Blick vor allem als Programm gegen Un-gleichheit verstanden werden.1 Doch damit handelt man sich nochnicht sehr viel Klarheit ein. Denn auch Ungleichheit hat verschie-dene Dimensionen, zum Beispiel Einkommen, Vermögen, Talente,Geschlecht oder Bildung. Hinzu kommt die stets strittige Frage, wasSozialpolitik, ja Politik überhaupt verändern kann und wem gegen-über. Es macht also Sinn, den Zusammenhang von Gerechtigkeit undSozialpolitik etwas grundsätzlicher zu betrachten. Diese Betrach-tung wird zeigen: Sozialpolitik kann in der Tat sehr wesentlich zurGerechtigkeit beitragen.

Gerechtigkeit als Tausch oder als WertKeine gegenwärtige Diskussion sozialer – und allgemeiner: politi-scher – Gerechtigkeit kommt um eine Referenz auf das wohl ein-flussreichste Buch des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema umhin,John Rawls’ »Eine Theorie der Gerechtigkeit«.2 Rawls verknüpftedie klassische Vertragstheorie mit der modernen Entscheidungs-theorie, um seine Grundintuition der »Gerechtigkeit als Fairness«enzyklopädisch zu einer Gerechtigkeitstheorie auszuarbeiten. Begriffewie das »Differenzprinzip«, wonach Ungleichheiten nur zulässig(= gerecht) seien, wenn sie den je schwächsten Gesellschaftsmitglie-dern nützen, oder der Gedanke, dass eine gerechte Verteilungsordnung»unter dem Schleier des Nichtwissens« in einem »Urzustand« ge-dacht werden könne, sind zu Topoi der modernen politischen Philo-sophie geronnen. Auf den bereits in den 1970er Jahren vorgebrachtenEinwand der bald als »Kommunitaristen« bezeichneten Kritiker wieMichael Sandel und Charles Taylor, dass Rawls eine zu individua-listische (»unembedded«) Konzeption vertrete, antwortete Rawlsspäter, dass sein Gerechtigkeitskonzept immer politisch gesehenwerde müsse, als Konzept innerhalb einer politischen Gemeinschaft.Sein Hauptgegner war der Utilitarismus, der dem Politischen letzt-lich keine eigene Wirklichkeit neben den Handlungskalkülen derWirtschaftssubjekte zuspricht. Rawls betrachtete sich als liberalen

Michael Opielka – Jg. 1956;Dr. rer. soc., Dipl. Päd.,Professor für Sozialpolitikan der FachhochschuleJena, Fachbereich Sozial-wesenE-mail: [email protected]: http://www.sw.fh-jena.de/people/michael.opielka.

1 Vgl. dazu die Beiträgein Heft 37/2005 von AusPolitik und Zeitgeschichte»Ungleichheit – Ungerech-tigkeit« (u. a. von OtfriedHöffe).

2 John Rawls: EineTheorie der Gerechtigkeit,Frankfurt 1975.

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Sozialdemokraten. Seine prozeduralistische Ethik fand auch bei Au-toren wie Jürgen Habermas Zustimmung.

An Rawls schloss sich eine kaum überschaubare Diskussion an.Einer der wohl wichtigsten deutschen Rezipienten ist Otfried Höffe,der gleichwohl die Grundintention von Rawls kritisch wertet: »AmEnde stellt sich die Theorie selber als eine zwar raffinierte, aber dochnur wohlüberlegte Gerechtigkeitsüberzeugung dar.«3 Höffe deutetmit dem Suffix »Überzeugung« an, dass Rawls eine Art Wertpro-gramm vertritt, dem gegenüber er Skepsis empfiehlt. Er selbst schlägtein Konzept von »Gerechtigkeit als Tausch« vor, in dem für »sozialeGerechtigkeit« im Grunde kein Platz ist. Da Höffes Gedankendurchaus politisch-legitimativ einflussreich sind, lohnt sich eine kri-tische Betrachtung – zumal, wie am Beispiel eines anderen deutschenSozialphilosophen, Wolfgang Kersting, zu zeigen sein wird, dieseGedanken noch weiter radikalisiert werden können.

Zunächst zur zentralen Überlegung bei Höffe: »Man sieht ein,dass im Programm der politischen Gerechtigkeit die soziale Gerech-tigkeit ›nur an nachgeordneter Stelle‹ vorkommen kann. Soweit sienämlich in die Zuständigkeit von Recht und Staat fällt, führt sie de-ren Merkmal, die Zwangsbefugnis mit sich. (…) Die fehlende Be-griffsbestimmung darf sich nicht mit einem Gesichtspunkt zufriedengeben, der wie die Solidarität solange ethisch vage bleibt, wie mannicht geklärt, ob sie zur geschuldeten Rechtsmoral gehört oder aberin den Bereich der verdienstlichen Tugendmoral hinüberschreitet.Nur im ersten Fall ist die Gerechtigkeit gefragt, während es im zwei-ten Fall auf die freie Großmut der Bürger ankommt. (…) Neuerdingsversteht man die soziale Gerechtigkeit als eine Frage der Verteilung.(…) Weil dem Verteilen ein Erarbeiten vorausgeht, weil außerdemdie ersten Gegenstände der politischen Gerechtigkeit, Rechte undFreiheiten (Rawls), nicht erarbeitet werden, folglich keine zu vertei-lenden Gegenstände sind, habe ich einen Paradigmenwechsel vorge-schlagen. Ihm zufolge stellt sich die Verteilungsgerechtigkeit alseine sekundäre Aufgabe dar, der (…) Leistungen der Tauschgerech-tigkeit vorangehen.«4

Zwei Argumentationen sind hier wesentlich: Zum einen habe so-ziale Gerechtigkeit etwas mit »Zwang« zu tun, weil natürlich staat-liche Verteilung die Erhebung von Steuern und Abgaben voraussetzt.Folgt man Höffe, dann wäre sozialer Ausgleich aber »eher zu einerchristlichen Caritas oder aber, säkularisiert, zu einer Brüderlichkeitbzw. Solidarität, jedenfalls zu einer verdienstlichen Mehrleistung,deren Anerkennung die Menschen einander nicht mehr schulden«5,zu rechnen. Damit wird die Legitimation für Sozialpolitik als öf-fentliches Gut, die Rawls vertrat, untergraben. Das zweite ArgumentHöffes ist eher soziologisch. »Gerechtigkeit als Tausch« meint, dassGerechtigkeit nur auf Reziprozität aufruhen kann. Er verweist aufden Durkheim-Schüler Marcel Mauss und sein aus ethnologischenStudien gewonnenes Konzept des komplexen Gaben-Tausches. Wieaber daraus in modernen Gesellschaften eine Sozialpolitik gewon-nen werden kann, bleibt dunkel, sehr weit darf sie wohl nicht gehen.

Noch radikaler tritt der Philosoph Wolfgang Kersting auf und ver-mutet hinter sozialer Gerechtigkeit und Sozialpolitik vor allem Neid:»Eine überbordende Gerechtigkeitsrhetorik prägt das öffentliche

3 Otfried Höffe: Einführungin Rawls’ »Theorie derGerechtigkeit«, in: Ders.(Hrsg.): John Rawls. EineTheorie der Gerechtigkeit,Berlin 1998, S. 25.

4 Otfried Höffe: Erwide-rung, in: Wolfgang Kersting(Hrsg.): Gerechtigkeit alsTausch? Auseinanderset-zungen mit der politischenPhilosophie Otfried Höffes,Frankfurt 1997, S. 345 f.(Herv. M. O.).

5 Vgl. Otfried Höffe(Anm. 3), S. 13.

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Gespräch sozialstaatlicher Demokratien, überflutet den Markt derWählerbewirtschaftung und überzieht das Verteilungsgezänk derGruppen mit einem moralsemantischen Firnis.« Das sind starkeWorte, entnommen aus einem Aufsatz, der den »wohlfahrtsstaatli-chen Grundbegriff« der »Gerechtigkeit« zu analysieren behauptet.Der Grund wird düster beschrieben: »Der Sozialstaat ist auf der In-dividualisierungssteppe der Moderne errichtet. Seine Bewohner sindSelbstverwirklichungsvirtuosen im ethischen Niemandsland, dieihre Erfolgskarrieren auf dem Markt und ihre Versorgungskarrierenim Sozialstaat mit der gleichen egozentrischen Konzentration vor-antreiben. (…) Einen Markt jenseits des Egoismus-Prinzips, einWohlfahrtssystem des Gemeinsinns wird es nicht geben.« In einesolche Weltsicht passt die Stimmung der letzten Jahre, von »Agenda2010« und »Hartz IV«. Der Markt muss es richten, doch leider: »De-mokratien sind gleichheitsversessen«. Das aber ist, so Kersting, ir-rig: »Der Sozialstaat ist zur Sicherung der Marktmöglichkeiten derBürger da. Er hat die Bürger zum Markt zurückzuführen, sie markt-fähig zu halten. (…) Er bindet seine subsidiären Transferzahlungenan die überprüfbare Bereitschaft zur Beschäftigungsaufnahme undzur Selbstverantwortlichkeit.« 6

Die Geschichte der politischen Philosophie hält glücklicherweiseweitaus differenziertere Deutungsangebote bereit. Am Anfang standdie »Nikomachische Ethik« von Aristoteles. Er unterschied die »all-gemeine Gerechtigkeit« (iustitia universalis) von der »besonderenGerechtigkeit« (iustitia particularis), die er wiederum in die Leis-tungsgerechtigkeit (iustitia communitativa) und die Bedarfsgerech-tigkeit (iustitia distributiva) untergliederte. Die allgemeine Gerech-tigkeit ist, so Aristoteles, »nicht ein Teil der Tugend, sondern dieganze Tugend, und die ihr entgegengesetzte Ungerechtigkeit ist nichtein Teil der Schlechtigkeit, sondern die ganze Schlechtigkeit.«7 DerHinweis »ganze« verweist auf die ontologische, metaphysische Mög-lichkeit einer Gerechtigkeitstheorie, die mehr als zwei Jahrtausendespäter Hegel in seinem berühmten Diktum vom »wahren Staat« auf-gegriffen hat: »Dahingegen besteht die Wahrheit im tieferen Sinndarin, dass die Objektivität mit dem Begriff identisch ist. Dieser tie-fere Sinn der Wahrheit ist es, um den es sich handelt, wenn z. B. voneinem wahren Staat oder von einem wahren Kunstwerk die Rede ist.Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sol-len, d. h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht. So aufgefasstist das Unwahre dasselbe, was sonst auch das Schlechte genanntwird.«8 Dass gutes, tugendhaftes Handeln eine gute politische Ord-nung voraussetzt, war für Aristoteles so gewiss wie für Hegel, derdafür den Begriff der »Sittlichkeit« prägte. Im 20. Jahrhundert hatTheodor W. Adorno mit seinem Diktum »Es gibt kein richtiges Le-ben im falschen« aus den »Minima Moralia« (§ 18) daran ange-knüpft.9

Die Kontroverse lässt sich begrifflich fassen. In Abbildung 1 wer-den die Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit in eine soziologische,an Talcott Parsons anschließende Systematik10 gebracht.

6 Wolfgang Kersting:Gerechtigkeit: Die Selbst-verewigung des egalitaristi-schen Sozialstaats, in:Stephan Lessenich (Hrsg.):Wohlfahrtsstaatliche Grund-begriffe. Historische undaktuelle Diskurse, Frank-furt/New York 2003, S. 107,115, 121, 134.

7 Aristoteles: Die Niko-machische Ethik, München1991, S. 206.

8 Georg W. F. Hegel:Enzyklopädie der philoso-phischen Wissenschaftenim Grundrisse, in: Werke in20 Bänden. Bd. 8, Frankfurt1970, S. 369. Vgl. MichaelOpielka: Glauben und Wis-sen in der Politik. Zu einigenFolgen Hegels in der politi-schen Soziologie modernerWohlfahrtsstaaten, in:Andreas Arndt, Karol Bal, Henning Ottmann (Hrsg.):Hegel-Jahrbuch 2005.Glauben und Wissen, DritterTeil, Berlin 2005, S. 39-47.

9 Vgl. Robert B. Pippin:Negative Ethik. Adorno überfalsches, beschädigtes,totes, bürgerliches Leben,in: Axel Honneth (Hrsg.):Dialektik der Freiheit. Frank-furter Adorno-Konferenz2003, Frankfurt 2005, S. 85-114.

10 Zur Begründung derhandlungssystemischenStufen (Level 1-4) vgl.Michael Opielka: Gemein-schaft in Gesellschaft.Soziologie nach Hegel undParsons, Wiesbaden 2004.

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Neben den Gerechtigkeitskonzepten, die an Tausch (Markt) und andie staatlich-politische Institutionalisierung anschließen, existierenmithin zwei weitere Gerechtigkeitskonzepte, die für die Sozialpoli-tik nicht minder bedeutungsvoll sind. In vormodernen, auf Familien-und Verwandtschaftsgemeinschaft basierenden Gesellschaften istdie Bedarfsgerechtigkeit die Grundlage für solidarisches Handeln.Heute wird dieses (eher partikularistische) Gerechtigkeitsprinzip un-ter Signaturen wie »Kommunitarismus«, »kommunikatives Handeln«,»Lebenswelt« oder »Bürgergesellschaft« betont. Das vierte Gerech-tigkeitsprinzip schließt (universalistisch) an den Menschenrechtenan, findet seinen sozialen Grund in ethischen Wertkommunikationenund damit in einer politischen Kultur, die die Teilhabe jedes Bürgerseiner Gesellschaft (bzw. jedes Menschen in der Weltgesellschaft) anallen Funktionssystemen betont. Parsons und Niklas Luhmann habendafür den Begriff der »Inklusion« verwendet. Die Idee der Teilhabe-gerechtigkeit verweist über die nationale Gesellschaft hinaus. Siezielt, wie Amartya Sen argumentierte, auf »globale Gerechtigkeit«,die einen sozialen Wert verkörpert, der »mehr« ist als »internationaleFairness«.11 Dabei handelt es sich nicht um ein im einfachen Sinn»idealistisches« Konzept, vielmehr um eine Gerechtigkeitskonzep-tion, die zugleich die unterschiedlichen Logiken verschiedener»Sphären der Gerechtigkeit« berücksichtigt, wie Michael Walzer inseinem Klassiker exemplarisch und anschaulich analysierte.12

Ähnlich wie diese »Sphären« müssen auch die in den letzten Jah-ren im Gerechtigkeitsdiskurs prominenten Themen Generationenge-rechtigkeit oder Chancengerechtigkeit auf die überwölbenden Ge-rechtigkeitsprinzipien bezogen werden. Es gibt reiche Kinder undarme Alte, Chancen nur in der Jugend oder immer wieder im Le-benszyklus.

11 Amartya Sen: Globaljustice. Beyond internationalequity, in: Inge Kaul (Hrsg.):Global public goods. Inter-national Cooperation in the21st Century, Oxford 1999,pp. 116-125.

12 Michael Walzer:Sphären der Gerechtigkeit.Ein Plädoyer für Pluralitätund Gleichheit, Frankfurt/New York 1992.

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Aristoteles Soziale Relation Steuerungssystem (politisches) exemplarische(Nikomachische (Reziprozitätstyp) (Strukturelle Gerechtigkeitsprinzip VertreterEthik) Institution)

iustitia instrumentelle Markt Leistungsprinzip Robert Nozick,communitativa Assoziation, Tausch (Level 1) Wolfgang Kersting

– Citizenship Staat Gleichheitsprinzip John Rawls, (Level 2) (Otfried Höffe)

iustitia solidarische Gemeinschaft Bedarfsprinzip Amitai Etzioni,distributiva Gemeinschaft (Level 3) Michael Sandel

(komm. Handeln,Lebenswelt)

iustitia Wertkommunikation Legitimation Teilhabeprinzip Amartya Sen,universalis (politische Kultur) (Level 4) Michael Walzer

Abbildung 1:Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit

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Empirie der GerechtigkeitHäufig wird behauptet, zentrale wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe– wie »soziale Gerechtigkeit« – hätten unterdessen diskursive Neu-interpretationen erfahren und dabei ihren einstigen semantischenGehalt vollkommen eingebüßt.13 Dass dies nicht selten an begriff-lichen Vereinseitigungen liegt, konnten wir im ersten Schritt zeigen.Doch auch zwischen den Diskursen der Eliten und den Intuitionenund Überzeugungen der Bevölkerung herrscht gerade hinsichtlichder Aufgabe der Sozialpolitik keineswegs Deckungsgleichheit.

Die Statistiker sind sich nicht einig, ob die soziale Ungleichheit unddamit möglicherweise auch Ungerechtigkeit in Deutschland wirk-lich zugenommen hat. Ein klassischer Indikator ist der so genannte»Gini-Koeffizient«. Er misst die Einkommensdisparitäten zwischendem untersten und dem obersten Quintil (Fünftel) der Einkommens-hierarchie einer Gesellschaft. Im »Datenreport 2004« des Statisti-schen Bundesamtes können wir nachlesen, dass die Ungleichheitvon Markteinkommen und Renten in den alten Bundesländern zwi-schen 1991 und 2002 zugenommen hat (Gini-Koeffizient: 0,319 auf0,368), während sie in den neuen Ländern nur geringfügig stieg.Durch erhöhten sozialstaatlichen Einfluss blieb gleichwohl die Un-gleichheit bei den Haushaltsnettoeinkommen in Deutschland ins-gesamt relativ konstant. Was allerdings zunahm, ist der Anteil derBürgerinnen und Bürger in »relativer Armut«, also mit einem Haus-haltsnettoeinkommen mit weniger als 50 Prozent des Durchschnitts:er stieg von 10,1 Prozent (1991) auf 11,1 Prozent (2002), wobei vorallem – nach einem Absinken Mitte der 1990er Jahre – ein Anstiegzwischen 2001 und 2002 auffiel: von 9,4 Prozent auf 11,1 Prozent.14

Ohne sozialstaatliche Leistungen wären jene Armutsquoten frei-lich noch weitaus höher, wie Abbildung 2 demonstriert. Die Wirk-samkeit bereits des Familienlastenausgleichs ist signifikant, weitereLeistungssysteme reduzieren die Armutsquote weiter – auch wennsie noch immer viel zu hoch erscheint (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2:Armutsrisikoquoten 2003 vor und nach Familienlastenausgleichund Sozialtransfers

Quelle: 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, 2005, S. 77

13 So die meistenBeiträge in S. Lessenich(Anm. 6). Vgl. zum gegen-wärtigen LiteraturstandMichael Opielka: Wohlfahrtund Gerechtigkeit. Ideen-analysen in der Soziologieder Sozialpolitik, in: KölnerZeitschrift für Soziologieund Sozialpsychologie,57 (2005) 3, S. 550-556.

14 Statistisches Bundes-amt: Datenreport 2004,Bonn 2004, S. 626 f.

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Dass der Wohlfahrtsstaat zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt, ist denBürgern intuitiv und kognitiv klar. Eine Vielzahl von empirischenAnalysen vor allem im Rahmen von Umfrageforschungen hat ver-sucht, die Gerechtigkeitsüberzeugungen der Bevölkerung zu rekon-struieren. In einer Sekundäranalyse insbesondere von Daten desISSP (International Social Survey Programme) verglich Jürgen Ger-hards die Vorstellungen der Bürger der EU und der Beitrittskandida-ten im Hinblick auf den Wohlfahrtsstaat. Dabei wurden drei Wohl-fahrtsstaatskonzeptionen abgefragt:

• »Grundmodell« (EU-Kommission, »liberal«): Wenn Befragte derstaatlichen Verantwortung für mindestens zwei von drei Aufgabenzustimmen, die eine Einkommenssicherheit im Fall von Krankheit,Alter oder Arbeitslosigkeit messen, jedoch alle restlichen staatlichenAufgaben ablehnen.

• »Sozialdemokratisches Modell«: Wenn Befragte zusätzlich derstaatlichen Verantwortung für mindestens eine der beiden Aufgaben»Abbau von Einkommensunterschieden« oder »Bereitstellung vonArbeitsstellen« zustimmen.

• »Sozialistisches Modell«: Wenn Befragte zusätzlich noch die ge-setzliche Kontrolle von Löhnen und Gehältern befürworten.15

Abbildung 3:Unterstützung unterschiedlicher Wohlfahrtsstaatsmodelledurch die Bürger (in Prozent)

Kein EU-Grund- Sozial- Sozia- NichtWohlfahrts- modell demo- listisch klassifi-staat (liberal) kratisch zierbar

EU-15 0,5 8,9 29,8 56,5 4,4Schweden 0,7 20,2 40,9 34,5 3,7Großbritannien 0,2 15,1 32,5 46,7 5,6Westdeutschland 0,8 13,7 46,8 34,0 4,7Frankreich 1,9 8,5 23,9 56,0 9,7Ostdeutschland 0 2,8 13,9 80,7 2,6Beitritt I 0,5 4,7 21,8 69,1 3,9Tschechien 2,2 12,1 24,2 54,8 6,8Polen 0,4 3,1 17,2 76,7 2,6Ungarn 0,1 5,1 30,8 61,0 2,9Beitritt IIBulgarien 0 6,7 12,1 76,7 4,6

Quelle: Gerhards (Anm. 15), S. 190, gekürzt

In einer 2003 durchgeführten Sonderumfrage im Rahmen des »Sozio-ökonomischen Panels« (SOEP) stimmten rund 70 Prozent der Be-fragten dem Satz »Ein Anreiz für Leistung besteht nur dann, wenndie Unterschiede im Einkommen groß genug sind« zu, wobei 28 Pro-zent mit diesem Statement »voll« und 42 Prozent »eher« überein-stimmten. Freilich, eine noch größere Mehrheit will die damit be-fürwortete Leistungsorientierung auch gleich wieder eingeschränktwissen. Immerhin traf die Aussage, dass »der Staat (...) für alle einen

15 Jürgen Gerhards:Kulturelle Unterschiede inder Europäischen Union.Ein Vergleich zwischenMitgliedsländern, Beitritts-kandidaten und der Türkei,Wiesbaden 2005, S. 189.Gerhards macht darauf auf-merksam, dass unter»sozialistisch« allerdingsgewöhnlich auch Eingriffe indie Vermögensordnung ver-standen werden.

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Mindestlebensstandard garantieren« sollte, bei 53 Prozent der Be-fragten auf »volle« und bei 30 Prozent »eher« auf Zustimmung.16

Doch könnte die Fragestellung zur verfehlten Annahme verleiten,dass die Bevölkerung nur einen Minimalsozialstaat bejaht.

Im »ALLBUS«, der »Allgemeinen Bevölkerungsbefragung derSozialwissenschaften« von 2000 wurde das Statement »Der Staatmuss dafür sorgen, dass man auch bei Krankheit, Not, Arbeitslosig-keit und Alter ein gutes Auskommen hat« abgefragt. Die Betonunglag hier also auf »gutes Auskommen«, was eine Art Lebensstandard-sicherung impliziert. Bemerkenswert ist hier das Antwortverhaltengegliedert nach den Parteipräferenzen:

»Der Staat muss dafür sorgen, dass man auch beiParteipräferenz Krankheit, Not, Arbeitslosigkeit und Alter ein gutes

Auskommen hat« (Westdeutschland/Ostdeutschland)

PDS – /92 ProzentBündnis 90/Die Grünen 86 Prozent / 91 ProzentSPD 87 Prozent / 94 ProzentFDP 77 Prozent / 86 ProzentCDU/CSU 80 Prozent / 89 Prozent

Quelle: ALLBUS 2000, in: Statistisches Bundesamt (Anm. 14), S. 654

Insgesamt ist die Zustimmung zu einem sozialpolitischen Gesell-schaftsvertrag in Deutschland und Europa also außerordentlich hoch.Wie korrespondieren diese empirischen Beobachtungen mit den So-zialpolitikkonzeptionen und den in ihnen eingelagerten Gerechtig-keitsmodellen? Dies soll im abschließenden Abschnitt genauer un-tersucht werden.

Wohlfahrtsregime und soziale GerechtigkeitInspiriert durch die einflussreichen Arbeiten von Gøsta Esping-An-dersen hat sich in der vergleichenden Sozialpolitikforschung dasKonzept der Wohlfahrtsregime weitgehend durchgesetzt. Wohlfahrts-regime sind komplexe Strukturmuster der Sozialpolitik, insbeson-dere zum Arbeitsmarkt, zum Gemeinschaftssystem, vor allem derFamilie, und zur staatlichen Regulierung selbst. Esping-Andersenunterschied das liberale, das konservative und das sozialdemokrati-sche Wohlfahrtsregime.17 Manche Autoren schlugen neben diesendrei Regimetypen als vierten Typus ein »südeuropäisches« oder»mediterranes« Wohlfahrtsregime, Autoren mit globaler Perspektiveein »konfuzianisches« Wohlfahrtsregime vor. Neben diesen phäno-typischen Erweiterungen wird neuerdings, mit soziologisch-gesell-schaftstheoretischen Argumenten, die Erweiterung von Esping-Andersens Typologie um ein »garantistisches«, am Bürgerstatus undeher universalistischen Teilhaberechten orientiertes Wohlfahrtsregimevertreten.18

In Abbildung 4 sind die vier Regimetypen und ihre Variablen zu-sammengestellt. Mit Hilfe der den Variablen beigegebenen Indikato-ren kann der Regimetyp eines Wohlfahrtsstaates ermittelt werden.

16 Peter A. Berger:Deutsche Ungleichheiten –eine Skizze, in: Aus Politikund Zeitgeschichte (APuZ),(2005) 28-29, S. 7.

17 Gøsta Esping-Andersen: The Three Worldsof Welfare Capitalism,Cambridge 1990.

18 Michael Opielka: So-zialpolitik. Grundlagen undvergleichende Perspektiven,Reinbek 2004.

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Für die drei klassischen Regimetypen wurden die Zuordnungen vonEsping-Andersen bzw. aus der Sekundärliteratur übernommen. Fürden Typus »Garantismus« liegen vergleichbare Berechnungen nochnicht vor, sie beruhen daher auf Schätzungen und Erfahrungs-werten.19

Abbildung 4:Vier Typen des Wohlfahrtsregimes

Variable Typen des Wohlfahrtsregimes

• Indikatoren liberal sozialdemo- konservativ garantistisch

kratisch

Dekommodifizierung: schwach stark mittel starkSchutz gegen Marktkräfte (für »Familien-und Einkommensausfälle ernährer«)• Einkommensersatzquoten• Anteil individueller Finan-zierungsbeiträge (invers)

Residualismus stark schwach stark schwach• Anteil von Fürsorge-leistungen an gesamtenSozialausgaben

Privatisierung hoch niedrig- niedrig- mittel• Anteil privater Ausgaben mittel mittelfür Alter bzw. Gesundheitan jeweiligen Gesamtausg.

Korporatismus/Etatismus1 schwach mittel stark schwach• Anzahl von nach Berufs-gruppen differenziertenSicherungssystemen• Anteil der Ausgabenfür Beamtenversorgung

Umverteilung schwach stark schwach mittel• Progressionsgrad desSteuersystems• Gleichheit der Leistungen

Vollbesch.-Garantie schwach stark mittel mittel• Ausgaben für aktiveArbeitsmarktpolitik• Arbeitslosenquote,gewichtet nachErwerbsbeteiligung

Bedeutung von- Markt zentral marginal marginal mittel- Staat marginal zentral subsidiär subsidiär- Familie/Gemeinschaft marginal marginal zentral mittel- Menschen-/Grundrechte mittel- mittel marginal zentral

hoch

Dominante Form individu- lohnarbeits- kommuni-- Bürgerstatussozialstaatlicher Solidarität alistisch zentriert taristisch- universalis-

etatistisch, tisch

Dominante Form der Markt Staat Moral Ethiksozialstaatlichen Steuerung

Konzeptionen sozialer Leistungs- Verteilungs- Bedarfs- Teilhabe-Gerechtigkeit gerechtigk. gerechtigk. gerechtigkeit gerechtigkeit

Empirische Beispiele USA Schweden Deutschland, SchweizItalien (»weicher

Garantismus«)

Quelle: Überarbeitet und erweitert nach Opielka 2004 (Anm. 18), S. 35

19 Für die Einstufung desSchweizer Sozialstaats als»weicher Garantismus«vgl. Erwin Carigiet, MichaelOpielka: Deutsche Arbeit-nehmer – SchweizerBürger? Zum deutsch-schweizerischen Vergleichsozialpolitischer Dynamiken,in: Erwin Carigiet, UeliMäder, Michael Opielka,Frank Schulz-Nieswandt(Hrsg.): Wohlstand durchGerechtigkeit. Deutschlandund die Schweiz im sozial-politischen Vergleich, Zürich2006 (i. E.).

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1 = Korporatismus:Hohes Maß an unmittelbarerAushandlung und Abhängigkeitzwischen Interessenverbänden(v.a. Gewerkschaften, Arbeit-geber) und Staat;Etatismus = Hohe Bedeutungstaatlicher Intervention undinsbesondere des Zentralstaats.

