Post on 03-Sep-2015
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Vorwort
Die Entscheidung des Deutschen Bundestages fr die Stationierung
von Pershing II Raketen und Cruise Missiles hat die politischen
Ausgangsbedingungen und damit die aktuelle Diskussion ber Mittel
und Wege der Friedenssicherung faktisch verndert. Seit Ende Novem-
ber 1983 wird in Ost und West "nachgerstet" und "nach-nachgerstet".
Viele neigen dazu, resignierend den Beschlu des Parlaments hin-
zunehmen und der normativen Kraft des Faktischen sich zu beugen.
Aber die wesentlichen Argumente gegen die Stationierung, wie sie
in dieser Broschre vorgebracht werden, bleiben gerade angesichts
von deren faktischer Verwirklichung gltig. Die Analyse sieht sich
'oif-sogar besttigt, wenn heute eintritt, wovor in der Broschre gewarnt / - wurde: die Kriegsgefahr in Europa hat sich durch die Stationierung
weiter erhht. Die erhhte Gefhrdung resultiert einerseits milit-
risch aus der ungezgelten "Nachr-stung" und "Nach-Nachrstung" in
beiden Militrblcken; andererseits aber sind auch die Absichtser-
klrungen nicht in Erfllung gegangen, die da meinten, vollwertige
Rstungskontrollverhandlungen seien nur mit Hilfe und nach der
"Nachrstung" mglich. Der Abbruch der Genfer Verhandlungen hat den
Befrchtungen Recht gegeben, da Rstungskontrollverhandlungen durch
die Stationierung neuer Waffen stark erschwert werden. Erfolgreiche
Verhandlungen sind derzeit nicht in Sicht.
Die in dieser Broschre enthaltenen waren fr die Situa-
tion vol'. der Bundestagsdebat:t:~ g_e_c'l~cht. Die Erklrung deutscher
Philosophen zur Raketenstationierung (Sddeutsche Zeitung 17.11.83),
die von den Vertretern unterschiedlichster philosophischer Richtungen
unterzeichnet wurde, war von einer Arbeitsgruppe am Institut fr
Philosophie der Freien Universitt Berlin verfat und zusammen mit
den argumentativen Erluterungen "Die Irrationalitt der Raketen-
stationierung" von Schul_t:_~__e_
Die bleibende Aktualitt, aber auch die Diskussion in Berlin
und in der Bundesrepublik, die eine rege Nachfrage nach der Bro-
schre ausgelst hat, waren Anla fr diese Neuauflage.; denn eine
solche Nachfrage zeigt, da das Interesse an theoretis~hei: ___ ~:i::_be:i,.:t:_
zur Kriegs-/Fr,iedems-Problematik fortbesteht. Anllich der "Nach-
rstungs"-Debatte entstanden, bieten die Beitrge in "Philosophie
und Frieden" heute einen Ansatzpunkt fr weitergehende Diskussio~~_i:i,
etwa zur ethischen Verantwortbarkeit von Massenvernichtungswaffen,
zu aktuellen militrstrategischen Fragen (z.B. dem neuen "Air-Land-
Battle"-Konzept der USA), zu alternativen Rstungskonzepten u..
Darber hinaus wird ber politische und rechtliche Konsequenzen aus
dem "Nachrstungs"-Beschlu des Bundestages neu nachgedacht. Disku-
tiert werden u.a. der Zusammenhang von Souvernitt und Krieg, von
Systemkonkurrenz und Rstungseskalation; die chtung von Massenver~
nichtungswaffen durch das Grundgesetz (analog zum Verbot des Angriffs-
krieges); die Berechtigung von politischen Streiks, von Aktionen
zivilen Ungehorsams; sowie die Strkung plebiszitrer Momente inner-
halb der Verfassungsordnung. Die Fortfhrung dieser Diskussion, die
auch im Institut fr Philosophie der Freien Universitt Berlin ge-
fhrt wird, in Form weiterer Broschren ist geplant.
Di_e Friedensinitiative am philosophischen Institut der Freien Universitt Berlin
Sonderausgabe der Friedensinitiative am philos'ophischen Institut
der Freien Universitt Berlin ab 20 Stck (Preis pro Exemplar DM 1.-)
zu bestellen bei: Marshall Farrier, Letteallee 87, 1000 Berlin 51
Stefan Gosepath, Zhringerstr. 8, 1000 Berlin 31
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Preis pro Exemplar DM 3.60.
Erklcirung deutscher Philosophen zur Raketenstationierung
Die Analyse der zugnglichen politischen und militrischen Tat-sachen hat uns zu der berzeugung gebracht, da die bevorstehenden Rstungsmanahmen in Europa und die strategischen Aufrstungsvor-haben der USA und UdSSR eine bisher ungekannte, nicht lnger zu verantwortende Steigerung der atomaren Kriegsgefahr darstellen. Vor allem die Stationierung amerikanischer Pershing II Raketen in der Bundesrepublik Deutschland bedeutet keine Strkung, sondern eine empfindliche Schwchung der Sicherheit unseres Landes. Die sich abzeichnende Mglichkeit qes vernichtenden Erstschlags durch neue treffgenaue Mittelstreckenwaffen mit extrem verkrzten ~orwarnzeiten erhht sprunghaft das Kriegsrisiko, sei es in Form eines gewollten, vorbeugenden Atomangriffs einer der beiden Super-mchte, sei es in Form unbeabsichtigter Kriegsauslsung durch automatisierte Vorwarnsysteme. Auch ein 'begrenzter' Atomkrieg aber macht menschenwrdiges Leben unmglich. Ihn in die militri-sche Planung einzubeziehen oder auch nur glaubhaft mit ihm zu drohen, ist moralisch unverantwortlich und durch keine angeblich bergeordneten Zwecke zu rechtfertigen. Werte schtzen zu wollen, indem man die Menschen, in deren Dienst sie stehen, zum bloen Mittel verselbstndigter politischer oder ideologischer Interessen macht, ist widersinnig oder Ausdruck eines menschenverachtenden Zynismus. Als Philosophen in Deutscnland knnen wir nicht schweigen, wenn deutsche Politiker im Begriff sind, Leben, Humanitt und Vernunft durch Unwissenheit, Leichtfertigkeit oder Befangenheit im atomaren Abschreckungsdenken aufs Spiel zu setzen.
Erstunterzeichner:
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Die Irrationalitt der Raketenstationierung
(Erluterungen zur Erklrung deutscher Philosophen)
Christoph Schulte /Gottfried Seeba /Bernhard Thle
1 . Einleitung
Die bevorstehende Stationierung von 108 Pershing II Raketen und
96 Cruise Missiles in der Bundesrepublik, sowie weiteren 160 bzw.
112 Cruise Missiles in Grobritannien und Italien hat in der
europischen und amerikanischen ffentlichkeit weithin Beunruhigung
ausgelst, ebenso die als Reaktion angekndigte Stationierung
schnellf liegender sowjetischer Raketen in der DDR, CSSR und anderen
Ostblocks~aaten. Sie entspringt der Besorgnis ber den Beginn. einer
rapiden Eskalation des Wettrstens auf einer.qualitativ neuen
Ebene, die Mitteleuropa an den Rand einer nuklearen Katastrophe
bringt. Nach jngsten Umfragen lehnen etwa Dreiviertel der west-
deutschen Bevlkerung die Haltung der Bundesregierung in dieser
Frage ab; auch unter den Whlern der Regierungsparteien vom 6.Mrz
bilden die Kritiker die absolute Mehrheit. Eine Zuordnung der
Positionen zu berkommenen Parteien und Verbnden ist unmglich
geworden. Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen haben sich zu
Wort gemeldet. Neben den schwerwiegenden moralischen Bedenken der
Kirchen haben vor allem uerungen diverser Berufsgrupp~n Beach-
tung gefunden, die aus ihrer jeweiligen fachlichen Kompetenz
heraus unterschiedliche Aspekte der mit der Stationierung verbun-
denen Gefahren beleuchten. Die Naturwissenschaftler haben einen
groen Kongre zum Thema in Mainz veranstaltet; rzte und Juristen
haben ffentlich Stellung bezogen.
