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Das Judentum

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Das Judentum

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Reclam Sachbuch

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Norman Solomon

Das JudentumEine kleine Einführung

Aus dem Englischen übersetztvon Ekkehard Schöller

Mit 12 Abbildungen

Reclam

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6. Auf lage

Titel der englischen Originalausgabe:Judaism. A Very Short Introduction.Oxford / New York: Oxford University Press, 1996.

reclams universal-bibliothek Nr. 186531999, 2009 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung der OxfordUniversity Press, Oxford. This translation of Judaism originallypublished in English in 1996 is published by arrangement withOxford University Press. © 1996 Norman Solomon

Gestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanDruck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,Siemensstraße 32, 71254 DitzingenPrinted in Germany 2017reclam, universal-bibliothek undreclams universal-bibliothek sind eingetrageneMarken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-018653-4www.reclam.de

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Inhalt

Einleitung 9

1 Wer sind die Juden? 15

2 Wie kam es zur Spaltung von Judentum und0 Christentum? 29

3 Wie entwickelte sich das Judentum weiter? 45

4 Jüdischer Kalender und jüdische Feste 73

5 Das spirituelle Leben: Gebet, Meditation, Thora 90

6 Die Gründung eines jüdischen Heims 111

7 Hinaus aus dem Ghetto, hinein in den Sturm 128

8 Das Judentum im 20. Jahrhundert 143

9 »Ewiges Gesetz«, Wandel der Zeiten 164

Anhang

Die dreizehn Glaubensgrundsätze nach Maimonides 179

Das »Philadelphia-Programm« des Reformjudentums 180

Vorschläge zur weiteren Lektüre 183

Zu den Abbildungen 187

Zum Autor 187

Personen-, Orts- und Sachregister 188

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Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände,Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leiden-schaften? Mit derselben Speise genährt, mit densel-ben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unter-worfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt undgekältet von eben dem Winter und Sommer als einChrist? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig III,1, V. 63(Übersetzung: A. W. Schlegel)

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Jüdische Einwanderer in Israel aus verschiedenen Ländern.Auffällig ist die Vielfalt der Gesichtszüge, die eine ganzunterschiedliche ethnische Herkunft zeigen(Fotos: Werner Braun, Jerusalem)

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Einleitung 9

Einleitung

Die Suche nach den richtigen Wörtern

Dies ist ein Buch in deutscher Sprache. Wie alle anderenSprachen, die sich in einer christlichen Kultur entwickel-ten, ist sie nicht neutral. Sie ist vielmehr mit christlichenBegriffen und Prämissen befrachtet. Und da das Christen-tum im 1. Jahrhundert nach der Zeitwende aus einem in-nerjüdischen Konflikt entstand und sich gegen das Juden-tum abgrenzte, ist es schwierig, die jüdische Religion auseiner christlichen Kultur und Sprache heraus so unbefan-gen zu betrachten, wie man etwa den Schintoismus oderden Buddhismus betrachten würde. Man denke nur an ei-nige der beleidigenden Untertöne, die in dem schlichtenWort »Jude« lange Zeit mitschwangen.

Wenn man mit Fragen beginnt: »Was denken die Judenvon Jesus?« oder: »Was ist im Judentum wichtiger, derGlaube oder die Werke?«, ist man bereits auf dem Holz-weg: Auf diese Weise nähert man sich der jüdischen Reli-gion mit christlichem Gepäck. Es finden sich in diesemBuch auch auf solche Fragen Antworten, doch helfen sienicht, das Judentum so zu verstehen, wie es sich selbst,von innen heraus, versteht. Für das Judentum steht Jesusnicht im Zentrum, noch setzt es voraus, dass Glauben undWerke einen Gegensatz bilden.