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Im Liberalismus gilt Leistung als Leitidee sozialer Gerechtigkeit.Die Folge der Marktwirtschaft ist dann legitime Ungleichheit. Frei-lich ist nicht erst seit dem Aufkommen des Feminismus und seinemHinweis auf die unbezahlte Familienarbeit von Frauen strittig, welcheLeistung zählt. Auch innerhalb des Arbeitsmarktes zählen keineswegsnur »Leistung pur«, sondern auch Knappheit, Interessenbündelungund hergebrachter Status. Daran knüpft die sozialistisch-sozialdemo-kratische Kritik an und plädiert für staatlich-politische Umverteilung,die sich am Leitbild der Verteilungsgerechtigkeit orientiert. Konser-vative wiederum zweifeln sowohl die Leistungs- wie die Gleichheits-idee an und wollen eher Bedarfsgerechtigkeit, vermittelt in Gemein-schaftsformen, allen voran die Familie, aber auch berufs- und andereständische Formen dienen dem Konservativen als Legitimitäts-quelle.

Wenn wir dieses klassische Dreieck von »Links-Mitte-Rechts« be-trachten, dann wird deutlich, warum die Sozialversicherungen mitihrer Neideinhegung zumindest bislang in Deutschland so etwas wieeinen Kompromiss der divergierenden Gerechtigkeitsideen bildenkonnten – ergänzt um das liberale Modell der »Fürsorge« (Sozial-hilfe), der Konzentration auf die »wirklich Bedürftigen« und daskonservative Modell der »Versorgung«, wie wir es in der Beamten-versorgung und heute auch in Familienleistungen (Kindergeld, Er-ziehungsgeld) finden. Die Leitidee des »Garantismus« geht einenSchritt weiter, indem sie an den Bürger- und Grundrechten anknüpft,jeder Bürgerin und jedem Bürger soziale Teilhabe »garantiert«, kon-kretisiert vor allem im Konzept der »Bürgerversicherung« (realexistierend in der Schweiz, den Niederlanden oder auch in der Ren-tenversicherung »Social Security« der USA) und vor allem in derForderung nach einem »Grundeinkommen«, das jedem zusteht, ohneArbeitsvoraussetzung.

Im Konzept »Garantismus« werden die »sozialen Grundgüter«,die nach Auffassung von John Rawls grundsätzlich allen Menschenzustehen sollen, als positive soziale Grundrechte definiert. Demge-genüber werden sie im »Sozialliberalismus« – ebenfalls bei Rawlsund bei anderen Autoren – nur als Kompensationen mangelndenMarktkapitals konzipiert.20 Während Rawls – darin in der Traditiondes modernen, bei Hegel begründeten Denkens in sozialen Relationenund Funktionen – die Gesellschaft zu Recht als Kooperationszusam-menhang versteht, kommt ihm eine eigenständige wertkommuni-kativ-ethische Begründung von Sozialpolitik nicht in den Blick. Erbewegt sich im »nachmetaphysischen« Mainstream der modernen,vor allem angloamerikanisch geprägten politischen Philosophie. We-nige ihrer Vertreter gestehen so offen wie Harry Frankfurt, dass ihreAuseinandersetzung um die Spannungen von Gerechtigkeit undGleichheit »nichts Substantielles zur Lösung der Frage bei(trägt),welche Sozialpolitik befolgt oder vermieden werden sollte«.21 Dashält sie dennoch nicht davon ab, philosophisch argumentierend nor-mative, letztlich subjektiv-politische Positionen zu vertreten.

Die Argumentation dieses Beitrags zielte auf eine Dekonstruktionund Reflexion dieser Meinungen ab. Wenn Stefan Gosepath in einerumfangreichen Studie einen »liberalen Egalitarismus« entwerfenwill und darin »Ausnahmen von der Gleichverteilung« vor allem für

20 Wie etwa bei BruceAckerman, Anne Alstott:The Stakeholder Society,New Haven/London 1999,deren Konzept einer»Sozialerbschaft« als Ver-mögenstransfer an jeden18-jährigen neuerdings aufDeutschland übertragenwurde: Gerd Grözinger,Michael Maschke, ClausOffe: 60 000 Euro für jeden18-Jährigen, in: FrankfurterRundschau, 12. 1. 2006(auch: www.boell.de/arbeit).

21 Harry Frankfurt: Gleich-heit und Achtung, in: Ange-lika Krebs (Hrsg.): Gleichheitoder Gerechtigkeit. Texteder neuen Egalitarismus-kritik, Frankfurt 2000, S. 38.

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ökonomische Güter so begründet: »Die wesentliche Ausnahme vonder Gleichverteilung liegt in den ungleichen Folgen der Eigenver-antwortung«22, dann müsste er soziologisch nachweisen, dass imWirtschaftsleben tatsächlich überwiegend »Eigenverantwortung« dieunterschiedliche Güterverteilung begründet – und nicht auch Erb-schaften, Seilschaften oder Glück. Hier war Rawls realistischer.Realismus ist aber für die Sozialpolitik unverzichtbar. Nur an einerStelle des Sozialgesetzbuchs (SGB) findet sich die explizite Erwäh-nung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit, in § 1 Abs. 1 SGB I: »DasRecht des Sozialgesetzbuches soll zur Verwirklichung sozialer Ge-rechtigkeit und sozialer Sicherheit Sozialleistungen (…) gestalten.«Ohne philosophischen und sozialtheoretischen Reflexionsimportwird die praktische Sozialpolitik orientierungslos.23

Die Betrachtung der Sozialpolitik mit dem analytischen Rahmender Wohlfahrtsregime macht sichtbar, dass soziale Gerechtigkeit rea-listisch nicht in der residualen Perspektive politischer Philosophenwie Otfried Höffe oder Wolfgang Kersting begriffen werden kann.Gerechtigkeit ist in einer differenzierten modernen Gesellschaftnotwendig mehrdimensional. Sozialpolitik institutionalisiert unddynamisiert soziale Gerechtigkeit. Sie wird umstritten bleiben,aber nichtsdestoweniger wirksam.

Eine gekürzte Fassung dieses Textes erschien unter dem gleichenTitel in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8-9, 2006, Seite 32-38.

22 Stefan Gosepath:Gleiche Gerechtigkeit.Grundlagen eines liberalenEgalitarismus, Frankfurt2004, S. 16.

23 Eberhard Eichenhofer:Sozialrecht und sozialeGerechtigkeit, in: Juristen-zeitung (JZ), 60 (2005) 5,S. 209-216.

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Katja Kipping – Jg. 1978;Magister in Slavistik,Amerikanistik und Rechts-wissenschaft; stellvertre-tende Bundesvorsitzendeder Linkspartei/PDS,Abgeordnete der Linkenim Bundestag, sozial-politische Sprecherin derFraktion.

1 Der Sozialstaat lebt voneiner zumeist unbegriffenenDialektik von »Verlohn-arbeiterung« und »Dekom-modifizierung«. »Verlohn-arbeiterung« heißt: DieMarktgesellschaft wurdedurchgesetzt. An die Stelleagrarischer und handwerk-licher Subsistenzproduktiontritt die umfassende Geld-wirtschaft, an die Stelle vonSelbständigkeit und Fami-lienbetrieblichkeit tritt dieArbeitnehmerrolle unddamit die Abhängigkeit vonArbeitgebern und Kapital.Die Arbeitskraft wird zur

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Der Linkspartei werden vor allem in der Sozialpolitik »illusorischePositionen« (Gerhard Schröder) vorgehalten. Der liberale Intellek-tuelle und frühere FDP-Politiker Ralf Dahrendorf meint, dass dieLinkspartei der »Idylle« eines »europäischen Sozialmodells« an-hängt, einer »behaglichen Welt«, in der ein wohlmeinender Staatsich um die Bürger kümmere.

Trotz und wegen des Bundestagswahlkampfs und über ihn hinausist es höchste Zeit, diesen Verächtlichmachungen des Sozialstaats ei-nige Thesen für einen Umbau des Sozialstaats entgegenzustellen.Geschlagen wird die Linkspartei und »die Linke« – getroffen wirdeine zivilisatorische Errungenschaft.

Die Lage: Massenarbeitslosigkeit und ZukunftsangstDie Deutschen blicken pessimistisch in die Zukunft, wie alle Um-fragen zeigen. Pessimismus ist freilich kein deutscher Nationalcha-rakter. Wir erinnern uns: Ende 1989 durchzog Optimismus ganzDeutschland. 1990 wurde Deutschland Fußballweltmeister. Ein eini-ges Deutschland in einem vereinten Europa war kein Traum mehr.Acht Jahre Kohl-Regierung und sieben Jahre Rot-Grün seitdem ha-ben aus dem Traum einen Angsttraum für immer mehr Menschenwerden lassen. Seit Mitte der 1990er Jahre liegt die Arbeitslosigkeitunerträglich hoch. Junge Menschen sehen ihre Zukunft verhangen.Ältere Menschen sorgen sich um die jungen und fürchten wieder Ar-mut.

Die Massenarbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür der deutschenGesellschaft. Schuld an ihr seien, so der neoliberale Mainstream derÖkonomen, die Arbeitslosen selbst. Sozialleistungen, so die durchneoliberale Think-Tanks und willfährige Journalisten verbreiteteThese, erzeugen erst die Massenarbeitslosigkeit, weil sie erlauben,dass man nicht jede Erwerbsarbeit zu jedem Preis annehmen müsse.Die Folge dieser empirisch und theoretisch falschen Analyse warendie »Agenda 2010«, »Hartz IV« und die schwarze Wahlkampfbot-schaft »Sozial ist, was Arbeit schafft«. Die Folge sind zunehmendeVerarmung, vor allem von Familien mit Kindern, und Hoffnungslo-sigkeit.

Die Entgegensetzung von wirtschaftlicher Effizienz und sozialerGerechtigkeit ist nur dem möglich, der die Gesellschaft allein inbetriebswirtschaftlichen Kategorien begreift. Dagegen wurden im20. Jahrhundert in allen Industriegesellschaften sozialstaatliche Ver-fassungen erkämpft.1

KATJA KIPPING, MICHAEL OPIELKABODO RAMELOW

»Sind wir hier bei›Wünsch dir was?‹«Thesen für einen neuen Sozialstaat

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Sozialpolitik kam nicht von allein und vor allem nicht allein »vonoben« zustande. Sozialpolitik war stets ein Kampf um soziale De-mokratie, um existenzielle Freiheit und Sicherheit derjenigen, dienicht über große Vermögen und Produktionskapital verfügen. DerSozialstaat wurde damit zum Garanten einer zivilisierten Gesell-schaft. Freiheit und Gleichheit sind in ihr kein Gegensatz.

Heute wird behauptet: Diese zivilisatorischen Errungenschaftenkönnten wir uns im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr leisten.Das ist falsch. Sozialpolitik ist auf jedem Niveau des wirtschaftli-chen Wohlstandes einer Gesellschaft möglich. Die Kunst kluger Po-litik besteht darin, über den nationalstaatlichen Tellerrand hinaus zublicken, Europa mitzudenken, internationale Standards zu erkämp-fen und gleichzeitig die noch immer nationalstaatlich organisiertenSteuer- und Abgabensysteme nachhaltig zu entwickeln. Kluge Sozi-alpolitik muss allerdings so organisiert werden, dass sie wirtschaft-liche Effizienz fördert. Auch das ist möglich. Wir formulieren dazuein Leitbild und einige konkrete Vorschläge.

Leitbild: Sozialpolitischer Realismus statt Markt-und StaatsideologieDie neoliberale Ideologie des Marktes verkürzt Gesellschaft aufWirtschaft und auf den Nutzen der Wohlhabenden. Die altlinke Ideo-logie des Staates verkürzte Gesellschaft auf Bürokratie und auf denNutzen der Parteieliten. Beide Ideologien waren und bleiben falsch.Sie waren und bleiben unrealistisch, weil sie die Bedürfnisse derMenschen und die komplexe Funktionsweise moderner Gesellschaf-ten unterschätzen. Sozialpolitisch führte diese ideologische Kontro-verse zu einer neoliberalen Politik der »Aktivierung«, einer fakti-schen »Pflicht zur Arbeit« einerseits, zur verzweifelten Forderungnach einem staatlich garantierten »Recht auf Arbeit« andererseits.

Ein sozialpolitischer Realismus berücksichtigt demgegenüber• die Interessen der Wirtschaft an Ressourcennachhaltigkeit (Öko-

logie), optimaler Infrastruktur und leistungsfähigen wie motiviertenArbeitskräften,

• die politischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger an sozia-ler Sicherheit und Teilhabegerechtigkeit

• und die verletzlichen gemeinschaftlichen Ressourcen, das »Sozial-kapital« einer Gesellschaft: das freiwillige Engagement, die familiäreLebenswelt und das gegenseitige Vertrauen.

Ein sozialpolitischer Realismus konkretisiert sich in• Abgaben- und Transfersystemen, die die Leistungsfähigkeit aller

Beteiligten berücksichtigen und einen Anreiz zu Beschäftigung undLeistung geben, innerhalb und außerhalb des Erwerbssystems,

• Sozialsystemen, die wirksam vor Armut schützen, soziale Grund-rechte garantieren und damit die Menschenwürde aller Bürgerinnenund Bürger,

• sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen, die professionellund selbsthilfefreundlich sind.

Ein realistischer Sozialstaat kann nicht »billig« sein. Ob die So-zialquote bei etwa 20 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) liegt(wie in den USA) oder bei fast 40 Prozent (wie in Skandinavien), istdennoch nicht das Wichtigste. Die Linke sah das bisher meist anders.

Ware (»commodity«), siewird »kommodifiziert«.»Dekommodifizierung«heißt: Durch Sozialpolitikwird die ökonomischeAbhängigkeit der Arbeit-nehmerInnen gelockert. Siekönnen »nein« sagen undsind trotzdem vor Armutgeschützt.

Bodo Ramelow – Jg. 1956;Einzelhandelskaufmann mitFachhochschulreife; 1981-1990 Gewerkschafts-sekretär Mittelhessen,1990-1999 Landesvorsit-zender der GewerkschaftHBV Thüringen; seit April1999 Mitglied der PDS, seit2004 im Bundesvorstand;1999-2005 PDS-Fraktionim Thüringer Landtag (seitNovember 2001 Fraktions-vors.); seit 2005 Mitglieddes Bundestages,stellv. Vors. der FraktionDIE LINKE.

334 KIPPING, OPIELKA, RAMELOW Sozialstaat-Thesen

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Eine hohe Staatsquote galt ihr als Ausweis sozialer Gerechtigkeit.Marktideologen wiederum halten eine niedrige Staatsquote für einZiel an sich. Viel entscheidender ist jedoch, was konkret als »öffent-liche Güter« gilt und wie diese finanziert werden.

Heute leben in Deutschland annähernd 40 Prozent der gesamtenBevölkerung überwiegend von sozialstaatlichen Umverteilungen.Dieser Anteil wird in den nächsten Jahrzehnten vor allem aufgrunddemographischer Entwicklungen eher noch zunehmen. Umso wich-tiger wird es sein, dass sich die Sozialpolitik realistisch auf das We-sentliche konzentriert.

Konkrete Vorschläge: Bürgerversicherungen und GrundeinkommenIm Zentrum eines realistischen Umbaus des Sozialstaats steht einegroße Sozialreform: die Umstellung des noch immer berufsständischgegliederten Systems der unter Fürst Bismarck eingeführten Arbeit-nehmer-Sozialversicherungen zu einem umfassenden System vonBürgerversicherungen. Der Rückgriff auf die Erfahrungen der DDRliegt nahe, da dort nach 1949 – auch inspiriert von den britischenIdeen des Lord Beveridge – das Bismarck-System durch Staatsbür-gerversicherungen abgelöst wurde. Doch das DDR-System bevor-zugte einzelne Berufsgruppen sowie die staats- und parteinahen Eli-ten. Politische Vorgaben, das Interesse von Staat und Partei an sichselbst überforderten und verzerrten einen richtigen Ansatz. Mit derWende wurde er komplett ausradiert. Das veraltete Bismarck-Sys-tem der Bundesrepublik wurde über das vereinte Deutschland ge-stülpt, statt die Chance zu nutzen, für das neue Deutschland ein po-litikferneres, demokratisches Versicherungssystem zu entwickeln.

Statt in die Vergangenheit inspiriert uns ein Blick in den Süden,zum Nachbarn Schweiz. Dort wurde per Referendum schon 1947eine Bürgerversicherung – die Rentenversicherung AHV – einge-führt und seitdem mehrfach weiterentwickelt, die alle Bürgerinnenund Bürger einschließt, durch eine Art Sozialsteuer auf alle Ein-kommen finanziert wird (derzeit 10,1 Prozent) und praktisch allenRentnerinnen und Rentnern eine existenzsichernde Grundrente ga-rantiert. Wir greifen diese Erfahrungen auf und bringen für Deutsch-land folgende Vorschläge in die Debatte ein:

• Sämtliche Systeme der Einkommenssicherung werden in einerBürgerversicherung (»Grundeinkommensversicherung«) zusammen-gefasst: Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankengeld,Kindergeld, Elterngeld und Sozialhilfe (bzw. ALG II). Die Grund-einkommensversicherung wird durch »Sozialsteuern« auf sämtlicheEinkommensarten (steuerliches Einkommen) ohne Bemessungs-grenzen finanziert (Schätzung: etwa 17-18 Prozent).

• Die Grundeinkommensversicherung garantiert allen Versichertenein existenzsicherndes Grundeinkommen (ca. 700-750 Euro im Mo-nat) sowie eine Grundrente im Alter (ca. 800 Euro). Sie zahlt maxi-mal das Doppelte des Grundeinkommens, bei Arbeitslosigkeit ohnezeitliche Begrenzung (nicht nur 1 Jahr wie »Hartz IV«).

• Es gibt keine Arbeitspflicht. Wer nicht für den Arbeitsmarkt zurVerfügung stehen möchte, erhält weiterhin das Grundeinkommen,wovon ein Teil (max. 50 Prozent) als Darlehen gezahlt würde(Gleichstellung mit »Bafög«).

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• Sinnvollerweise wird – wie in den meisten EU-Staaten und in denUSA – ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, um nichtorgani-sierte Arbeitnehmer vor Lohndumping zu schützen.

Der Vorschlag einer Bürgerversicherung für alle Einkommensrisi-ken geht über die bisherige Programmatik der Linkspartei wie vonGrünen und SPD weit hinaus. Wir sind überzeugt, die Mehrheit derBevölkerung dafür gewinnen zu können und halten breite politischeDebatten und schließlich ein bundesweites Referendum für sinnvoll.

Für die Reform der Krankenversicherung halten wir das Schwei-zer Modell der »Kopfpauschale« – das als »soziale Gesundheitsprä-mie« von CDU/CSU vertreten wird – für zu kompliziert, zu teuerund sozial ungerecht. Wir lassen uns hier vom österreichischen Mo-dell einer Bürgerversicherung inspirieren und schlagen vor:

• Alle Krankenversicherungen werden als Bürgerversicherungohne Beitragsbemessungsgrenze über eine »Sozialsteuer« (Schätzung:etwa 7-8 Prozent auf alle Einkommen) finanziert.

Statt bisher 41-42 Prozent Sozialversicherungsbeitrag werden mitBürgerversicherungen und Grundeinkommen nur noch etwa 25 Pro-zent Sozialsteuern fällig – freilich ohne Beitragsbemessungsgrenze.Im Gegenzug – und natürlich nur dann – kann der Spitzensteuersatzauf 25 Prozent reduziert werden. Höchstverdiener zahlen damit stets50 Prozent Steuern und faktisch eine Mindeststeuer von 25 Prozent,während sie heute zu den Sozialsystemen und ihrer Umverteilungkaum beitragen. Die Mehrheit der Arbeitnehmer zahlt dramatischweniger als heute, was den Arbeitsmarkt entlastet und die Arbeitslo-sigkeit spürbar senken wird. Familien und Geringverdiener werdenbesonders entlastet. Erwerbsarbeit und Sozialstaat werden entkop-pelt. Beide Systeme der Bürgerversicherungen könnten zusätzlichnoch aus dem allgemeinen Staatshaushalt und damit auch aus Ver-brauchs- bzw. Umsatzsteuern (Ökosteuer, Wertschöpfungsabgabenusf.) finanziert werden (auch in der Schweiz gibt es einen Bundes-wie Kantonalzuschuss), was den Sozialsteuersatz wiederum senktoder langfristig stabil hält.

Eine realistische Sozialpolitik umfasst natürlich noch viele weitereElemente. Eine umfassende Bürgerversicherung mit integriertemGrundeinkommen erscheint uns jedoch als Schlüsselprojekt. Ist das»links«? Im deutschen Koordinatensystem vor der Bundestagswahl2005 sieht es so aus. »Sind wir hier bei ›Wünsch dir was‹?« – mitdiesem Spruch kann man politische Visionen killen oder das Denkenschärfen. Wir plädieren für Letzteres.

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Der 2. Armutsbericht der Bundesregierung bringt es an den Tag: unterRot-Grün hat die Armut in der Bundesrepublik zugenommen und dieSchere zwischen Arm und Reich ist weiter auseinander gegangen.1

Eine Entwicklung, die mit der Umsetzung von Hartz IV immer wei-ter zu eskalieren droht. Deshalb sind Konzepte gegen Armut undForderungen nach sozialer Grundsicherung aktueller denn je.

Seit langem werden vor diesem Hintergrund von verschiedenenSeiten hierzu teilweise auch sehr unterschiedliche Modelle, die sichin ihrer konkreten Ausgestaltung untereinander auch ausschließenkönnen, entwickelt.2

Das im Weiteren hier zu entwickelnde Konzept sieht sich aber imAusgangspunkt mit allen anderen in grundsätzlicher Übereinstimmungdarin, dass ein Umsteuern entgegen den gegenwärtig durchgesetztenTendenzen der Entwicklung sozialer Sicherung nötig ist, dass die ge-gebenen Verteilungsverhältnisse ungerecht sind, dass die Organisationsozialer Sicherung veränderungsbedürftig ist, dass repressive Ele-mente in den sozialen Sicherungssystemen zurückzudrängen sind undnicht zuletzt die Höhe der sozialen Leistungen, speziell bei Arbeitslo-sengeld II sowie Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähig-keit zu niedrig ist, um Armut vermeidend zu wirken und angemesseneTeilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten.

Das Grundsicherungskonzept, und dies trifft in gewissem Maßeauch auf viele der Grundeinkommens- und Existenzgeldkonzepte zu,greift tief in ein Kernverhältnis kapitalistischen Wirtschaftens ein:den Zwang des Lohnarbeiters, seine Arbeitskraft auf dem Arbeits-markt unter allen Umständen und zu jeglichen Konditionen anzu-bieten. Indem über andere Wege als durch in einem klassischen Ar-beitsverhältnis erhaltenen Lohn Bedürfnisse befriedigt werdenkönnen, verschiebt sich das Kräfteverhältnis auf dem Arbeitsmarktzu Gunsten der Lohnabhängigen. Dabei ist die Einkommensfrage je-doch immer nur eine Frage.

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ein Grundsicherungskonzeptbzw. Politik für soziale Grundsicherung immer als ein Bündel vonVeränderungen in den sozialen Sicherungssystemen und in an-grenzenden Bereichen, wie der Wirtschafts- und Finanzpolitik, zubegreifen. Insofern geht die Anforderung an die Lösung des sozial-politischen Problems über die Frage der Leistungshöhe, also einerverteilungspolitischen Frage, hinaus.

Seit Beginn der 90er Jahre hat die PDS die Einführung einer so-zialen Grundsicherung gefordert. Sie hat sich in ihren Positionen

Dieter Zahn – Jg. 1951;Dr. sc. oec. Mitarbeiter derFraktion der Linken imAbgeordnetenhaus vonBerlin. Sprecher derIG Gesundheit und Sozialesder Linkspartei.PDS.Verschiedene Veröffent-lichungen zu sozialpoliti-schen Themen. Mitautoram Zukunftsbericht derRosa-Luxemburg-Stiftung»Leben statt gelebt zu wer-den«, Manuskripte 38, Berlin 2003.

1 Vgl.: Deutscher Bundes-tag: Unterrichtung durch dieBundesregierung: Lebens-lagen in Deutschland –Zweiter Armuts- und Reich-tumsbericht, Drucksache15/5015, Berlin 2005.

2 Vgl. hierzu im Überblick:Blaschke, Ronald: Garan-tierte Mindesteinkommen,Modelle von Grundsiche-rungen und Grundeinkom-

UTOPIE kreativ, H. 186 (April 2006), S. 337-345 337

DIETER ZAHN

Grundsicherung bedarfsorientiertgestalten

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und Vorschlägen immer von dem Grundsatz leiten lassen, dass dieGrundsicherung gegen Armut und Abhängigkeit gerichtet ist und da-mit zugleich Mindestbedingungen für ein selbstbestimmtes Lebenaller garantieren soll. Mit dieser Forderung wird daher auch immerein emanzipatorisches Projekt verfolgt, das Raum für Alternativeneröffnen kann.

Die PDS setzte in ihrer Anfang der 90er Jahre entwickelten Grund-sicherungskonzeption immer am Ausbau der vorhandenen Sozial-versicherungen (Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung) an.Folgerichtig sollte die Grundsicherung durch Versicherungsbeiträgeund Steuern finanziert werden, also innerhalb dieser Sozialversiche-rungen und organisiert über ihre Finanzierungsmechanismen.3

Dieses Prinzip wurde im Wesentlichen auch im zweiten PDS-An-trag im Bundestag 1996 durchgehalten. In den genannten Sozialver-sicherungen sollten Mindestbeträge festgelegt werden, um dadurchdie »Grundsicherung aus dem Arbeitslosen- und dem Rententopfsowie aus dem neu zu schaffenden Fonds« beziehen zu können.4

Außerdem wurde eine allgemeine Versicherungspflicht gefordert, inden Ausführungen zur Finanzierung beschränkte sich diese Forde-rung jedoch auf alle Erwerbstätigen.5

In solcher Ausführlichkeit wurde das Grundsicherungskonzept derPDS seitdem auch innerhalb der Partei nicht mehr kommuniziert.Als die Auseinandersetzung um die Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe einsetzte, schlug die PDS-Bundestags-fraktion 2001 die Grundsicherung in der Arbeitslosenversicherungvor.6 Wir haben uns dabei auf die Grundsicherung im Alter berufen– die ist zwar im Zusammenhang mit der Riesterreform entstandenund regelt im Zusammenhang damit auch Aufgaben der Rentenver-sicherung im Sozialgesetzbuch VI, ist aber ansonsten ein völlig ei-genständiges steuerfinanziertes Leistungssystem außerhalb der Ren-tenversicherung und nun aktuell im SGB XII integriert.

Damit wurde begonnen, die Leistungen für von Armut Betroffeneaußerhalb der solidarisch und über Versichertenbeiträge finanziertenSozialversicherungen zu organisieren (nach dem Muster der Sozial-hilfe).

Die PDS hat sich mit dieser Entwicklung kritisch auseinander-gesetzt, Alternativen entworfen und lehnt die Art und Weise der Zu-sammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit Hartz IVbekanntlich ab. Wir haben diese Entwicklung aber auch bei derErarbeitung unserer Konzeption für die Rentenversicherung in Aus-einandersetzung mit den letzten Reformen der Bundesregierung be-rücksichtigt. So ist die von uns vorgeschlagene »Rente mit Grund-betrag« keine Mindestrente für alle!

»Wir schlagen eine echte Mindestrente vor, eine Rente mit Grund-betrag. Jede und jeder, der mindestens 30 Jahre in die Rentenversi-cherung eingezahlt und dabei 15 Rentenpunkte erworben hat, be-kommt einen Rentengrundbetrag, der 30 Rentenpunkten entspricht.Das ist aus heutiger Sicht eine Mindestrente von etwa 800 Euro«,7

betonte Lothar Bisky.Das heißt, unser Vorschlag soll langjährig Versicherte durch einen

Solidarausgleich innerhalb des beitragsfinanzierten Systems vordem Gang zum Grundsicherungsamt bewahren; es bedeutet aber

men im Vergleich, Meißen,Dresden 2005.

3 Vgl.: Deutscher Bundes-tag: Antrag der Gruppe derPDS/Linke Liste über: Vor-lage eines Gesetzes übereine soziale Grundsicherungin der BundesrepublikDeutschland, Drucksache12/5044, Berlin 1993.

4 Deutscher Bundestag:Antrag der Gruppe der PDSüber: Soziale Grundsiche-rung gegen Armut und Ab-hängigkeit, für mehr sozialeGerechtigkeit und einselbstbestimmtes Leben,Drucksache 13/3628, Berlin1996, S. 4.

5 Ebenda, S. 15.

6 Vgl.: Deutscher Bundes-tag, 2001: Antrag der Frak-tion der PDS über: EineGrundsicherung in dieArbeitslosenversicherungeinführen, Drucksache14/7294.

7 Bisky, Lothar: Die PDSunterbreitet einen Vorschlagfür eine solidarische Ren-tenreform (Rede auf derRentenkonferenz derSächsischen PDS-Land-tagsfraktion am 15. 3. 2004in Dresden).

338 ZAHN Grundsicherung

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eben auch, dass Versicherten, die diese Kriterien nicht erreichen, die-ser Weg damit nicht erspart wird. Diese Konstruktion ist nur verein-bar mit dem Ausbau der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-unfähigkeit, deren Höhe wir für kritikwürdig halten.