Aufgerufen zu ffentlicher Verantwortung sind gewi auch die Phi-
losophen. Die undifferenzierte These von der Wissenschaft, die
sich um die res publica nicht zu kmmern habe, gilt fr sie viel-
leicht am allerwenigsten. 1 Fraglich kann lediglich sein, ob es
-2-
gegenber der jetzt anstehenden Rstungsproblematik so etwas wie
( eine spezifisch hilosophische Korn etenz gibt, die sie zu eigener
{ Stellungnahme befhigt. Wenn es sie gibt, so ist sie darin zu
J suchen, da Philosophen nach eigenem oder ffentlichem Verstndnis
Anwlte sind fr Moralitt, Wahrheit und Vernunft. Die moralischen
Entscheidungsgrundlagen in der Raketenfrage sind klar. Ungeachtet
aller Di'.fferenzen ber Umfang und philosophische Begrndbarkeit
moralischer Prinzipien drfte man darin weitgehend einig sein,
X da es moralisch verwerflich und durch keine angeblich "hheren" Zwecke zu rechtfertigen ist , die Menschheit insgesamt oder die
Einwohner ganzer Lnder und Stdte atomarer Vernichtung preiszu-
X r geben. Nicht dies ist strittig, sondern die Feststellung, da das Wettrsten und speziell die bevorstehenden konkreten Rstungsma-
nahmen uns der Vernichtung unverantwortbar nahe bringen. Die Fakten,
die einen solchen Schlu zwingend machen, liefert natrlich nicht
die Philosophie. Sie stammen in erster Linie aus dem technologi-
schen und poli tischen Bere~ch. Was Philosophen als Philosophen
beunruhigen mu, ist etwas anderes. Obwohl relevante Tatsachen
in berwltigender Flle vorhanden und allgemein zugnglich sind, .
und obwohl jeder Informierte und rational Denkende selbst die
Konsequenzen aus ihnen ziehen knnte, bleiben sie weithin unbe-
achtet, werden verdrngt oder von interessierter Seite bewut
unterschlagen. Wahrheit und Vernunft sind es, die in der gegenwr-
tigen Lage zuerst verloren zu gehen drohen, Moralitt erst in
ihrem Gefolge. Menschen neigen dazu , wie die Philosophen seit der
Antike wissen, wahre und lngerfristige Interessen aus dem Blick
zu verlieren, wenn deren Wahrnehmung unangenehme oder unbequeme
Folgen fr vordringliche gegenwrtige Wnsche hat. Es ist bequem,
sich das Studium der Fakten und das Durchdenken ihrer Implikatio-
nen zu ersparen im Vertrauen darauf, da die Politiker, die wir
mit der Wahrnehmung unserer Interessen betraut haben, sich kraft
ihres Amtes und ihrer mutmalich greren Kompetenz anders verhal-
ten haben. Menschliche Kurzsichtigkeit und Bequemlichkeit machen
aber - bittere Erfahrung zeigt es - auch vor Politikern keineswegs
halt, gerade in der uns lnserfristig alle am unmittelbarsten
betreffenden Rstungsfrage. Wir glauben, da es Philosophen gut
ansteht, an diesen Zusammenhang zu erinnern.
Die bevorstehenden Raketenstationierungen werden aus unterschied-
lichen Grnden verworfen. Die verschwindende Minderheit derer, die
die parlamentarisch-demokratische Verfassung der Bundesrepublik
-3-
ohnehin nicht fr verteidigungswrdig halten und mit der Ablehnung
seiner derzeitigen Rstungspolitik unsern Staat insgesamt treffen
wollen, haben wir a limine auer Betracht gelassen. Unbercksich-
tigt blieb auch die radikal pazifistische Position, die uns, obzwar
moralisch respektabel, unter den gegenwrtigen Bedingungen realpo-
litisch chancenlos scheint. Schwerer wiegen die Argumente' derer,
die davon berzeugt sind, da das atomare Wettrsten eine Stufe
erreicht hat, die auch einseitige Abrstungsschritte des Westens
mglich und notwendig macht. Wir glauben in der Tat, da ein
wirklicher Ausweg aus dem Rstungswettlauf nur mglich ist, wenn
ein grundlegend neues, auch partielle Vorleistungen in Betracht
ziehendes ~ic~~rheitskonzep:t:; fr Europa und, mutatis mutandis, alle brigen Regionen entwickelt wird, an denen die globalen
Interessen der Supermchte unmittelbar aufeinandertreffen. Wenn
wir uns dennoch entschieden haben, unsere Argumentation nicht unter
diese Prmisse zu stellen, so deshalb, weil wir der Auffassung
sind, da die verfgbaren Tatsachen ausreichen, um auch denjenigen
von der Notwendigkeit einer Verhinderung der bevorstehenden Ma-
nahmen zu berzeugen, der daran festhlt, da die Bundesrepublik
und Westeuropa poiitisch und wirtschaftlich aufs engste mit Nord-
amerika verflochten bleiben, da eine militrische Abschreckung
gegenber dem Ostblock notwendig ist und konkret nur erreicht wer-
den kaPn, wenn die NATO in ihrer jetzigen Form grundstzlich wei-
terbesteht. Auch dann reicht die erdrckende Flle der Tatsachen
aus, um den Brsseler Beschlu als eine politische Fehlentscheidung
zu erkennen, die im hchsten Mae gefhrlich und zumindest fr
Europa absolut inakzeptabel ist.
2. Zur offiziellen Begrndung der NATO-"Nachrstung"
In die Begrndungen, die von offizieller Seite fr die Behauptung
gegeben werden, die beschlossenen Stationierungen seien fiir den
Fall eines Scheiterns der Genfer Verhandlungen unverzichtbar, gehen
folgende Annahmen als wesentliche Voraussetzungen der .11.rgumentation
ein:
(1) Mit der Aufptellung von SS 20 Mittelstreckenraketen sei ein Ungleichgewicht in diesem Bereich entstanden, das den Westen zu neuen Rstungsanstrengungen zwingt.
(2)
(3)
(4)
-4-
Da die Sowjetunion militrtechnisch durch die neuen SS 20 Raketen und Backfire-Bomber "ihre Uberlegenheit bei den nuklearen Mittelstreckensystemen sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgebaut" habe, 2 sei eine "Nachrstung auf westlicher Seite mit vergleichbaren Mittelstreckenwaffen erforderlich. Die Stationierung amerikanischer Pershing II und Cruise Missiles erflle diesen Zweck.
Ihre Stationi~rung sei vor allem deshalb erforderlich, weil andernfalls "die Glaubwrdigkeit der Abschreckungsstrategie des Bndnisses \[ . ] in Zweifel gezoge_n" werde. Die "Nachr-stung" sei notwendig, "wenn die Natostrategie der flexiblen Reaktion glaubwrdig bleiben soll".3
Weiterhin sei die "Nachrstung" gerade auch fr die Westeuro-per unverzichtbar, weil sich mit der Stationierung amerika-nischer Mittelstreckenwaffen die Gefahr eines "Abkoppelns" der Amerikaner von den europischen Verbndeten deutlich verringere. Diese Waffen lieferten vielmehr die Gewhr, da die USA Europa ntigenfalls auch mit Interkontinentalraketen verteidigten. 4
Halten diese Annahmen einer genaueren berprfung stand? Und zeigen
sie wirklich, da wir-uns im Interesse unserer Sicherheit. mit der
Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles auch auf dem
Boden der Bundesrepublik abfinden mssen, falls die Genfer Verhand-
lungen scheitern? Wir glauben, da dies nicht der Fall ist und da
die von offizieller Seite vorgebrachten Argumente nicht der wahre
Grund fr die Stationierung sein knnen.
zu (1): Es ist richtig, da im Bereich von Mittelstreckenwaffen ein
quantitatives und qualitatives Ungleichgewi?ht zugunsten der UdSSR
besteht. Nach der im Rstungsjahrbuch 82/83 des "Stockholm Interna-
tional Peace Research Institute" (SIPRI) genannten Schtzung han-
delt es sich um ein Ungleichgewicht im Verhltnis von etwa 2:1.s
Da damit europische Sicherheitsinteressen bedroht sind, kann und
soll nicht bestritten werden. Im Interesse einer nchternen Beur-
teilung der Sachlage sollte aber auf folgende Punkte hingewiesen
werden, die von den Befl1rwortern der "Nachrstung" meist unter-
schlagen werden:
a) Eine massive Bedrohung Westeuropas durch sowjet. Mittelstrecken-
waffen besteht seit etwa 20 Jahren.6
b) Die SS 20 Raketen sind von der UdSSR als Ersatz fr die tech-
nisch veralteten .SS 4 und SS 5 Raketen entwickelt worden. Sie stel-
len daher nur eine Modernisierung eines bereits vorhandenen
Potentials dar. Auch nach Einschtzung westlicher Experten war
diese Modernisierung unter technischen Gesichtspunkten lngst
-5-
erforderlich. Die Verwundbarkeit der SS 4 und SS 5 sowie ihre
Unfallanflligkeit drften dafr ausschlaggebend gewesen sein. 7
c) Es ist zu bercksichtigen, da das Ungleichgewicht im Mittel-
streckenbereich vor allem darauf zurckzufhren ist, da die
UdSSR ihre SS 4 und SS 5 Raketen, die durch SS 20 ersetzt wer-
den sollen, bisher nicht im gleichen Umfang abgebaut hat.B Ob
das lange so bleibt und ob die ersetzten Raketen wirklich noch
einsatzbereit gehalten werden, scheint freilich uerst zwei-
felhaft: die Unfallanflligkeit spricht dagegen, und ohne die
(bislang unbewiesene) Bereitstellung neuer Flugkrpergeschwader
wre fr beide Systeme (SS 4/5 und SS 20) nebeneinander gar nicht
genug Bedienungspersonal vorhanden.9
d) Weiterhin hat die UdSSP bei den Genfer Verhandlungen eine Redu-
zierung ihres Mittelstreckenpotentials angeboten, das den alten
Bestand (der sich der P.aketenzahl nach mit dem f.ranzsischen
und britischen in etwa deckt) nicht berschreitet. Wenn sie diese
Peduzierungsabsichten nicht vor einem erfolgreichen Abschlu in
Genf verwirklicht, drfte das kaum verwundern.