Beginnen wir daher von vorne und versuchen heraus-zufinden, was »Judesein« heißt und wie die jüdische Religi-on von innen aussieht. Es folgt zuerst eine Liste von zentra-len Begriffen, die einer Gruppe christlicher Studenten nütz-lich erschienen, um anderen das »Christsein« zu erläutern:

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10 Einleitung

– Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist– Glaube– Auferstehung– Liebe– Erlösung– Geburt Christi– Taufe– Abendmahl– Sündenvergebung– Gebet– Kreuzigung– Hoffnung– Bekehrung– Gemeinschaft des Glaubens– Konfirmation und Kommunion– »wiedergeboren«– Himmelfahrt– Gehorsam– Rechtfertigung– ewiges Leben– Heilige Schrift– Nachfolge Christi

Die nächste Liste stammt von einem gläubigen Juden, dereiner Gruppe von Christen seinen Glauben erklären wollte:

– Gott (persönliche, historische, vielgestaltige Beziehung)– Thora (der Weg, die Weisung [Martin Buber], das Leh-

ren, nicht das Gesetz)– Mizwa (»Gebot« = die praktische Einheit der Thora =

gute Tat)

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Einleitung 11

– Awera (Gesetzesübertretung, Sünde)– Freier Wille– Teschuwa (Rückkehr, »Umkehr« zu Gott, Buße)– Tefilla (Gebet)– Zedaka (»Gerechtigkeit«, »Korrektheit« = Nächstenlie-

be)– Chesed (Liebe, Mitleid, Güte)– Jetzer Ha-Tow (»guter Trieb« – die angeborene psy-

chische Neigung, Gutes zu tun), im Gegensatz zu JetzerHa-Ra (der Trieb, Böses zu tun; Ursache wie Heilmittelfür die Untreue gegenüber Gott liegen beim einzelnenMenschen)

– Israel (Volk, Land, Bund Gottes)

Etliche Begriffe (Gott, Thora, Israel) sind deutschspra-chigen Christen durchaus vertraut. Doch derjenige, derdie Liste zusammenstellte, glaubte offensichtlich, sie seiendennoch erläuterungsbedürftig, weil sie leicht missver-standen werden könnten. Die Mehrzahl sind dagegen reinhebräische Begriffe; ihre Bedeutung im Deutschen zu for-mulieren ist überaus schwierig, obgleich es sich um all-tagssprachliche, also eigentlich »leichte« Wörter handelt.

Dass alle Begriffe der christlichen Liste, bis auf die chris-tologische Gruppe »Sohn«, »Kreuzigung«, »Himmelfahrt«und »Geburt Christi«, auch in einem jüdischen Gesprächvorkommen könnten, ist nicht weiter überraschend. Dochsie transportieren andere Bedeutungsnuancen und habenein anderes dogmatisches ›Gewicht‹. Gerade die in beidenGlaubenstraditionen viel benutzten Begriffe »Bund Got-tes«, »Erlösung« und »Heilige Schrift« sind es aber, die ammeisten Verwirrung stiften. Ihre Bedeutungen decken sich

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12 Einleitung

partiell, sind aber nicht identisch. So hat man manchmalden Eindruck, dass die beiden Religionen durch eine ge-meinsame Sprache mehr getrennt als vereint sind.

Man störe sich nicht daran, dass die hebräischen Wörterso klingen, als ließen sie sich nur schwer einprägen oderverstehen. Sie werden in diesem Buch, wenn nötig, immerwieder erklärt. Ihre Bedeutung erlernt man freilich ambesten im Kontext: bei der Lektüre dieses oder anderer Bü-cher oder im Gespräch mit Juden, die sie als ganz selbst-verständlich verwenden. Es verhält sich damit genau wiemit dem Erlernen einer anderen Sprache – und es handeltsich ja auch wirklich um das Lernen einer Sprache, näm-lich der ›natürlichen‹ Sprache der jüdischen Religion.

Religionen sind keine abstrakten Gebilde. Ihre Anhän-ger beteuern oft, Gott habe sie ihnen eingegeben oder so-gar die heiligen Texte diktiert und sie seien ewig gültig.Doch die Menschen müssen diese Texte für ihr Leben aus-legen und sie anwenden, und die auf den folgenden Seitenentrollte Geschichte handelt davon, wie die Juden mit ih-ren Texten während der vergangenen zwei Jahrtausendegelebt haben.

Unsere Geschichte hat vier Darsteller: Gott, die Thora,das Volk Israel und die umgebende Welt. Beziehungenspielen in ihr eine zentrale Rolle: das ›Einzelne‹ (Israel)steht in ständiger Wechselwirkung mit dem ›Allgemeinen‹(der Menschheit als ganzer in Gestalt der kulturellen Um-welt). Es gibt Herausforderungen und Reaktionen, Span-nungen und Lösungen, Tragödien und Freuden.