Daraus leitet sich auch der Ansatz für die Umsetzung des Grund-sicherungskonzeptes in den Positionen des Arbeitskreises SozialeSicherungssysteme vom November 2003 ab:

»Die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsiche-rung ist aus der Sicht der PDS ein zentrales Element in den gegen-wärtigen Richtungskämpfen. Sie soll nach unserer Auffassung diebeitrags- und umlagefinanzierten Systeme ergänzen und so das ge-samte soziale Sicherungssystem zukunftsfähiger machen. SozialeGrundsicherung verstehen wir als steuerfinanzierte und bedarfs-orientierte Leistung, auf die ein individueller, unbedingter Rechtsan-spruch besteht. Für eine wirksame Bekämpfung von Armut haltenwir ein Grundsicherungsniveau in Höhe von 50 Prozent des Durch-schnittsnettoeinkommens (derzeit 750 €) für notwendig. Sie sollauch ergänzend für Arbeitslose, Erwerbsunfähige und Rentner gezahltwerden, deren Einkommen dieses Niveau unterschreiten. Darüberhinaus soll die Leistung auch den jeweiligen spezifischen Lebensla-gen gerecht werden.«8

Vor dem Hintergrund der eingangs genannten Verarmungspro-zesse muss es nun darum gehen, konkrete Vorschläge zu entwickelnund in die Öffentlichkeit zu bringen, die an die aktuelle Situationanknüpfen und Wege zu einer sozialen Grundsicherung mit dem ge-nannten Anspruch eröffnen. Hierzu will der folgende Beitrag, aus-gehend von den Aussagen im Bundeswahlprogramm der Linkspar-tei.PDS von 2005, einen Anstoß zur weiteren Diskussion geben.

Mit den seit 1. Januar 2005 neu geregelten Leistungen nach SGBII und SGB XII ergibt sich angesichts der prinzipiellen Ablehnungvon Hartz IV die Frage, ob überhaupt und wie diese Leistungen alsausbaufähige steuerfinanzierte Systeme in die Umsetzung des Links-partei.PDS-Konzeptes einbezogen werden können?

Zunächst ist festzustellen, dass mit den Gesetzen bereits ein großerTeil der Personen erfasst wird, der in Armut geraten kann bzw. bereitsbetroffen ist (ohne dass mit dem vorhandenen Leistungsniveau Armutverhindert wird!). Sie erfassen aber eben noch nicht alle Lebenssitua-tionen, und ihr armutsfester Ausbau würde noch nicht für die gesamteWohnbevölkerung genügen. Bei den weiteren Überlegungen müssendaher auch Regelungen für von Armut bedrohte oder betroffene Be-völkerungsgruppen mitgedacht werden, die von den genannten Geset-zen nicht oder nicht adäquat erfasst werden. So ist z. B. die Situationvon BaföG-Berechtigten, niedrig verdienenden Selbstständigen,KünstlerInnen, aber auch die unbefriedigenden Regelungen für Asyl-bewerberInnen in das Konzept einzubeziehen. Das gesamte soziale Si-cherungssystem ist daher auf entsprechende Lücken zu prüfen undadäquate Lösungen für deren Schließung müssen dargestellt werden.

Welche Veränderungen an den Regelungen für die LeistungenALG II, Sozialgeld, Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherungim Alter und bei Erwerbsunfähigkeit wären dringend notwendig, umdaraus einen Ansatz für eine Grundsicherung im Sinne der Links-partei.PDS zu entwickeln?

8 Arbeitskreis SozialeSicherungssysteme beimParteivorstand der PDS:Zukunft der sozialen Siche-rungssysteme – Positionender PDS, 2003.

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Die PDS hat ihre prinzipielle Ablehnung und Kritik an Hartz IV mitHinweisen auf Alternativen verbunden, zu denen eben auch dieGrundsicherung zählt. Sie hat zugleich kurzfristige Maßnahmen undKorrekturen vorgeschlagen, die als Ansatzpunkt für eine andere Po-litik in Richtung auf eine Grundsicherung geeignet sind.9

So zielen die Vorschläge, die die gröbsten sozialen Verwerfungenund Ungerechtigkeiten, die Hartz IV hervorruft, verhindern oder zu-mindest einschränken sollen, zugleich auch auf die Beseitigung vonLeistungseinschränkungen, Zwangsregelungen und Sanktionen, diedem Gedanken der Grundsicherung entgegen stehen.10

Wesentlich für einen ersten Schritt zu einer wirklichen Grundsi-cherung ist die Forderung nach einer Leistungshöhe, die die Exis-tenz sichert und die aus einer neuen Einkommens- und Verbrauchs-statistik abgeleitet werden soll. Hilfsweise haben wir dazu zunächstauch vorgeschlagen, die Regelsätze kurzfristig auf ein (in Ost undWest einheitliches) höheres Niveau von mindestens 420 Euro proMonat anzuheben.

Während es in den weiteren Ausführungen um die Ausgestaltungeiner Armut vermeidenden Leistungshöhe gehen soll, ist hier nocheinmal darauf hinzuweisen, dass Politik für soziale Grundsicherungmehr umfassen muss:

• Dazu gehören z. B. unsere Forderungen nach einem Mindestlohnoder die Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung, die ihrem Na-men wenigstens bei der Leistungsdauer wieder gerecht werdenmuss.

• Die jetzigen Bedingungen der Leistungsvergabe sind hinsichtlichder Anrechnung von Vermögen und Partnereinkommen und derSanktionen (Arbeitszwang) nicht mit unserer Grundsicherungsphilo-sophie vereinbar.

• In Richtung mehr Grundsicherungscharakter wirken auch Forde-rungen nach höherem Selbstbehalt bei Hinzuverdiensten und Einbe-ziehung von Nichtleistungsempfangenden in die beschäftigungspo-litischen Maßnahmen des SGB III.11

Als aus dem Blickwinkel sozialer Grundsicherung gedacht sindauch Versuche zu verstehen, Spielräume bei der Ausgestaltung derÜbernahme von Leistungen für Unterkunft zu suchen.

So sind mit der AV-Wohnen Berlin nicht nur vergleichsweisehöhere Richtwerte für die Bruttowarmmiete festgelegt worden, son-dern den allgemein befürchteten Umzügen soll auch durch die mög-liche Übernahme der Kosten für Unterkunft für längstens 11/2 Jahrein der tatsächlichen Höhe, die Möglichkeit zur Zuzahlung aus Vermö-gen oder Einkommen und eine Reihe von Abweichungen im Einzel-fall begegnet werden. So können die Richtwerte um bis zu 10 Pro-zent überschritten werden:• für Alleinerziehende• bei längerer Wohnungsdauer (mindestens 15 Jahre)• bei wesentlichen sozialen Bezügen (Schulweg von Kindern, Kin-dertagesstätten)• für über 60-jährige Hilfeempfangende• für Schwangere.

Politik aus dem Blickwinkel sozialer Grundsicherung umfasstauch solche Maßnahmen, die der Förderung der Teilhabe aller am

9 PDS: Positionsbestim-mungen und Aktionsvor-schläge zu Hartz IV,Beschluss des Parteivor-standes vom 23. August2004.

10 Die Linksfraktion imdeutschen Bundestag be-reitet hierzu aktuell dieEinreichung eines Rahmen-antrages unter dem Thema:»Für Selbstbestimmung undsoziale Sicherheit – Strate-gie zur Überwindung vonHartz IV« vor. Darin erfolgteine grundsätzliche Ausein-andersetzung mit der Aus-richtung der sog. Arbeits-marktreformen und wirdeine über die Ausführungenin diesem Beitrag hinaus-gehende Strategie mitkurz-, mittel- und lang-fristigen Änderungen in derArbeitsmarkt- und Sozial-gesetzgebung der Bundes-republik Deutschland ent-wickelt. Darauf konnte hiernoch nicht näher eingegan-gen werden.

11 Vgl. dazu: Abgeordne-tenhaus Berlin: Antrag derFraktion der SPD und derFraktion der PDS, Bundes-ratsinitiative zur Änderungdes SGB II (Arbeitslosen-geld II) und andererGesetze, Drs. 15/3980,Berlin 2005.

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gesellschaftlichen Leben dienen, wie Sozialtarife beim öffentlichenPersonennahverkehr (ÖPNV) und Angeboten der Kultur sowie dieBefreiung von Gebühren, die für Einkommensschwache ein Kom-munikationshindernis darstellen können. (Rundfunkgebührenbefrei-ung, Telekommunikationstarife)

Im Weiteren soll es hier um die Bestimmung des Grundsicherungs-niveaus in der Leistungshöhe gehen.

In der Perspektive muss dieser Prozess dazu führen, dass das Leis-tungsniveau (Leistungen zum Lebensunterhalt und Leistungen fürdie Unterkunft zusammen) bzw. der jeweils ermittelte Bedarf in dengenannten Systemen (SGB II u. SGB XII) nicht unter der jeweiligenArmutsschwelle für den entsprechenden Haushaltstyp liegen darf.Das kann durchaus möglich sein, weil es von den konkreten Um-ständen (z. B. Unterkunftskosten, individuelle Zuschläge etc.) ab-hängt. Zu den Bedingungen der Anrechnung von Einkommen undVermögen, die unseren Grundsicherungsvorstellungen eher entspre-chen als die gegenwärtig geltenden, müssen wir uns dann natürlichauch äußern.

Wie soll diese Grenze gemessen werden? Bisher haben wir mitVerweis auf frühere EU-Definitionen von 50 Prozent des durch-schnittlichen Einkommens gesprochen. Neben dem Problem, dass inder Vergangenheit zeitnahe Zahlen aus der amtlichen Statistik nichtso einfach herzuleiten waren und wir bei der Darstellung unseresGrundsicherungskonzeptes eine entsprechende Summe (z. B. dieoben genannten 750 €) eigentlich nur fortgeschrieben haben, sindinzwischen auf europäischer Ebene neue Vereinbarungen (Laeken-Indikatoren; vgl. hierzu: Bundesrat, 2004, S. 86) zur Messung rela-tiver Armut getroffen worden. Künftig soll für den europaweitenVergleich ein auf Befragungen beruhendes Statistiksystem aufgebautwerden. Zukünftig wäre also für unsere Betrachtungen auch von In-teresse, welche Daten die EU-SILC (Statistics on Income and LivingConditions) liefern wird.12

Danach wird die Armutsrisikogrenze mit 60 Prozent des durch-schnittlichen Haushaltseinkommens, gewichtet nach der neuenOECD-Skala, angegeben. Vor dem Hintergrund, dass die bestehen-den (wenn auch nach unserer Auffassung zu restriktiv ausgelegtenund nicht bedarfsgerecht ausgestatteten) Leistungssysteme auf Be-darfsgemeinschaften abheben, scheint ein solcher Maßstab für ein zudefinierendes Grundsicherungsniveau vom Prinzip her geeignet.

Die Bundesregierung ist bei ihrem jüngsten Armutsbericht den La-eken-Indikatoren gefolgt. Der Bericht verwendet die dort verein-barte »Armutsrisikoquote«. Das ist der Bevölkerungsanteil der Per-sonen, die in Haushalten leben, deren bedarfsgewichtetesNettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent der Hälfte allerPersonen beträgt (Median). Nettoäquivalenzeinkommen gelten imnationalen Rahmen, unterscheiden sich also sinnvollerweise bei denEU-Mitgliedsländern. Für Deutschland beträgt die somit ermittelteArmutsrisikogrenze (Datenbasis: Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe, EVS 2003) 938 Euro.13

Was heißt das? Beim Nettoäquivalenzeinkommen wird die Anzahlder Personen eines Haushalts (nach der neuen OECD-Skala) folgen-dermaßen gewichtet: Haupteinkommensbezieher 1,0, jede weitere

12 Vgl. ebenda und Euro-päische Union: VERORD-NUNG (EG) Nr. 28/2004DER KOMMISSION vom5. Januar 2004 zur Durch-führung der Verordnung(EG) Nr. 1177/2003 desEuropäischen Parlamentsund des Rates für die Ge-meinschaftsstatistik überEinkommen und Lebens-bedingungen (EU-SILC) imHinblick auf den detailliertenInhalt der Qualitätsberichte(Zwischenbericht undAbschlussbericht), in:Amtsblatt der EU 2004/L 5.

13 Vgl. dazu: DeutscherBundestag: Unterrichtungdurch die Bundesregierung:Lebenslagen in Deutschland– Zweiter Armuts- undReichtumsbericht, Drucksa-che 15/5015, Berlin 2005,S. 45 ff.

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Person von 14 Jahren und älter 0,5, Personen unter 14 Jahren 0,3.Das Haushalts-Nettoeinkommen eines Haushalts mit 2 Erwachsenenund 2 Kindern unter 14 Jahren wird somit durch das Äquivalenzge-wicht 2,1 ((1*1,0) + (1*0,5) + (2 * 0,3) = 2,1) dividiert. Ein solcherHaushalt würde somit als arm gelten, wenn das Haushalts-Nettoein-kommen weniger als (2,1*938) 1 969,80 EUR betragen würde.

Diese Beispielrechnung macht darauf aufmerksam, dass die abso-luten Zahlen für eine Armutsrisikogrenze für unser Vorhaben der Er-mittlung einer armutssicheren Leistungsgrenze von Sozialtransfersnur bedingt taugen, denn sie sind Ergebnis von Berechnungen ausden mit der EVS (oder auch anderen Umfragen) erhobenen Datenzum Zweck der Abbildung einer Armutsquote in der Bevölkerung.14

Die dabei angesetzte Gewichtung der Haushalte nach der neuerenOECD-Skala berücksichtigt z.B. Kinder im Haushalt geringer alsdie alte. Außerdem werden die Daten für die EVS nur alle fünf Jahreerhoben.

Alte OECD-Skala Neue OECD-Skala

Bezugsperson 1,0 1,0Person ab 15 Jahre 0,7 0,5Person unter 15 Jahre 0,5 0,3

Die Gewichtung nach der alten OECD-Skala schätzt die Einsparun-gen beim gemeinsamen Wirtschaften niedriger ein und entspricht sotendenziell eher der Bedarfsbemessung in der Regelsatzverordnungfür SGB XII und SGB II. (Alleinstehende 1,0; erwachsene Partner0,9; Kinder ab 14 Jahre 0,8 und bis 14 Jahre 0,6)

»Zwar implizieren die Regelsatzproportionen noch höhere Bedarfs-gewichte der weiteren Haushaltsmitglieder, doch werden dabei dieWohnkosten als eine der bedeutendsten Ausgabekomponenten vernach-lässigt. Eine Modifizierung der Regelsatzproportionen durch die expli-zite Berücksichtigung empirisch abgeleiteter Wohnkosten führt zu Ska-lenwerten, die denen der alten OECD-Skala recht nahe kommen.«15

Der Berliner Armutsbericht misst z. B. nach der älteren OECD-Skala.16 Hier wurden die Armutsschwellen übrigens über den Mikro-zensus ermittelt. Dessen Daten lassen aber eine differenzierte Er-hebung, wie mit der daraus alle 5 Jahre gezogenen EVS, und eineentsprechende Auswertung nach den Laecken-Indikatoren nicht zu.

In der Studie zur Verteilung der Einkommen für den Armutsberichtder Bundesregierung (vgl. ebenda) sind deshalb vergleichsweise auchErgebnisse des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP)17, das jährlich er-hoben wird, herangezogen worden und alternative Armutsschwellenaus beiden Erhebungen nach neuer und alter OECD-Skala ermittelt.

Daraus sollen in der folgenden Tabelle alternative Armutsrisiko-grenzen für verschiedene Haushaltsgrößen abgeleitet werden, die fürweitere Überlegungen einen Korridor darstellen können, der einMaß für eine Armut vermeidende Leistungshöhe sein kann, wenndiese jeweils dort hineinragt.

Die Tabelle macht noch einmal deutlich, welche unterschiedlichenAuswirkungen die Bedarfsgewichte nach alter und neuer OECD-Skala haben:

14 Während die nachunterschiedlichen Berech-nungsmethoden ermitteltenArmutsrisikogrenzen deut-lich voneinander abweichenkönnen (siehe weiter unten),sind bei den Armutsrisiko-quoten (Anteilan der Bevölkerung) eherandere Unterschiede vonInteresse. Vgl. dazu Becker,Irene; Hauser, Richard,2004: Verteilung der Ein-kommen 1999-2003(Bericht zur Studie imAuftrag des BMGS), Frank-furt/a. M. 2004, S. 126 f.

15 Ebenda, S. 60.

16 Vgl. auch allgemeinzu Armutsbemessung inSenatsverwaltung fürGesundheit, Soziales undVerbraucherschutz: Armutund soziale Ungerechtigkeitin Berlin, Berlin 2002,S. 29 ff.

17 Vgl. zu Vor- und Nach-teilen von EVS und SOEPausführlich bei Becker,Irene; Hauser, Richard,a. a. O., S. 69 ff.

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Alternative Armutsgrenzen bzw. Armutsrisikoschwellender 60-Prozent-Grenze (€ p. M.)2003 nach Haushaltstypen

Haushalte EVS SOEPalte OECD- neue OECD- alte OECD- neue OECD-

Skala Skala Skala Skala

Äquivalenzgewichte alt/neuBezugsperson 1,0/1,0 799 938 732 858Person ab 15 J. 0,7/0,5 559 469 512 429Person unter 15 J. 0,5/0,3 399 281 366 257

Alleinstehende 799 938 732 858Alleinst. + 1 Kind unter 15 J. 1198 1219 1098 1115Alleinst. + 2 Kinder unter 15 J. 1597 1500 1464 1372Paar 1358 1407 1244 1287Paar + 1 Kind unter 15 J. 1757 1688 1610 1544Paar + 2 Kinder unter 15 J. 2156 1970 1976 1801

Quelle: Becker, Hauser, 2004: S. 124.

Die Äquivalenzeinkommen sind beim SOEP auf Grund der Erhe-bungsmethode allgemein etwas niedriger, was zu niedrigeren Ar-mutsschwellen führt. Der Vergleich zeigt, dass die Armutsschwellennach der neuen OECD-Skala für Alleinstehende und Alleinerzie-hende mit einem Kind höher ausfallen als nach der alten. Für Fami-liengrößen darüber kehrt sich dieses Verhältnis um. Für die Bildungder »Korridore« in den nachfolgenden Darstellungen werden daherdie jeweiligen Extremwerte als oberer und unterer Rand gewählt.

Die folgenden Darstellungen sollen beispielhaft dazu dienen, eineVorstellung zu vermitteln, welche Leistungsveränderungen nötigsind, um ein Armut vermeidendes Niveau zu erreichen. Gegenüber-gestellt wird die aktuelle Situation anhand der Eckregelsätze (West)plus durchschnittliche Leistungen für Unterkunft18 nach Angaben derBundesagentur für Arbeit für den Monat Mai 0519 mit zwei Varian-ten höherer Eckregelsätze plus den Leistungen für Unterkunft nachden Richtwerten der AV-Wohnen Berlin. Bei der ersten Variantewerden die Eckregelsätze um 67 € angehoben. Dies entspricht derHöhe, die der Paritätische Wohlfahrtsverband in seiner trefflichenAuseinandersetzung20 mit der geltenden Regelsatzverordnung alsMindestmaß ermittelt hat. In der zweiten Variante wird der Eckre-gelsatz um 150 € angehoben. Dies ist zwar keine ähnlich genau er-mittelte Bedarfsgröße, aber auch nicht völlig willkürlich gewählt.Wenn im Armutsbericht der Bundesregierung eine Armutslücke21

von 16 Prozent ausgewiesen ist (vgl. Deutscher Bundestag, 2005,S. 45), dann kann auf jeden Fall von einem allgemeinen Bedarf vonüber 100 € mehr ausgegangen werden.

Der »Korridor« für Alleinstehende zeigt eine vergleichsweisegroße Spreizung. Daher wird eine entsprechende Leistungshöheauch bereits mit der Anhebung des Eckregelsatzes nach den Vor-schlägen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes erreicht.

18 Die niedrigen Miet-zahlungen in dieser Säulesind der Durchschnitt derLeistungen an alle Leis-tungsempfänger – alsoz. B. auch derer, die zurUntermiete, noch bei denEltern oder aus sonstigenGründen mietfrei wohnenund daher nicht als Durch-schnitt der derzeit gewähr-ten Mietobergrenzen zubegreifen!

19 Bundesagentur fürArbeit: Statistik derGrundsicherung für Arbeit-suchende – Geldleistungenfür BedarfsgemeinschaftenMai 2005, Nürnberg 2005.

20 Der Paritätische Wohl-fahrtsverband: »Zum Lebenzu wenig ...« – Expertise,Berlin, Frankfurt a. M. 2004.

21 Bei der alleinigenBetrachtung von Armuts-risikoquoten bleibt unbe-rücksichtigt, wie weit dasEinkommen der Armuts-risikobevölkerung unter derjeweiligen Grenze liegt.Um auch diesen Aspekt der»Armutsrisikointensität«einzubeziehen, werdenergänzend relative Armuts-lücken berechnet. Dieserweitere Indikator ist – ent-sprechend dem Laeken-Indikator 4 – definiert alsDifferenz zwischen Armuts-risikogrenze und Mediander Nettoäquivalenzeinkom-men der Personen unter derArmutsrisikogrenze in Rela-tion zur Armutsrisikogrenze.

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Aktuelle und alternative Leistungshöhen in € beim ALG IIfür Alleinstehende

Die Spreizung macht noch mal darauf aufmerksam, dass solche Zah-len ungeeignet sind, als Maß für einen allgemeinen Zahlbetrag zurBestimmung der Höhe der Grundsicherung zu dienen. Das ergibtsich schon aus der unterschiedlichen Höhe von Zahlbeträgen ent-sprechend individuell unterschiedlichem und zu berücksichtigendemBedarf. Sie zeigen uns aber im Vergleich, inwieweit die individuelleLeistungshöhe einen Armut vermeidenden Bereich erreicht. Dies giltauch für in diesem Zusammenhang oft benannte weitere vergleich-bare Messgrößen. Deren aktuelle Höhe soll hier kurz für den Ver-gleich erwähnt werden:

• Das sächliche Existenzminimum (Grundlage für das steuerlichfrei zu stellende Existenzminimum) wird aus dem Eckregelsatz fürdas SGB XII ermittelt und beträgt für Alleinstehende 2005 im Jahr7356 € oder 613 € im Monat.

• Die Pfändungsfreigrenzen werden entsprechend dem steuerli-chen Existenzminimum alle zwei Jahre dynamisiert. Pfändungsfreiist seit 01.07.05 das Nettoeinkommen eines Alleinstehenden bis989,99 € (bei Unterhaltspflicht für 3 Personen 1769,99 €).

• Maßgebliche Richtschnur für den Selbstbehalt von Unterhalts-verpflichteten ist die Düsseldorfer Tabelle. Danach beträgt der not-wendige Eigenbedarf beim nicht erwerbstätigen Unterhaltspflichti-gen monatlich 770 €, beim erwerbstätigen Unterhaltspflichtigenmonatlich 890 €. Hierin sind bis 370 € für Unterkunft enthalten.Der angemessene Eigenbedarf, insbesondere gegenüber anderenvolljährigen Kindern, beträgt in der Regel mindestens monatlich1100 €. Darin ist eine Warmmiete bis 450 € enthalten.

Im Beispiel des Alleinerziehenden-Haushaltes ist der Korridor we-sentlich schmaler und ist trotz berücksichtigtem Alleinerziehenden-Zuschlag erst mit einer deutlicheren Anhebung des Eckregelsatzeserreicht.

Das Beispiel für die Familie mit zwei Kindern ergibt ein ähnlichesBild wie bei den Alleinstehenden.

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Bestehende und alternative Leistungshöhen beim ALG IIfür Alleinerziehende mit einem Kind (7-14 Jahre)

Aktuelle und alternative Leistungshöhen beim ALG IIfür Familien mit 2 Kindern

Im Fazit ist m. E. daraus abzuleiten, dass eine Armut vermeidendeLeistungshöhe – hier am Beispiel SGB II – nur zu erreichen ist, wenneine angemessene Übernahme der Unterkunftskosten und eine Anhe-bung der derzeitigen Eckregelsätze um mindestens 100 € erfolgt.

Die Kosten für eine am Grundsicherungskonzept orientierte Ar-mutsvermeidungspolitik lassen sich nur sehr schwer prognostizie-ren. Allein die Anhebung der Eckregelsätze ist statistisch nicht inihren Kosten zu beziffern. Die höheren Ausgaben sind bezifferbar,so sie sich auf die von der Bundesagentur ausführlich und zeitnahgegebenen Daten beziehen. Allerdings ist nicht abschätzbar, wie sichder Personenkreis der Berechtigten allein durch die Anhebung desRegelsatzes erweitern würde.

Die im Armutsbericht ausgewiesene Armutslücke kann einen Hin-weis auf die gesellschaftlichen Kosten der Beseitigung von Armut –also eben dieser Lücke – bieten. Vorsichtig geschätzt sind das min-

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Mit der Verbreitung des Internets ab Mitte der 90er Jahre hat sich dieKommunikations-, aber auch die Politikwissenschaft mit der Fragenach der Veränderung der politischen Kommunikationsstrukturendurch dieses Netzmedium beschäftigt.1 Diese Diskussionen spieltenbei der Verbreitung neuer technologischer Möglichkeiten immereine große Rolle, wie nicht zuletzt Brechts »Radiotheorie«, Haber-mas’ »Strukturwandel der Öffentlichkeit« oder auch Enzensbergers»Medientheoriebaukasten« zeigen. Es galt immer wieder die Fragezu bearbeiten, wie die neuen technischen Möglichkeiten neue Hori-zonte für die politische Kommunikation eröffnen und damit auchgesellschaftliche Machtverhältnisse verändern können.

Das Internet als neuestes, neuartiges und schnell wachsendes Me-dium wird ebenso dieser Fragestellung unterworfen. Dabei sind ver-schiedene theoretische Zugänge denkbar, »basisdemokratietheoreti-sche« nach Habermas, systemtheoretische nach Luhmann oder etwa(sub-)kulturell bewegungsorientierte Ansätze der Neuen Linken.Eine explizit materialistische Methode der Untersuchung des Internetsals Kommunikationsmedium und Produktionsmedium wurde bishereher vernachlässigt, wohl auch, weil diese in der egalitaristischenEuphorie der New Economy als überholt angesehen wurde und einesolche Methode in der Kommunikationswissenschaft ohnehin rarist.2

Die derzeitigen politökonomischen Prozesse, die Krise der Erneu-erungs- und Ausgleichsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssys-tems und der bürgerlichen Gesellschaft, lassen eine solche Methodikjedoch wieder fruchtbar erscheinen. Die fordistische Produktionsweiseund mit ihr die relative Vereinbarkeit der Interessen von proletari-schen und besitzenden Klassen hat sich überholt. Die Gegensätzezwischen beiden verschärfen sich.3 Selbst in den Massenmedien al-ten Typs ist der Neoliberalismus als Ideologie des Klassenkampfesvon oben inzwischen als Begrifflichkeit und als Triebkraft gesell-schaftlicher Entwicklung gekennzeichnet, weil die negativen Folgen– Arbeitslosigkeit, Billiglöhne und prekäre Arbeitsverhältnisse –kaum noch zu überdecken sind. In dialektischer Weise ist die Ent-wicklung weltweiter Datennetze in diese Prozesse eingebunden, javerschärft sie sogar, treibt sie voran. Darauf wird zurückzukommensein.

Brechts Radiotheorie eignet sich in besonderer Weise als methodi-sche Schablone für eine materialistische Analyse der Veränderun-gen, die durch die technische Entwicklung im Bereich der weltwei-

Tobias Schulze, Jg. 1976;gelernter Buchhändler.Studium der Betriebswirt-schaftslehre an der FHTWBerlin. Seit 2001 Studiumder Neueren deutschenLiteratur, der Kommunika-tions- und der Politik-wissenschaft an derFU Berlin. Stipendiat derRosa-Luxemburg-Stiftung,politisch aktiv in der Linkspartei Berlin, u. a. inder Wissenschafts- undHochschulpolitik.

1 Siehe die Texte zu Politikund Internet, die alle dieseDisziplin bedienen.

2 Ausnahmen sind dieTexte von Rainer Rilling,Ernst Lohoff, Stefan Meretzu. a., die das Thema vorallem unter produktions-und werttheoretischen Fra-gestellungen behandeln.

3 Vgl. zur Analyse: JoachimBischoff, Sebastian Her-

346 UTOPIE kreativ, H. 186 (April 2006), S. 346-360

TOBIAS SCHULZE

Internet und Brechts Radiotheorie

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ten Datennetze vorangetrieben werden. Zum einen nimmt er Aspekteder Kommunikation und der Ökonomie in den Blick, zum anderenversucht Brecht, die gewonnenen Erkenntnisse in eine medienästhe-tisch-politische Utopie zu gießen. Brecht geht davon aus, dass dieEntwicklung der technischen Möglichkeiten, der Produktivkräfte inRichtung der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängt.Die Entstehungszeit dieser Theorie, die krisengeschüttelten Endjahreder Weimarer Republik, dürften – neben aller Technikbegeisterung –Brechts Auge für die Bedeutung von Kommunikationsprozessen ge-schärft haben. Dieser Blick, der Analyse und visionäre Elemente glei-chermaßen einschließt, soll für diese Arbeit übernommen werden.

