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Neue Bremsfangvorrichtungen für Aufzüge
Nachgewiesene Sicherheit
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Fördertechnik
Steigende Fahrkorbgeschwindig-keiten und Traglasten erhöhen den Anspruch an die Fangvorrichtungenvon Personenaufzügen bei begrenz tem Bauraum. Mit einer vom Institut für Fördertechnik und Logistik der Universität Stuttgart (IFT) im Auftrag der Sautter Lift Components GmbH in Stuttgart methodisch entwickelten, proto-typisch realisierten und im Labor-versuch geprüften Bremsfang-vorrichtung kann ein sicherer Betrieb von Personenaufzügen bei deutlich reduziertem Gewichts-und Platzbedarf der Bremsfang-vorrichtung gewährleistet werden.
■ Christian Vorwerk■ Thomas Kuczera■ Iljo Nikic
All safe, gentlemen
Die Fahrkörbe von Personenaufzügen müs-sen nach den technischen Regeln derDIN EN 81 und der durch die Aufzugs-verordnung seit Juni 1998 in nationalesRecht umgesetzten europäischen Richt-linie 95/16/EG mit einer Fangvorrichtungausgestattet sein, die eine unkontrollierteFahrbewegung des Fahrkorbes beim Über-schreiten einer vorbestimmten Maximalge-schwindigkeit verhindert. Seit dem 19. Jahr-hundert werden Fangvorrichtungen im Auf-zugsbau mit inzwischen zahlreichen Modifi-kationen und verschiedenartigen Spezifizie-rungen erfolgreich eingesetzt. Bereits imJahr 1854 wurden von Elisha G. Otis im NewYorker Crystal Palace Fangversuche mit ei-nem Personenaufzug durchgeführt, diestets von dem Ausruf: „All safe, gentlemen,all safe!“ begleitet gewesen sein sollen. Derhistorische Hintergrund für die Entwick-lung von Fangvorrichtungen war die Furchtvor dem Versagen des Tragmittels beiSchachtförderanlagen im Bergbau. Da je-doch durch fehlerhaftes Einrücken derFangvorrichtung durch im Bergbau natur-gemäß schlecht ausgerichtete Führungs-schienen zahlreiche Unfälle aufgetretensind, werden sie in Schachtförderanlagenseit etwa 40 Jahren nicht mehr eingesetzt.
Das Sicherheitskonzept
Die nach den Sicherheitsregeln für elektrischbetriebene Personen- und Lastenaufzügeeinzusetzende Fangvorrichtung muss in derLage sein, den mit Nennlast beladenen Fahr-korb nach Auslösung durch den Geschwin-digkeitsbegrenzer in Abwärtsrichtung anden Führungsschienen abzubremsen und
festzuhalten (Bild ➊). Als Sicherheitsbauteilvon (im Sinne der Betriebssicherheitsverord-nung überwachungsbedürftigen) Aufzugs-anlagen wird eine Fangvorrichtung sowohlim Rahmen der Prüfung vor Inbetriebnahmeals auch bei der wiederkehrenden Haupt-prüfung im Abstand von zwei Jahren durcheine Fangprobe überprüft. Da die Fangpro-be dabei nicht aus dem freien Fall, sondern
durch das Fangen des über die Seile mit dem Gegengewicht verbundenen Fahrkor-bes durchgeführt wird, beurteilt man die Ein-haltung der technischen Regeln vor In-betriebnahme durch die bei 1,25-facherNutzlast auftretenden Bremswege.
Nach einer Untersuchung des Verban-des der Technischen Überwachungsver-eine über einen Beobachtungszeitraum vonmehr als 20 Jahren führten unterschiedlicheUrsachen zu einer unkontrollierten Fahr-bewegung in Abwärtsrichtung [1]:� Unterbrechung der Verbindung
Fahrkorb/Gegengewicht� mangelnde Treibfähigkeit
(Durchrutschen des Seiles)� Unterbrechung der Verbindung
Bremse/Treibscheibe� Fehler in der Steuerung.Die Wahrscheinlichkeit eines Tragmittel-versagens ist dabei extrem gering, da derFahrkorb bei elektrisch betriebenen Aufzü-gen üblicherweise an drei oder mehr pa-rallel laufenden Seilen mit einem Sicher-heitsfaktor von nicht weniger als 12 (jeTragseil!) aufgehängt ist. Da Aufzüge häu-fig mit geringer Nutzlast betrieben wer-den und in diesem Fall das Gegengewichteine größere Masse hat als der beladeneFahrkorb, finden die meisten unkontrol-lierten Fahrbewegungen bei einem Ausfallder Bremse in Aufwärtsrichtung statt [2].