Judentum im engeren Sinn ist die Religion der Juden.Aber wer sind die Juden? Das ist das Thema des ersten Ka-pitels. Vorerst betrachten wir als Juden alle Mitglieder je-

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Einleitung 13

ner heutigen Gruppen, die sich positiv auf die von denRabbinen des Talmuds definierten Traditionen beziehen(mehr über den Talmud in Kapitel 3). Ausgeschlossen istdadurch die »Religion des Alten Testaments«, die in deneher reaktionären theologischen Seminaren noch immerals Zweig der Judaistik präsentiert wird. Die ›Welt‹ derRabbinen wurzelt in jenen Partien der HebräischenSchrift, auf die sie ihre Autorität stützt. Wir werden aller-dings sehen, dass diese Welt von einer wörtlichen Text-auslegung weit entfernt ist.

Unsere Definition schließt auch andere »jüdische Sek-ten« aus, die im 1. Jahrhundert ihre Blütezeit hatten – Es-sener, Sadduzäer, Samariter und »Judenchristen«. (Einigedieser Gruppen werden uns freilich in Kapitel 2 wiederbe-gegnen. Dort wird berichtet, wie es zur Spaltung von Ju-dentum und Christentum kam, die ursprünglich eine Re-ligion bildeten.)

Das zentrale Thema dieser Einführung bildet die Religi-on. Sie lässt sich jedoch nicht von der Gesellschaft, der Ge-schichte oder den emotionalen Erfahrungen und geistigenErkenntnissen ihrer Gläubigen trennen. Wir flechten da-her einige Informationen über die jüdische Gesellschaftund die Geschichte der Juden ein.

Dabei treffen wir unsere eigene Wahl zwischen dengroßen Schulen der jüdischen Historiographie, welche diegleiche Geschichte so verschieden erzählen. Da gibt es die»tränenreiche« Schule, für welche die jüdische Geschichteein Jammertal, ein Leiden und Martyrium, eine einzigeKette von Verfolgungen ist. Diesen Typus kennen wir seitEphraim von Bonn aus dem 12. Jahrhundert, der seine be-rühmte Martyrologie im Gefolge der den Zweiten Kreuz-

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14 Einleitung

zug begleitenden Massaker an den Juden im Rheinland, inEngland und Frankreich verfasste. Weiter gibt es die »Jeru-salem«-Schule (Ben Zion Dinur), in deren Sicht die ganzejüdische Geschichte auf das Land Israel bezogen ist. Amanderen Pol steht der große Historiker Simon Dubnon, derdie positiven Leistungen des »Diaspora-Judentums« her-vorhob. Und es gibt die traditionellen Theologen, die – inecht biblischem Stil – die jüdische Geschichte behandelnals fortlaufende Erzählung von der Sündhaftigkeit undBuße des jüdischen Volks und von Gottes Strafen und Be-lohnungen oder sie in große »vorherbestimmte« Zykleneinteilen, die in der Ankunft des Messias kulminieren.Scherira Gaon, im 10. Jahrhundert in Babylon lebend,wurde zum Vorbild für all jene, die jüdische Geschichts-schreibung als die Aufgabe ansahen, die authentische Tra-dition bis zu Moses zurückzuverfolgen. Franz Rosenzweigim 20. Jahrhundert dagegen scheint die Bedeutung der Ge-schichte überhaupt zu negieren: »Wir sehen Gott in jederethischen Handlung, aber nicht in dem vollendeten Gan-zen, der Geschichte; denn wozu bräuchten wir einen Gott,wenn die Geschichte göttlich wäre?«

Für uns jedoch steht die kreative Geschichte des Juden-tums im Vordergrund. Die Leiden, die Verfolgungen undVertreibungen kann niemand leugnen. Erstaunlich aberist, dass der jüdische Geist dennoch über die Jahrhundertehinweg geblüht hat in einer noch immer nicht endendenProzession von Dichtern und Heiligen, von Philosophenund Bibelkommentatoren, von Grammatikern und Tal-mudisten, von Juristen, Satirikern, Rabbinen und Pädago-gen, aber auch von unbesungenen Frauen und Männerneinfachen Glaubens.