e) In die Vergleichsberechnung fr Mittelstreckenwaffen geht weder
die groe Zahl der fr die Verteidigung Europas abgestellten
amerikanischen Ubootraketen noch der demselben Zweck dienende
und z.T. (156 Einheiten) fest in Europa stationierte Teil der
amerikanischen Bomberflotte ein.10
Aus alledem ergibt sich, da die Behauptung, die Aufstellung der
sowjet. SS 20 habe das atomare Gleichgewicht in Europa entscheidend
zuungunsten des Westens verschoben, mehr als zweifelhaft ist.
zu ( 2) : Der Hinweis auf die mili trtechnische Sonderstellung der
SS 20 ist zweifelhaft (amerikanische Poseidon-Raketen! 11) und im
Blick auf die atomare Balance insgesamt irrelevant (val. zu (1)
und zu (3)). Er ist darber hinaus auch nicht geeignet, eine "Nach-
rstung" gerade mit Pershing II und Cruise Missiles zu rechtferti-
gen. Denn zum einen sind diese Waffensysteme faktisch nicht als
Reaktion auf die Aufstellung von SS 20 entwickelt worden; ihre
Entwicklung reicht vielmehr weit davor zurikk. Zum andern stellen
sie auch keineswegs den SS 20 technisch vergleichbare Waffensysteme
dar. Pershing II wie Cruise Missiles sind ihnen an Treffgenauig-
keit und Eindringfhigkeit weit berlegen, haben dagegen geringere
Reichweite als die neuen sowjet. P.aketen, die sie daher auch gar
-6-
nicht in ihren Stellungen treffen knnen. Weiterhin tragen die
Pershing II und Cruise Missiles dank ihrer Treffsicherheit nur
je einen, vergleichsweise "kleinen" Sprengkopf, whrend die SS 20
vermutlich bis zu je drei Sprengkpfe mit sehr viel grerer
Sprengkraft transportieren knnen. Von der Flugeigenschaft her
sind die Cruise Missiles - sie fliegen relativ langsam, unter-
fliegen aber dafr die sowjet. Radarabwehr in Baumwipfelhhe -
mit den SS 2o ohnehin nicht zu vergleichen. Kurz: rein technisch sind die "Nachrstungs"-Waffen kein Gegenstck zur sowjetischen
"Vorrstung". Vielmehr erffnen sie durch ihre geringe Flugzeit
(Pershing II) und ihre extrem hohe Treffgenauigkeit den USA einen
neuen und strategisch hchst bedeutsamen (siehe unten) technolo-
gischen Vorteil.
zu (3): Es trifft auch nicht zu, da durch die SS 20 Raketen die
Glaubwrdigkeit der Abschreckungsstrategie in Frage gestellt ist:
a) Ihre Glaubwrdigkeit beruht auf der Zweitschlagfhigkeit und
ist folglich nur dann bedroht, wenn eine Seite in die Lage
versetzt wird, die Zweitschlagfhigkeit der anderen Seite
ernsthaft zu gefhrden. Davon kann aber aufgrund der Aufstellung
von SS 20 Raketen keine Rede sein. Denn die Zweitschlagfhigkeit
der NATO bleibt sowohl auf der Ebene der Interkontinental- wie
auf der Ebene von Mittelstreckenwaffen voll erhalten, da die
land-, luft- und seegesttzten Zweitschlagpotentiale der NATO
auch durch einen kombinierten sowjet. Angriff mit Mittelstrecken-
und Interkontinentalraketen nicht ausgeschaltet werden knnen.
b) Und dies gilt nicht nur im allgemeinen, sondern auch im Rahmen
der "flexiblen Reaktion". Die NATO ist nicht nur nach wie vor
in der Lage, auf einen sowjet. Angriff der Anzahl der einzuset-
zenden Raketen nach flexibel zu reagieren, z.B. mit einem "do-
sierten" Einsatz von Interkontinentalraketen ; aufgrund der
Treffgenauigkeit z.B. ihrerubootgesttzten und daher schwer
verwundbaren Poseidon-Raketen ist eine flexible Reaktion auch
hinsichtlich der Gre der Sprengkpfe gesichert.
Ebendiese berlegungen wurden auch 1979 von seiten der Carter-
Administration gegenber den "Nachrstungs"-Wnschen der europi-
sche~ Verbndeten vorgebracht. 12 Erst nachdem die amerikanische
Strategie eine grundstzliche Wendung erfuhr (vgl. unten) hat sich
auch die Haltung der US-Regierung in dieser Frage ins Gegenteil
verkehrt.
-7-
zu (4): Das "Abkopplungsargument" ist nicht nur (a) ungeeignet,
die "Nachrstung" zu begrnden, es macht auch (b) Voraussetzungen,
die im Widerspruch zum Konzept der "flexiblen Reaktion", auf dem
die eben diskutierte Argumentation der NATO beruht, stehen:
a) Auch in Europa stationierte amerikanische Atomwaffen unterstehen
den USA. Da aber der Einsatz solcher Waffen nur dann die_ "Ab-
kopplung" der USA von Europa ausschliet, wenn er - aufgrund
eines sowjet. Gegenangriffs auf amerikanisches Territorium -
den Einsatz amerikanischer Interkontinentalraketen bedingt,
ist zu erwarten, da die USA auch in Europa stationierte ame-
rikanische Mittelstreckenwaffen nur in solchen Situationen
einsetzen wrden, in denen sie ohnehin den Einsatz von Inter-
kontinentalraketen bewut ins Kalkii.l einbeziehen. Dann haben
amerikanische l'"i ttelstreckenwaffen auf europischem Boden
aber berhaupt keinen Einflu auf die "A.nkopplung" der Inter-
kontinentalwaffen. Das "Abkopplungsargument" widerlegt sich
also selbst. 13
Eine viel wirksamere Garantie fr die "Ankopplung" der USA
stellt die Prsenz amerikanischer Truppen (von gegenwi3rtig
ca. 300.000 Soldaten) in Europa sowie die enge wirtschaftliche
Interessenverflechtung dar. Sollten d'iese beiden Faktoren nicht
ausreichen, um eine "Abkopplung" der USA zu verhindern, dann
ist auch nicht zu sehen, wie dies durch die Verwirklichung der
"Nachrstung" gelingen knnte. 14
b) Das "Abkopplungsargument" basiert auf der Voraussetzung, da
ein Einsatz amerikanischer Mittelstreckenwaffen zwanoslufig
zur Eskalation des Konflikts bis hin zum Einsatz von Interkon-
tinentalraketen fhrt (s~o.). Diese Voraussetzung steht aber
offensichtlich in krassem Widerspruch zur NATO-Doktrin der
flexiblen Reaktion, die gerade auf der gegenteiligen Annahme
beruht. 15
Das "Abkopplungsargument" ist also in jeder Hinsicht untauglich.
Alle vier Argumentationsvoraussetzungen halten einer genaueren
berprfung somit nicht stand. Bei der NATO- "Nachrstung" handelt
es sich, wie der frhere Generalinspekteur der Bundeswehr Jrgen
Brandt vor dem Bundeskabinett selbst erklrt hat, "nicht darum,
etwa dem Waffensystem SS 20 entsprechende Waffensysteme des Westens
entgegenzusetzen." 16 Dies,ebenso wie die oben erwhnte Einschtzung
-8-
der Carter-Administration,belegt, da fhrende. Mi:1-trs und Poli-
tiker selbst nicht glauben, was sie die ffentlichkeit glauben
machen .wollen, da nmlich das Gleichgewicht in Europa durch die
Stationierung von SS 20 empfindlich gestrt sei.