➊ Auslösung einer Fangvorrichtungnach technischen Regeln
➋ Gewichtungsmatrix zum Kriterienvergleich
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Einbaumaße
Gesamtgewicht
Gehäuseausführung
Anzahl der Fertigungsteile
Fertigungsaufwand
Anzahl der Normteile
Montageaufwand
Einstellung der Bremskraft
Prinzip der Fangvorrichtung
Haltung in der neutralen Stellung
Spannkontakt
Lösen aus dem Fang
Einrückkräfte
Einstellbarkeit der Schienenkopfbreite
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0,044
0,115
0,137
0,038
0,137
0,115
0,093
0,077
1
Erläuterung:0 = Spalte wichtiger als Zeile1 = gleichgewichtig2 = Zeile wichtiger als Spalte
Bei einer Überschreitung der Nennge-schwindigkeit des Fahrkorbes um mindes-tens 15 % wird das Auslöseseil durch denständig überwachten Geschwindigkeits-begrenzer mechanisch (und damit unab-hängig von der Energieversorgung) abge-bremst und löst die Fangvorrichtung amFahrkorb über den Fanghebel aus. Dabeiwird der Antrieb elektronisch abgeschal-tet. Um Verletzungen durch ein Abhebender Fahrgäste vom Kabinenboden zu ver-meiden, darf die Verzögerung durch dieFangvorrichtung für einen unbeladenen,aufwärts fahrenden Fahrkorb nicht größerals die Erdbeschleunigung werden. Das Lö-sen und selbstständige Rückstellen derFangvorrichtung darf nur durch eine Be-wegung des Fahrkorbes in Gegenrichtungerfolgen.
Methodische Entwicklung
Im Aufzugsbau werden verschiedene Ar-ten von Fangvorrichtungen verwendet,wobei die sog. Sperrfangvorrichtungen(als Keil- oder Rollenfangvorrichtung) nurfür Nenngeschwindigkeiten bis 1 m/s ein-
gesetzt werden dürfen. Für den ange-strebten Nenngeschwindigkeitsbereichdes Fahrkorbes von bis zu 2,5 m/s musstedie Neukonstruktion deshalb als Brems-fangvorrichtung ausgeführt werden. Die-se Bauform bietet üblicherweise den Vor-teil, dass die gewünschte Fahrkorbverzö-gerung in Abhängigkeit von der beim Ein-rücken auf die Führungsschiene wirken-den Normalkraft über die Vorspannungvon Tellerfederpaketen eingestellt wer-den kann. Da jedoch die aus der Normal-kraft resultierende Bremskraft von denvariablen Reibwerten in den Reibpaarun-gen (Bremsbacke/Führungsschiene undFangrolle/Führungsschiene) abhängig istund die wirksamen Massen die entste-hende Verzögerung beeinflussen, musszur Quantifizierung der geforderten Nor-malkräfte eine getrennte Berechnung füralle denkbaren Szenarien durchgeführtwerden. Um die geforderten Verzöge-rungswerte für beide Fahrtrichtungen un-abhängig vom gewählten Szenario (z. B.Bruch der Treibscheibenwelle oder Versa-gen des Tragmittels) und der prozentua-len Nutzlast einhalten zu können, müssen
die Normalkräfte für den Fang in Auf-wärts- und Abwärtsrichtung unabhängigvoneinander einstellbar sein.
Durch eine systematische Konstruktionauf Basis der morphologischen Analysewurden unterschiedliche Varianten entwi-ckelt und ihre Ausprägungen zu denWunsch- und Pflichtkriterien im Lastenheftermittelt und mit einer Gewichtungsmatrixbewertet. Die morphologische Analysestellt eine kreative analytische Methodedar, die eine vollständige Erfassung kom-plexer Problembereiche gestattet undhilft, alle möglichen Lösungen vorurteilsloszu betrachten. Bei der Entwicklung der Ge-wichtungsmatrix wurde das Verfahren des„paarweisen Vergleichs“ angewendet, daseine schnelle und objektive Qualitätsbe-wertung ermöglicht (Bild ➋).
Anschließend werden die Ausprä-gungen jedes Kriteriums (z. B. „Montage-aufwand“) hinsichtlich der Funktionalität-Kosten-Be ziehung nach der VDI-Richtlinie2225 mit Bewertungsfaktoren von 0 bis 4multipliziert und die optimale Ausprä-gung des Merkmals ausgewählt. Aus einem Vergleich von sechs verschiedenen
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Fördertechnik
Lösungsmöglichkeiten (Bild ➌) wurde diesomit als optimal bewertete Variante ge-wählt und in einer Feinkonstruktion de-tailliert ausgearbeitet (Bild ➍). Durch die-ses systematische Vorgehen mit einer ob-jektiv gewichteten Bewertung aller Ein-zelkriterien lässt sich ein direkter Ver-gleich mit bestehenden Lösungen (auchanderer Hersteller!) bereits vor der proto-typischen Umsetzung einer Neukonstruk-tion anstellen.