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Wer sind die Juden? 15

1 Wer sind die Juden?

Gehört die Tomate zum Obst oder Gemüse? Für den Bota-niker unzweifelhaft zum Obst, für den Küchenchef zumGemüse – was aber würde die Tomate selbst sagen? Wennsie überhaupt über die Sache nachdächte, würde sie wohldie gleiche Identitätskrise erleben, in die Juden leicht gera-ten, wenn man sie in die Zwangsjacke einer Rasse, einerethnischen Gruppe oder einer Religion zu stecken ver-sucht. Lässt man sie in Ruhe, sind Tomaten und Juden we-der besonders komplizierte noch obskure Wesen. Sie pas-sen aber nicht ohne weiteres in die bequemen Kategorienwie »Obst« oder »Gemüse«, »Nation« oder »Religion«, diezur Klassifizierung anderer Nahrungsmittel und Men-schen sonst so nützlich sind.

Woran würden Sie eine Jüdin oder einen Juden erken-nen, wenn sie oder er Ihnen auf der Straße begegnete? Esgibt sowohl schwarze wie weiße, orientalische wie okzi-dentale, konvertierte wie jüdisch geborene, atheistische,agnostische und noch viele andere Typen von religiösenJuden. Ist es da überhaupt möglich, die Juden kollektiv zubeschreiben? Wie viele Juden gibt es? Und wo leben sie?

Wer waren die Juden früher?

Die Frage nach der jüdischen Identität ist überraschendneu. Im Mittelalter etwa sah niemand darin ein Problem.Man wusste, wer die Juden waren. Die Juden waren ein»besonderes Volk«, »das auserwählte Volk«, wie es in derBibel heißt, auserwählt von Gott zum Träger seiner Offen-barung. Doch sie hatten Jesus verworfen. Sie waren des-

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16 Wer sind die Juden?

halb verflucht und zu einem niederen sozialen Status ver-dammt, bis sie Jesus anerkennen würden, wenn die Zeiterfüllt sei. Im späten Mittelalter hatte sich die christlicheVoraussage erfüllt: die Christen hatten unter Anwendungpolitischer Macht die Juden tatsächlich in jenen niederensozialen Status abgedrängt, den sie ihnen prophezeit hat-ten. Die Juden wurden gezwungen, in Ghettos zu leben,sie mussten besondere Kleidung tragen, waren von Zünf-ten, Berufen und Landbesitz ausgeschlossen, wurden vonden Kanzeln als Christusmörder geschmäht, der Brunnen-vergiftung (zur Zeit der Pest) beschuldigt, sowie der Hos-tienschändung, des »Ritualmords« an christlichen Kindern(die sogenannte »Blutanklage«: angeblich benutzten sie ihrBlut für das Pessach) und so gut wie jeder Schandtat, dienur ein verwirrter Geist auf eine fremde Gruppe projizie-ren konnte.

Es ist aufschlussreich, ja geradezu schockierend, wie dieJuden in der christlich religiösen Kunst, besonders desWestens, dargestellt wurden. Vor dem 12. Jahrhundert be-saßen sie keine physischen Merkmale, die sie von anderenMenschen unterschieden. Dann erfolgte plötzlich ein Um-schlag: die europäischen Juden bekommen Hakennasen,Schwimmfüße und andere Merkmale, mit denen man sichsonst die Physiognomie des Teufels auszumalen pflegte.Selbst im 20. Jahrhundert hält sich noch in Teilen Europasder Volksglaube, die Juden trügen Hörner. Natürlich wa-ren es nicht die Juden, die ihr Äußeres im 12. Jahrhundertauf mysteriöse Weise verändert und in neuerer Zeit zu-rückverwandelt hatten, sondern es war die christliche Iko-nographie, die von nun an den Mythos des jüdischen Bun-des mit dem Teufel artikulierte.

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Wer sind die Juden? 17

Die in der mittelalterlichen »Christenheit« erzeugtenStereotypen waren selbst dann noch virulent, als das Sys-tem unter dem Einfluss der Auf klärung zusammenbrach.Sogar Voltaire, ein Protagonist der Auf klärung, hielt die Ju-den für eine verkommene und minderwertige Rasse. An-stelle des theologischen Antijudaismus der Kirchen entwi-ckelte sich ein rassistischer Antisemitismus, der in der»Endlösung« der Nazis, dem Projekt der Erniedrigung undphysischen Ausrottung der »jüdischen Rasse«, gipfelte.