Aber selbst wenn man hiervon immer noch ausgehen wollte, stellen
die vorgesehenen ''Nachrstungs "-Waffen keineswegs die einzig mg-
liche militrische Reaktion dar. Es sei hier nur auf die Vorschlge
von C.F. von Weizscker, der fr eine StatiDnierung von seegesttz-
ten Mittelstreckenwaffen pldiert, 17 und von McGeorge Bundy, Sicher-
heitsberater unter Kennedy und Johnson verwiesen, der argumentiert,
20 oder 30 neue B-1 Bomber "jeder mit 20 oder 30 Cruise Missiles aus-
gerstet, knnten all das vollbringen, was die Zankpfel [d.h. die
landgesttzen Pershing II und Cruise Missiles] knnten, und noch
dazu ohne zwietrchtige Aufregung in Europa. Anders als die
Pershings wren diese Flugzeuge [ ... ]keine Erstschlagswaffen,
die Moskau ins Flattern bringen." 18 Beide Vors.chlge beinhalten
den Verzicht auf landgesttzte Pershing II und Cruise Missiles,
die - inmitten dichtbesiedelter Rume in Westeuropa - A.ngriffs-
ziele fr die Gegenseite bieten wrden und aus europischer Sicht
ein untragbares Risiko sind.
3. Der wahre Grund: eine vernderte Strategie
Sind die offiziellen Begrndungen fr den NATO-Beschlu aber un-
haltbar, so stellen sich zwei entscheidende Fragen:
(1) Was sind die wahren Grnde?
(2) Wie kommt es, da sie von der ffentlichkeit und auch von
vielen Politikern offenbar nicht gesehen werden?
Die Antwort auf Frage (1) mu lauten: die neuen Waffen werden
beschafft, weil sie sich in ein gendertes,. fr Europa uerst
gefhrliches strategisches Konzept der USA einfgen und hierfr,
zumindest fr die kommenden 4-5 Jahre, auch unersetzlich sind.
Um dies erkennen zu knnen,mu das Konzept zunchst spezifiziert
und gegen seine unmittelbaren historischen Vorlufer abgehoben
werden.
Der Verlust der atomaren berlegenheit der USA im Verlauf der 60er
Jahre hat im Pentagon - noch unter McNamara - die Befrchtung ge-
weckt, die Pattsituation auf der obersten Ebene knne zur mili-
trischen Handlungsunfhigkeit auf den unteren Ebenen fhren und
- 9 -
die Lsung begrenzter Konflikte im Sinne der USA damit unmglich
machen. Die Suche nach einem Ausweg hat in der NATO zur Er-
setzung der Doktrin der "massiven Vergeltung" bzw. "gegenseitig
gesicherten Zerstrung" durch die Doktrin der "flexiblen Reaktion"
gefhrt. Sie macht strategische berlegungen und konkrete Planungen
auch fr einen begrenzten A.tomkrieg notwendig. Fr die europ-
ischen NATO-Partner scheint das solange vorteilhaft, als unter
"flexibler Reaktion" ausschlielich gestufte militrische Re-
aktionen auf einen vorausgegangenen militrischen Angriffsakt
des Ostblocks auf Westeuropa verstanden werden: in einem solchen
Fall "flexibel" zu reagieren scheint allemal vernnftiger als
einen massiven Schlagabtausch einzuleiten! Dennoch enthlt das
Konzept aus europischer Sicht 3 wesentliche Geburtsfehler:
(a) Es ist dazu angetan, ber die (bei allen Experten unstrittige)
Tatsache hinwegzutuschen, da eine Verteidiqunci Westeuropas
mit atomaren Mitteln unmglich ist, da schon der geplante
Einsatz des taktischen Potentials zu weitgehender Zerstrung
bzw. Verseuchung der betroffenen Lnder fhren wrde. (Wenn
man verteidigen will, mu man es konventionell tun.) Der Sinn
auch der taktischen Atomwaffen kann nur der der Abschreckung
sein. Als Drohung von seiten der betroffenen Europer ist ihr
Einsatz dann aber ebenso glaubwrdig oder unglaubwrdig wie
die Androhung massiver Vergeltung. Auf Westeuropa bezogen ist
der Vorteil der "flexiblen Reaktion" also nur scheinbar.
(b) Fast alle Atomwaffen, die in die Planungen fr eine "flexible
Reaktion" eingehen, sind ihrem Sinn nach ambivalent: sie knnen
defensiv, aber sie knnen auch offensiv eingesetzt werden. In
der Bundesrepublik denkt gewi kaum jemand an einen offensiven
Ersteinsatz. Auch die NATO schliet das als reines Verteidi-
gungsbndnis offiziell aus. Htte die Bundesrepublik ein di-
rektes Vetorecht fr die in ihrem Gebiet stationierten ameri-
kanischen Atomwaffen ("zweiter Schlssel"), wre deren Verwen-
dung zu anderen als reinen Abschreckungszwecken auch weitge-
hend ausgeschlossen, da die deutsche Interessenlage dem grund-
stzlich entgegen steht. Bekanntlich liegt aber die Verfgungs-
gewalt ausschlielich in den Hnden der USA,deren Interessen
sich nicht immer mit denen der Bundesrepublik decken mssen.
-10~
(c) Die Interessenlage der USA ist prinzipiell eine andere als
die der Westeuroper. Ihr Territorium ist durch Atomwaffen
unterhalb der interkontinentalen strategischen Ebene (also
z.B. durch die sowjet. SS 20) nicht bedroht; ihr Interesse
daran, diesen Zustand zu erhalten, ist fraglos grer als ihr
Interesse, die entsprechende Bedrohung Westeuropas, die seit
20 Jahren besteht, abzubauen. ~ls Weltmacht mit globalen
strategischen Interessen hat "militrische Handlungsfreiheit"
und "Flexibilitt" fr sie naturgem einen sehr viel weiteren
Sinn als den der glaubhaften Abschreckung eines Angriffs auf
Westeuropa. Die hier stationierten Atomwaffen sind dabei, wie
die alleinige Verfgungsgewalt deutlich macht, eingeschlossen:
die USA knnen sie nicht nur selbstndig verlegen, sondern
auch an ihrem Stationierungsort selbstndig zur Untersttzung
von Aktionen in anderen Weltteilen operativ oder (wie schon
geschehen 19 ) zur Drohung einsetzen. Als gleichrangige bzw.
partiell berleg~ne Weltmacht stehen die USA zudem immer auch
in der Versuchung, die UdSSR nicht nur (wie die westeuropi-
schen Mittelmchte) von Aktionen gegen ihr Territorium abzu-
halten, sondern sie als lstigen ~itkonkurrenten um globalen
Einflu zurckzudrngen, zu berflgeln oder gar vollstndig
auszuschalten.
Die Geburtsfehler des Konzepts der "flexiblen Heaktion" mssen
sich nicht zum Nachteil der Europer auswirken. Entscheidend ist,
da die Frage, ob sie es tun, vom Wohlverhalten der Amerikaner ab-
hngt. Anwlte einer eindeutigen berordnung der globalen milit-
rischen Handlungsfreiheit ber die Interessen der Verbndeten hat
es in den USA natrlich immer gegeben. Neu an der gegenwrtigen
Situation ist ihr zunehmender und seit Reagans Regierungsantritt
bestimmender Einflu auf die amerikanische Politik.