Die mit dem Rückgriff auf Brecht zu stellenden Fragen lautenalso: Kann das Internet, wie es derzeit funktioniert und verfasst ist,einen Beitrag zur politischen Emanzipation der Menschen von denMachtstrukturen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft leisten?Lässt sich Brechts utopischen Forderungen aus den 30er Jahren mit-tels WWW, Email und Chat ein realistischer Kern zuschreiben? Gel-ten die alten Gesetze von Ware, Geld und bürgerlicher Macht imInternetkapitalismus noch? Oder muss Brechts doch recht epochen-übergreifend formulierte Theorie ins Reich der Historie verbanntwerden?

Diese Fragestellung schließt die Analyse der ökonomischen Ver-hältnisse des Netzes ebenso ein wie die Erkundung von Struktureneiner möglichen subversiven Gegenmacht im Netz. Abschließendkann dies alles nicht beantwortet werden, die Veränderungen voll-ziehen sich rasend, so dass fünf Jahre alte Literatur zum Thema be-reits weit hinter dem heutigen Stand der Entwicklung herhinkt. Diesdarf jedoch nicht dazu verleiten, eine theoretisch fundierte Aufarbei-tung der Entwicklung der neuen Medien aus materialistischer Per-spektive zu vernachlässigen. Diese dürfte sich in vielen Erkenntnissenvon der massenhaft verbreiteten Fragestellung nach Bürgerbeteiligungim Internet, also der Nutzung des Netzes für klassisch parlamenta-risch-demokratische Prozesse unterscheiden. Diese Arbeit unter Be-zug auf Brechts Theorie wird denn auch auf diese Untersuchungenzurückgreifen und Unterschiede herausarbeiten.

Eine nicht bestellte Erfindung in der kapitalistischen ÖkonomieDas Internet sei ganz sicher nicht »als Reaktion auf ein massenhaftartikuliertes Bedürfnis nach einem Mehr an direkter Demokratie indie Welt getreten«, schrieb Erich Ribolits 2001.4 Auch wenn fraglichist, wie dieses Bedürfnis artikuliert werden könnte, kann ihm in derFeststellung Recht gegeben werden, dass die Zivilgesellschaft nichtauf dieses Medium »gewartet«, es nicht zielgerichtet zu ihrem Nutzenentwickelt hat. Da muss auch der These von Ernst Lohoff wider-sprochen werden: »So gut wie alle technologischen und prozess-technischen Innovationen, die der Kapitalismus hervorgetrieben hat,sind Ausgeburten warengesellschaftlicher Rationalität. Kaum eineNeuerung, die auch nur den Horizont technischer Realisierung er-reicht hätte, der diese Herkunft nicht auch anzusehen ist. Die mikro-elektronische Revolution und die Computertechnologie machen da-von am allerwenigsten eine Ausnahme.«5 Das Internet wurde aufBestellung militärischer Befehlsstäbe erfunden. Seine zivile, auch

kommer, Hasko Hüning:Unsere Klassengesellschaft.Verdeckte und offene Struk-turen sozialer Ungleichheit,Hamburg 2002.

4 Erich Ribolits: Neue Me-dien und das Bildungsideal(politischer) Mündigkeit, in:Filzmaier, Peter: Internetund Demokratie. The stateof online politics, Innsbruck2001, S. 155 ff.

5 Ernst Lohoff: Die Wareim Zeitalter ihrer arbeits-losen Reproduzierbarkeit.Unter http://www.krisis.org/e-lohoff_politische-oekonomie-information.html(Zugriff am 18. 5. 2005)

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warenförmige Nutzung war eher ein »Abfallprodukt« der militäri-schen.6 Die inzwischen weltumspannenden Computernetze nutzenfür die Verbindung bisher Telefonleitungen. Langsam setzt sich auchdie Datenübertragung über Mobilfunknetze durch. Geleitet werdendie Daten über Knotenpunkte, die alle gleichberechtigt Daten emp-fangen und senden können. Möglich wird dieser Austausch überstandardisierte Protokolle. Der bekannteste und meistgenutzte Aus-tausch ist das Anbieten von Seiten im WWW, einem Netz, das aufdem Hypertextprotokoll (http) basiert. Daneben gibt es jedoch auchMöglichkeiten des Austausches in Echtzeit (Chat u. ä.) sowie desmultimedialen Austausches (ftp, PtP etc.) und natürlich der E-mail-Kommunikation.

Das Internet hat eine rasende Verbreitung gefunden. In Deutsch-land hat inzwischen mehr als die Hälfte der Erwachsenen einenInternetzugang.7 In den Ländern der EU sieht dies ähnlich aus:

Internetnutzung durch Privatpersonen und Unternehmen 2004(in %)

Anteil der Internet-Nutzer Anteil der Besitzer einesBreitbandanschlusses

Privatpersonen**

Insges. Männer Frauen Unternehmen**

Haushalte** Unternehmen**

EU25* 47 51 43 89 : 53Belgien : : : 96 : 70Tschechische Republ. : : : 90 : 38Dänemark 76 79 73 97 36 80Deutschland 61 65 57 94 18 54Estland 50 50 51 90 20 68Griechenland 20 23 16 87 0 21Spanien 40 45 36 87 15 72Frankreich : : : : : :Irland : : : 92 3 32Italien 31 37 26 87 : 51Zypern 32 36 28 82 2 35Lettland 33 34 33 : 5 :Litauen 29 30 29 81 4 50Luxemburg 65 74 57 : 16 :Ungarn 28 30 26 78 6 :Malta : : : : : :Niederlande : : : 88 : 54Österreich 52 58 46 94 16 55Polen 29 30 28 85 8 28Portugal 29 32 27 77 12 49Slowenien 37 39 35 93 10 62Slowakei : : : : : :Finnland 70 70 71 97 21 71Schweden 82 83 80 96 : 75Vereinigtes Königr. 63 67 59 87 16 44Bulgarien : : : 62 : 28Rumänien : : : 52 : 7Türkei 13 19 8 : 0 :Island 82 84 81 : 45 :Norwegen 75 79 71 86 30 60

* EU25, ohne Mitgliedsstaaten, für die keine Daten vorliegen** Berichtszeitraum; Privatpersonen und private Haushalte: erstes Quartal;

Unternehmen: Januar;: Daten nicht verfügbar

Quelle: EU; Unter: www.digitale-chancen.de/content/stories/index.cfm/key.1955/secid.16/secid2.49

6 Sandra Dusch: Theoriedes Cyberwar – Cyberwarder Theorie, in: antimilitaris-musinformation, 8/2000,S. 73 ff. sowie Rainer Rilling:Eine Bemerkung zur Rolledes Internets im Kapitalis-mus. Unter http://www.rainer-rilling.de/texte/kapitalismus.htm (Zugriffam 28. 5. 2005)

7 Ein Querschnitt diverserStudien zum Thema unterhttp://www.digitale-chancen.de/content/stories/index.cfm/key.399/secid.16/secid2.49(Zugriff am 26. 5. 2005)

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Wie zu sehen ist, nutzen auch fast alle Unternehmen inzwischen dasNetz. Für unsere Analyse ist entscheidend, dass die Digitalisierungder kapitalistischen Wirtschaft zu einer rasenden Entwicklung derProduktivkräfte und zur dynamischen Rationalisierung in der Waren-produktion führt. Hier laufen verschiedene Prozesse parallel, vondenen die Computernetze nur einen Teilaspekt bilden. Diese Um-wälzung erreicht auch die Kapitalmärkte. Die Mobilität des weltweitmassenhaft akkumulierten Kapitals hat sich stark vergrößert, seit dieinternationalen Börsen elektronisch handeln, sich Informationen ex-trem schnell verbreiten lassen und selbst der Kleinanleger seine In-vestments im Internet disponieren kann.8

Beachtenswert ist die Vielfältigkeit und Umfassung, mit der dieDatennetze in die ökonomischen Prozesse des Spätkapitalismus ein-greifen: Der Einsatz von vernetzten Computern trägt zur Rationa-lisierung sämtlicher Wirtschaftsprozesse (Investition, Spekulation,Produktion, Konsum) und deshalb auch zur Verschärfung der Wi-dersprüche und damit zur Krise bei. Der marktförmige Wettbewerbwird durch vernetzte Kommunikation in allen Bereichen verschärft,Rilling nennt dies die »Verallgemeinerung privater Eigentumsver-hältnisse«9. Dazu mehr im 6. Kapitel.

Doch das Netz ist nicht nur Werkzeug zur, sondern auch Gegen-stand von Kommodifizierung und selbst ein großer Wirtschaftszweig.Hier unterscheidet sich das Internet von dem Rundfunk der 30erJahre enorm: Es ist nicht nur Anhängsel des Kulturbetriebs, sonderndurchdringt nach und nach Kernprozesse kapitalistischer Ökono-mien. Ein steigender Teil der gehandelten Waren und der nötigenVorprodukte hat nichtkörperlichen, virtuellen Charakter und bestehtvor allem aus Information.10

Mit der Bedeutung des Computers in der Wirtschaft stieg auch seineBedeutung als Leitbild einer neuen Wirtschaftsweise. »Es begannen dieinternationale Diskussionen um die ›Automation im Kapitalismus‹und was zunächst als ›Datenverarbeitung‹ (EDV) im wesentlichen aufdie Organisation der Produktion und ihre Rationalisierung hin gedachtwar, wurde als ›Informations- und Kommunikationstechnik‹ (IuK)dann aus dieser Begrenzung entlassen und spätestens Mitte der 90erJahre endgültig als die zentrale Leittechnik des modernen Kapitalismusmit allgemeinem gesamtwirtschaftlichem und gesamtgesellschaftli-chem Ankoppelungs- oder gar Durchdringungspotential gehandelt.«11

Der Boom der New Economy und ihr schnelles Ende12 machen je-doch deutlich, dass die in das Internet gesetzten Hoffnungen über-bordenden Wirtschaftswachstums und Teilhabe vieler Menschen ander Umwälzung der Produktivkräfte zumindest vorerst Illusionenbleiben. Rillings Analyse, dass mit dem »Internetkapital« neue Ak-teure im internationalen Kapitalismus aufgetreten seien, soll hier mitBlick auf mächtige Mischkonzerne im Medienbereich zumindest an-gezweifelt werden.13 Nach dem Zusammenbruch des Internet-Boomskonsolidierte sich der Medienbereich vor allem durch den Aufkaufneuer Ideen durch alte Unternehmen, das Internet lässt die Wirt-schaft insgesamt nicht wachsen. Es dient vor allem der Rationalisie-rung und Beschleunigung kapitalistischer Wirtschaftsprozesse undhat insofern einen Teil seiner Zweckhaftigkeit im Sinne einer fort-schreitenden Entwicklung unter Beweis gestellt.

8 Vgl. zur Debatte aussozialistischer Sicht: HelgeMewes: Der Dampfmaschi-nenkapitalismus und dasKommunikationsmediumInternet, in: UTOPIE kreativHeft 137. Unter www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/137/137_meves.pdf (Zugriff am28. 5. 2005)

9 Rainer Rilling: EineBemerkung zur Rolle desInternets im Kapitalismus.Unter http://www.rainer-rilling.de/texte/kapitalismus.htm (Zugriff am28. 5. 2005)

10 Die eindringlichstenBeispiele für erfolgreicheKommodifizierungsprozessesind derzeit ebay, Spiegel-Online und iTunes.

11 Rainer Rilling: EineBemerkung zur Rolle desInternets, a. a. O.

12 Vgl.: http://www.netplanet.org/geschichte/neunziger.shtml (Zugriff am1. 6. 2005)

13 Vergleiche etwa die Ge-schichte des französischenVivendi-Konzerns: TiefeUmwälzungen in Frankreich,in: Süddeutsche Zeitungvom 26. April 2000.

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Von der Distribution zur Kommunikation?Brecht traf für den Rundfunk der 20er Jahre die Feststellung, dassdiese Erfindung »sich ihren Markt erst erobern, ihre Daseinsberech-tigung erst beweisen« müsse:14 »Nicht Rohstoff wartete auf Grundeines öffentlichen Bedürfnisses auf Methoden der Herstellung, son-dern Herstellungsmethoden sehen sich angstvoll nach einem Roh-stoff um.«15 Diese Analyse kann überwiegend auch für das Internetin der westlichen Hemisphäre geltend gemacht werden. Richtig ist,dass die neuen »Apparate« Entwicklungspotenziale beherbergen, diebei ihrer Erfindung nicht impliziert waren und mit denen die herr-schende Kommunikationsindustrie in den letzten Jahren nur wenigmehr anzufangen wusste, als alte Angebote für das neue Medium zuadaptieren. Brechts Polemik, man könne über das neue MediumRundfunk »auf englisch bei den Klängen des Pilgerchors Hühnerzüchten«, es sei ein »akustisches Warenhaus«, Angebote würden»billig wie Leitungswasser«, lässt sich für die Anfangszeit des Inter-nets bestätigen.16 Brecht bezeichnet diesen Zustand als »Jugendzeit«des Mediums. Das Netz ist fortlaufend Umbrüchen unterworfen. Nurwenige Internetprodukte der Gründerzeit haben sich als im Markt-sinne überlebens- und profitfähig erwiesen. Dazu zählen etwa Ver-sand- und Markthandlungen aller Art wie Amazon und Ebay. Oderauch neuartige und medienspezifische Angebote wie Suchmaschinenund Preisagenturen. Viele andere, bisher nicht warenförmig angebo-tene Dienste und Produkte können nicht überleben. Sie werden der-zeit einem Prozess des »Ausschlusses durch Kommodifizierung«(Rilling) unterworfen. Wie sich diese Kommodifizierung auswirkt,lässt sich an der Entwicklung von Filesharing-Tools17 und der On-lineangebote von Zeitungen und Medien veranschaulichen. Obwohldie Distributions- und Kommunikationsmöglichkeiten über das Netzdiverse Vorteile bieten, stellten wichtige Medien ihre vorherig kos-tenlosen Onlineangebote ganz oder teilweise auf »Probier«angeboteum, die nicht mehr den vollen oder einen komplett anderen Inhalt alsdie klassischen Ausgaben bieten, so etwa die FAZ, die Zeit und dasHandelsblatt. Im derzeitigen ökonomischen Regime ist das Netz alsovor allem Ersatz für bisherige Distributionsformen und Rationalisie-rungsinstrument in Produktion, Distribution und Marketing. Wo dieumfassenden Möglichkeiten des neuen Mediums nicht profitabelsind, werden sie auch nicht genutzt.

In den letzten Jahren, nach dem Abklingen der Startup-Euphorieund der wirtschaftlichen Boom-Phase bis 2001, treten neue Nut-zungsaspekte in den Vordergrund, die die interaktiven und kommu-nikativen Fähigkeiten des Mediums betonen. Dies soll an zwei Bei-spielen verdeutlicht werden: Das Informationsportal indymedia.orgwurde 1999 im Rahmen der globalisierungskritischen Proteste ge-gen den G8-Gipfel in Seattle gegründet, um Informationsweitergabeabseits der offiziellen Medien zu ermöglichen. Mittlerweile existieren160 länderspezifische Portale. Die indymedia-Portale haben keineRedaktionen und funktionieren eher wie ein Forum, in dem Nutzerdie Möglichkeit haben, Beiträge zu verfassen und diese auch zukommentieren. Der Unterschied zwischen Redakteuren und Lesernsoll möglichst gering gehalten werden. Das Konzept der Gründungs-phase beschrieb eine Aktivistin des Vorläuferportals nadir.org so:

14 Bertolt Brecht: DerRundfunk als Kommunikati-onsapparat, in: BertoltBrecht: Werke. Große kom-mentierte Berliner undFrankfurter Ausgabe (GBA).Berlin/Frankfurt 1988, Band22, S. 552.

15 Ebenda.

16 Siehe nächstenAbschnitt.

17 Viele Filesharing-Platt-formen wie Napster oderKaZaa wurden von derUnterhaltungsindustrie mitKlagen überzogen undmussten schließen. Eineneue Strategie der Kon-zerne gegen das Tauschenvon Dateien ist das mas-senhafte Verbreiten fehler-hafter Dateien, wie derAutor aus eigener leidvollerErfahrung berichten kann.

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»indymedia hat sich die Aufgabe gestellt, mit einem radikaldemo-kratischen Ansatz einen Kampf anzugehen, der mit härtesten Banda-gen geführt wird: der Kampf um Aktualität. Für die Linke ist derKampf um Aktualität deshalb so attraktiv, weil es so ist, dass der, derzuerst die Information liefert, in der pole position um die Einord-nung des Geschehens im gesellschaftlichen Diskurs ist.«18 Der logis-tische Aufwand dafür ist minimal. Einige indymedia-Seiten werdenmoderiert, um Störaktionen und vor allem rechtsradikale Einträge zuverhindern. Grundsätzlich kann jedoch jeder Nachrichten unzensierteinstellen. Die Qualität dieser Nachrichten muss sich dann in derDiskussion mit anderen beweisen. Genutzt wird dieses Portal viel-fältig, in Deutschland vor allem durch Globalisierungskritiker wieattac und die autonome Antifa-Szene. Peter Nowak zieht zum fünf-ten Geburtstag 2004 auch ein eher ernüchterndes Fazit der umwäl-zenden Wirkung der neuen Plattform: »Anders als manche Netz-aktivisten [...] erhofften, hat indymedia nicht zu einer größeren Ein-beziehung von Menschen in die politische Debatte geführt. Genau sowie im realen Leben ist auch in der virtuellen Welt die Zahl der Ak-tivisten klein aber beharrlich.«19 Dass indymedia zum Medium einerpolitischen Szene werden könnte, war jedoch bei Gründung nebender Frage der Deutungsmacht im Diskurs durchaus impliziert: »Derprotestierenden (Hyper-)gesellschaft wurde mit indymedia zum ers-ten Mal ein Mittel in die Hände gelegt, mit der sie sich selbst in ih-rer eigenen Geschwindigkeit abbilden konnte. Noch nie war es soeinfach, Teil einer Jugendbewegung zu sein. Indymedia bietet dieserMeute ihre Spiegelung im narzistischsten Sinn.«20 Dieses Verständ-nis dürfte zum Teil auch im Sinne Brechts gewesen sein, dessen»Lernt zu siegen!« aus dem Film »Kuhle Wampe« durchaus imsportlichen und damit unterhaltsamen Sinne zu den Bildern wett-kämpfender Arbeiter gesungen wurde. Die Begrenzung dieses Me-diums auf eine kleine, eher selbstreferenzielle Szene war aber nichtdie durchdringende Wirkung, die Brecht sich langfristig von einemdemokratischen Medium versprach, dazu jedoch später mehr. Hiersoll indymedia vor allem als zumindest stabil arbeitendes Netzwerkschreibender Leser vorgestellt sein.21

Ein nutzerfreundlich strukturiertes Konzept schreibender Leserverfolgen die Seiten wikinews.de und wikipedia.de. Während erstereim Prinzip eine große kommentierte Nachrichtensammlung mit ei-genen Nachrichten und Kommentaren ist, stellt die zweite Seite einOffenes Lexikon dar, das als dynamischer Wissensspeicher bezeich-net werden kann. Gemeinsam ist ihnen der für alle offene Zugang zuden Produktionressourcen, die Möglichkeit des Kommentars für Le-ser und der nichtkommerzielle Charakter der Projekte.

Ein eher neues Phänomen der netzwerkartigen Nachrichtenproduk-tion sind die Weblogs, auch Blogs genannt.22 Grundlage dieser ist einvorgefertigtes Grundgerüst einer Website, auf die sehr einfach In-halte einzustellen sind (Content Management), ohne dass Kenntnissein Programmiersprachen erforderlich werden. Insofern senken Web-logs massiv die technischen Zugangshürden, die bisher vor demselbständigen Aufheben des Gegensatzes von Empfängern und Sen-dern stand.23 Ursprünglich als ständig aktuelle Linksammlungen ent-standen, stellen viele Weblogs eine Mischung aus Tagebuch, persön-

18 Internet als Praxisfeld.ak – analyse+kritik Nr. 448.3/2001. Unter www.akweb.de/ak_s/448/32.htm(Zugriff am 18. 6. 2005)

19 Peter Nowak: ZivilerUngehorsam im 21. Jahr-hundert. Unter: www.heise.de/tp/r4/artikel/18/18887/1.html (Zugriff am18. 6. 2005)

20 Internet als Praxisfeld.ak – analyse+kritik Nr. 448.3/2001. Unter www.akweb.de/ak_s/448/32.htm(Zugriff am 18. 6. 2005)

21 indymedia hat durch-aus mit der Staatsmacht zukämpfen. So geschehen imNachgang des G8-Gipfels inEvian, als FBI verschiedeneServer von indymedia be-schlagnahmte. Vgl. Dal-miano Volgolio: Spur derZensoren führt nach Romund Zürich, in: junge weltvom 11. Oktober 2004.

22 Vgl.: Robert Chromow:So vielseitig sind Weblogs.Unter www.akademie.de/programmierung-administration/tipps/allgemein/weblogs-einfach-vielseitig.html (Zugriff am18. 6. 2005)

23 Vgl.: Wiebke Loosen:Das Ende der Verheißun-gen? Technisch und öko-nomisch determinierteBeschränkungen des»freien« Informationszugan-ges im World Wide Web, in:Ursula Maier-Rabler, MichaelLatzer (Hrsg.): Kommunika-tionskulturen zwischenKontinuität und Wandel.Universelle Netzwerke fürdie Zivilgesellschaft, Kon-stanz 2001. S. 287 ff.

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lichem Kommentar und Bericht sowie Diskussionsforum dar. Auchwenn der technische Dienst zunehmend kostenpflichtig gemachtwird, bleibt die inhaltliche Demokratisierung im Sinne gleich einfa-cher Ausgangsbedingungen für alle Sender doch bestehen. Die in-haltliche Ausrichtung der Weblogs differenziert sich zur Zeit starkaus und reicht vom privaten Tagebuch über Medienbeobachtung biszu politischer oder kommerzieller Nutzung. In einem Weblog wirddie Folge der Massenverbreitung dieser Plattform folgendermaßencharakterisiert:

1.vom passiven Publikum zum aktiven User2.von Medien zum Inhalt3.von Monomedien zu Multimedia4.vom periodischen Erscheinen zu Echtzeit5.von Knappheit zu Überfluss6.von »Redaktionsvermittelt« zu direkt7.von Distribution zu Zugang (der User sucht, surft, navigiert

und entscheidet selbst)8.von Einweg-Kommunikation zu Interaktivität9.von linear zu Hypertext

10. von Daten zu Wissen24

Das Prinzip von indymedia wird denn auch von so genannten com-munity weblogs aufgegriffen und verallgemeinert. Da sich übergrei-fende thematische Weblogs als Ein-Personen-Projekte kaum wieder-finden und sinnvoll betreiben lassen, haben sich User zu Kollektivenzusammengeschlossen.25 Interessant an dieser Art der Informations-verbreitung ist die völlige Aufhebung des Anspruchs der Objek-tivität als Folge der nichtwarenförmigen Nachrichtenverbreitung,Weblogs wollen nichts anderes sein als subjektiv. Ein Blogger be-zeichnet dies als »die direktere und rauere Art der Nachrichtenver-breitung.«26 Tendenziell werden damit die Ausgangsvoraussetzungender klassischen Theorien der Massenkommunikation in der bürgerli-chen Gesellschaft beseitigt, indem klassische »Gatekeeper«/Vermitt-ler ihre herausgehobene Stellung verlieren.27 Dies wird nicht nurbegrüßt. So glaubt Erich Ribolits nicht an die emanzipatorische Wir-kung nichthierarchischer Kommunikation: »Dass es im Internetkeine Zensurstelle, keine Lektoren und Redakteure gibt, die Freiheitdes Wortes also uneingeschränkt gegeben scheint und niemand ge-hindert wird, seine Botschaften unters Volk zu bringen, verschleiertnämlich weitgehend, dass Informationen nichtsdestotrotz nur überihren Kontext zur Macht Bedeutung gewinnen.«28 Ribolits streifthier unsere Grundproblematik von der neuen Kommunikation, die,wie Brecht meint, eine Utopie sei und es sich lohne, darüber nach-zudenken, warum diese utopischen Charakter habe.29 Über die Neue-rungen, die in dieser Gesellschaftsordnung durchführbar sein könn-ten, geht es im folgenden Abschnitt.

Internet und bürgerliche PolitikDie skizzierten Entwicklungen werden auch in der bürgerlichen Po-litik- und Kommunikationswissenschaft, durchaus mit Rückgriff aufBrecht, aber auch auf Enzensberger diskutiert. Viele der AutorInnen,

24 Unter http://referat-weblogs.blog.de.Eintrag vom 16. 6. 2005.(Zugriff am 18. 6. 2005)

25 Julia Schmid, Hans-Martin Engeser: CommunityWeblogs: Mittendrin stattnur dabei. Unter www.onlinejournalismus.de/forschung/communityweb-logs.php (Zugriff am22. 6. 2005)

26 Unter http://referat-weblogs.blog.de.Eintrag vom 25. 5. 2005.(Zugriff am 18. 6. 2005)

27 Die Diskussion darüberwurde in den Anfangszeitender Massenverbreitung desInternets eher prophetischund theorielastig als empi-risch geführt. Vgl. Philome-non Schönhagen: SozialeKommunikation im Internet.Zur Theorie und Systematikcomputervermittelter Kom-munikation vor dem Hinter-grund der Kommunikations-geschichte, Bern 2004.Oder Irene Neverla: DasNetz – eine Herausforde-rung für die Kommmunika-tionswissenschaft, in:Maier-Rabler/Latzer (Hrsg.):Kommunikationskulturen,a. a. O., S. 29 ff.

28 Erich Ribolits: NeueMedien und das Bildungs-ideal, a. a. O., S. 161.

29 Bertolt Brecht: DerRundfunk als Kommunika-tionsapparat, a. a. O.,S. 554.

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die vor der Entwicklung des Internets an einer bürgerlichen Demo-kratisierung der Massenmedien gearbeitet haben, haben wie ErichRibolits Probleme mit der Entmachtung von Vermittlungsinstanzen.Diese sollten die Aufgabe wahrnehmen, das Machtgefälle zwischenSendenden und Empfangenden zu verringern und die Interessen zuvermitteln. Doch die Konzeption der Massenmedien in der bürgerli-chen Demokratie soll hier, Thilo Harth folgend, noch einmal zusam-mengefasst werden. Diese nähmen eine Schlüsselstelle ein, »weilwir auf die Wirklichkeitsvermittlung durch die Massenmedien ange-wiesen sind.«30 In einer Demokratie sei der Prozess der politischenWillensbildung ein durch die Massenmedien vermittelter Kommu-nikationsprozess. Grundlage für diesen Prozess sei »die Schaffungeiner »gemeinsamen, fiktiven Wirklichkeit« durch »die Reduktionvon Komplexität«.31 Dies bezeichnet Harth als Bildung von Öffent-lichkeit. Weiterhin hätten Massenmedien die Funktion, den BürgernBildung im Sinne der Vermittlung von Wissen, und Information überrelevante Ereignisse zu vermitteln. Und nicht zuletzt sollen die Mas-senmedien der »Einübung und Tolerierung inhaltlicher Pluralität«,der Kontrolle der Politik sowie der Möglichkeit von Interessengrup-pen, sich zu artikulieren, dienen.32 In dieser Konstruktion drückt sichbereits aus, was Brecht als Folgenlosigkeit der Institutionen und dieSystemtheorie als selbsterhaltendes System analysiert. Den Men-schen wird das Erkennen ihrer Situation mittels der eigenen Wahr-nehmung nicht zugetraut, Vermittlung und sogar die Herstellungeiner fiktiven Realität seien nötig. In dieser Konzeption kommt einKlassengegensatz zum Vorschein, der mit Brecht als »Mächte derAusschaltung und Ausgeschaltete« bezeichnet werden kann. Einganzes System, »die ideologischen Institute«, beschäftigt sich mit derAufrechterhaltung der Fiktion, dass im »Wettbewerb« der parlamen-tarischen Parteien und Interessengruppen der beste Weg im Sinneder großen Masse der Menschen gefunden wird. Dabei folgen dieMassenmedien eigenen Spielregeln, die von den Parteien und vonden Eigentümern der Medienunternehmen sowie den Werbepartnernbestimmt werden. Diese entscheiden, was öffentlich wird und nichtdie Adressaten.

Das Internet wurde, wie bereits bemerkt, von vielen Kommunika-tions- und Politikwissenschaftlern ambivalent gesehen. Man warfdem neuen Medium die Zerstörung der komplexitätsreduzierendenFunktion und damit die »Privatisierung der Öffentlichkeit« vor.33

Gellner kritisiert (1998), das Internet führe zu »Individualisierungund Globalisierung«, Begriffe, die man auch durch »Hedonismusund Monopolisierung« ersetzen könne. Er befürchtet, die Verbrei-tung des Internets produziere Bürger, denen die öffentliche Gesell-schaft egal sei, weil sie in ihrer eigenen bedarfsgerechten Privatge-sellschaft lebten. Gellners düstere Vision für das Netzmedium:»Wenn es indes nach Technik und Ökonomie ginge, wäre die Infor-mationsgesellschaft eine mit Myriaden von individuell verfügbarenKanälen, global organisiert und verbreitet, einzig durch die Markt-mechanismen von Angebot und Nachfrage gesteuert, nationalstaatli-cher und überhaupt jeglicher politischer Kontrolle entzogen.«34

Während man Gellners Analyse ihre frühe Entstehungszeit zugutehalten kann, gilt dies nicht für Ribolits, der etwas deutlicher in das

30 Thilo Harth: Internetund Demokratie – neueWege politischer Partizipa-tion: Überblick, Potential,Perspektiven, in: Uwe An-dersen, Gotthart Breit, PeterMassing, Wichard Woyke(Hrsg.): Internet und Demo-kratie. Beiträge zur wissen-schaftlichen Grundlegungund zur Unterrichtspraxis4/1999, Schwalbach 1999.S. 8.