Doch die Nazis hatten ein Problem. Spätestens 1933war es völlig evident, dass die Juden keine Schwänze, Hör-ner oder irgendwelche anderen anstößigen Züge besaßen,die sie von anderen Deutschen (oder Polen oder wem im-mer sonst) unterschieden. Als Goebbels und sein Propa-gandaapparat die mittelalterlichen Karikaturen im Stür-mer wiederauf leben ließen, war denn auch die jüdische»Normalität« derart weit vom Hirngespinst der rassischenVerschiedenheit der Juden entfernt, dass die NürnbergerGesetze geradezu hilf los Juden als Personen definierenmussten, die zumindest von einem jüdischen Urgroßel-ternteil abstammten, also 121 ⁄ 2 Prozent »jüdisches Blut« insich trugen. Es war ein böses Omen, dass die Nazis ihreersten antijüdischen Gesetze – unter anderem Boykott,Rassentrennung und besondere Kleidung – just auf jeneDekrete stützten, die Papst Innozenz III. während des 4.Laterankonzils von 1215 erlassen hatte. Ein Hauptziel die-ser Gesetzgebung war es, die Juden dadurch zu isolieren,dass sie anders als andere Menschen aussehen sollten –trotz der Tatsache, dass die Natur sie unpassenderweiseungefähr genauso geschaffen hatte wie die anderen auch.

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18 Wer sind die Juden?

Wie dachten die Juden früher über sich selbst?

Solange die christliche oder muslimische Umwelt die Ju-den weiter als ein »besonderes Volk« definierte und Gesetzezur Sanktionierung ihres speziellen Status erließ, haben dieJuden ihre gesellschaftliche Situation verinnerlicht und ihrLos in den alten biblischen Kategorien interpretiert. Sie sa-hen sich als Gottes auserwähltes Volk, als eine Nation imExil. Wie ihre Unterdrücker glaubten sie, Gott habe sie we-gen ihrer Sünden verbannt. Doch sie zogen daraus andereSchlüsse als Christen und Muslime. Während die Christenund – in einem geringeren Maße – die Muslime verkünde-ten, Gott habe die Juden, indem er sie bestrafte, verworfenund fallengelassen, hielten die Juden ihr Los für eine Bestä-tigung ihres Status der »Auserwähltheit«: »Wen der Herrliebt, den züchtigt er« (Sprüche 3,12). Die Völker, bei denensie im Exil lebten, glichen den »unreinen« Götzenanbeternvon ehedem, deren Schmeicheleien und üblem Einfluss sieum jeden Preis widerstehen mussten – bis zu der Zeit, woGott in seiner unendlichen Gnade beschließen würde, seinVolk zu erlösen und unter seinen Schutz zu stellen.

So hatten die Juden im ganzen Mittelalter und bis weitin spätere Zeit überall da, wo mittelalterliche Denkweisenund Gesellschaftsstrukturen fortbestanden, kein ›Identi-tätsproblem‹. Und da ihre eigenen Traditionen und ihrekulturelle Umwelt sich gegenseitig stabilisierten, war eineklare Trennlinie zwischen ihnen und ihren geographi-schen Nachbarn gezogen.

Natürlich gab es immer Sonderfälle, doch sie waren ge-ring und ließen sich leicht durch tradierte Regeln entschei-den. Was war etwa der Status eines Kindes jüdischer Eltern,

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Wer sind die Juden? 19

das von einem Feind gefangengenommen, christlich erzo-gen und später wieder in den Schoß des jüdischen Volkeszurückgekehrt war? Oder was war der Status des Kindes ei-ner jüdischen Frau, die – wie es nicht selten geschehen seinmochte – von einem christlichen Soldaten oder Oberherrnvergewaltigt wurde? Die Regel, die sich zumindest bis indie Römerzeit zurückverfolgen lässt, war klar. Das Kind ei-ner jüdischen Mutter war Jude; das Kind eines jüdischenVaters mit einer nichtjüdischen Frau war Nichtjude, zumin-dest so lange, bis es formell konvertiert war. Diese Regel giltnoch immer in den meisten jüdischen Gruppen. In jüngsterZeit jedoch haben Reformkongregationen in den USA, demTrend zur Geschlechtergleichstellung folgend, entschieden,dass wenn einer der beiden Eltern Jude ist, das Kind die vol-len Rechte in der jüdischen Gemeinde besitzt, ohne formellkonvertiert sein zu müssen (vgl. S. 137).