Ein Groteil der Spitzenpolitiker oder Berater der Reagan-Ad-
ministration (u.a. Nitze, Rowny, Lehman, Ikle, Perle, Gray, Kirk-
patrick) rekrutiert sich aus Mitgliedern des "Committee on the
Present Danger", das 1976, unter expliziter terminologischer ll:n-
knpfung an ein entsprechendes Komitee aus der Zeit des kalten
Krieges (1950), gegrndet wurde, um eine grundstzliche Abkehr
von der Entspannungspolitik der 70er Jahre und eine Rckkehr zur
"Pali tik der Strke" herbeizufhren. 20 Das Komitee bildete die
politische Speerspitze einer breiten Gruppe von Politikern und
sonstigen "Reprsentanten der ffentlichen Lebens" (unter ihnen
-11-
Reagan und Weinberger selbst) , fr die die Verbindung von unan-
gezweifel tem Glauben an nationale Strke und emotional verankertem
Antikommunismus charakteristisch ist und deren politisches Handeln
auf der berzeugung beruht, da die UdSSR keine der eigenen ver-
gleichbare Weltmachtpolitik betreibt, sondern ideologisch fundierte
Welteroberungspolitik, vergleichbar der Politik Hitlerdeutschlands.21
Das Komitee startete groangelegte Kampagnen mit dem Ziel, die Unter-
zeichnung bzw. Ratifizierung des SALT II Vertrags zu verhindern und die
Position von Prsident Carters Abrstungsbeauftragtem Warnke zu unter-
graben. Seine Aktivitten zwangen Carter selbst, insbesondere nach
den Ereignissen in Iran und Afghanistan, zunehmend in c'l.ie poli ti-
sche Defensive und fhrten schlielich Z? seiner (faktisch bereits zu spt erfolgten) opportunistischen Anpassung an den herrschenden
Trend zur "Politik der Strke". Entscheidend fr den Erfolg des
Komitees war jedoch der bestimmende Einflu, den einiqe seiner ~'i t-
glieder auf die Auswertung der von der CIA gesammelten Daten ber
die sowjet. Rstung gewannen (1976, im Rahmen des vom damaligen
CIA-Direktor und heutigen Vizeprsidenten Bush mit der erklrten
Vorgabe einer Negativrevision bestellten "Teams B") 22 Durch massive,
durch ehemalige CIA-Mitarbeiter inzwischen aufgedeckte Manipulationen
der Daten vor allem ber das Rstungsbuget und Zivilschutzrnanahmen
der UdSSR wurde zunchst den Politikern und (ber diese) spter auch
einer breiteren ffentlichkeit, vor alle!'1 im Wa.hlkampf 19 80, der
gewnschte Eindruck vermittelt, die CIA habe Beweise, da die sowjet.
Rstung tatschlich die vom Komitee unterstellten aggressiv-expan-
sionistischen Zge trgt und erkennbar auf eine Situation zuluft,
in der ein kalkulierter, gewinnbarer atomarer Offensivkrieg gegen
die USA mglich wird. Der politische Erfolg des Komitees war perfekt,
als mit Reagan ein Mann Prsident wurde, der seine Auffassungen von
Anfang an teilte und bereit war, die von ihm und ~
-12-
sind natrlich geheim. Doch drangen durch Indiskretionen und un-
bedacht offenherzige .i'.ueruncren von Spitzenpolitikern gengend
Informationen durch, um die Grundzge deutlich erkennen zu knnen.
Im ZusammenhanC)' mit den bevorstehenden Stationierungsmanahmen
sind zwei strategische Optionen der USA von besonderem Interesse:
{A) Die Option auf ~inen vernichtenden Erstschlaq gegen die UdSSR,
sei es in Form simultaner Ausschaltung aller bedeutenden Zweit-
schlagswaffen, sei es in Form eines Primrschlags gegen die
Kommandozentralen ("Enthauptung"), der eine Reaktion solange
verzgert, da die nachfolgende Vernichtung des Restpotentials
(durch gleichzeitigabgefeuerte lngerfliegende bzw. nachladbare
krzerfliegende Systeme) mglich ist. berlegungen hierzu sind
von Experten aus dem Beraterkreis der Regierung anaestellt worden
u~d liegen z.T. sogar publiziert vor. 23 Namhafte andere Experten
bezweifeln, da das Erstschlagskonzept, zumindest beim gegen-
wrtigen Stand der Rstungstechnologie beider Seiten realisti-
sche Erfolgschancen bietet. Weitgehend einig scheint man sich
jedenfalls darin zu sein, da die fr Herbst 83 angekndigten
Stationierungen allein keine Erstschlagsoption bieten, obgleich
ernstzunehmende Be.denken auch in dieser Hinsicht geuert wur-
den 24. Nicht ausschlieen lt sich jedoch, da sie den unent-
behrlichen Teil eines Potentials bilden, das als Ganzes (etwa
nach Stationierung der MX Interkontinental- und der treffgenauen
Trident II Ubootraketen bis 1988) den Erstschlag denkbar macht.
Auch dann drfte das Risiko fr die USA. gro bleiben. Sollte
auch nur ein Teil des sowjet. Potentials der Vernichtung ent-
gehen, knnte die Bevlkerung in Europa und den USA selbst
immer noch schwer getroffen werden. Daher mu das Konzept Men-
schenverluste in vielfacher Millionenhhe einbeziehen. (Gray
und Payne nennen fr die USA 20 Millionen Tote als erreichbare
Durchschnittszahl bei sorgfltiger militrischer Planung, 100
Millionen Tote als Grenze, oberhalb derer das Konzept nicht
mehr sinnvoll scheint.25) Man kann wohl davon ausgehen, da
eine Regierung, die ber ein normales ~1a an Risikobewutsein
und Rationalitt verfgt und nicht unter extremem Entscheidungs-
druck steht, von einer solchen Option letztlich keinen Gebrauch
machen wird, auch wenn man sich dessen nicht absolut sicher
sein kann. Jedenfalls sind die Chancen, da es bei einer bloen
Mglichkeit bleibt, in diesem Fall relativ gro.
-13-
(B) Anders bei der Option auf "berlegene Abschreckung" ("dominant
deterrence") .26 IhrGrundgedanke ist, da die USA, hnlich wie
in der Kuba-Krise von 1962, die UdSSR durch Z\ndrohung begrenz-
ter Schlge, auf die sie nicht in entsprechender Weise zu
reagieren vermag, zur Unterlassung unerwnschter Aktivitten
in beliebigen Weltteilen (z.B. am persischen Golf) zwingen
knnen. Die Entwicklung hocheindringfhiger, schnellfliegender
und extrem treffgenauer Raketen, die die qewnschte Wirkung
auch mit relativ kleinen Atomsprengkpfen ohne weitreichende
Nebenfolgen fr die Zivilbevlkerung erreichen, gibt die Mittel
dazu an die Hand. Als erste der beiden Supermchte, sind die
USA durch sie instand gesetzt, glaubwrdig mit przisen Schl-
gen gegen militrische oder logistische Einrichtungen zu drohen.
Gleichartige Reaktionen mu sie nicht befrchten. Will die
Sowjetunion nmlich atomar reagieren, mu sie, ihrem Potential
entsprechend, massiv eskalieren: mindestens bis zur Ebene ihrer
weit weniger treffgenauen und ungleich verheerenderen SS 20
Raketen, die US-Einrichtungen nur an ihren dichtbesiedelten
europischen Stationierungsorten treffen knnen, nicht aber
auf US-Territorium, das nur mit wesentlich lnger fliegenden
und noch einmal erheblich grer dimensionierten Interkonti-
nentalraketen fr sie erreichbar ist. Nach dem Kalkl der
"berlegenen Abschreckung" wird eine rational agierende Sowjet-
fhrung vor einer derart riskanten und fr sie nicht weiter
kalkulierbaren Eskalation zurckschrecken und daher etwaige
ihr schon zugefgte Schlge hinnehmen oder auf deren bloe
Androhung hin im Konflikt mit den USA einlenken. Die Chance,
da die Erpressung ohne Einsatz von Atomwaffen gelingt, ist
dabei relativ gro. Sollten die USA sich jedoch angesichts
sowjet. Unnachgiebigkeit zu ihm gentigt sehen, bleibt ihr
eigenes Land im.mer noch durch zwei bedeutende strategische
"Puffer" geschtzt: (a) der Hemmschwelle der Sowjets gegenber
massiver nuklearer Eskalation und., sollte auch die berschritten
werden,(b) Westeuropa als das primre Zielsowjet. Gegenschlge.
Im Falle eines auf Europa begrenzten nuklearen Schlagabtauschs
knnten die USA sich sogar gute Chancen ausrechnen, da die
(territorial betroffene) UdSSR anschlieend so geschwcht ist,
da die (nicht betroffenen) USA sich, wo nicht sofort, so doch
zumindest whrend der nchsten Rstungsrunde als eindeutig
berlegene Macht erweisen, diB ihrem Gegner die Bedingungen
-14-
diktieren kann. Risikofrei fr die USA ist auch dies Kalkl
nicht. (Auch wenn sich das Risiko angesichts der genannten
militrischen Fakten ganz gewi nicht, wie die Bundesregierung
glaubt oder uns glauben zu machen sucht, 27 daraus ergibt, da
die UdSSR heute erklrt, sie werde einen atomaren Konflikt
nicht auf Europa begrenzen!) Aber es ist bedeutend risiko-
rmer fr sie. und zwar zum guten Teil deshalb, weil das vor-
handene Risiko primr und berwiegend von Westeuropa getragen
wird, bei vlliger Entscheidungsunabhngigkeit der US-Regierung!