31 Ebenda, S. 9.

32 Ebenda.

33 Winand Gellner: DasEnde der Öffentlichkeit?, in:Gellner/von Korff (Hrsg.):Demokratie und Internet,Baden-Baden 1998, S. 11.

34 Ebenda, S. 16 f.

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gleiche bürgerlich-überhebliche Horn stößt: »Denn es ist nicht bloßso, dass sich das Wertvolle angesichts des Plunders der MillionenNutzer, die ihre Botschaften ins Netz schicken verliert. Es verliertsich zugleich auch jedes Kriterium, was als wertvoll bezeichnet wer-den kann.«35

Trotz dieser weit verbreiteten Skepsis in der bürgerlichen Wissen-schaft suchten gerade jüngere AutorInnen nach Möglichkeiten, wiedas Netz als Partizipations- und Demokratisierungsinstrument ge-nutzt werden kann. Im Mittelpunkt dieser Überlegungen steht dieHerstellung einer Öffentlichkeit Habermasscher Provenienz.36 Somacht etwa Thilo Harth die folgenden Funktionen als nützlich aus:• politische Information (z. B. Parteiprogramme, Statistiken, Presse-mitteilungen)• politische Kommunikation (virtuelle Parteigliederungen, kommu-nale Kommunikation)• Medium für Wahlen, Abstimmungen und politische Kampagnen• politische Aktivierung (Einbeziehung in Entscheidungsprozesse,Aktivierung klassischer Medien, bürgerschaftliches Engagement)• transnationale Demokratie (z. B. europäische Tageszeitung) • Medium für alle (»informationelle Grundversorgung«)37

Damit ist das Spektrum der diskutierten Entwicklungen bereits um-rissen.38 Gemeinsam ist diesen Funktionen, dass sie sich nicht vonder zu schaffenden »fiktiven Realität« der bürgerlichen Öffentlich-keit lösen, sondern diese idealisieren.39 Hier sollen die »Apparate«nicht dazu benutzt werden, etwas Neues zu schaffen, sondern einealte Vorstellung zu erneuern. Die WählerInnen sollen »näher« anihren Abgeordneten sein, sie sollen besser informiert werden undmehr Mitbestimmungsrechte ausüben können. Entscheidend ist je-doch, dass weder das ökonomische noch das politische System sichMacht- oder Informationsvorsprünge aus der Hand nehmen lassen,das Nadelöhr der »Gatekeeper« soll erweitert, aber nicht abgeschafftwerden. Die wirkliche Auflösung des Sender-Empfänger-Prinzips,eine aufklärerische Durchdringung der ganzen Gesellschaft mit ten-denzieller Öffentlichkeit wird nicht angestrebt. Brecht: »Aber es istkeineswegs unsere Aufgabe, die ideologischen Institute auf der Ba-sis der gegebenen Gesellschaftsordnung zu erneuern, sondern durchunsere Neuerungen haben wir sie zur Aufgabe ihrer Basis zu bewe-gen.«40

Wider die Folgenlosigkeit der KommunikationBrecht kritisiert am entstehenden Rundfunk, an allen öffentlichenInstitutionen die Folgenlosigkeit öffentlicher Kommunikation imSinne eines sozialen Fortschritts. Er beklagt die Nichtdarstellungund Nichtverarbeitung gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüchein Kunst, Bildung und Medien, den »kulinarischen«, d. h. konsum-tiven Charakter der Kommunikation. Seiner Meinung nach müsseeiner Kampagne, die auf das Eingreifen in die Wirklichkeit gerichtetsei, ein »natürlicher Erfolg« beschieden sein. Zu Grunde liegt hierBrechts Annahme, die »Ausgeschalteten« hätten den quasi naturge-setzlichen und freizulegenden Willen, sich gegen die »Mächte derAusschaltung« zu wehren. Brechts klassenkämpferischer Zukunfts-

35 Erich Ribolits: NeueMedien und das Bildungs-ideal, a. a. O., S. 161.

36 Direkt zum Habermas-Bezug: Klaus Plake, DanielJansen, Birgit Schuhma-cher: Öffentlichkeit undGegenöffentlichkeit im Inter-net. Politische Potenzialeder Medienentwicklung,Wiesbaden 2001.

37 Thilo Harth: Internetund Demokratie, a. a. O.,S. 12 ff.

38 Vgl.: Reinhard Meier-Walser, Thilo Harth (Hrsg.):Politikwelt Internet. Neuedemokratische Beteili-gungschancen mit demInternet? München 2001;Andersen, Breit, Massing,Woyke (Hrsg.): Internet undDemokratie, a. a. O. sowieeher empirisch: Peter Filz-maier (Hrsg.): Internet undDemokratie. The state ofonline politics, Innsbruck2001. Durchaus kritischereAnsätze in Claus Leggewie,Christa Maar (Hrsg.): Inter-net und Politik: Von derZuschauer- zur Beteili-gungsdemokratie? Köln1998. Eine Spezialdiskus-sion: Georg Michael Faltis:Demokratisierungspoten-ziale durch Kooperation imInternet am Beispiel regio-naler Portale. Münster u. a.2002. Eher Policy-Process-orientiert: Christian Ahlert:Weltweite Wahlen im Inter-net. Möglichkeiten undGrenzen transnationaler De-mokratie, Frankfurt 2003.

39 Die Kritik daran istnatürlich vor dem Hinter-grund einer entwickeltenbürgerlichen Demokratiezu sehen. Für totalitäre Dik-taturen wie etwa China,Indonesien oder Nordkorea

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optimismus mutet heute naiv bis dogmatisch an. Ihm kann sichereine Reduktion aufs Politökonomische vorgeworfen werden, Hinter-grund sind jedoch seine Erfahrungen in der Weimarer Zeit, seine Er-fahrung des Niedergangs der bürgerlichen Republik als Folge derwirtschaftlichen Krise. Auch ein Brecht ist dialektisch zu lesen.

Brecht forderte, das neue Medium nicht einfach auf die alte Basis,durchaus im Marxschen Sinne verwendet, aufzusetzen, sondern mit-tels des neuen Mediums die Basis zu diskreditieren, auf eine Um-wälzung der sozialen Verhältnisse im Interesse der vielen hinzuar-beiten. Lässt sich seine 75 Jahre alte Theorie, von der er meinte, dasssie utopisch sei, aktualisieren? Sind bereits Anzeichen dafür in deraktuellen Netzwelt zu entdecken?

Brechts erstes wichtiges Anliegen war, »öffentlichen Angelegen-heiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit zu verlei-hen.«41 Er bezieht dies auf die Justiz, auf Ministerien, auf großeWirtschaftsunternehmen. Dies sei auch gegen den Widerstand derInstitutionen durchzusetzen, Gesetze, die diese Rechte schützten,seien abzuschaffen. Das Netz bietet für diese Art der Öffentlichkeitbeste Voraussetzungen, wenn auch der Staat wenig Interesse an mehrÖffentlichkeit hat. Erste eher subversive Pfade auf diesem Gebietwerden jedoch gegangen: Konsumenten gründen Internetforen, umsich über Geschäftspraktiken großer Unternehmen auszutauschen,Fotos von Polizeiübergriffen landen im Netz, Weblogger plaudernInterna aus Vorstandssitzungen bei Apple aus und der Emailverkehrzwischen EU-Kommission und Wasserkonzernen über die GATS-Verhandlungen wird abgefangen und veröffentlicht. Vieles weitereließe sich hier denken. Dies ist eine Folge der von Brecht als Zielproklamierten Organisation der Empfänger als Sender. Berichte, Fo-tos, Videos von beliebigen Ereignissen und Tatsachen könnenblitzschnell eingespeist werden. Der Filter gegen die Unübersicht-lichkeit sind entweder Suchmaschinen42 oder Newsfeeds und Mode-ratoren in Portalen oder Communitys. Entscheidend für die Verbrei-tung ist der Gebrauchswert einer Information für den einzelnenUser: was nicht gebraucht wird, wird nicht gesucht. Was nicht ge-sucht wird, verfällt. Vom Bericht eines Arbeitslosen über seine Er-fahrungen mit Arbeitgebern, Ämtern und Vermietern bis zur Organi-sation großer Streiks ist alles denkbar.

Brechts dritte Forderung ist die nach der Umfunktionierung derKommunikationsapparate zur Diskreditierung der Basis der Gesell-schaft. Brecht konnte nicht von einem selbstorganisierten Netz-Me-dium wie dem Internet ausgehen. Weder der Entwicklungsstand dermarxistischen Geschichtsauffassung, noch der Entwicklungsstandder Produktivkräfte konnten ihn die heutige Entwicklung erahnenlassen. Er entwickelte seine Vorstellungen in einer stürmischen Ent-wicklungs- und Überhitzungsphase eines fordistischen Akkumulati-onsregimes mit statischen Großindustrien, immensen Bürokratien inStaat und Verwaltung und vor dem Hintergrund des sozialistisch-sta-linistischen Industrialisierungsversuchs in der Sowjetunion.

So gelesen lässt sich Groths Analyse der Brechtschen Rundfunk-arbeit nachvollziehen: »Brecht stellt seine Radiotheorie unter denPrimat der revolutionären Veränderung. [...] Brecht wollte nicht – inflach aufklärerischer Manier – die Einsicht provozieren, um dann die

muss die demokratisierendeWirkung der globalisiertenKommunikationsstrukturuneingeschränkt positiv be-wertet werden. Dass diese»Gefahr« gesehen wird, zei-gen die massiven Versucheder chinesischen Regierung,das Internet seiner Informa-tionsmöglichkeiten zu be-rauben und es auf seinewirtschaftlichen Funktionenzu reduzieren. Vgl.: GeorgBlume: Freiheit, die sie mei-nen, in: taz, 15. Juni 2005.

40 Bertolt Brecht: DerRundfunk als Kommunika-tionsapparat, a. a. O.,S. 557.

41 Ebenda, S. 553 f.

42 Die Suchmaschinenhaben sich inzwischen, mitAusnahme von Google, zuausschließlichen Anzeige-und Werbeplattformen ge-wandelt. Hier hat eine neueInternetpraxis anzusetzen.Siehe auchwww.rettet-das-internet.de/suchmaschinen.htm

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Veränderungen dem Individuum und dem Selbstlauf zu überlassen.Sein Konzept sollte Einsicht und Veränderung im gesellschaftlich re-levanten Maßstab vereint in Bewegung setzen.«43 Brechts Vorstel-lungen gingen von der damals zahlenmäßig und organisatorischrecht bedeutenden KPD und ihrem Umfeld, von einem gewaltsamenAufstand des organisierten Proletariats und der Errichtung eineskollektivistischen Staates, des »sozialistischen Übergangsstaates«(Groth) aus. Dieses Szenario hätte auch die Aneignung des bürgerli-chen Kultur- und Medienapparates zur Folge gehabt. Brecht gehtdarauf ein, wenn er schreibt, dass seine Utopie über den Rundfunknur in einer »anderen Ordnung« durchführbar sei und die jetzigeVerkündung der »Formung und Propagierung dieser anderen Ord-nung« diene. Ihm ging es nicht darum, einfach die Rollen von Emp-fänger und Sender zu tauschen. Er wollte eine Gesellschaftsordnung,in der es diese Rollen nicht mehr gibt.

Wenn man diese dialektische Lesart der Brechtschen Utopie über-nimmt und auf ihren Kern reduziert, kann das Ziel der Umfunktio-nierung der Apparate aktualisiert werden. Es meint die Durchdringungder gesellschaftlichen Kommunikation mit subjektiv-utilitaristischerInformation und Kommunikation, gemacht von Individuen und Kol-lektiven. Dies bedeutet die Abschaffung bürgerlich-ideologischerOne-to-many-Kommunikation und die Aufhebung von deren Fol-genlosigkeit. Wenn die Apparate von allen beherrscht werden undHierarchien abgebaut werden, ist eine solche Beeinflussung kaumnoch möglich.

Während Brecht also von der Übernahme konzentrierter steuerba-rer Konglomerate ausging, haben wir unter den Bedingungen derNetzkommunikation andere Voraussetzungen für eine Umfunktio-nierung. Während Brecht von der Umfunktionierung eines »kulina-rischen« und hermetischen »Schmalband«-Mediums sprach, habenwir heute über die Nutzung einer offenen technischen Plattform zureden, die nicht nur kommunikatorische, sondern auch ökonomischeFunktionen erfüllt. An dieser Stelle muss eine Weiterentwicklungdes Brechtschen Gedankens von der Umfunktionierung erfolgen.

Als naheliegender und oft zitierter Ansatz im Sinne soll der so ge-nannte Cyber-Activism oder Hacktivismus in den Blick genommenwerden. Dabei handelt es sich um vielfältige Aktionen, die meist dasZiel haben, Internetseiten oder Computernetzwerke zu manipulierenoder lahmzulegen. Bekannte Beispiele sind die Störung der WTO-Webseite während des G8-Gipfels in Seattle und die Störung der In-ternetseite der Lufthansa als Protest gegen die Abschiebung vonFlüchtlingen. Die Aktivisten des »virtuellen Sit-Ins« wurden vor Ge-richt wegen Nötigung angeklagt.44 Die autonome Gruppe a.f.r.i.c.a.kommentiert dazu: »Die Netz-Intervention war hier Teil einer um-fassenderen Kommunikations- und Aktionspraxis, die sich sowohlim physikalischen wie im virtuellen Raum abspielte und die Vorbe-reitung und Durchführung der Aktion ebenso einschloss wie ihre po-litische Kontextualisierung – bei der das Internet nicht nur als Akti-onsfeld, sondern insbesondere als Vernetzungsinstrument von großerBedeutung war.«45 Diese Aktionen übertragen Protestformen aus derrealen in die virtuelle Welt, von einer Änderung gesellschaftlicherVerhältnisse kann hier nicht die Rede sein: »Politische Aktionen sind

43 Peter Groth: Hörspieleund Hörspieltheorien derWeimarer Republik, Berlin1980, S. 191.

44 Vgl. Christian Rath:Virtuelles Sit-In vor Gericht,in: taz vom 15. 6. 2005.

45 a.f.r.i.c.a.: Ziviler Unge-horsam und Kontrolle derlebendigen Arbeit. Internetals politischer Protestraum,in: So oder so. Die libertad!-Zeitung, Nr. 15. 2005. Unterhttp://www.sooderso.net/zeitung/sos15/index.shtml.(Zugriff am 22. 6. 2005)

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solche notwendigerweise klandestinen Angriffe nicht. Inzwischensind virtuelle Sit-Ins selten geworden oder ins semikriminelle Milieuder Geheimdienste und Infowar-Strategen abgewandert.«46 Die Pro-testkultur (siehe auch indymedia) ist erst am Anfang zur Erlangungvon Diskurshegemonien. Eine weitere Stufe ist das Hacken von In-ternetseiten und Netzwerken, um z. B. die Seite mit kritischen Inhal-ten zu versehen. Dies geschah etwa mit der Seite des amerikanischenVerteidigungsministeriums oder der des mexikanischen Präsidentenim Zuge des Zapatisten-Aufstandes.47 Der Internetaktivist beschreibtden Effekt des Hacktivismus folgendermaßen: »Hacktivismus istwahrscheinlich kein Mittel, das Organisierung unterstützt, und dasErgebnis von Hacktivismus ist wahrscheinlich kaum eine Zunahmederer, die unzufrieden sind. Viel eher scheint Hacktivismus ein Mit-tel zu sein, um Lärm zu machen und Aufmerksamkeit für ein be-stimmtes Thema zu erregen.«48

Diese Aktionen berühren einen blinden Fleck, der bei Brecht aus-gespart blieb: den direkten politischen Kampf. Brecht ging jedochvom Standpunkt der historischen Notwendigkeit der Klassenausein-andersetzung aus, diese Sicherheit hat die heutige Bewegung abge-legt. Ihr geht es nicht um ein Produktivieren entfesselter Wider-sprüche, sie will diesen Prozess der Entfesselung eben gerade störenund unmöglich machen: »Der Computer und das Internet sind hy-bride Instrumente (Maschine und Medium zugleich) die in immermehr Arbeitsverhältnissen zu zentralen Produktionsmitteln werden.[...] Der hybride Charakter der Technik trägt die Tendenz in sich, die›lebendige Arbeit‹ unabhängiger vom Kapital (bzw. Kapitalverhält-nis – T. S.) zu machen. Das gleiche Werkzeug, mit dem die Arbeits-kraft ausgebeutet wird, kann auch für den Widerstand eingesetztwerden. Das ist die Kehrseite jener Tendenz zur ›Subjektivierungvon Arbeit‹, deren Apologeten die Autonomie, Kreativität undFlexibilität der ›Wissensarbeiter‹ preisen. Insofern bedarf es einesDiskurses über die legitime Nutzung der neuen Informations- undKommunikationstechnik, sprich, abweichende Nutzungsformen desComputers und des Internet sollen unterbunden werden. Das Poten-tial des Computers zur autonomen Vernetzung wird auch in diesemProzess bekämpft und das zentrale Produktionsmittel des Postfor-dismus soll wieder unter Kontrolle gebracht werden.«49 Abgesehenvon der Überschätzung der tatsächlichen Zahl weitgehend autono-mer Wissensarbeiter im Postfordismus wird hier deutlich, dass sichradikallinke Bewegungen in der Analyse der Medien und ihrer Funk-tion vom marxistisch-leninistischen Ansatz Brechts unterscheiden.Während Brecht noch davon ausging, man müsse den Staat und mitihm den Rundfunk umfunktionieren, wird hier auf die Errichtungvon autonomer Gegenmacht zu Staat und Kapital gesetzt.

Möglicherweise würde Brecht diese Art Aktivismus als ungleich-zeitig und folgenlos verdammen. Auch heute wird netactivism auslinker Perspektive als nicht angemessen kritisiert: »Grundsätzlichbirgt Computervernetzung und -aktivismus das Problem der Anony-mität, der Mittelbarkeit und des Fehlens direkter sozialer Zusam-menhänge. Während eines NetStrikes sehen sich die AktivistInnennicht, sie können nicht gesehen werden und von der Wirkung erfah-ren alle Beteiligten und weiteren RezipientInnen erst aus den Me-

46 Ebenda.

47 Stefan Krempl: Wider-stand aus dem Cyberspace.Telepolis vom 30. 3. 1999.Unter: http://www.heise.de/bin/tp/issue/download.cgi?artikelnr=2697 (Zugriff am22. 6. 2005)

48 Stefan Wray: Hack-tivismus. Direkte Aktion amPC. Unter www.direkt.aktion.at (Zugriff am22. 6. 2005)

49 a.f.r.i.c.a.: ZivilerUngehorsam, a. a. O.

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dien. [...] Die Simulation von ›Widerstand‹ als politische Methode ineiner »Simulationsgesellschaft« ist ein interessanter Versuch, ›tradi-tionelle‹ linke Politik um eine explizite Medienpolitik zu erweitern.Der Versuch, die Metapher ›Massenaktion‹ auf das Internet zu über-tragen, ist interessant, aber technisch auf jeden Fall ausbaufähig(z. B. durch Stärkung der Interaktion der Beteiligten). Doch auch mitder Überwindung des netztypischen, individuellen Verkehrsverhal-tens besteht die grundlegende Gefahr einer (weiteren) Technisierungpolitischer Betätigung und des Mangels an Rückbindung an die ›rea-len‹ soziopolitischen Prozesse.«50 Schwierigkeiten bei der medialenVerwertung abstrakter Erkenntnisse über gesellschaftliche Struktu-ren bereitet auch die letztendlich kaum überprüfbare Wahrheit vonInformationen im Netz. Dieses Problem muss jedoch dialektisch be-trachtet werden: einerseits bildet das Netz Wahrheiten ab, die in denbisherigen Medien nicht vorkamen, andererseits bringt die Zersplit-terung Schwierigkeiten beim adäquaten, sinnstiftenden Verarbeitenvon Information. Brechts Postulat, die Medien und ideologiebilden-den Institute müssten ihrer Folgenlosigkeit entrissen werden, kannalso nicht im Sinne eines politischen Netz-Aktivismus antikapitalis-tischer Kräfte reaktualisiert werden, es ist nötig, die reale Gesell-schaftsordnung in den Blick zu nehmen.

Durchführbar in einer anderen OrdnungDamit kommen wir zurück zum Blick auf die ökonomische Basis.Der hybride Charakter von Computern und Netzwerken wurde bereitsmehrfach erwähnt, sie sind zugleich Produktionsmittel und Medium,zugleich Maschine und Plattform. Sie tragen zur kapitalistischenDynamisierung bei und helfen bei deren Kritik und Reflexion. Kurz:die bürgerliche Gesellschaft wie die kapitalistische Ökonomie sindeinem auf Computer basierenden Wandlungsprozess unterworfen.Die Produktivkraftentwicklung dieser spätkapitalistischen Gesell-schaft hat Technologien hervorgebracht, deren Folgen für die Ge-sellschaft kaum planbar sind. Gleichzeitig verschärft sich auch dieSpaltung zwischen den verschiedenen Entwicklungsstadien kapitalis-tischer Ökonomien weiter.51 Trotzdem wird in den Zentren kapita-listischer Entwicklung die Technologie Lebens- wie Produktionsver-hältnisse nachhaltig umwälzen. Wissen wird verwertbarer, Prozessewerden beschleunigt und Menschen, notwendig an Orte gebunden,geraten gegenüber den Daten ins Hintertreffen. Diese Verhältnisseproduzieren jedoch neue Widersprüche: Waren werden zunehmendkörperlos und ohne jeglichen Aufwand reproduzierbar und Arbeitwird unabhängiger von Ort, Zeit und weniger kleinteilig. Die künst-lich knappen, und deshalb zu kommodifizierenden Güter in denhochentwickelten Gesellschaften gehen direkt auf menschlicheGrundbedürfnisse (Ernährung, Gesundheit, Mobilität, Bildung, Si-cherheit, Kultur, Gemeinsamkeit) zurück, es geht um die »Kommer-zialisierung menschlicher Aktivitäten«.52 Der Kapitalismus greiftdirekter in die Lebenssphäre der Menschen ein als jemals zuvor inseiner Geschichte. Der theoretische Streit unter Marxisten wird der-zeit darüber geführt, ob, ähnlich des Überganges vom Feudalismuszum Kapitalismus, der alten Gesellschaftsordnung die neue bereitsinnewohnt und aus ihr heraus »keimt«.53 Anzeichen dafür sind

50 nadir-netzkritik: DigitalZapatismo, in: arranca 17,Hamburg 2005. Unterhttp//:arranca.nadir.org/archiv/15.htm (Zugriff am23. 6. 2005)

51 So prallten währenddes zapatistischen Aufstan-des Welten aufeinander, alsdie EZLN das Internet fürihre Kampagnen benutzte,obwohl sie selbst mitten imKampf stand in einem der ärmsten Gebiete desLandes. Vgl.: nadir-netz-kritik: Digital Zapatismo, in:arranca 17, Hamburg 2005.Unter http//:arranca.nadir.org/archiv/15.htm (Zugriffam 23. 6. 2005)

52 Alexander Menschnig:Pop-Kapital, in: FreitagNr. 30/2002. Unter www.freitag.de./2002/30/02300101.php

53 Vgl. etwa die Debattevon Stefan Meretz, ChristianFuchs, Michael Heinrichund Ernst Lohoff u.a., in:Streifzüge. Nr. 1/2001;2/2001 und 1/2002. Unterwww.widerspruch.at/streif-zuege. Sowie in der Zeit-schrift krisis. www.krisis.org.

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durchaus zu finden: Durch die Kommodifizierung der unmittelbarenLebenstätigkeit wird das Augenmerk der Menschen direkt auf diesevitalen Lebensfunktionen, d. h. weg vom materiellen Produkt ge-lenkt. Dies lässt sich in Deutschland derzeit gut beobachten. DieNachfrage nach materiellen Gütern erlahmt, während bei den o. g.Grundlebensbedingungen eine enorme Knappheit zu verzeichnenist. Die Knappheit ist entstanden, weil das Kapital nach dem Endedes fordistischen Konsens mit der o. g. Beschleunigung im Akku-mulationsprozess Nationalstaaten zur Senkung der Staatsquotezwingen konnte. Die Dynamik in hochentwickelten kapitalistischenGesellschaften führt also dazu, dass komplexe Prozesse ablaufen:

1. Die Arbeit eines wachsenden Teils der Bevölkerung subjekti-viert und »verganzheitlicht« sich,54 was ihren Ausbeutungscharakteraber noch verschärft.

2. Die vitale Freizeit der Menschen gerät zunehmend in Kommo-difizierungszwänge.

3. Die nachgefragten Güter entmaterialisieren sich tendenziell.

Diese Entwicklungen der Entgrenzung und der Entknappung bedin-gen, dass sich das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis zunehmendin Kernbereichen wie Individualität, Persönlichkeit und Kommuni-kation niederschlägt und gleichzeitig Befreiungstendenzen, etwa dietendenzielle Abkehr vom Konsumfetisch und das Ausbrechen ausfestgefügten Arbeitsabläufen und -kommandos festzustellen sind. Indieser Formation ist die Befreiung aus privatkapitalistischer Aus-beutung und aus der Warengesellschaft doch tendenziell angelegt.Von einem bewusstlosen Automatismus im Sinne des klassischenMarxismus oder gar einer Zwangsläufigkeit eines revolutionärenProzesses kann jedoch keine Rede sein. Die Überwindung der Wa-rengesellschaft könne nur als »Kampf auf der Ebene der realen so-zioökonomischen Reproduktion«55 gedacht werden, so Lohoff. Diesbedeutet gegenüber Brecht die Abkehr von der Vorstellung, Umwäl-zungen würden vor allem mit der Eroberung staatlicher Macht voll-zogen. Heute ist davon auszugehen, dass revolutionäre Neuerungenin der bewussten Änderung der Lebens- und Arbeitsweisen der Men-schen stattfinden, also nicht ruckartig, sondern fließend.56

Die uns hier zum Schluss interessierende Frage ist die nach derKommunikation und des Internets in dieser Entwicklung. Das Netzwird, wie bereits beschrieben, weiter zur Beschleunigung des Kapi-talumsatzes und zur Rationalisierung von Distribution, Unterneh-menskommunikation und Marketing beitragen. Dem bloßen Wider-stand dagegen dürfte wenig Erfolg beschieden sein. Wenn sich dieauf Marx berufende Linke in diesem Prozess positionieren will,muss sie sich der Möglichkeiten und der Unmöglichkeiten des Netz-mediums bewusst werden. Aus meiner Sicht ist es notwendig, einenaktiven Prozess der Dekommodifizierung des Internets und seinertechnischen Basis sowie eine radikale Abwehr von Schließungs- undZensurbestrebungen zu fördern. Die kommunikatorische many-to-many Vernetzung der Gesellschaft, die Aufhebung des Sender-Emp-fänger-Prinzips ist bereits ein sozialer und politischer Wert, der nichtleichtfertig aufgegeben werden darf. Sollen Produktion und Politikwieder näher aneinander rücken, dürfen die Netze nicht zensiert

54 Natürlich darf dabeinicht unerwähnt bleiben,dass die Handarbeit ent-weder in subproletarischeSchichten oder in andereLänder »ausgelagert«wurde. Dies macht denProzess aber eher nochsichtbarer, weil nicht nureine soziale, sondern auchz. T. eine räumliche Tren-nung stattfand.

55 Ernst Lohoff: Die Wareim Zeitalter ihrer arbeits-losen Reproduzierbarkeit,a. a. O.

56 Die Vorstellung,Sozialismus könne trotzGüterknappheit und Waren-fetisch einer Gesellschaftaufgepfropft werden, dürftewohl der wichtigste struk-turelle Grund für dasScheitern seiner bisherigenRealexistenz sein.