Wie sehen sich die Juden heute selbst?

In einem kürzlich erschienenen Buch über jüdische Identi-tät definiert Michael Meyer, Professor für Jüdische Ge-schichte am Hebrew Union College Jewish Institute of Re-ligion in Cincinnati, im Anschluss an die Forschungen desSoziologen Erik H. Erikson »Identität« als

»die Gesamtheit der Charakteristika, die die Individuenals konstitutiv für ihr Selbst erachten. Die individuelleIdentität wurzelt in Identifikationen des Heranwach-senden mit Personen, die ihm nahestehen, mit derenWerten und Verhaltensmustern. Während es zum Er-wachsenen heranreift, müssen diese Identifikationen

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20 Wer sind die Juden?

vom Individuum nicht nur aufeinander abgestimmt,sondern auch an die Normen der Gesellschaft, in der eseine Rolle zu spielen hat, angepasst werden. Dieser Pro-zess repräsentiert die ›Identitätsbildung‹ […].«

Für den Ghettojuden stellte die Anpassung »an die Nor-men der Gesellschaft, in der das Individuum eine Rolle zuspielen hat«, kein großes Problem dar. Zwischen den Nor-men und Werten der Gesellschaft, als deren Glied er sichempfand – d. h. der jüdischen Gesellschaft –, und jenen,die er in der Familie, in der er aufgewachsen war, erwor-ben hatte, gab es keine ernsthaften Konflikte. Familie, Ge-meinde und die Fremdheit gegenüber dem, was jenseitslag, bildeten das Amalgam, aus dem sich eine klare Identi-tät herauskristallisieren konnte.

Doch als die Juden in Europa und Amerika allmählichdie Bürgerrechte erlangten und sich als Bürger der neuenNationen oder gar der ganzen Welt fühlten, wurden vielemit radikal anderen Normen als jenen, die sie von ihrerKindheit her kannten, konfrontiert. Ihre Identität wurdeweniger klar, weniger sicher.

Meyer behauptet, dass drei Faktoren zur Ausbildung derheutigen jüdischen Identität beitrugen – Auf klärung, Anti-semitismus und die Entstehung des Staates Israel. Wir wol-len sehen, worin die Wirkung dieser Faktoren bestand.

Als die Juden, befreit von den Beschränkungen desGhettolebens, durch die Auf klärung selbst einem Anpas-sungsprozess an die moderne Kultur unterworfen waren,sahen sie sich gezwungen, ihr eigenes Verhalten stattdurch Berufung auf irgendeine Autorität, etwa eine spe-zielle Offenbarung, durch Vernunftgründe – die allen ge-

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meinsame Diskussionsbasis – zu rechtfertigen. Eine zwei-te Forderung der Auf klärung war, dass alle Menschen vordem Gesetz gleich seien. Sie brachte den Juden zwar neueBürgerrechte, bedeutete aber zugleich eine Absage an ihrSelbstverständnis als ein »besonderes Volk«.

Niemand hat dies wohl schärfer ausgesprochen als GrafClermont-Tonnerre, der sich vor der Nationalversamm-lung der Französischen Revolution 1789 für die volleStaatsbürgerschaft der Juden einsetzte: »Als Volk mussman den Juden alles verweigern, als Individuen aber ihnenalles geben. Sie müssen gleichberechtigte Staatsbürger wer-den.« Mit anderen Worten, den Juden sollten die vollenfranzösischen Staatsbürgerrechte gewährt werden. Dafürmussten sie auf ihre kollektive Sonderstellung und Auto-nomie verzichten. Die Entscheidung des Individuums soll-te an die Stelle der tradierten Gemeindeautorität treten unddie Religion zur »Privatsache« werden. Zwar begrüßtenviele Juden diesen Wandel, der sich in West- und in TeilenMitteleuropas rasch vollzog; vehement wurde er indessenvon manchen Traditionalisten bekämpft, die befürchteten,er könnte die etablierte Gemeindeautorität mitsamt demüberlieferten Glauben und Ritus bedrohen. Als die »Plausi-bilitätsstruktur« traditioneller Glaubensformen, wie Pe-ter L. Berger schreibt, fragwürdig wurde und anstelle derunbefragten Hinnahme der Gemeindeautorität die persön-liche Entscheidung trat, wurde »der häretische Imperativzum Grundphänomen der Moderne«.1