Fr die USA selbst liegt das Risiko in einer Grenordnung,
die .es gemessen an den erreichbaren Vorteilen nicht allein
denkbar, sondern sogar wahrscheinlich macht, da die Regierung
bereit ist, es einzugehen.
Da beide Optionen Grundlage der derzeit gltigen militrischen
Leitlinien der USA sind, steht auer Zweifel. Nicht nur da ihre
Vorkmpfer (darunter Gray und Payne) von der Reagan-Administration
in Spitzenpositionen berufen bzw. zu offiziellen Beratern ernannt
wurden. Auch die hchsten Entscheidungstrger (Reagan, Bush, Wein-
berger u.a.) haben sich whrend des Wahlkampfs und des ersten
Regierungsjahrs wiederholt offen in diesem Sinne geuert.28 Da
sie danach - unter dem Eindruck der in der ffentlichkeit entstan-
denen Unruhe und der erstarkenden amerikanischen und europischen
Friedensbewegung - bedeutend zurckhaltender in ihren uerungen
wurden, lie sich zunchst vielleicht als echte, realpolitischen
Einsichten entsprungene Migung interpretieren, obgleich ein
ernsthafter Sinneswandel eigentlich von Anfang an wenig wahrschein-
lich war. Da es sich in Wahrheit nur um ein taktisches Manver
gegenber der ffentlichkeit handelte, wurde sptestens dann klar,
als verlliche Informationen ber interne, strategische und
rstungspolitische Plne der Administration nach auen drangen.
Auch das Konzept des vernichtenden Erstschlags, das schon in
Carters "Prsidentendirektive 59" von 1980 (ausgearbeitet vom
"Nationalen Sicherheitsrat" unter Brzezinski) enthalten war, 29
ist unter Reagan erklrtes Planziel geworden. Das aufgrund von
Indiskretionen in seinem wesentlichen Inhalt bekanntgewordene
geheime Pentagon-Programm fr 1984-88 (entworfen von Chefberater
Fred Ikle, unterzeichnet von Weinberger), das Ende Mai 1982 in
der "New York Times" verffentlicht wurde und seiner Storichtung
nach einem etwa gleichzeitigen, krzeren Dokument des Weien Hauses
(unterzeichnet von Reagan) entspricht, 30 fhrt u.a. aus:
-15-
"Die zivilen und militrischen Planer, die sich fr die Auffassung entschieden haben, da ein lnger andauernder Krieg mglich ist, sagen, die amerikanischen Atomstreitkrfte mten 'die berlegen-heit besitzen und ih der Lage sein, die Sowjetunion zu zwingen, die frhestmgliche Beendigung der Feindseligkeiten unter Bedingun-gen anzustreben, die fr die Vereinigten Staaten gnstig sind.'"
"Grundlage der Atomkriegsstrategie wre die sogenannte Enthauptung, d.h. Schlge gegen die politische und militrische Fhrung und gegen die Verbindungslinien der Sowjetunion."
"Die neue atomare Strategie fordert von den amerikanischen Streit-krften die Fhigkeit, 'die gesamte sowjetische (und mit der Sowjet-union verbndete) militrische und politische Machtstruktur auszu-schalten', fordert darber hinaus jedoch die sichere Vernichtung 'der atomar und konventionell ausgersteten Streitkrfte und der Industrien, die fr die militrische Macht von entscheidender Bedeu-tung sind.'"
"Als Ergnzung der Militrstrategie in Friedenszeiten sollten [ .. ] die Vereinigten Staaten und ihre Verqndeten faktisch der Sowjet-union wirtschaftlich und technisch den Krieg erklren. Die Vereinigten Staaten [ ... ] sollten Waffen entwickeln, auf die die Sowjetunion nur schwer eine Antwort finden kann, die ihr un-verhltnismig hohe Kosten auferlegen, neue Gebiete einer umfas-senden militrischen Konkurrenz erffnen und frhere sowjetische Invesfitionen obsolet machen."
"Diese Strategie [ ... ] 'sollte Investitionen auf Waffensysteme konzentrieren, die die vorhandenen sowjetischen Rstungsbestnde wertlos machen.' Sie sollte 'den Sowjets dadurch hhere Kosten auferlegen, da sie bei ihnen Unsicherheit hervorruft, ob sie noch in der Lage sind, einige ihrer vordringlichsten Auftrge zu er-fllen.'" 31
Es handelt sich also nicht nur um abstrakte Gedankenspiele von
Strategietheoretikern oder um unbedachte Entgleisungen bereifriger "Falken", sondern um sanktionierte praktische Politik.
Die bereits angelaufenen konkreten Rstungs- und Zivilschutzpro-
gramme entsprechen dem. An erster Stelle sind hier die zur Statio-
nierung ansteh~nden Pershing II und Cruise Missiles selbst zu
nennen. Diese Waffen, die sich vor allem durch Treffgenauigkeit,
verbesserte Eindringfhigkeit (Pershing II und Cruise Missiles),
sowie hohe Geschwindigkeit und damit extrem geringe Vorwarnzeit
(Pershing II) auszeichnen, passen sehr viel besser in das Konzept
einer "Kriegsfhrungsstrategie" (sei es in der Form des "vernich-
tenden Erstschlags", sei es in der Form "berlegener Abschreckung")
als in das Konzept der "Abschreckung durch Vergeltung"; und dies
um so mehr, als diese Raketen aufgrund ihrer relativ hohen Verwund-
barkeit (im Gegensatz etwa zu ubootgesttzten Waffen) als Zweit-
schlagwaffe weniger geeignet sind. Hinzukommt, da in diesem Zusam-
menhang auch das Beharren der USA auf frhzeitiger Stationierung
landgesttzter Pershing II Raketen erst verstndlich wird. Denn
-16-
bis zur Stationierung von ubootgesttzten Trident II Raketen (1988)
sind die Pershing II die einzigen amerikanischen Waffen, mit denen
punktgenaue Schlge gegen wichtige militrische Ziele in der UdSSR
gefhrt werden knnen.
Die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles stellt also
nur einen ersten Schritt innerhalb eines umfassenden Rstungspro-
gramms fr die zweite Hlfte der 80er Jahre dar, das zudem vor allem
die folgenden Manahmen umfat: 32
1. Stationierung von MX Interkontinentalraketen (geplant sind 100 MX bis 1986 in zustzlich gehrteten, aber relativ stark rum-lich konzentrierten Silos - ein weiterer Hinweis darauf, da sie fr einen Erstschlag vorgesehen sind);
2. Ausbau der Bomber B-52-G und B-52-H mit zusammen 3000 Cruise Missiles;
3. Bau von 100 B-1 Bombern mit zusammen 3000 Cruise Missiles (der B-1 Bomber zeichnet sich durch hohe Eindringfhigkeit aus);
4. Hrtung der C-3-Strukturen (militrische und politische Kommando-und Kommunikationseinrichtungen);
5. Ausbau von Trident I Ubootraketen, die gegenber den vorhandenen Poseidon-Raketen eine deutliche Verbesserung darstellen;
6. Stationierung von 1720 seegesttzten Cruise Missiles;
7. Entwicklung der Trident II Ubootraketen; und
8. Effektivierung des nordamerikanischen Luftberwachungsnetzes.
So besttigt sich die aufgrund der politischen Indizien bereits
erhrtete Vermutung einer grundstzlichen Vernderung des strate-
gischen Konzepts der USA aufs neue.
Aber damit ist die Kette der Indizien noch nicht zu Ende. Denn in
diesen Zusammenhang fgt sich auch das im Frhjahr 1982 dem Kongre
vorgelegte amerikanische Zivilschutzprogramm nahtlos ein, fr
das 4,3 Milliarden Dollar in 7 Jahren aufgewendet werden sollen. 33
Die Verwirklichung dieses Projekts beruht auf der Annahme, da die
USA "mit vernnftigen Schutzmanahmen [ ... ] einen Nuklearkrieg
berleben und sich in relativ wenigen Jahren wieder erholen" kn-
nen. 34 Fr das Haushaltsjahr 1983 sind bereits die im Rahmen des
Projekts vorgesehenen Mittel fr Evakuierungsmanahmen bewilligt
worden. All diese Manahmen mssen die Befrchtung verstrken, da
die USA damit den bergang zur "Kriegsfhrungsstrategie" vollziehen.
-17-
4. Die Haltung der amerikanischen Politiker
Die Fakten ber die Rstung und die strategischen Leitplne der
USA sind eindeutig und unbestreitbar. Dennoch mag man sich fragen,
ob es den Politikern, die sie geschaffen haben, mit ihnen tatsch-
lich ernst ist. Kann man vernnftigerweise annehmen, da mehr
beabsichtigt ist als eine Demonstration der Strke, die etwaige
sowjet. Erpressungs- oder Eroberungsplne bereits im Vorfeld als
chancenlos erscheinen lassen soll? Aus europischer Sicht scheint
etwas anderes kaum vorstellbar, und diese Deutung kann richtig sein.