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werden. Eine globalere Aufgabe muss die Stärkung und Stabilisie-rung nichtkommodifizierter Lebens-, Arbeits-, Kommunikations-und Produktionsmodelle, bei denen die digitale Vernetzung und diedadurch zu erzielende Effektivierung eine Rolle spielt, sein. Mitfreier Software, mit Foren, die Beratungsdienstleistungen entprei-sen, mit Online-Tauschringen, mit Email und Weblogs, die klassi-sche Medien auch materiell und inhaltlich überflüssig machen, istabgesehen vom Raubkopieren eine Abkehr von der Warenform undvon entfremdeter Arbeit vorgezeichnet und muss ausgebaut, weiter-gedacht werden. Denkbar sind Kunst- und Bildungsplattformenohne Warencharakter, neue Entscheidungsstrukturen in großen Un-ternehmen usw. Natürlich gehört zur Umsetzung solcher Ideen einemoderne sozialstaatliche Reaktion, z. B. ein Grundeinkommen. DieAn- und Einbindung der sozial schwächeren Schichten sollte aus so-zialpolitischen, emanzipatorischen und aus kommunikationspoliti-schen Gründen ein Ziel der Linken sein. Sie dürfen nicht den Fehlermachen, neue Modelle nur für eine kleine Medienelite schaffen zuwollen. Dann könnte eine aktiv in die Basis eingreifende Politik, an-ders als bloß trendiger Internet-Protest, möglicherweise die vonBrecht geforderten Folgen zeitigen: »Geleitet von dem Verdacht, un-sere Vorstellungen seien selbst längst zu Waren geworden (sie konn-ten keine Güter bleiben), wollen wir nunmehr diese Vorstellungenuntersuchen, und zwar gerade auf diesen Warencharakter hin. Schonfast zu lang haben wir, sprechend von solchen Dingen wie neues Le-bensgefühl, Nachkriegsauffassung, Weltbild einer neuen Generation,beinahe alles Neuere als Voraussetzung gelassen und so benutzt. Eswird Zeit, nunmehr diese Voraussetzungen zu konstituieren.«57

57 Bertolt Brecht: Nutzender Wahrheit, in: BertoltBrecht: Werke. Großekommentierte Berliner undFrankfurter Ausgabe (GBA),Berlin/Frankfurt 1988,Band 22, S. 580 f.

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Als wir vor einigen Monaten die Biographie des Sprachwissenschaft-lers und Volkskundlers Wolfgang Steinitz (1905-1967) von AnnetteLeo besprachen, schlossen wir mit dem Hinweis auf neue Publika-tionen, die zu erwarten seien, mit weiterführenden, detaillierterenAufschlüssen über Leben und Werk des bedeutenden Gelehrten.1

Ein solches Buch liegt nun vor. Die von den Herausgebern vorge-stellten Texte beruhen zumeist auf Beiträgen zu den zahlreichenKolloquien, die im Laufe des Jahres 2005 aus Anlaß des 100. Geburts-tages von Steinitz unter Beteiligung von Sprachwissenschaftlern,Volkskundlern, Soziologen, Historikern, Wissenschaftshistorikernund Freunden der Volksmusik veranstaltet wurden. An der Spitzestehen drei ausführliche Aufsätze, deren Autoren sich nuanciert, fak-ten- und gedankenreich um die Zeichnung eines Gesamtbildes desLebens von Wolfgang Steinitz bemühen. Warmherzig beschreibtsein Neffe Jan Peters Steinitz’ Weg als politischer Wissenschaftler,gegründet auf jahrzehntelange familiäre Nähe, mit prägenden Sta-tionen im gemeinsam erlebten schwedischen Exil wie auch Zusam-menarbeit an der Akademie der Wissenschaften in Berlin.2

Den Problemen des sozialistischen Intellektuellen im Widerstreitmit der grundsätzlich bejahten, immer deutlicher aber in Frage ge-stellten Macht widmet Helmut Steiner seine Betrachtung. Die fürdieses Thema zentralen Dokumente – die mutigen Reden des ZK-Mitglieds Steinitz auf Plenartagungen des Zentralkomitees 1955 und1956 sowie sein Brief an das Politbüro vom Juni 1958 – stehen imAnhang.

Anregend ist die eindringliche Studie von Ewald Lang zur bio-graphischen Kohärenz in der Wechselwirkung von Philologie und(R)Emigration. Knapp charakterisiert Lang die frühe Grundlegungvon Steinitz’ wissenschaftlicher und politischer Vita: jugendbeweg-ter Enthusiasmus für Volkskultur, unbedingte Hingabe an wissen-schaftliche Forschung als Lebensaufgabe, dauerhaft innige Hinwen-dung zu den »kleinen Leuten und den kleinen Völkern«. Konsequentfolgen das Studium der Finnougristik und der Eintritt in die KPD.Beides bleibt lebenslang zentral, gewinnt aber Gestalt und weiteEntfaltung in den politisch bestimmten dramatischen Wechselfällen– von der Entlassung des Juden Steinitz 1933 über die Emigration indie Sowjetunion, wo er in Sprache und Kultur des kleinen Volkes derOstjaken das bevorzugte Objekt von Forschungen findet, die er inSchweden zu ersten großen Veröffentlichungen fördern kann, bis zurRemigration in den sozialistisch orientierten Teil Deutschlands, wo

Fritz Klein – Jg. 1924,Prof. Dr., Historiker, Arbeitsgebiete: Vorkriegs-imperialismus, Erster Welt-krieg, Krieg-Frieden-Frageim 20. Jahrhundert; Publikationen u. a.:Deutschland im ErstenWeltkrieg (3 Bände 1968-1970, Reprint im LeipzigerUniversitätsverlag 2003);Drinnen und draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, S. FischerVerlag 2000.

Klaus Steinitz, WolfgangKaschuba (Hrsg.): WolfgangSteinitz. Ich hatte unwahr-scheinliches Glück. EinLeben zwischen Wissen-schaft und Politik, KarlDietz Verlag Berlin 2006,383 S. (19,80 €)

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FRITZ KLEIN

Fallstudie von besonderem ReizZur Wolfgang-Steinitz-Biographie

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der Unermüdliche alte Forschungen fortsetzt, neue Arbeitsfelderaber erschließt, um Wissenschaft und Wissenschaftspolitik aus derHinterlassenschaft des Faschismus herausführen zu helfen. Detail-liert verfolgt Lang die Konstanz von Motiv und Methode in Steinitz’Forschungen über alle Wechselfälle hinweg.

Steinitz’ Arbeit an seinem Hauptthema, der Ostjakologie, wird indrei Beiträgen vorgestellt. Schildert die jüngere Münchener Finnoug-ristin Anna Widmer ausführlich die Bedeutung der Arbeiten des Ber-liner Forschers für ihre eigenen Forschungen, zunehmend fasziniertvon der überragenden Qualität und der Gediegenheit seiner Arbeit,unter Hinweis auch auf wissenschaftliche Kontroversen, die in derFinnougristik z. B. über Steinitz’ Auffassungen vom finnisch-ugrischen Vokalismus geführt werden, so legen persönliche Erinne-rungen von Mitarbeiterinnen der von Steinitz geleiteten ArbeitsgruppeOstjakisches Wörterbuch an der Humboldt-Universität (LiselotteHartung und Brigitte Schulze) Zeugnis ab von der stetigen Förde-rung ihrer wissenschaftlichen Entwicklung. Sie bestand auch darin,daß er ihnen 1965 zusammen mit zwei anderen jüngeren Mitarbei-tern die Teilnahme an einem internationalen Kongreß im westlichenAusland ermöglichte – eine im Wissenschaftssystem der DDR unüb-liche Vergünstigung. Auf diesem Kongreß demonstrierte Steinitzauch dadurch sein unabhängiges Denken, daß er den Vortrag einesihm befreundeten sowjetischen Kollegen verlas, dem seine Behör-den die Ausreise verweigert hatten.

Drei der neuen Arbeitsfelder in SBZ und DDR gelten die Beiträgefrüherer Schüler, Mitarbeiter und Kollegen: der Umstrukturierungder Slawistik, der Neuorientierung der Volkskunde, dem Wirken ander Akademie. Anschaulich schildert Friedhilde Krause aus eigenemErleben als Slawistik-Studentin bei Steinitz dessen Wirken beimNeubeginn der Slawistik an der Berliner Universität – eines Faches,das durch die Einführung des Russisch-Unterrichts als Pflichtfachim Schulunterricht ganz neue Dimensionen erhielt. Sie erinnert ansein Lehrbuch der russischen Sprache (wozu der Band auch einespezielle Studie von Ewald Lang enthält, die die aus dem Anspruch,ein Volkslehrbuch zu schaffen, stammende Eigenart der Transkrip-tion ohne diakritische Zeichen zum Gegenstand hat, die als populäreTranskription neben der wissenschaftlichen Transliteration bis heuteim deutschsprachigen Raum erhalten geblieben ist). Steinitz legteGrundlagen für den Russisch-Unterricht durch Monographien überdie russische Konjugation und die russische Lautlehre, förderte invielfältigen Formen die Ausbildung künftiger Russisch-Lehrer. Cha-rakteristisch für Steinitz war die tätige Sorge für die materielle Lageseiner Studenten, indem er Honorare aus einer Schriftenreihe imVerlag Volk und Wissen zu finanziellen Beihilfen an besonders Be-dürftige verwandte.

Die außerordentlichen Verdienste um eine Neuorientierung der inder NS-Zeit durch ihre Nähe zur Blut-und-Boden-Mystik in Verrufgeratenen Volkskunde, die er auf die Grundlage einer modern aufge-faßten Ethnologie stellte, schildern Hermann Strobach und Wolf-gang Jacobeit, Mitarbeiter in dem von Steinitz an der Akademie derWissenschaften gegründeten Institut für deutche Volkskunde, inBeiträgen, in denen auch die innerwissenschaftlichen und wissen-

1 Siehe: Das Blättchen,Heft 15/2005.

2 Vgl. auch: Jan Peters:Wolfgang Steinitz – ein Seil-tänzer?, in: UTOPIE kreativ,Heft 180 (Oktober 2005).

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schaftspolitischen Kontroversen aufscheinen, die diese Arbeit be-gleiteten.

Die nicht einfache Position Steinitz’ in der ambivalenten Volks-kunst-Szene der DDR ist Gegenstand der differenziert argumentie-renden Studie der Ethnographin Ute Mohrmann.

Anrührend beschreibt Jürgen B. Wolff, Graphiker und Musiker ausLeipzig, die befreiende Wirkung, die von Steinitz’ Sammlung derDeutschen Volkslieder demokratischen Charakters auf ihn, einen»Folkmusiker mit Haut und langen Haaren«, ausging. In ihrer Ostund West gleichermaßen überzeugenden, objektiven, humanistischenSicht auf den Gegenstand sei sie ein bravouröser Spagat gewesenzwischen plakativer DDR-Geschichtsklitterung und dem »Dornrös-chenschlaf gut situierter Schöngeister in bundesdeutschen Volkskun-delehrstühlen«.

Von der ungebrochenen Wirkung dieser Sammlung zeugt der Be-richt von Katrin Steinitz über das 2005 zum fünfzehnten Mal in Ru-dolstadt veranstaltete Volksmusik-Festival mit 65 000 Teilnehmernaus allen Teilen Deutschlands, dessen Höhepunkt ein »Steinitzsingen«war.

Gestützt auf gründliches Studium der einschlägigen Archivalienbeschreibt Peter Nözoldt, Verfasser einer Dissertation über Steinitzund die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, unterdem Gesichtspunkt von Tradition und Erneuerung dessen Wirken alsWissenschaftspolitiker und -organisator an der Akademie, demHauptfeld seiner Tätigkeit seit seiner Wahl zum Mitglied der Aka-demie 1951, deren Vizepräsident er von 1954 bis 1963 war. Über-zeugend arbeitet Nötzold das »schier unglaubliche Arbeitspensum«heraus, das Steinitz an der Akademie neben seinen umfassendenwissenschaftlichen Aktivitäten für die Neuorientierung der Volks-kunde und als Abteilungsleiter für deutsche Gegenwartssprache imInstitut für deutsche Sprache und Literatur bewältigte. Er spannt denBogen vom parteiverbundenen Genossen Wissenschaftler, der durch-aus willens ist, sich in der Akademie für einen größeren Einfluß fort-schrittlicher Wissenschaft einzusetzen, über die von den zunächstganz überwiegend bürgerlichen Akademikern als hervorragenderWissenschaftler geschätzte integre Persönlichkeit hin zum akzep-tierten Vertreter von Akademie-Interessen gegenüber ZK und Zen-tralverwaltung und zu den wachsenden Konflikten mit der zuneh-mend rigideren ideologischen Ausrichtung der Wissenschaftspolitikseiner Partei bis schließlich zur weitgehenden politischen Resigna-tion in seinen letzten Lebensjahren.

Kampf um weitestmögliche Bewahrung bewährter Akademie-Tra-ditionen, für gesamtdeutsche Wissenschaftsbeziehungen und für einoffenes, verständnisvolles Verhältnis zu bürgerlichen Wissenschaft-lern sind die Hauptfelder dieser aufreibenden Auseinandersetzungen.Letzteren Punkt unterstreicht Günter Wirth durch Hinweise auf Stei-nitz’ Bemühungen, Vorlesungen des Schweizer Theologen und reli-giösen Sozialisten Fritz Lieb über russische Geistesgeschichte nichtnur an der Theologischen, sondern auch an der Philosophischen undPädagogischen Fakultät halten zu lassen und sein Eintreten für denverdienten, in Westberlin lebenden jüdischen Goethe-Forscher ErnstGrumach in dessen scharfem Konflikt mit der Akademie 1959.

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In prägnant beschriebenen Episoden aus Erfahrungen mit Steinitzbringt der Linguist Manfred Bierwisch, der Steinitz aus der Arbeitim Institut für deutsche Sprache und Literatur kannte, herausragendeZüge in dessen Umgang mit Wissenschaft und Wissenschaftlernpointiert auf den Punkt: die Orientierung der Forschung nicht auf ge-nerelle Zusammenhänge, sondern auf konkrete Gegebenheiten; dieneugierige Offenheit, neue, auch ihm zunächst eher fremde Wege zugehen und nachdrücklich zu fördern, wenn sich neue Perspektivenzu eröffnen schienen (was manchmal der Fall war und sehr nützlichwurde, manchmal aber auch nicht); die absolute Vertrauenswürdig-keit, die den dem politischen System der DDR distanziert gegen-überstehenden Bierwisch nicht zögern ließ, Steinitz’ Rat einzuholen,als er durch Annäherungsversuche des MfS in Bedrängnis geriet;Flexibilität und Sinn für praktische Lösungen statt Prinzipienreiterei.»Unorthodoxe Prinzipienfestigkeit« ist die schöne Formel, die Bier-wisch für Steinitz’ Verhalten findet.

Bewegend schließlich ein außerordentliches Stück Geschichts-schreibung: die in jahrelanger Arbeit von Wolfgangs Tochter Renateerforschte Geschichte der jüdischen Familie Steinitz. Beginnend mitder Lebensgeschichte eines Urahnen, des Lehrers Salomon Steinitz(1751-1830), hat sie einen Stammbaum von insgesamt 632 Personenerfaßt. Anschaulich wird in vielen Lebensgeschichten erzählt vomallmählichen Aufstieg einer immer mehr auf Bildung und Wissen-schaft orientierten Familie in den Jahrzehnten allmählich zurücktre-tender, nie aber völlig überwundener Diskriminierung zu ansehnli-cher Stellung im bürgerlichen Leben der Weimarer Zeit. Die meistenfühlen sich als Deutsche, bejahen die Assimilierung, sind aus der jü-dischen Gemeinde ausgetreten. Es sollte sich zeigen, schreibt RenateSteinitz, daß man aus der Gemeinde, nicht aber aus dem Jude-Seinaustreten kann. Erschütternd die Schilderung, wie die große FamilieSteinitz 1938 aus Deutschland verschwand: ins Exil nach Ägypten,Bolivien, England, Italien, Kanada, Neuseeland, Schweden, in dieSchweiz, die Sowjetunion, die Türkei und – in ihren größten Teilen– nach Palästina/Israel und in die USA. Über 20 Verwandte endetenim KZ.

Herausgebern und Autoren ist zu danken für ein Buch der Vereh-rung und Bewunderung, das gleichwohl nicht idealisiert, sondernauch von Schwächen und Grenzen spricht. Es zeigt die kaum vor-stellbare Bandbreite von Steinitz’ fachlichen und wissenschaftspoli-tischen Aktivitäten. Mit Recht meinen die Herausgeber im Vorwort,daß sich das bewegte Leben des deutschen Bildungsbürgers und jü-dischen Kommunisten wie eine Fallstudie von besonderem Reiz zurWissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert ausnimmt.

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Der Workshop wurde gemeinsam von »Helle Panke«, Rosa-Luxem-burg-Stiftung, Redaktion Sozialismus und WISSENTransfer vorbe-reitet und durchgeführt. Er fand am 10. Dezember 2005 in Berlin imRahmen der Veranstaltungsreihe – Gesellschaftspolitische Foren –statt.

Der Workshop stieß auf starkes Interesse, das sich in der Teil-nahme von über 70 Personen und in der lebhaften, teilweise rechtkontroversen Diskussion äußerte. Drei Komplexe wurden behandelt: • In der Stagnationsfalle – Kapitalismus in der langen Frist

und die Aktualität von Keynes, mit einem Einführungsvortragvon Karl Georg Zinn und Beiträgen von Harry Nickund Klaus Steinitz

• Ungleichheit, Unsicherheit, Risiken – Die Kostenentfesselter Finanzmärkte, mit einem Einführungsvortragvon Jörg Huffschmid

• Wege aus der Stagnation – Alternativen der Wirtschafts-,Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, mit einemEinführungsvortrag von Joachim Bischoff.Es erwies sich als vorteilhaft, dass die einleitenden Vorträge prob-

lemorientiert und zeitlich konzentriert vorgetragen wurden, so dassmehr als die Hälfte der Zeit für die Diskussion zur Verfügung stand.

Vorträge und Diskussion gaben den Teilnehmern Anregungen fürihre Arbeit und vor allem Stoff für weitere Diskussionen und auchfür weitere Veranstaltungen zur Vertiefung der diskutierten Themen,speziell der mit der Bedürfnisentwicklung und Sättigungstendenzenverbundenen Fragen.

Die aufgeworfenen Probleme sind wichtig für den weiteren in-haltlichen Klärungsprozess innerhalb der Linken, insbesondere zurFrage, auf welche wirtschaftlichen Bedingungen und Probleme siesich langfristig einstellen müssen, welche Art Alternativen zur neo-liberalen Politik benötigt werden, und inwieweit das Studium vonKeynes dabei helfen kann. In der Diskussion wurde auch deutlich,dass sich noch heute die unterschiedlichen Theorietraditionen derost- und der westdeutschen Linken bemerkbar machen und nicht sel-ten dazu führen, dass Missverständnisse bei der Verwendung be-stimmter Begriffe entstehen und aneinander vorbei geredet wird.

Im Vordergrund des Vortrages von Karl Georg Zinn zum erstenKomplex stand die Frage, inwieweit die langfristige wirtschaftlicheEntwicklung des Kapitalismus in den Industrieländern seit etwa den1970er Jahren durch Stagnationstendenzen gekennzeichnet wird, die

Klaus Steinitz – Jg. 1930,Prof. Dr., Wirtschaftswissen-schaftler, Vorsitzender vonHelle Panke e.V.

KLAUS STEINITZ

In der StagnationsfallePerspektiven kapitalistischer Entwicklung

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auch und noch verstärkt für die Zukunft bestimmend sein werden,wie diese Tendenzen in den Arbeiten von Keynes begründet werdenund welche grundlegenden Konsequenzen Keynes für wirtschafts-politische Antworten aus der langfristigen Tendenz der Sättigungvon Bedürfnissen und der Stagnation zog.

Stagnation in diesem Zusammenhang wurde von Zinn als einelang anhaltende, d. h. über mehrere Konjunkturzyklen hinweg fest-stellbare Absenkung der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts(BIP) unter das gesamtwirtschaftliche Wachstum der Arbeitsproduk-tivität verstanden. Es handelt sich somit um ein Trendgeschehen. DieBeschäftigungsschwelle vom Wachstum wird im Trend nicht mehrerreicht, so dass es zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit kommt.Hinsichtlich den Wirkungen von Krise und Stagnation hob Zinneinen entscheidenden Unterschied z. B. zur Weltwirtschaftskrise1929/33 hervor: Infolge der Globalisierungspolitik wurden dieFolgen der Krise für die Kapitalverwertung nicht nur entschärft, son-dern es wurden sogar günstigere Bedingungen für die Gewinnerzie-lung geschaffen, als sie vor Eintritt in die Stagnationsphase bestan-den. Diese Feststellung wurde in der Diskussion von Stefan Krügerrelativiert, indem er darauf hinwies, dass empirische Analysen zurEntwicklung der Profitrate in der letzten Zeit keine signifikante Stei-gerung feststellen lassen. Charakteristisch sei eine zunehmende Dif-ferenzierung der Renditen zwischen den großen, weltmarktorientier-ten Kapitalgesellschaften mit hohen und steil ansteigenden Renditenund der Masse der kleinen und mittleren Unternehmen. Zinn be-tonte, dass wesentliche Folgen der dauerhaften Wachstumsabschwä-chung in einem verschärften Wettbewerb mit einer Verschiebungvom Wachstums- zum Verdrängungswettbewerb sowie in erheblichverstärkter Umverteilung von unten nach oben bestehen.

Einen zentralen Platz nahm bei Zinn die Begründung der lang-fristigen Stagnation durch Keynes im Zusammenhang mit Sätti-gungsprozessen ein. Er hob dabei hervor, dass das keynesscheTheoriegebäude nicht im Widerspruch zur marxschen Überakkumu-lationstheorie steht, sondern die Krisen hervorrufenden Prozesseanders gewichtet, indem die Nachfrageseite in wohlhabenden kapi-talistischen Gesellschaften als eigenständige Einflussgröße der Kri-senentstehung gesehen wird. Es bedeutet für die Massennachfrageeinen entscheidenden Unterschied, ob die Entwicklung von einemArmutsniveau der Gesellschaft ausgeht oder bereits ein hohes Wohl-standsniveau erreicht wurde, an dem ein erheblicher Teil der Gesell-schaft teil hat. Die Eigenständigkeit der Nachfrage im Krisenprozesssteht nicht im Widerspruch zu Marx’ Sichtweise, dass Nachfrage-probleme erst infolge von überakkumulationstheoretisch erklärbarenStörungen des Produktionsprozesses auftreten, d.h. Zirkulation undDistribution von der Produktion her bestimmt seien.

Relative Sättigung von Bedürfnissen betrachtet Zinn als auslösen-des Moment der Stagnation und zugleich als ihre langfristig wirk-same Determinante. Er hebt dabei hervor, dass relative Sättigung alsErklärungsgrund für Massenarbeitslosigkeit in dem Maße in denHintergrund tritt, wie sich infolge der sättigungsbedingten (primä-ren) Wachstumsabschwächung Entlassungen, Verluste an Massen-kaufkraft und dadurch bedingte weitere Nachfragereduktion (und

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Abnahme der nachfrageinduzierten Investitionen) zu einer Abwärts-spirale kombinieren. Zinn hob drei wirtschaftspolitische Maßnah-menbündel hervor, die Keynes für notwendig ansah, um Vollbe-schäftigung auch unter Bedingungen der Stagnation zu erreichen.Sie zielen im Kern auf andere Verteilungsstrukturen:

1. Ausweitung des »sinnvollen« Konsums und Absenkung dervolkswirtschaftlichen Sparquote durch Einkommens- bzw. Kauf-kraftnivellierung im Privatsektor.

2. Umstellung der Ausgabenstruktur zugunsten der öffentlichenLeistungen. Dies erfordert eine höhere Staats- bzw. Steuerquote –etwa im Sinn des Wagnerschen Gesetzes.

3. Arbeitszeitverkürzungen in verschiedenen Formen, also Um-verteilung von Arbeit.

Keynes’ Politikempfehlungen wurden jedoch nur vereinzelt, inwenigen Ländern – beispielsweise in Schweden – und auch dort nurteilweise umgesetzt.

In seinem Beitrag legte Harry Nick seine Auffassung zur Bedürf-nisentwicklung dar und polemisierte gegen die von Zinn begründe-ten Vorstellungen der Bedürfnissättigung und der darauf beruhendenlangfristigen Tendenz der wirtschaftlichen Stagnation im gegenwär-tigen Kapitalismus. Nick ging davon aus, dass die These von derfortschreitenden Sättigung menschlicher Bedürfnisse das Schlüssel-argument für die Ablehnung des Wirtschaftswachstums sei und legtedie Hauptgründe dafür dar, dass von einer solchen fortschreitendenSättigung menschlicher Bedürfnisse keine Rede sein könne.

Erstens werden selbst elementare Bedürfnisse der Mehrheit derWeltbevölkerung, zu geringerem Teil auch in den reichen Ländern,unzureichend befriedigt. Es haben in Deutschland nicht fast alle vonfast allem genug. Und »fast alle« sind eben nicht »alle«, wie es einegerechte Gesellschaft verlangt.

Zweitens müssen die notwendigen Trendwenden vornehmlichdurch Befriedigung neuer Bedürfnisse mit neuen Arbeitsfeldern be-wältigt werden, durch Umstellung der Ressourcenlagen, durch neueDimensionen in der Nutzung geistiger Ressourcen und durch fort-schreitende Umstellung der Stoff- und Energiequellen auf nach-wachsende und solare Quellen.

Drittens erweitert technischer Fortschritt die Bedürfnishorizonte;latente Bedürfnisse, die im Reich der Phantasie schlummern, werdendurch ihn in den Bereich des real Möglichen gerückt.

In der Diskussion setzte sich Norbert Reuter mit den Thesen vonNick zur Frage der Bedürfnissättigung und Bedürfnisentwicklungsowie mit seiner Interpretation der Auffassungen von Keynes undZinn auseinander. Ein grundsätzliches Missverständnis liegt vor,wenn der keynesschen Theorie eine »Wende zum Weniger« unter-stellt wird. Demgegenüber lässt sich die keynessche Lehre alseine »Theorie des Genug« charakterisieren: Aufgrund einer nachlas-senden Konsumdynamik, die hinter den Produktionsmöglichkeitenzurück bleibt, ergibt sich ein Outputüberschuss. Sättigung bedeutetnicht – zumindest nicht notwendigerweise – eine Obergrenze im Out-put, sondern eine größer werdende Kluft zwischen Produktions- undAbsatzmöglichkeiten. Keynes geht nicht von einer absoluten, son-dern immer nur von einer relativen Sättigung aus, die einen Anstieg

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der Produktion, ein Wachstum, keineswegs ausschließt. Entschei-dend ist die zunehmende Kluft zwischen Produktions- undAbsatzmöglichkeiten. Der Outputüberschuss kann für eine Über-gangsphase durch Anreize zum vermehrten privaten Konsum, zuvermehrter privater Investitionstätigkeit und durch vermehrte öffent-liche Nachfrage absorbiert werden. Langfristig sah Keynes aberdie Notwendigkeit einer drastischen Arbeitszeitverkürzung auf die15-Stunden-Woche. Bei Keynes gibt es keinerlei Tendenzen, dasWirtschaftswachstum durch politische Eingriffe zu bremsen. SeineThese war, dass das Wirtschaftswachstum im Zuge der kapitalisti-schen Entwicklung sukzessive und über Generationen hinweg aus-läuft. Die Diskussion müsse insbesondere dazu fortgeführt werden,ob und inwieweit, im Gegensatz zu den Annahmen von Keynes, eineWirtschaftspolitik im Kapitalismus oder im Sozialismus denkbar sei,die dauerhaft, ad infinitum, Wachstum ermöglicht.

In einem weiteren Beitrag zum ersten Komplex beschäftigte sichKlaus Steinitz mit dem Spannungsverhältnis von Wachstum undnachhaltiger Entwicklung. Er hob die Notwendigkeit hervor, bei derDiskussion der langfristigen Stagnationstendenzen stärker die mitden Naturressourcen und den Umweltbedingungen verbundenenAngebotsfaktoren zu beachten. Mit der Länge der betrachteten Zeit-räume wird der Einfluss der hiermit verbundenen Faktoren, insbe-sondere der Energie und anderen Rohstoffe sowie der umwelt-schädlichen Emissionen auf das Wachstum spürbar zunehmen. DerEinfluss der Lohnstückkosten und Energiestückkosten wird sichweiter in Richtung eines höheren Gewichts der letzteren verschie-ben. Bei der Bewertung der Wachstumsperspektiven muss beachtetwerden, dass die Konflikte zwischen Wachstum und Umwelt im letz-ten Drittel des vergangenen Jahrhunderts eine neue Qualität und Di-mension erreicht haben.

Im Zusammenhang mit den von Zinn begründeten langfristigenTendenzen der Sättigung und der wirtschaftlichen Stagnation gewin-nen Probleme eines langfristigen Übergangs zu einem neuen Typ derWirtschaftsentwicklung an Bedeutung, der in den Industrieländernim Wesentlichen ohne weiteres materiell-stoffliches Wachstum eineVerbesserung der Lebensqualität, die Verwirklichung des Rechts aufexistenzsichernde Arbeit und soziale Sicherheit ermöglicht. DasGrundproblem in den Beziehungen zwischen Wachstum und ökolo-gischer Nachhaltigkeit ist nicht das Wachstumstempo, sondern derInhalt, die Qualität und Struktur des Wachstums und des gesamtenReproduktionsprozesses. Vorrangig geht es um Innovationen, Effizi-enzsteigerung, Strukturveränderungen und konsequentere Orientie-rung an den Bedürfnissen der Menschen.