1 Peter L. Berger, The Heretical Imperative: Contemporary Possibili-ties of Religious Affirmation, New York 1979; dt. Der Zwang zurHäresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i. Br.1992, S. 39–45. [Anm. d. Übers.]

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22 Wer sind die Juden?

Meyer zufolge ist die Wirkung des Antisemitismus aufdie jüdische Identität nicht eindeutig gewesen. Einerseitshat die Ablehnung durch die Außenwelt die jüdischeIdentität neu gestärkt: Religiöse Erneuerungsbewegungensind oft in Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung er-blüht, als die Auf klärungsideale der Vernunft und univer-sellen Menschenrechte ihre Strahlkraft eingebüßt hatten.Als Reaktion auf die »Damaskus-Affäre« von 1840 – dieDamaszener Juden waren des Ritualmords angeklagt undvon Pogromen bedroht – strömten Juden noch im fernenAmerika zu Protestversammlungen, intervenierten Mo-ses Montefiori in England und Adolphe Crémieux inFrankreich und wurden die Juden weltweit in ihrer Ent-schlusskraft gestärkt. Und unter der Nachwirkung der»Mortara-Affäre« von 1858 – ein jüdisches Kind warheimlich getauft und von der päpstlichen Polizei in einKloster entführt worden – entstand 1859 zunächst der»Board of Delegates of American Israelites« und 1860 diefranzösische »Alliance Israélite Universelle« (AIU). Bei-de Organisationen festigten – wie schon der 1760 beider Thronbesteigung Georges III. gegründete englische»Board of Deputies of British Jews« – das jüdische Solida-ritätsgefühl, wenngleich ihre primäre Absicht die Vertei-digung der Rechte der Juden war.

Andererseits haben die Juden als Reaktion auf den Anti-semitismus sich von ihrer Identifikation mit dem Juden-tum distanziert: durch Verschmelzung mit ihrer kulturel-len Umwelt verheimlichen sie ihre jüdische Identität odergeben sie gar ganz auf. Wenn Juden merken, dass sie vonNichtjuden gedemütigt werden, kommen sie sich oft auchin ihren eigenen Augen minderwertig vor, verinnerlichen

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das gegen sie bestehende Vorurteil und verfallen in Selbst-hass. Sie ändern ihre Namen, ihr Äußeres oder ihre Ge-wohnheiten, um sich ihrer Umwelt soweit wie möglichanzupassen. »Antisemitische Vorurteile machen Juden«,so Michael Meyer, »in Gegenwart von Nichtjuden nochbefangener als sonst, mit der Folge, daß sie bestrebt sind,ihr Judentum so lange wie möglich vor dem Auge desnicht vertrauenswürdigen Außenstehenden, dessen Gunstgesucht wird, zu verbergen.«

Karl Marx’ frühe Abhandlung Zur Judenfrage (1844) istein faszinierendes Beispiel einer intellektuellen Form jüdi-schen Selbsthasses. Marx behauptet, das Judentum sei we-der eine Religion noch ein Volkstum, sondern Profitstre-ben. Indem er das riesige jüdische Proletariat in Mittel-und Osteuropa vollkommen ignoriert, setzt er Juden undChristen, deren Religion von der jüdischen abstamme,dem »Feind« gleich, dem Kapitalismus der bürgerlichenGesellschaft. Marx flieht offensichtlich vor seiner jüdi-schen Identität – er wurde mit sechs Jahren getauft,stammt aber von beiden Elternseiten von Rabbinen ab –,»assimiliert« sich dem kulturellen Milieu des AntisemitenFeuerbach, dessen groteske Definition des Judentums erübernimmt, und sucht vor dem jüdischen PartikularismusZuflucht im sozialistischen Universalismus.