Aber sie mues nicht und das Gegenteil ist durchaus nicht unwahr-
scheinlich. Illusionen ber die unterschiedliche Interessenlage
der USA (s.o. S.10) sind zumindest ebensowenig am Platz wie Illu-
sionen ber die politische Grundeinstellung der Mnner, die die
Regierung bilden. Ihr Antisowjetismus hat nicht den Charakter
nchterner politischer Gegnerschaft, sonde~n ist emotional gefrbt,
nicht selten (z.B. bei Reagan selbst35J mit einem persnlichen bio-
graphischen Hintergrund. Wenn sie von Kommunisten als "gottlosen
Monstern" reden (Reagan36) oder erklren, die Sowjets htten
"zwischen dem friedlichen Wandel ihres kommunistischen Systems
oder dem Krieg" zu "whlen" (Reagan-Berater Prof. Pipes 37 ) , oder
wenn sie die Situation des Westens gegenber der UdSSR immer wieder
(Reagan zuletzt am 23.8.83 in Seattle) mit der Situation Chamber-
lains gegenber Hitler vergleichen, mag das zum Teil demagogische
bertreibung sein, weist aber auch als solche auf einen bedenkli-
chen Mangel an Leidenschaftslosigkeit und kritischer Rationalitt.
Zudem kann man nicht sicher sein, wieviel ehrliche berzeugung
eingeht. George F. Kennan, langjhriger Botschafter und Sowjet-
experte der USA, hat jedenfalls (neben anderen) darauf hingewiesen,
wie mangelhaft und verzerrt die Kenntnisse der derzeitigen Ent-
scheidungstrger ber die politische Situation in der UdSSR und
die Handlungsgrundlagen ihrer Fhrung sind.38 Weit schwerer aber
noch wiegt ihre erschreckende Unkenntnis ber die Folgen eines
Atomkriegs. Wenn ein Mann wie Th.K.Jones, der bekannt war als
Verfechter der Theorie, nach der die US-Bevlkerung einen Atom-
krieg in selbstgegrabenen Erdlchern im Garten (!) berleben knne,
als Experte "fr strategische und Nuklearwaffen mittlerer Reich-
weite" im Staatssekretrsrang ( ! ) ins Pentagon berufen wurde ,3 9 ist
das nur eines der zahllosen Indizien fr die Leichtfertigkeit,
mit der die Reagan-Administration die Fragen nuklearer Kriegfh-
-18-
rung behandelt. Sie zeigt sich auch in der unglaublich naiven An-
nahme des oben erwhnten (von Reagan selbst geprgten) 4 0 offiziellen
Zivilschutzprogramms vom Frhjahr 1982, Evakuierungsmanahmen allein
knnten 80% der US-Bevlkerung vor einem Atomangriff schtzen.
Zitiert sei in diesem Zusammenhang, stellvertretend fr viele &ndere,
das Urteil von Dr. Herbert York, Mitarbeiter an der Hiroshima-Bombe
und Chef der Verteidigungsforschung unter Eisenhower und Kennedy:
"Was jetzt geschieht, ist folgendes: Je verrckter die Analytiker, desto mchtiger ihre Position. Sie sind in der Lage, ihre Vorstellung-en weiter voranzubringen denn je, weil die Leute an der Spitze ein-fach weniger informiert sind als frher. Weder der Prsident, noch die Leute unmittelbar hinter ihm im Weien Haus, noch der Verteidi-gungsminister haben irgendwelche Erfahrungen mit diesen Dingen, so da sie, wenn die Ideologen mit ihren phantastischen Geschichten kommen, irmner demjenigen glauben, der zuletzt bei ihnen war." 41
Kein Zweifel, Reagan und Weinberger haben in ihrer Amtszeit Kenntnis
hinzugewonnen; nur fragt sich, aufgrund welcher Erfahrungen und
welcher Informationen seitens ihrer Berater? Wie gutglubig mssen
wir sein, um ohne weiteres anzunehmen, ihr Risikobewutsein sei
gro genug, um die von ihnen bestellten und sanktionierten strate-
gischen Leitplne nicht so zu verstehen, wie sie formuliert sind,
zumal zumindest im Falle der "berlegenen Abschreckung" Europa die
Hauptlast des Risikos trgt?
Mit unseren Hoffnungen auf ernsthafte Bereitschaft zu atomarer Ab-
rstung steht es nicht anders. Da Politiker, die an ein verharmlo-
sendes Gedankenspiel mit dem Atomkrieg gewhnt und von der lnger-
fristigen technologischen berlegenheit ihres Landes fest berzeugt
sind, wenig Interesse hierfr aufbringen, versteht sich von selbst.
Tatschlich war und ist die Wiedergewinnung zumindest relativer
strategischer berlegenhei t erklrte Absicht der US-P.egierung. Und
~ etwas an den Wahlkampfparolen vom strategischen Vorsprung der
UdSSR und dem drohenden Verlust der amerikanischen Zweitschlagsf-
higkeit gewesen wre, wre ohnehin klar, da an ernsthafte Abrstungs-
verhandlungen - auch bei grundstzlicher l'.nerkennung der UdSSR als
gleichrangige Weltmacht - solange nicht zu denken ist, wie der
Vorsprung besteht. Nichts deucet auf ehrliche Abrstungsabsichten
hin. Im Gegenteil, wie wenig Reagan an 11.brstung liegt, hat er
(der amerikanischen ffentlichkeit, aber natrlich auch der Sowjet-
union) unmiverstndlich zu erkennen gegeben, indem er die relevan-
ten Positionen zunchst gar nicht und dann mit langjhrig bekannten,
erklrten Abrstungsgegnern besetzte. Hier mag der Hinweis auf den
fr die Genfer Gesprche entscheidenden Chefunterhndler Nitze
-19-
gengen. 42 Nitze war nicht nur Hauptanalytiker von "Team B" und
Grndur,gsmitglied des "Komitees gegen die vorhandene Gefahr",
also aktiv an der Verhinderung des SALT II Abkommens beteiligt.
Schon 1974 hatte er unter Protest die (von Nixon berufene) Dele-
gation fr SALT II verlassen, weil sie auf reale strategische
Paritt zwischen USA und UdSSR zusteuerte. Da Nitze an Paritt
nicht interessiert war, berrascht nicht, wenn man wei, da er
zu den frhesten Verfechtern der These von der Gewinnbarkeit eines
"rational ausgefochtenen" begrenzten Atomkriegs und der daraus
abgeleiteten Forderung nach extrem treffgenauen Raketen gehrte,
wie sie heute in Pershing II und Cruise Missiles verfgbar sind.
Nitzewar Mitautor des "Gaither-Berichts" von 1957, der von der
drohenden (wie sich spter zeigte, real inexistenten) "Raketen-
lcke" der USA sprach und den entscheidenden Ansto gab fr jenes
massive Raketen-Aufrstungsprogramm, das den USA bis 1962 einen
enormen Vorsprung vor der UdSSR brachte und seinerseits wieder
entscheidend fr deren massive Raketenrstung in den 60er Jahren
gewesen sein drfte. Mehr noch, Nitze entwarf das berHchtigte
"NSC 68 Memorandum" von 1950, das Grundlage der offensiven US-
Politik whrend des kalten Kriegs wurde und die Maxime des
"Roll-Back" sachlich vorwegnahm. Pikanterweise empfiehlt dieses
Papier des spteren Abrstungsunterhndlers der US-Regierung aus-
drcklich, sie solle "unentwegt vernnftig klingende Abrstungs-
vorschlge unterbreiten, von denen anzunehmen war, da sie die
Sowjets nicht akzeptierten", um so "die Untersttzung der ffent-
lichkeit fr die Aufrstung zu erlangen". 43 Es gehrt schon ein
stupendes Ma an Leichtglubigkeit und politischer Torheit dazu
zu glauben, da ausgerechnet dieser Mann ein verllicher Treu-
hnder europischer Abrstungsinteressen ist! Was den Mittelstrek-
kenbereich speziell angeht, ist die amerikanische Interessenlage
ohnehin eine wesentlich andere als die der Europer. Die sowjet.
ss 20 knnen die USA nicht erreichen, wohl aber die in Europa
stationierten Pershing II und Cruise Missiles die UdSSR, und
genau diese Waffen sind es ja, die das Konzept der "berlegenen
Abschreckung" zumindest bis zur Stationierung der Trident II
unbedingt braucht (s.o. S.15f.). Angesichts dessen ist die Redu-
zierung des sowjet. Mittelstreckenpotentials auf eine als Verhand-
lungsziel realistische Gre (etwa die Anzahl der brit. und frz.