Mit der neu entwickelten Bremsfang-vorrichtung (Bild ➎) wird im Vergleichzum alten Produkt eine Reduzierung derMasse um 60 % auf 18 kg bei einer Halbie-rung der Abmessungen in allen drei Raum-richtungen erreicht. Die Bremsfangvorrich-tung ermöglicht eine zulässige Gesamt-masse des beladenen Fahrkorbes von2400 kg bei einer Nenngeschwindigkeitvon 2,5 m/s und kann für Schienenkopf-breiten zwischen 9 und 16 mm eingesetztwerden.
Statische und dynamische Tests
Um die Funktionalität der neuen Brems-fangvorrichtung als Vorbereitung auf dieBaumusterprüfung zu verifizieren und ggf.Optimierungspotenzial der Konstruktionzeigen zu können, wurden statische unddynamische Tests im Labor durchgeführt.Zunächst wurde die berechnete Festigkeit
der Komponenten durch einen Zugversuchim IFT überprüft.
Zur Versuchsdurchführung wurden dieTellerfederpakete so stark vorgespannt,dass die beim Einrücken der Bremsfangvor-richtung auf die Führungsschiene entste-hende Normalkraft nicht durch den An-schlag der Fangrolle am Innengehäuse be-grenzt wird. Nach dem Auslösen des Fang-vorganges wurde die Zugkraft zwischen In-nengehäuse und Führungsschiene mit ei-nem Hydraulikzylinder schrittweise bis zumVersagen der im Vergleich zur Bremsfang-vorrichtung deutlich weicheren Führungs-schiene erhöht (Bild ➏).
Die im statischen Zugversuch erreichteKraft von 150 kN entspricht dem 4-fachender im praktischen Einsatz maximal denk-baren Belastung und führte nicht zu einemVersagen der Fangvorrichtung.
Um realitätsgetreue dynamische Brems-versuche durchführen zu können, wurdevom Institut für Fördertechnik und Logis-tik (IFT) der Universität Stuttgart ein Fall-prüfstand entwickelt und aufgebaut. Mitdem Einsatz von kapazitiven Beschleu-nigungssensoren und Seilzugsensoren fürdie Wegmessung kann der Bremsvorgangauch beim freien Fall des Fahrkorbesdurch ein Versagen der Tragmittel unter-sucht und die Einhaltung der technischenRegeln für die Baumusterprüfung sicher-gestellt werden.
Resümee und Ausblick
Im Auftrag der Sautter Lift ComponentsGmbH wurden vom IFT der UniversitätStuttgart technische Varianten für die Kon-struktion von Bremsfangvorrichtungen fürAufzüge systematisch entwickelt, anhandvon Merkmalsausprägungen methodischanalysiert und verglichen. Die Analyse-ergebnisse wurden in einer optimalenNeukonstruktion ausgearbeitet, proto-typisch umgesetzt und die Einhaltung dertechnischen Regeln im statischen und dynamischen Versuch nachgewiesen. Einemorphologische Analyse gestattet nebeneiner vollständigen Erfassung komplexerProblembereiche und einer objektiven Be-trachtung aller möglichen Lösungen denVergleich einer Konstruktionsvariante mitbestehenden Produkten. Sie wird deshalbim IFT zur Durchführung von Entwick-lungs- und Konstruktionsaufgaben bevor-zugt eingesetzt. ■■
➌ Methodische Neukonstruktion mit Variantenvergleich
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Dipl.-Ing. Christian Vorwerk
ist Oberingenieur am Institut für Fördertechnik
und Logistik der Universität Stuttgart
Dipl.-Ing. Thomas Kuczera
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Fördertechnik und Logistikder Universität Stuttgart
Dipl.-Ing. Iljo Nikicist wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Fördertechnik und
Logistik der Universität Stuttgart
➍ Wirkungsweise der neuen Bremsfangvorrichtung
➎ Prototypische Umsetzungder Fangvorrichtung
➏ Statische Festigkeitsuntersuchung(Bilder: IFT)
Literatur[1] Feyrer, K.: Prüfung der Fangvorrichtung
im Aufzug. Lift-Report 23 (1997) 1, S. 6-12.
[2] Feyrer, K.; Dudde, F.: Schutzmaßnahmengegen unkontrolliertes Fahren von Treib-scheibenaufzügen. Lift-Report 20 (1994) 5, S. 6-14.
Fördertechnik