In seinem Vortrag zum zweiten Komplex beschäftigte sich JörgHuffschmid mit den Problemen und verheerenden Wirkungen ent-fesselter Finanzmärkte. Er charakterisierte insbesondere die auf siezurückgehenden Veränderungen im Wirtschaftsgeschehen: (1) ihredestabilisierenden und krisenverschärfenden Wirkungen auf diewirtschaftliche Entwicklung vor allem von Ländern der DrittenWelt, (2) die negativen Folgen der mit der Dominanz des Shareholder-Value verbundenen Orientierung auf kurzfristig zu erzielende maxi-male Gewinne und Aktienkurse ohne Rücksicht auf die langfristigen

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Perspektiven der Unternehmen und der Belegschaften sowie (3) dieNutzung ihrer ökonomischen Macht, um die Politik ihren Interessenunterzuordnen und entsprechende Regelungen durchzusetzen. Heutewird die frühere gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Wirtschaftzunehmend von der einseitigen Durchsetzung der Interessen derKonzerne und Finanzinvestoren gegenüber Staat und Gesellschaftabgelöst nach der Devise, entweder ihr unterstützt uns, so wie wirdas für nötig halten – Steuerbegünstigung, Deregulierung des Ar-beitsmarkts, Senkung der Lohnnebenkosten – oder wir gehen wegund ihr geht unter.

Huffschmid wies nach, dass Staat und Gesellschaft nicht hilflosder Macht und Willkür der liberalisierten internationalen Finanz-märkte ausgeliefert sind. Tobin Steuer, Kapitalverkehrskontrollen,die im EU Vertrag ausdrücklich zugelassen sind, die Erhebung einerSteuer bei Unternehmensverlagerungen ins Ausland (»Verlagerungs-steuer«) u.a. Maßnahmen zeigen bisher nicht genutzte Möglichkei-ten der Nationalstaaten und der EU, den verheerenden Wirkungender Finanzmärkte etwas entgegenzusetzen.

In der lebhaften Diskussion ging es u. a. um die Spielräume natio-naler Wirtschaftspolitik, um die Frage nach der Herausbildung einerinternationalen Durchschnittsprofitrate, um die ökonomische Cha-rakterisierung des zeitweise sprunghaften Anstiegs der Aktienkurseund um die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse als Vo-raussetzung, um Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärktedurchsetzen zu können. Huffschmid hob als übergreifende Aufgabehervor, dass es gelte, durch eine den Binnenmarkt und die Schaffungvon Arbeitsplätzen stärkende Verteilungs- und Arbeitszeitpolitik dieBlockierung des Wirtschaftswachstums aufzubrechen. Nach seinerMeinung gebe es keinen internationalen Ausgleich der Profitraten zueiner Durchschnittsprofitrate. Der beträchtliche Anstieg der Aktien-kurse, ihre Abkopplung von den zugrunde liegenden realen Vermö-genswerten, sei Ausdruck dafür, dass diese einer stark inflationärenEntwicklung unterliegen.

Zum dritten Komplex des Workshops hielt Joachim Bischoff deneinleitenden Vortrag. Bei der Erörterung von Wegen aus der Stagna-tion sollten die von Keynes begründeten drei Maßnahmenkomplexe,die im Vortrag von Zinn genannt wurden, im Vordergrund stehen.Sie müssten noch durch einen vierten ergänzt werden, die Regulie-rung der Finanzmärkte und der Vermögenswerte.

Bischoff beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der Problematikeiner relativen Erfolglosigkeit von Alternativen, obgleich es einelange Tradition der Ausarbeitung alternativer wirtschaftspolitischerVorschläge gibt. So beging die Arbeitsgruppe Alternative Wirt-schaftspolitik, die jedes Jahr ein alternatives wirtschaftspolitischesMemorandum vorlegt, vor kurzem ihr 30-jähriges Jubiläum. Um ausdieser Situation herauszukommen, ist das Aufbrechen der neolibera-len Hegemonie entscheidend.

Bei den gegenwärtigen Problemen des Kapitalismus und speziellder wirtschaftlichen Stagnation geht es nicht um Alterserscheinun-gen. Die Menschen leiden nach seiner Meinung nicht an einem Al-tersrheumatismus, sondern darunter, dass sie mit der Schnelligkeitder Veränderungen nicht fertig werden. Das ist auch darauf zurück-

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zuführen, dass der Blick auf die tektonischen Veränderungen, diesich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt haben, noch nicht klargenug ist. Unter den Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismusführt das hohe Produktivitätsniveau, die Ökonomie des Reichtumsund des relativen Überflusses nicht zu einem allgemeinen Wohlstandund hohen Niveau der Bedürfnisbefriedigung aller Menschen, son-dern zu einer zunehmenden Kluft zwischen den gewaltigen Produk-tivitäts- und Produktionspotenzialen und ihrer Nutzung im Interesseder Menschen.

In der Diskussion standen insbesondere folgende Fragen im Vor-dergrund: der steile Anstieg der Vermögen und der Vermögensein-kommen trotz geringen Wirtschaftswachstums, die außerordentlichhohe Vermögenskonzentration, die zunehmende Polarisation zwi-schen Reichen und Armen sowie der Abbau der Rechte der abhängigBeschäftigten bei der Mitbestimmung über Fragen, die über ihrezukünftige Arbeit und ihr Leben entscheiden. Daraus wurde abge-leitet, dass Forderungen nach einer anderen Verteilung und Umver-teilung, nach Wirtschaftsdemokratie sowie nach einer dem Markt-radikalismus entgegengesetzten gesellschaftlichen Regulierung imVordergrund der Auseinandersetzungen mit der gegenwärtigen neo-liberalen Politik stehen müssen. Bischoff hob hervor, dass es daraufankommt, die soziale Sicherheit eng mit den Forderungen nach ei-ner neuen Qualität und Dimension ökonomischer Regulierung zuverknüpfen. Wenn es nicht gelingt, Grundrichtungen der ökonomi-schen Entwicklung, der Verteilung und Verwendung des Produzier-ten zu regulieren, besteht die reale Gefahr der Zerstörung der Ge-sellschaft.

Der Workshop machte deutlich, dass es einen starken Diskus-sionsbedarf zu den Fragen gibt, die im Zentrum der Vorträge stan-den. Es zeigte sich auch, dass es immer wieder notwendig ist, dieverwendeten Begriffe eindeutig zu bestimmen, um soweit wie mög-lich Missverständnisse und unnötige Polemik zu vermeiden. Das be-trifft besonders solche Begriffe, die in sich widersprüchlich sindoder auch unterschiedlich verwendet werden, wie Bedürfnis und Be-darf, Sättigung, Überfluss, Stagnation. Es trifft auch auf den Wachs-tumsbegriff zu.

Bei der Fortführung der Diskussionen um diese Fragen müssen dieProbleme der Umwelt und der ökologischen Nachhaltigkeit, die glo-balen Dimensionen der wirtschaftlichen Entwicklung, die Nord-SüdProblematik sowie vor allem auch die Probleme, die die Akteure fürnotwendige Veränderungen betreffen, stärker berücksichtigt werden.

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Montag für Montag erklärt unten links auf der Seite 1 des Tagesspiegelsin der Rubrik »Vier Fragen an Josef Joffe – Was macht die Welt?« Jo-sef Joffe die Welt. Das ist sehr praktisch. Wir wissen dann nämlich häu-fig auch gleich, wie die Zeit, deren Herausgeber Josef Joffe ist, die Weltsieht und müssen uns nicht mit dem dickleibigen und lesesperrigen Or-gan voller Ballaststoffe abschleppen. Und Geld sparen wir außerdem.Letztens nun wurde Josef Joffe gefragt, wer für das deutsche Image imAusland wichtiger sei – Angela Merkel oder Franz Beckenbauer. Er ent-schied sich, es war zu erwarten, für Angela Merkel und meint unter an-derem, die Nationalmannschaft benötige »dasselbe Rezept wie dieDeutschland AG: längere Arbeitszeiten, Umstrukturierung, mehr Lei-stungswillen ...« Wahrlich, ein Joffe am Montag ersetzt Die Zeit amSonntag.

Auch auf die Vogelgrippe scheint kein Verlaß zu sein. Hatte eszunächst so ausgesehen, als entwickele sie sich schnell und flächen-deckend, ist es momentan – obwohl dazu wahrscheinlich noch längstnicht alle Messen gesungen sein werden – etwas ruhiger um sie gewor-den. Nein, nicht daß ich uns allen diese Grippe an den Hals gewünschthätte – soweit geht die Liebe denn doch nicht! –; aber ich hatte mir aus-gemalt, daß der H5N1-Virus vielleicht die Fußballweltmeisterschaftstoppen könnte. Und was muß ich heute lesen?

»Die Welternährungsorganisation FAO erwartet in den kommendenWochen eine Entspannung der Vogelgrippen-Lage in Europa. ›BeiTemperaturen um 20 Grad Celsius beträgt die Überlebensdauer vonH5N1 höchstens einen, bei Kälte bis zu 30 Tage‹, sagte der für die Tier-seuche zuständige FAO-Direktor Samuel Jutzi.« Kurzum: Es scheint,wir müssen jetzt anfangen, darüber nachzudenken, ob wir unser Au-

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Wolfgang Sabath – Jg. 1937,Journalist und Autor, Berlin.

WOLFGANG SABATH

Festplatte.Die Wochen im Rückstau

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genmerk in Sachen Vorsorge ab jetzt weniger auf die Vogelgrippe alsauf die Weltmeisterschaft richten sollten. Gegen Fußballfans helfennatürlich weder Seuchenmatten noch Atemschutzmasken. Auch gegendie DFB-Fußballfunktionäre scheint kein Kraut gewachsen zu sein; daswurde mir erst richtig klar, als sich neulich im Fernsehen doch tatsäch-lich einer von denen hinstellte und befand, die Fußballweltmeisterschaftsei eines der wichtigsten Ereignisse der letzten 50 Jahre in Deutschland.

Natürlich gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen Vogel-grippe und Weltmeisterschaft: An Fußball stirbt man nicht. Das ist janicht ganz unwichtig. Doch der Allmächtige (so blasphemisch wie jeneFußballer, die meinen, sich bei einem von ihnen geschossenen Tor im-mer öffentlich bekreuzigen zu müssen, kann ich allemal sein ...!), derAllmächtige also wird es vielleicht richten: Deutschland scheidet aus.Dabei hätte ich eigentlich gar nichts dagegen, wenn die deutsche Na-tionalmannschaft gewönne (ich bitte, auf den gepflegten Konjunktiv zuachten!), wenn sie doch vorab nur nicht so ein großes Maul hätten ...

Es gibt Sportarten, da gehören Großmäuligkeiten sozusagen zum of-fiziellen Programm. Zum Beispiel im Boxen, dort beginnen die Wett-kämpfe immer mit Theaterdonner und tarzanischem Andiebrustgetrom-mel. Und jeder weiß, daß das alles einstudiert und vor allem vomBoxmarketing inszeniert ist. Es ist – mehr oder weniger – ein etwas un-bedarfter Spaß. Doch richtig komisch wird es immer erst dann, wennaus dem Spaß Ernst wird, wenn uns die Unbedarftheit als gesellschaft-liche Elite verkauft werden soll, die sich auf roten Teppichen fläzt, inTalkshows sitzt und nicht nur den Boulevard- sondern auch den soge-gannten Qualitätszeitungen ganzseitige Interviews gibt. Zu ihrer undzur Lage der Nation. Der Boxer Witali Klitschko will jetzt Oberbürger-meister von Kiew werden. Und das Komische daran ist, daß das kaumeiner komisch findet. Ich jedenfalls fand dazu nichts in den Zeitungen.Dafür aber die Nachricht, daß der Boxer Mitte Februar in Umfragen bei19 Prozent lag. Aber das müssen die Ukrainer selber wissen. Zu verlie-ren haben sie ohnehin kaum etwas,

In Deutschland war im Berichtszeitraum natürlich nicht nur von Fuß-ball die Rede, sondern auch von der Föderalismusreform. Ich muß al-lerdings zugeben, daß mich die Artikel, Reden und Statements zu die-sem Thema vorwiegend hilflos sehen. Ich vermochte bislang nicht einmich überzeugendes Argument für das hartnäckige Festhalten an derKleinstaaterei zum Beispiel im Bildungsbereich auszumachen. Diedafür zuständige Bundesministerin Schavan darf als veritable Fehlbe-setzung gelten, sie agiert blaß und zögerlich; und da offensichtlich bei-spielsweise auch in der ARD immer mehr Große Koalition stattfindet,kommt die Ministerin dort relativ ungeschoren davon; geradezu ein Pa-radebeispiel dafür war neulich der TV-»Bericht aus Berlin« mit ThomasRoth (dessen Habitus immer russisch-großfürstlicher wird ...). Für einderartiges Nichtinsistieren, wie von ihm gepflegt, würde jedem Prakti-kanten die Rote Karte gezeigt. Wer’s nicht glauben will, klicke www.ard.de an und überzeuge sich.

Ach, ja, ich habe eine Gratulation nachzutragen: Mit stattlicher PDS-Hilfe ist in Dresden das kommunale Wohneigentum verscherbelt wor-den, die deutschlandweiten Reaktionen: durchgehend negativ. Ichgratuliere den Dresdner PDSlern, die sich nicht haben von Sozialge-quatsche beirren lassen. Lieber schlecht als gar nicht vorkommen.

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David Harvey: Der neueImperialismus, VSA-VerlagHamburg 2005, 236 S. (22,80 €)

»Der neue Imperialismus« nennt der VSA-Ver-lag Hamburg eine von ihm 2005 im Nachdruckveröffentlichte Vorlesungsreihe, die sogenann-ten Clarendon-Vorträge, die Professor DavidHarvey unmittelbar im Vorfeld des Beginns desjüngsten Irakkrieges 2003 an der UniversitätOxford, genauer an der School of Geographyand the Environment, gehalten hat.

Der gebürtige Brite Harvey, der als jungerMann noch die letzten Zuckungen des BritishEmpire erlebte, erzählt in einer für die deutscheLinke unvorstellbar freien, unverkrampften undunzensierten Sprache von imperialer internatio-naler Politik, deren Protagonist für ihn die Ver-einigten Staaten sind. Der Fall des britischenImperiums, der Aufstieg des Hegemons USAund sein stetig unverhohleneres Streben nachimperialer Macht, also erlebter Niedergang undWerden von Imperien, schließlich die Endlich-keit von Machtkonstellationen, scheinen Harveydie Möglichkeit zu schenken, wenig verbissenund dennoch präzise in der Analyse dessen vor-zugehen, was er als den »neuen« Imperialismusbezeichnet.

David Harvey, Professor für Anthropologieam Graduate Center der City University of NewYork, hat sich mit den Clarendon-Vorträgen dasZiel gestellt, den Zustand des globalen Kapita-lismus zu betrachten und dabei zu prüfen, wel-che Rolle dabei einem möglicherweise »neuen«Imperialismus zukommt. Seinen theoretischenZugang bezeichnet er als historisch-geographi-schen Materialismus. Leicht lässt sich darin diePerspektive des Marxisten erkennen, der die in-ternationalen Beziehungen unter geostrategi-schen Gesichtspunkten analysiert und dabeiauch auf in Verruf geratene Kategorien und Be-grifflichkeiten nicht verzichten möchte. Wohleher keine postmoderne Analysemethode. Viel-leicht gerade deshalb jedoch erklärungsmächtig.

Natürlich leugnen die technologisch ent-wickelten postmodernen Demokratien, dassihre Außenpolitik imperiale Züge trägt. Natür-lich trägt das Wort Imperialismus einen bitterenBeigeschmack, zumindest für die bürgerlicheGesellschaft. Den eigenen Wohlstand auch ausder Unterdrückung anderer Länder zu erklären,

bedeutete für eine Freiheit, Gleichheit, Brüder-lichkeit oder ähnliches postulierende Gemein-schaft, nach Alternativen suchen zu müssenund sich und den eigenen Wohlstand zu hinter-fragen. Um diese Fragen nicht stellen zu müs-sen und die Instrumente derjenigen, die dieseFragen weiterhin stellen, unnutzbar zu machen,werden wissenschaftliche Kategorien und Be-grifflichkeiten einfach für »ideologisch« – einwirklich schlimmes Schimpfwort – erklärt oderals veraltet, als »von gestern« – und somit un-brauchbar – dargestellt.

Harvey kümmert dies nicht. Und es brauchtihn auch nicht zu kümmern. Denn er führt etli-che Zitate an, in denen Apologeten und Prota-gonisten des »neuen« Imperialismus ihre Poli-tik mit genau den Begriffen erklären, die ausdem Munde oder der Feder ihrer Kritiker an-geblich nur denunziatorisch gebraucht werden.Hier wird gesprochen von »aufgeklärter Ver-waltung aus dem Ausland«, dort vom »Über-gang von der inoffiziellen zur offiziellen Impe-rialmacht«. Hier wird der Ausbau des »Empirelite« hin zu einer wirklichen »Pax Americana«gefordert (S. 11-12).

Solche Überlegungen sind nicht neu. Wasfehlte, war der Anlass, sie in die Tat umsetzen zukönnen und – man möchte aus der Perspektiveder Neokonservativen in der Bush-Administra-tion hinzufügen: endlich – den US-amerikani-schen Herrschafts- und Führungsanspruch aufder Welt verbreiten. Auch militärisch. Den idea-len Anlaß bot der terroristische Angriff am11. September 2001. Der dann proklamierte»Krieg gegen den Terror« war die eigentlicheHerrschafterklärung. Die Erhebung des Impe-riums. Wer herrschen will, muß über die not-wendigen Ressourcen verfügen. Geostrategischgesprochen: »Wer immer den Mittleren Ostenkontrolliert, kontrolliert den globalen Ölhahn,und wer immer den globalen Ölhahn kontrol-liert, kann zumindest in naher Zukunft dieWeltwirtschaft kontrollieren« (S. 26). Der11. September und die Reaktion der Bush-Ad-ministration kennzeichnen den entscheidendenPolitikwechsel vom Einsatz vornehmlich von»soft powers« (IWF, Weltbank, auch die UNO)hin zu »hard powers«: offenen und unilateralenmilitärischen Aktionen. Die USA im geopoliti-schen Vorwärtsdrang (S. 30), um ihre Vormacht-stellung zu verteidigen. Denn: »Wie könnten dieUSA […] Konkurrenz besser abwehren und ihre

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eigene hegemoniale Position sichern, als indemsie den Preis, die Bedingungen und die Vertei-lung der wirtschaftlichen Schlüsselressourcekontrollieren, auf die diese Konkurrenten ange-wiesen sind?« (S. 32).

Durch imperialistische Politik, die sich beiHarvey zusammensetzt aus zwei Logiken derMacht: der territorialen, politischen und der ka-pitalistischen Logik der Macht. Beide Logikenbefinden sich in einer dialektischen Beziehung,die laut Harvey die Grundlage für eine Analysedes kapitalistischen Imperialismus bildet (S. 37).Im Grunde genommen bedürfen beide Logikeneinander und behindern sich gleichzeitig: dieexpansive, nicht raumgebundene Logik akku-mulierten Kapitals, das nach weltweiter Verwer-tung ruft, und die raumgebundene Logik politi-scher Macht, die dem Kapital den notwendigenRahmen zur Verfügung stellen muss und gleich-zeitig darauf angewiesen ist, den Wohlstand andas eigene Territorium zu koppeln.

Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert. Ka-pitel 1 (Es geht nur ums Öl) liefert den geostra-tegischen Zugang. Kapitel 2 (Wie Amerikas Machtwuchs) stellt die historische Entwicklung derHegemonie der Vereinigten Staaten unter Rück-griff auf die territoriale Logik der Macht dar. Ka-pitel 3 (Die Unterjochung des Kapitals) unter-sucht die Funktionsweisen der kapitalistischenLogik der Macht, ist mithin eine Analyse desmodernen Kapitalismus. Kapitel 4 (Akkumula-tion durch Enteignung) knüpft an die Analysedes dritten Kapitels an und beleuchtet die Akku-mulationsprozesse sowohl aus historischer Sicht(Luxemburg, Marx) als auch in der Gegenwart.Kapitel 5 (Vom Konsens zum Zwang) schließ-lich skizziert den Wechsel der US-amerikani-schen Außenpolitik unter den Vorzeichen desNeokonservatismus, des an konservative Wertegebundenen aggressiven Neoliberalismus.

Das Ergebnis einer solchen Politik, das sichu. a. im Irak manifestiert, wurde vom LondonerEconomist als der »Traum jedes Kapitalisten«bezeichnet. Der Fundamentalismus des freienMarktes kennzeichnet die Politik des »neuen«Imperialismus.

Harvey benennt dies in Deutlichkeit underklärt es unter Zuhilfenahme tiefgreifenderAnalyse. Ein komplexes Thema, ein brillanterAnalytiker, ein in sich komplexes Buch: Har-vey sollte man gelesen haben.

MARTIN SCHIRDEWAN

Wolfgang Stegemann:Fürstenberg/Havel – Ravensbrück.Beiträge zur Kulturgeschichteeiner Region zwischen Branden-burg und Mecklenburg, Bd. 1:Von den Anfängen bis zum Beginndes 20. Jh., Hentrich & HentrichTeetz 2000, 404 S. Ders./Wolfgang Jacobeit (Hrsg.):Fürstenberg/Havel – Beiträge zurAlltags- und Sozialgeschichteeiner Region zwischen Branden-burg und Mecklenburg, Bd. 2:Im Wechsel der Machtsystemedes 20. Jh., Hentrich & HentrichTeetz 2004, 566 S. (23 €).

Eine Kleinstadt mit einer fast 1000seitigen Do-kumentation ihrer Geschichte vom Jungpaläo-lithikum bis zum Anfang dieses Jahrtausendsmit dem »Versuch einer Zukunftsvision« – wogibt es das? In Fürstenberg/Havel samt OrtsteilRavensbrück (und auch diese Integration isteine historische Qualifikation)!

»Für den Nachweis menschlicher Besiedlungunserer Gegend setzt uns das Ende der letztenEiszeit die am weitesten zurückliegende zeitli-che Grenze«, beginnt Wolfgang Stegemann sei-nen Band 1 der großen Fürstenberger Historie.Sorgfältig zählt er »eine beidseitig retuschierteasymmetrische Rückenspitze« aus Feuerstein,ein einseitig retuschiertes Gerät dieser Art undeine »Stielspitze« aus dem genannten Materialauf, die als Fundstücke belegen, »dass das Talder Steinhavel bereits vor ca. 10 000 Jahrenvon steinzeitlichen Rentierjägern durchstreiftwurde«. Die Entdecker von Funden werden ge-nannt, und auch das macht dieses opus magnumvon der Eiszeit bis zur Zukunft zu einer koope-rativen Leistung, wenn die Herausgeber auchdie Hauptlast tragen und Stegemann diese fürden ersten Band allein. Hier haben sich die Pro-fessionalität des Historikers und die Professio-nalität eines Ehrenamtlers (und Enthusiasten)glücklich getroffen: Mit der Begeisterung undNachhaltigkeit des für die Geschichte seiner Re-gion Engagierten in die Zunft der Historiker!

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Beide Herausgeber weisen auf die Grenzen ih-rer Arbeitsfähigkeit hin: Sie konnten nicht ein-zelnen Archivalien nachgehen; sie haben mitumso mehr Menschen gesprochen und viele fürdie Mitarbeit gewonnen.

Stegemann beschreibt die slawische und deut-sche Besiedlung ebenso wie die FürstenbergerGrafschaft im Mittelalter. Dazu treten Darstel-lungen von lokaler Agrar-, Handwerks- und In-dustriegeschichte. Prägende Persönlichkeitenwerden gewürdigt, darunter der Rektor WilleSchulz (1881-1952), der für viele Lebende nochein Zeitgenosse war. In diesem Band werden dieNamen der jüdischen Fürstenberger aufbewahrtund z. B. auch die der »allhier wohnenden Aus-länder zu Ravensbrück« (1774). Namenslistenin anderen Sachzusammenhängen folgen. DieFlurnamen werden festgehalten und insgesamtmaterielle und ideelle Geschichte, die zusammendie Würde und Bürde einer Stadt ausmachen.

Im zweiten Band kulminiert die Zusammenar-beit der beiden Herausgeber. Am Schluß zählensie dankbar auf einer ganzen Seite die Mitwir-kenden auf, ohne die eine solche Arbeit nicht zudenken wäre. Aus den Schätzen des »Fürsten-berger Anzeigers«, mündlicher und schriftlicherErinnerungen entfaltet sich die Stadt vom Kai-serreich bis in die Bundesrepublik (mit einerdeutschen Familie aus Usbekistan – auf S. 529ein berührendes Gedicht aus der Familie), mitstarken Beiträgen zu 1933/45 und einer selten sokonsequent verfolgten Partizipation am Schick-sal Ravensbrücks, an den Wegen seiner Täterund Opfer nach 1933 und nach 1945, seinerWeiternutzung durch die Rote Armee. Feinarbeitwurde vollbracht, um die Erinnerungen an Be-gegnungen mit den sowjetischen Soldaten (prä-sent in sechsfacher Überzahl zur Bevölkerung)zu bewahren, schlimme, normale, alltägliche,bewegende. Der kleine Aufsatz »Ein Fürstenber-ger Kommunist erzählt«: nichts Weltbewegen-des, vieles sehr bekannt, aber er hat in der Stadtgelebt und ist in ihr gegenwärtig, findet seinenPlatz, muss ihn ja finden in einer historischenDarstellung, die – wie hier – diesen Namen ver-dient.

Stegemann erzählt seine anderen Erfahrun-gen mit der DDR nebst ihren Sicherheitsorga-nen – und vermag als Herausgeber auch diesenBeitrag auszuhalten.

Spannend die jeweiligen Berichte zu den Zei-ten des Machtvakuums nach den einzelnen Sys-

temabbrüchen und das Ringen um die Ravens-brücker Gedenkstätte, um ihren Platz in der Be-völkerung, in der Stadt und einer transparentenGeschichte.

Persönlich hat mich die Spurensicherung aufdem Weg des Olof-Palme-Friedensmarschesvon Ravensbrück nach Sachsenhausen (1987)berührt: Die Teilnahme daran bedeutete für un-seren damals dreizehnjährigen Sohn eine politi-sche Initialzündung, und in diesem Band wer-den über einen solchen subjektiven Eindruckhinaus die historischen und politischen Bedin-gungen eines außerordentlichen Vorgangs ob-jektiviert und für die Nachwelt fixiert. Diese»Heimatkunde« steht in weitgreifenden histori-schen Zusammenhängen und besteht sie. EinGlücksfall!

JENS LANGER

Riccardo Bavaj:Von links gegen Weimar. Linkesantiparlamentarisches Denkenin der Weimarer Republik,J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2005,535 S. (38 €)

Vor über 40 Jahren veröffentlichte Kurt Sont-heimer seine »Studie über antidemokratischesDenken in der Weimarer Republik«. Der kürz-lich verstorbene Politologe setzte sich seiner-zeit hauptsächlich mit den politischen Ideen dernationalistischen Rechten auseinander, die sei-nes Erachtens maßgeblich zum unrühmlichenEnde der ersten deutschen Republik beigetra-gen hatten. An diesem Werk knüpft nun Ric-cardo Bavaj mit seiner Dissertationsschrift an.Er gibt zu bedenken, dass auch die radikaleLinke einen Anteil am Untergang der erstendeutschen Demokratie gehabt habe. DerenIdeenwelt möchte er nun in seiner Gesamtdar-stellung ergründen. Denn bis heute sei »eineübergreifende, um historiographische Objekti-vität bemühte Darstellung des linksextremenDenkens während der Weimarer Republik einzentrales Desiderat der Geschichtswissen-schaft« (S. 16).

In knapp dreißig Kurzkapiteln stellt Bavaj dieunterschiedlichsten Organisationen und Vor-denker der Weimarer Linken vor und versucht,

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so die Forschungslücke zu schließen. Hierbeibeschränkt er sich nicht nur auf die parteipoliti-sche Ebene, sondern legt ebenso einen Schwer-punkt auf das Wirken und Denken linker Intel-lektueller. Dementsprechend betrachtet er nichtnur KPD, USPD oder Leninbund, sondern auchdie Berliner Dada-Gruppe, die MünchenerBohème oder Franz Pfemferts Zeitschrift »DieAktion«. Die politische Spanne der Untersuch-ten reicht von den Bremer Linksradikalen biszu oppositionellen Sozialdemokraten oder – umes an Personen festzumachen – vom Links-kommunisten Karl Korsch bis zum parteilosenIntellektuellen Carl von Ossietzky.

Was diese einzelnen Gruppen und Personenlaut Bavaj einte, war ihre ablehnende Haltunggegenüber dem Weimarer System. Anders alsfür Sontheimer liegt für ihn das Problem dermangelnden Anerkennung der Republik weni-ger im »antidemokratischen« als im stark aus-geprägten »antiparlamentarischen« Denken derRechten und Linken. So gesteht er zwar ein,dass gerade die Linke durchaus über unter-schiedliche demokratische Gesellschaftsent-würfe verfügt habe, diese aber nicht mit derparlamentarischen Demokratie vereinbar gewe-sen seien.