Einer von Marx’ engsten Gefährten war der nur wenigältere Moses Hess, selbst ein bedeutender sozialistischerPhilosoph. In einer frühen Schrift urteilte er ähnlich wieFeuerbach und Marx über das Judentum. Später akzeptier-te er seine jüdische Identität, die er in seinem zukunfts-weisenden Werk Rom und Jerusalem nicht in religiösen,sondern in nationalstaatlichen Kategorien fasste. Anders

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ausgedrückt, Hess hatte die dritte Bestimmung der jüdi-schen Identität in der Neuzeit, die Idee der »Rückkehrnach Zion«, wieder aufgegriffen.

Das Paradox des Zionismus – der Begriff wurde erst1892 geprägt – liegt in seinem doppelten, sowohl religiö-sen wie säkularen Ursprung. Religiös gesehen war dieRückkehr nach Zion so alt wie Gottes Verheißung anAbraham, dass jenes Land, in dem er wohne, sein Land sei.Diese Verheißung wurde in der Geschichte immer wiederdurch religiöse Schriften, Gebete und den frommenWunsch, im heiligen Land Gottes Gebote zu erfüllen, be-kräftigt. Bereits 1782 hatte Elia von Wilna eine »Vision«,die zur Rückkehr nach Zion nebst einem praktischen Pro-gramm zur Wiederherstellung Israels aufrief. Und in denvierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der serbischeRabbiner Jehuda Alkalai, zweifellos vom balkanischen Na-tionalismus beeinflusst, den uralten Traum von der Rück-kehr nach Zion in einer Weise neuformuliert, die sich denzeitgenössischen politischen Kategorien näherte.

Der entscheidende politische Anstoß kam allerdings erstspäter in diesem Jahrhundert: von säkularen sozialistischenJuden wie Moses Hess und schließlich Theodor Herzl, dem»Vater des modernen Zionismus«. Sie alle lehnten die tradi-tionellen religiösen Glaubensformen ab. Andererseits er-kannten sie, dass Auf klärung und Universalismus zwar diejüdische Identität ausgehöhlt, nicht aber den Antisemitis-mus ausgerottet hatten. Sie teilten mit anderen nationalis-tischen Philosophen und Politikern des 19. Jahrhundertsdas Unbehagen am Universalismus, sahen aber, dass esohne Preisgabe ihres Judentums unmöglich war, sich zuspeziellen europäischen Nationalitäten zu bekennen. Sie

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lösten dieses Dilemma, indem sie einen spezifisch jüdi-schen Nationalismus, den Zionismus, kultivierten.

Um eine bewusst säkulare Formulierung der jüdischenIdentität war Ascher Ginzberg, besser bekannt unter seinemhebräischen Pseudonym Echad Ha-Am (»einer vom Volk«),bemüht. Er verstand seinen »Kulturzionismus« als Aufrufzur Rückkehr ins geographische Land Israel, um dort eineneue jüdische Kultur zu schaffen. Sie sollte die Moral derPropheten und das Gleichgewicht von Körper und Geist imSinne der Pharisäer bewahren, doch von religiösen Dogmenund dem restriktiven rabbinischen Ritual frei sein.

Die säkularistische Haltung der führenden politischenZionisten war den religiösen Führern ein Greuel. Viele be-kämpften die zionistische Bewegung, gaben sich aber ih-ren eigenen Träumen von einer Rückkehr nach Israel inden Tagen des Messias hin. Schließlich aber entstandenauch religiös motivierte zionistische Bewegungen, und zu-mal seit dem Holocaust und der Gründung des jüdischenStaates sind religiöse Juden in Scharen nach Israel emi-griert und haben sich dem Auf bau des Landes gewidmet.Indessen sind die alten Konflikte zwischen religiösen undsäkularen Juden keineswegs verschwunden, sondern tau-chen regelmäßig in den politischen Debatten und bei so-zialen Spannungen in Israel wieder auf.

Wo leben die Juden heute?

Vor dem Ausbruch des Krieges 1939 lebten etwa zehnMillionen Juden in Europa, fünf Millionen in Amerika(vorwiegend in Nordamerika), 830 000 in Asien (ein-schließlich Palästina), 600 000 in Afrika und eine Hand-