Die antiparlamentarische Haltung sei bei denmeisten vorgestellten Organisationen und Intel-lektuellen schon von Anbeginn der Republikvorhanden gewesen. Bei einigen hätte sie sicherst im Laufe der Zeit entwickelt: »Nicht we-nige Anhänger der sozialistischen Strömungüberschritten 1926/27, bislang von der For-schung kaum wahrgenommen, jene Schwelle,die eine punktuelle Kritik am parlamentari-schen ›System‹ Weimars von prinzipiellem An-tiparlamentarismus schied« (S. 489). Dies gelteinsbesondere für Kurt Tucholsky und Carl vonOssietzky.

In akribischer Kleinarbeit untersucht Bavajauf knapp 500 Seiten die Publikationen und Re-den der verschiedenen Linken. Anhand unzähli-ger Zitate zeigt er deren ablehnende Haltung ge-genüber der Republik auf und kommt zu demSchluß: »Letztlich [...] sollte kaum einer vomlinken antiparlamentarischen Denken zur Wei-marer Zeit so profitieren wie sein schärfsterGegner: Adolf Hitler. Es scheint äußerst zweifel-haft, ja unwahrscheinlich, dass Hitler auch ohnedie nicht intendierte Schützenhilfe der extremenLinken an die Macht gelangt wäre« (S. 497).

An diesem Fazit wird die Problematik des ge-samten Buches deutlich. Bavaj ignoriert konse-quent die Wechselwirkung zwischen Ideen undgesellschaftlichen Entwicklungen. Ohne Frageenthält seine These einen wahren Kern. Tat-sächlich besteht ein Zusammenhang zwischendem Ende von Weimar und der radikalen Lin-ken. Ohne deren Erstarken infolge der Wirt-schaftskrise und ohne die Angst der Eliten voreinem Bürgerkrieg wäre Hitler wahrscheinlichnie Kanzler geworden. Auch die Tatsache, dassdie Linke sich vor allem untereinander bekämpfthat – allen voran die KPD mit ihren Angriffengegen die »Sozialfaschisten« der SPD –, trug zurStärkung der Nationalsozialisten bei. Aber alldiese Fakten ignoriert Bavaj.

Statt dessen geht er von einem abstrakten lin-ken Antiparlamentarismus aus, der die Republikin den Untergang getrieben hätte. Zweifelloskonnten sich die antiparlamentarischen Ideender Linken in der Weimarer Gesellschaft veran-kern. Aber der Frage, warum dies der Fall war,geht Bavaj nicht nach. Symptomatisch hierfürist, dass er dem Maß des gesellschaftlichen Ein-flusses der verschiedenen Linken kaum Beach-tung schenkt. So widmet er beispielsweise dersyndikalistischen Freien Arbeiter-Union (FAU)ein ganzes Kapitel, obwohl er selbst anmerkt,dass sie innerhalb der »politischen Kultur derersten deutschen Demokratie [...] nicht viel mehrals eine sektiererische ›Meinungsinsel‹ bildete«(S. 181). Gleichzeitig sucht man in Bavajs Werkvergeblich nach Bertolt Brecht als einem derprominentesten linken Parlamentarismuskritiker.Hinzu kommt, dass Bavaj die Weimarer Demo-kratie als positives Gegenbild zu den Vorstellun-gen der Linken darstellt, ohne jedoch die Vor-und Nachteile der parlamentarischen Demokratiedarzustellen.

Die Grundlage für Bavajs Überlegungen istdie Totalitarismustheorie. Hierbei tut er so, alssei diese These historisches Allgemeingut undals hätte nicht in den vergangen Jahrzehnten eineheftige Kontroverse hierüber stattgefunden.Eine Auseinandersetzung mit den wichtigstenTotalitarismustheoretikern fehlt völlig. Den To-talitarismusbegriff dennoch als Analyserahmenzu verwenden, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Auch wenn er auf einen reichen Fundus vonQuellen und Sekundärliteratur zurückgreift,läßt Bavaj mehr als einmal Forschungskontro-versen unbeachtet. So geht er beispielsweise in

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dem Kapitel über die KPD unzureichend aufdie »Stalinisierungs«-Debatte ein. Um die Ent-wicklung der Positionen der Kommunisten an-gemessen darzustellen, wäre dies allerdingsnotwendig gewesen. Es ist ein Unterschied, obman davon ausgeht, dass die KPD von ihrenUrsprüngen her »totalitär« gewesen sei (Klaus-Michael Mallmann) oder ob sie erst einenProzess der Stalinisierung durchlaufen musste(Hermann Weber).

Abschließend ist anzumerken, dass etwaskürzere Sätze und weniger Fremdwörter derLesbarkeit des Buches sicher gut getan hätten.Dasselbe gilt für die Häufung wörtlicher Zitate.Aber auch das hätte nicht verhindern können,dass Riccardo Bavaj von seinem Ziel, zuklären, wie »Hitler an die Macht gelangenkonnte, warum die Weimarer Republik nicht zuüberleben vermochte« (S. 16) leider weit ent-fernt geblieben ist.

MARCEL BOIS

Stuart Hall: Ideologie, Identität,Repräsentation. AusgewählteSchriften 4, hrsgg. von JuhaKoivisto und Andreas Merkens,Argument Verlag, Hamburg 2004,236 S. (16,90 €)

Den Herausgebern zufolge steht Stuart Hall alseiner der wichtigsten Begründer von »CulturalStudies« für »eine produktive Unruhe im Den-ken, die sich immer wieder neuen theoretischenund politischen Fragen stellt, die Grenzen über-schreitet und dabei am Anspruch festhält, dasunlösbare Spannungsverhältnis zwischen Theo-rie und Praxis aufrechtzuerhalten«.

Diese kaum versteckte Laudatio direkt zuBeginn wirkt auf die Leserinnen und Leser wieein Versprechen, das die nachfolgenden Textedes Bandes durchgehend einlösen können. Esfinden sich in dieser vierten Ausgabe der »aus-gewählten Schriften« Aufsätze aus den spätenneunziger Jahren ebenso wie Texte, die schonüber zwanzig Jahre alt sind. Interessanterweisesind es aber insbesondere die Texte älteren Da-tums, welche für theorieinteressierte Leserin-nen und Leser mit dem größten Gewinn zu le-sen sind.

In dem Aufsatz »Ideologie und Ökonomie. Mar-xismus ohne Gewähr« (der mittlerweile zu ei-nem Klassiker der Ideologietheorie schlechthingeworden ist, so dass ein Stuart Hall zu Ehrenherausgegebener Sammelband im Titel auf die-sen Text anspielt) diskutiert der Autor auf einerpostmarxistischen Grundlage Probleme undHerausforderungen einer materialistischen Ideo-logietheorie. Der Autor opponiert hier klar ge-gen ökonomistische und reduktionistische Theo-riemodelle auf der einen und gegen eine völligeEntsorgung des Ideologie-Begriffs durch einigepoststrukturalistische Strömungen auf der ande-ren Seite. Insbesondere für die problematischenMarxschen Vorstellungen der »Falschheit« und»Verzerrtheit« von Bewusstseinsformen wirdum eine Neukonzeption gerungen, wobei Hallan Entwürfe des italienischen KP-Gründers An-tonio Gramsci und des französischen Struktura-listen Louis Althusser anknüpft.

Letzterem wiederum gilt ein Großteil desnachfolgenden Aufsatzes. Hall versucht sich amschwierigen Spagat, fruchtbare Aspekte aus denSchriften des marxistischen Strukturalismus auf-zugreifen, ohne allerdings die deterministischenZüge (vor allem aus »Das Kapital lesen«) ein-fließen zu lassen. Trotz aller notwendigen Kritikbetrachtet Hall Althusser als theoretische»Schlüsselfigur« für das Verständnis von Tota-lität und Strukturzusammenhang; unter anderemdessen Einsichten in die Zusammenhänge vonEinheit und Differenz, aber auch die Vorstellungvon Ideologie als einer sozialen Praxis werdenhier diskutiert. Die Relevanz von ideologischenKämpfen veranschaulicht Hall durch die (auto-biographisch untermauerte) Auseinandersetzungum die diversen Konnotationen für das Wort»schwarz«.

Stuart Halls Bemühungen, die MarxschenKategorien einerseits einer kritischen Überprü-fung zu unterziehen, sie aber andererseitszu Gunsten der Erforschungen kultureller Fra-gestellungen nutzbar zu machen, wird an demebenfalls stärker bekannt gewordenen »Kodie-ren/Dekodieren«-Modell deutlich. Der erstmals1977 erschienene Aufsatz bedient sich explizitdes Ansatzes, den Karl Marx in seinen »Grund-rissen zur Kritik der Politischen Ökonomie«entwickelt hatte, um ein kritisches Modell zurWirkung von televisuellen Nachrichten als ei-nem »sinntragenden Diskurs« zu entwerfen.Bis heute von Aktualität dürfte auch Halls

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These sein, dass mit jeder Nachricht bzw. derenVerwertung bevorzugte »Lesearten« transpor-tiert werden, wodurch die politische Dimensiondeutlich wird. An den Text schließt sich ein17 Jahre später protokolliertes Interview an, indem Hall über sein Modell Auskunft gibt. Hier-bei äußert er sich selbst z. T. kritisch über seinedamalige Formulierung und problematisiertzentrale Annahmen derselben.

Ein historisches Repertoir von Repräsenta-tionspraktiken zu untersuchen, ist Halls Bestre-ben in »Das Spektakel des ›Anderen‹«. DiePraxis der Repräsentation ist ihm zufolge im-mer machtverstrickt, da hierbei versucht wird,bestimmte Bedeutungen gegenüber anderen zubevorzugen. Essenziell hierfür sei das Ver-ständnis von »Differenz«. Hall bezieht sich(ausdrücklich selektiv) auf mehrere unterschied-liche Ansätze, um seine Argumentation zu stüt-zen: Die sprachtheoretischen Annahmen vonSaussure und Bakhtin spielen ebenso eine Rollewie die anthropologische Theorie von Levi-Strauss und die Psychoanalyse nach Freud undLacan. Als eine besonders mächtige und – wiedas Beispiel der Begegnungen des »Westens«mit Schwarzafrikanern deutlich macht – für dieBetroffenen verhängnisvolle Repräsentations-variante wird die Praxis der Stereotypisierungdiskutiert. Diese naturalisiert und fixiert Diffe-renzen und ermöglicht die Ausübung von Aus-schluss gegen die »anders« klassifizierten.

Der Band wird abgeschlossen durch einenBeitrag Halls zur Frage des Multikulturalismus.Das Problem wird historisch am Beispiel Groß-britannien ausbuchstabiert, wobei sich Hallkritisch gegen konkurrierende Positionierungenzum Thema sowohl von kommunitaristischerwie auch von liberaler Seite äußert. Nicht zu-letzt die kulturelle Neutralität und Integrations-kraft des liberalen Verfassungsstaates werdenvon ihm in Frage gestellt.

Die Reflexionen von Stuart Hall haben wenigvon ihrer Inspiration und Aktualität verloren,im Gegenteil können – und sollten sie – geradeheute Anstoß sein für eine emanzipatorischeTheoriebildung, die sich mit den Herausforde-rungen von Globalisierung, neoliberaler Durch-dringung der Gesellschaft und Politik und demWiedererstarken nationalistischer Strömungenkonfrontiert sieht.

ALBAN WERNER

Dieter Sauer: Arbeit im Übergang.Zeitdiagnosen, VSA-VerlagHamburg 2005, 208 S. (16,80 €)

Enormer Stress und psychische Belastungen be-stimmen den Arbeitsalltag in den Betrieben. Inden 80er Jahren noch sollte Gruppenarbeit durcheinen »Klassenkompromiss« umgesetzt werden:Rationalisierungsmaßnahmen sollten aus Sichtder Arbeiter durch eine weitgehende Autonomieinnerhalb der Arbeitsgruppen ergänzt werden.Die Realität sieht inzwischen anders aus. Grup-pen bestehen meist aus »olympiareifen Teams«.Alte, kranke oder behinderte Beschäftigte wer-den meist ausgegrenzt. Der vom Unternehmenerzeugte Druck innerhalb der Gruppe aktiviertdie Ellenbogengesellschaft im Betrieb. Zuneh-mende Entsolidarisierung, Anwesenheits- undLeistungsdruck sowie Leistungskontrolle inner-halb der Gruppen zählen zu den Folgen.

Die Arbeitswelt verändert sich, der Leistungs-druck der Arbeitenden nimmt zu. Dieter Sauer,Sozialforscher am Institut für Sozialwissen-schaftliche Forschung (ISF) in München, analy-siert neue Entwicklungen. Sein klar formuliertesZiel als Wissenschaftler: sich einmischen undgesellschaftliche Veränderungsprozesse her-beiführen.

Der Soziologe sieht eine Krise der Arbeitsfor-schung als »Verlust der Diagnosefähigkeit«.Noch vor über 30 Jahren war es durchaus üblich,Prognosen zu einzelnen Entwicklungslinien vonArbeit zu formulieren. Dies sei heute kaum nochfeststellbar, aus Sauers Sicht hat die Erwerbsar-beit jedoch weiter eine zentrale Bedeutung unddie Arbeitsforschung eine Schlüsselrolle bei derAnalyse und Erklärung von Gesellschaft. Dennder Druck auf die Beschäftigten nimmt zu. DieBedrohungen spielen sich zwischen zwei Polenab: dem drohenden Arbeitsplatzverlust und derGefährdung von Gesundheit und Leben der Be-schäftigten durch die Arbeitsbedingungen.

Der Vorteil dieses Bandes: Sauer analysiertdie Situation in den Betrieben anhand der Ver-marktlichung der Arbeitsbeziehungen mit denbekannten Folgen: Arbeitsbedingungen, diepsychisch krank machen. Beschäftigte, die sichständig überfordert fühlen. Darüber hinauswerde auch der Druck durch angedrohten odervollzogenen Personalabbau verschärft. Sauermacht, ausgehend von seiner Beschreibung, Al-

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ternativen sichtbar. Er legt kein fertiges Kon-zept vor, sondern benennt mögliche Ansätze.

Gegenwehr kann es nur geben, wenn diescheinbar objektiven Kennzahlen, die der Be-legschaft etwa durch Renditeerwartungenvorgegeben werden, infrage gestellt werden.Sauer fordert gegen die Tendenzen einer radi-kalen Marktökonomie eine »eigensinnige«Arbeitspolitik. Denn »mit dem Markt kannman nicht verhandeln«. Die Qualität der Ar-beit müsse wieder verstärkt zum Thema wer-den. In der sich zuspitzenden Lage gibt dieLosung »Widerstand statt Anpassung« dieRichtung eines »notwendigen Abwehrkamp-fes« an, so Sauer. Nur so können die Chancenwachsen, »die gegenwärtige Ohnmacht zudurchbrechen und Arbeitspolitik wieder stär-ker in die Offensive zu bringen«.

Eine Arbeitspolitik, die auf eine Anpassungan Marktzwänge setzt, hat von vornherein ver-loren. Es helfe nur Gegenwehr von Betriebsrä-ten und Gewerkschaften. Innovative Arbeitspo-litik und eine neue Qualität der Arbeit brauchengesellschaftliche und politische Rahmenbedin-gungen, die geeignet sind, mehr und bessereArbeitsplätze zu schaffen. Sauer hat mit »Ar-beit im Übergang« eine wissenschaftliche Aus-arbeitung vorgelegt, die auch in der betriebli-chen Arbeit Bedeutung haben sollte.

MARCUS SCHWARZBACH

Hermann Scheer:Energieautonomie, Verlag Kunst-mann München, 315 S. (19,90 €)

Die Entstehung der Großindustrie, damit diezentrale Versorgung vieler Menschen mit le-benswichtigen Konsumgütern, war ohne Elek-trizität nicht möglich. Die Dampfkraft, die zuMarx’ Zeiten die Muskelkraft und Wasserkraftbeim Antrieb der Maschinen in den sich bilden-den Fabriken ersetzte und mit deren Kraft Ei-senbahnen Waren und Rohstoffe transportier-ten, war erst – was Marx noch nicht wissenkonnte – die Vorstufe zur tatsächlichen Groß-produktion, die erst mit Elektrizität möglichwurde. Großproduktion war für Lenin die Vor-aussetzung, um die russische Kleinproduktionzu überwinden, entstehe doch mit der Kleinpro-

duktion die privatisierte Schollenmentalität derMenschen, die den Sozialismus verhindere. Soentstand sein Slogan, Kommunismus sei »Sow-jetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Lan-des«. Nur die Elektrifizierung Russlands führezur Großproduktion, ohne die Kommunismusnicht möglich sei. Jedes Kraftwerk sollte fürLenin zu einer »Stätte der Aufklärung« werden,durch die der vereinzelte Bauer ein gattungs-mäßiges Bewusstsein erlangen sollte.

Hermann Scheer steht sicher in der Traditiondieser Aufklärer, ohne jedoch Leninist zu sein.Sein Buch ist ein gekonnter Angriff gegen dieEnergiekonzerne, für die Elektrizität Machtin-strument geworden ist. Wir haben in Europa»sieben Stromerzeuger, die 60 Prozent der Pro-duktion, 70 Prozent des gesamten europäischenNetzes und 95 Prozent des Stromausgleichs inEuropa kontrollieren.« Die Großproduktionund die Elektrifizierung Europas sind heuteRealität. Anders als zu Zeiten von Marx oderLenin ist ein gesellschaftlicher Fortschritt nichtper se mit Elektrifizierung verbunden, sondern,so Scheer, nur die ausschließliche Nutzung dererneuerbaren Energien kann ein vernünftigesVerhältnis von Mensch und Natur schaffen. Nurerneuerbare Energien verhindern die Abhängig-keit der Menschen von den Stromkonzernen,für die eine zentrale Stromproduktion ausAtom-Kohle-Öl oder Gas und dessen zentraleVerteilung im Mittelpunkt steht. »Die Weltkon-zerne der Mineralölwirtschaft fördern großeTeile ihres Erdöls auf der Basis entsprechenderFörderlizenzen selbst, sie unterhalten die Pipe-lines und Raffinerien, organisieren die Vertei-lung und monopolisieren die Tankstellen.« Diezentrale Produktion und Verteilung von Stromist zu einem doppelten Rückschritt geworden.Einmal wird die Natur, deren Teil der Menschja immer ist, durch die fossile Energienutzungzerstört, »die ja nicht nur eine globale Klima-veränderung hervorrufen, sondern auch lokaleund regionale Luft-, Wasser-, Boden- undWaldschäden.« Zum anderen führt der Zentra-lismus der Energiekonzerne zu einer Abhängig-keit vieler Millionen von Menschen, von Staa-ten und ganzen Kontinenten.

Dagegen setzt Hermann Scheer die »Energie-autonomie«. Er setzt auf lokale und regionaleEnergiekonzepte, die sich ausschließlich in ei-nem breiten Mix, angepasst an die geografischeSituation, aller erneuerbaren Energiequellen

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bedienen. »Die autonome Energiebereitstellung,die nur mit erneuerbaren Energien für alle mög-lich ist, ist kein Notbehelf, sondern die gene-relle Perspektive.« Überzeugend zeigt der Au-tor, dass diese Autonomie nicht nur einewichtige Grundlage tatsächlicher Demokratieist, sondern dass die erneuerbaren Energien denStrombedarf aller Menschen und der Produk-tionen mühelos liefern können. »Wenn es stattum Strombedarf um den Bedarf für Heiz- oderKühlenergie geht, ist die direkte Nutzung derSolarwärme die denkbar effizienteste Möglich-keit. Geht es um Kraftstoffe für mobile Ver-kehrssysteme, haben die dezentral erzeugtenund vermarkteten Biotreibstoffe einen klarenSystemvorteil gegenüber Wasserstoff, wenn zudessen Verfügbarmachung mehr technischeUmwandlungsschritte nötig sind.«

Verblüffend ist die Einfachheit, mit der derAutor besonders den kundigen Leser davonüberzeugt, dass es keiner gigantischen Speicherfür die Sonnen- oder Windkraftenergie bedarf,denn »Energiespeicherung ist immer dann not-wendig, wenn es keine Gleichzeitigkeit zwi-schen Energiegewinnung und -nutzung gibt. Ineinem stark zentralisierten und internationali-sierten atomar-fossilen Energieversorgungs-system ist diese Gleichzeitigkeit prinzipiellnicht möglich.« In der Energiepolitik gehe esnicht um Integration aller Energiequellen, son-dern um Autonomie, denn Integration bedeuteimmer die Dominanz der fossilen Energie-quelle. Scheer setzt sich nicht nur kritisch mitden internationalen Abkommen wie dem»Kyoto-Syndrom«, sondern auch mit der Anti-AKW-Bewegung der siebziger und achtzigerJahre auseinander, die er zwar als »treibendeKraft für erfolgte Aufbrüche zu erneuerbarenEnergien« begreift, die aber lediglich »Ener-gievermeidungsstrategien« verfolgt habe, waszwar nicht falsch sei, aber nicht den histo-rischen Erfordernissen entspreche, die einen»Mentalitätswechsel« verlangten, der klar »Ja«zu den erneuerbaren Energien sage.

»Dezentralisierung statt Globalisierung«,lautet des Autors Motto, mit dem er einen wich-tigen Weg aus der Ohnmacht beschreitet, diedas Gerede über die Dramen der Globalisierungso mit sich bringt. Diese »Dezentralisierung«bedeutet Demokratisierung von Energiepolitikund macht den Menschen wieder zum handeln-den Subjekt der eigenen Geschichte. Dieser

Weg, dessen ist sich Scheer bewusst, ist einsehr konfliktreicher, der »weder auf revolu-tionärem Weg noch durch Versuche der Refor-mierung des vorhandenen Energiesystemsstattfinden« könne. Er glaubt, dieser neue Wegkönne durch »einen evolutionären Prozess desvitalen Anwachsens neuer Formen der Ener-giegewinnung und -nutzung neben den ver-welkenden atomaren und fossilen Energien«beschritten werden. Wenn immer mehr Kom-munen, was in Spanien immer häufiger ge-schieht, statt ihre Stadtwerke zu privatisieren,diese zum Bestandteil dieser Evolution wer-den lassen und immer mehr Hausbauer sichdieser Evolution anschließen würden, kämedas überholte fossile Konzept ins Schleudern.

Der Autor geht mit dieser evolutionärenStrategie allerdings an einer Frage vorbei:Warum klammert sich die heutige Großpro-duktion so vehement an die atomar-fossilenEnergiequellen? Es scheint doch so zu sein,dass, um mit Marx zu schließen, die Produkti-onsverhältnisse des heutigen Kapitalismusviel zu eng geworden sind, um so fortschrittli-che Produktivkräfte ganz nach vorne zu brin-gen, wie sie bereits in modernen Solar- undWindkraftanlagen, aber auch in Automobil-motoren existieren, die ohne Kohlendioxid-Ausstoß unmittelbar mit landwirtschaftlichenProdukten verbunden werden könnten. DieSpezialisierung der Arbeit und der Arbeitstei-lung, die mit der Großproduktion entstanden,entfremdeten den Menschen immer mehr vomgattungsmäßigen Tun seines Handelns. Egois-tische Interessen bestimmen die Ökonomieder Konzerne, die kein aufklärerisches Motivtreibt – weshalb noch immer geglaubt werdenkann, der Strom komme aus der Steckdoseund eben nicht aus einer ganz bestimmten An-eignung der Naturstoffe und -kräfte durch denMenschen. Die kapitalistischen Energiekon-zerne sind Konglomerate vieler – oft, wie beiE-on, tausender – Industrie-, Bank- und Versi-cherungsbetriebe, die nur eines interessiert:Wie akkumulieren wir am besten den angeeig-neten Mehrwert der entfremdet arbeitendenMenschen? Die Energieautonomie ist daherein wichtiger Teil des Kampfes um Emanzipa-tion von diesen Profitgiganten.

JÜRGEN MEIER

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HEINRICH SENFFTIn Honour of Erich KubyShortly after his death, Erich Kuby (1910-2005) was awarded the Tucholskyprize. This text is the laudatory speech delivered by Heinrich Senfft. Senfftreflects back on the courageous life of the journalist Kuby, and asks: Arethere any more of these archaic beings? Is anyone listening? So that some-thing changes? So that not everything goes down the drain? Who still wantsto scream and be heard, so that, at the least, most of what was attained, ispreserved, to prevent the situation from getting worse?

HEINZ-J. BONTRUPEconomic Democracy Rather thanShareholder CapitalismDespite all of the trade union struggles that have been fought, the parlia-mentary-democratic structures of the welfare state collide with an autocraticand paternalistic economic power structure. Since the early nineties, the situation has become even worse. As a consequence of radical liberalization,national domestic policy is being entirely determined by the markets. Onlythrough democratisation of the economy, the author says, will there be atransformation toward a social society for working people.

STEFAN SJÖBERGCollective Accumulation of Capitalin the Hands of the Workers The worker’s movement in capitalist societies knows two ways to fight foreconomic democracy: the one aims at participation in decision-making,while maintaining capitalist ownership; the other challenges private owner-ship itself. The author reflects upon various efforts undertaken in Swedenand Germany to create worker’s collective ownership, as a means ofwinning a higher degree of participation in the decision-making processes.

MICHAEL OPIELKAJustice Through Social Policy? Referring to John Rawls’ »Theory of Justice« the author discusses the pos-sibilities for truly attaining social – and more generally, political – justicethrough social policies. He describes various views and models, and pleads,in the end, for the concept of »guarantism«, which – by resuming the basiccivil rights – »guarantees« the social participation of all. Switzerland’s»Citizen’s Insurance« could serve as an example of such »guarantism«, ascould also the demand for a »basic income«.

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KATJA KIPPING, MICHAEL OPIELKA,BODO RAMELOWThesis for a New Social State»Realists« often discredit social politics as »illusionary«. To describe anotherapproach, the authors, a scholar and two Left Party/PDS activists, presenttheir concepts of a »New Social State«. Basically, it aims at replacing theGerman, wage-oriented insurance system, established in the period of Bis-marck, with a modern »citizen’s insurance«, which should be combinedwith an »integrated basic income«.

DIETER ZAHNBasic Income Must Be Needs OrientedThe German government's Second Report on Poverty clearly indicates thatpoverty is increasing in the country. This, explains the author, is why con-cepts of basic income must be given higher priority. New structures forsocial security are necessary. Also necessary is to eliminate the repressiveaspects currently characteristic of these structures and to seek solutions tothe diverse needs of various groups in the population, some, completelyexcluded from the work process, others, receiving a sub-subsistent wage.

TOBIAS SCHULZEThe Internet and Brecht’s Radio TheoryFollowing the innovation of new technical means of communication, adiscussion develops about their political significance. A good example isBrecht’s Radio Theory. It has always been a question of what role these newmeans of communication can play in promoting social change? The authorpresents an explicitly materialist approach to the internet, as both a meansof communication and a means of production, which he finds has too longbeen neglected.

FRITZ KLEINA Case Study of Special AppealOn the Biography of Wolfgang SteinitzThe author reflects upon the book »Ich hatte unwahrscheinliches Glück«(I was incredibly lucky), which presents different texts concerning the out-standing (East) German scholar, Wolfgang Steinitz (1905-1967). Linguists,sociologists, historians and folklorists regard him as an exceptional teacherand colleague and, with his background as member of the German intel-ligentsia and a Jewish communist, his life could provide a particularlyappealing case study of the history of 20th century sciences.

UTOPIE kreativ, H. 186 (April 2006) – Summaries 383

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UTOPIEkreativ

Diskussion sozialistischer Alternativen

ImpressumHerausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. Redaktion: WOLFRAM ADOLPHI, ARNDT HOPFMANN,ULLA PLENER, MARTIN SCHIRDEWAN,JÖRN SCHÜTRUMPF (V.i.S.d.P.),MARION SCHÜTRUMPF-KUNZE, DIETMAR WITTICH

Adresse: Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin,Tel.: 030– 44 310-157/123, Fax-122Internet: www.utopiekreativ.deE-Mail: [email protected]: NDZ Neue Zeitungsverwaltung GmbH,Weydingerstraße 14-16, 10178 BerlinVerlagsarbeiten: RUTH ANDEXEL

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auf Marginalien entfällt, nicht überschreiten.Den Texten ist eine Zusammenfassung/Sum-mary in deutsch und englisch (500 Zeichen)anzufügen. Ferner bitten wir um Angaben zurAutorin/zum Autor (Geburtsjahr, akademi-sche Titel und Grade, Ausbildung, Tätigkeit,Publikationen und, sofern gewünscht, derE-Mail-Adresse) sowie, bei erstmaliger Ver-öffentlichung, um ein Porträtfoto. Rezensionen sollen 6 000 Zeichen, Annota-tionen 3 000 Zeichen nicht überschreiten. ImKopf müssen jeweils folgende Angaben – inder angegebenen Reihenfolge und Interpunk-tion – enthalten sein: Vorname und Name derAutorinnen/Autoren oder Herausgeberinnen/Herausgeber: Titel, Verlag Ort Jahr, Seiten-zahl und (Preis). Wir empfehlen, in Zwei-felsfällen bei Formfragen ein aktuelles Heftunserer Zeitschrift zu Rate zu ziehen. Für unverlangt eingehende Manuskripte wirdkeine Haftung übernommen. Bei Ablehnungeines Beitrages werden die betreffenden Da-ten auf den Rechnern der Redaktion gelöscht.Beiträge für unsere Zeitschrift werden nichthonoriert.

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