Systeme, wie von Andropow angeboten, oder sogar auf die Zahl der
Sprengkpfe vor Einfhrung der SS 20) fr die USA einfach nicht
attraktiv genug, um auf die Stationierung und die mit ihr gebotenen
-20-
Optionen zu verzichten. Und selbst der (vllig unrealistische und
von Reagan ersichtlich nur zur "Erlangung der Untersttzung der
ffentlichkeit" vorgeschlagene) Totalabbau des sowjet. Mittelstrek-
kenpotentials ist fr die USA nur insoweit von Interesse, als dies
einem dringenden Wunsch der Verbndeten entsprche, die Bedrohung
der bei ihnen stationierten eigenen Truppen abbauen helfen, den
Militrhaushalt entlasten und ein relativ ruhiges Klima fr die
letzte Entwicklungsphase der Trident II versprechen wrde. Da
die Regierung nicht einmal bereit war, die Erklrung des Verzichts
auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen anzubieten, wie es von Bundy,
McNamara, Kennan und Gerard Smith (Chefunterhndler von SALT II),
allesamt gewi keine Illusionisten bezglich der UdSSR, verlangt
worden war, 44 spricht fr sich. Weder die objektive Interessenlage,
noch die Personen der Unterhndler, noch die gemachten Verhand-
lungsangebote geben Anla zu der Vermutung, da die Reagan-Admini-
stration ernsthaft auf substantielle atomare Abrstungsschritte
hinarbeitet.
5. Risiken unabhngig von den Absichten der derzeitigen US-Regierung
Unterstellen wir aber einmal das Gegenteil. Nehmen wir an, es sei
trotz aller anderslautenden Anzeichen wahr, was die Bundesregierung
versichert: da der Doppelbeschlu nur aus der Not greifbarer sow-
jetischer berlegenheit heraus geboren wurde; da die neuen strate-
gischen Leitlinien der USA keine Wende markieren, sondern, wie auch
der Brsseler Stationierungsbeschlu, nur als Demonstration der
Strke gedacht ist, ersonnen allein, um die Gegenseite endlich zur
Migung und zur Aufnahme ernsthafter Abrstungsverhandlungen zu
bewegen; da Prsident Reagan nicht im entferntesten daran denkt,
den USA wirklich Erstschlagsfhigkeit oder relative berlegenheit
im Sinne der "berlegenen Abschreckung" zu verschaffen und danach
mit begrenzten Schlgen zu drohen; da er tatschlich nichts lieber
tte, als auf die Stationierungsmanahmen zu verzichten, und da
nur die obstinate Weig:erung der UdSSR, ihre einseitigen Vorteile
aufzugeben, die Stationierung notwendig macht. Knnen wir dann be-
ruhigter sein? Keineswegs. Wenn es zur angekndigten Stationierung
von Cruise Missiles und vor allem von Pershing II F.aketen auf un-
serem Territorium kommt, bleiben - unabhngig von aller Gutglubig-
keit gegenber den Absichten der US-Regierung - wenigstens drei
-21-
Gefahren, die in sich gro genug sind, um diese Manahmen fr
uns absolut unannehmbar zu machen:
1 Auch wenn
wrde sie
setzungen
schaffen.
die
mit
fr
Wer
derzeitige Regierung sie nicht anwenden wollte,
den beschlossenen Rstungsmanahmen die Voraus-
die Anwendung der genannten Strategiekonzepte
garantiert, da eine knftige Regierung nicht jene
Absichten hat,
mit Sicherheit
die die Gutglubigen unter uns bei der jetzigen
ausschlieen zu knnen meinen? Sind nicht poli-
tische Konstellationen denkbar, in denen die Macht in dia Hn-
de von Skrupellosen oder Fanatikern kommt? Ja, sind nicht viel-
fltige Situationen denkbar, in denen auch eine ansonsten un-
tadelige Regierung unter Entscheidungsdruck kommt, der hinrei-
chende rationale Abwgungen nicht mehr zult? Sind die Optionen
einmal gegeben, mu man damit rechnen, da sie ins praktische
politische Kalkl eingehen.
2. Selbst wenn wir sicher sein knnten, da alle westlichen Ent-
scheidungstrger niemals Gebrauch von ihnen machen werden, wer
sagt, da die Fhrer im Ostblock sich dessen ebenso sicher sind
und ihrerseits ebenso unzweifelhaft vor riskanten Aktionen zu-
rckschrecken? Die bloe Tatsache, da die Optionen vorhanden
sind (oder auch nur vorhanden sein knnten!) und da ent-
sprechende Einsatzplne existieren, mu die sowjet. Fhrer in
permanente Unruhe versetzen. Die extrem kurzen Vorwarnzeiten
fr die in Deutschland stationierten Pershing II zwingt sie
in dauernde Alarmbereitschaft. Kann man sicher sein, da sie nicht
in fr sie zweideutigen Situationen (Manver, Truppenverlegungen,
rhetorische Drohungen, Krisensituationen in anderen Weltteilen
u.a.) unter Entscheidungsdruck kommen, der ihre Rationalitt
einschrnkt und sie nervs reagieren lt? Mu in einer solchen
Lage der eigene Erstschlag nicht als das kleinere bel erscheinen
als das b~rraschtwerden durch einen vermeintlich oder real
berlegenen Gegner? Nach dem (im Pentagon-Programm u.a.) ange-
kndigten Versuch der USA, sie technologisch und wirtschaftlich
aus dem Rstungswettrennen zu werfen (s.o. S.15), mu die Sowjet-
union zudem davon ausgehen, da die Zeit gegen sie arbeitet. Die
Erfahrung spricht nicht dafr, da ein auenpolitisch derart
unter Druck geratenes und innenpolitisch zustzlich verunsicher-
tes Regime einfach1 wie die Regierenden in Washington hoffen,
"mit einem Winseln" 45 aufgibt.
-22-
Das allermindeste was zu erwarten ist, ist die Aufstellung von
Raketen mittlerer Reichweite in nahegelegenen Ostblocklndern
(DDR,CSSR), wie bereits mehrfach angekndigt. Denn es ist klar,
da die UdSSR, wenn schon nicht in der Treffgenauigkeit, so doch
zumindest in der Geschwindigkeit und der entsprechend verkrz-
ten Vorwarnzeit ihrer Raketen mit den USA gleichziehen mchte.
(Da sie dabei erneut Europa in Geiselhaft fii.r die USA nimmt,
mag inkonsequent erscheinen, erklrt sich aber, wie frher,
daraus, da ihr von ihrem Potential her gar.nichts anderes i.ibrig
bleibt.) Darber hinaus aber ist damit zu rechnen, da gewaltige
Rstungsanstrengungen unternommen werden, um die US-Raketen auch
in puncto Treffgenauigkeit zu erreichen oder zu berholen oder
auf anderen Gebieten der Rstung Vorteile zu erringen. Schlie-
lich drfte es auch in Moskau Strategen geben, die ebenso eifrig
wie die amerikanischen Grays, Nitzes, Ikles und Perles an den
Drehbchern fr "gewinnbare" Atomkriege arbeiten und die nun,
unter dem Eindruck massiver amerikanischer Bedrohung, eine ebenso
gute Chance haben, an die Schalthebel der Macht zu kommen. Als
"selbsterfllte Prophezeiung" knnte dann tatschlich eintreten,
was die Demagogen im Wahlkampf von 1980 ohne den Schatten eines
Beweises behauptet und ebendamit in Wirklichkeit nur herbeige-
redet haben: da auch der Westen - so wie heute bereits der
Osten - in dem Bewutsein leben mu, da die Gegenseite erklr-
termaen und rstungspolitisch manifest auf eine atomare Erst-
schlagsoption hinarbeitet! Wie stabil diese Form des "strate-
gischen Patts" wre, kann man sich ausmalen, ebenso wie die Rck-
wirkung, die die Befrchtung, sie knne eintreten, auf die Bereit-
schaft der US-Regierung haben mu, keinen Gebrauch von der er-
strebten und sicher vor den Sowjets erreichten Erstschlags-
bzw. berlegenen Abschreckungsoption zu machen.
3. Gesetzt aber selbst, wir knnten, aller menschlichen Erfahrung
zum Trotz, davon ausgehen, da die Entscheidungstrger auf bei-
den Seiten zu jeder Zeit ber ein Hchstma an Rationalitt und
moralischer Verantwortlichkeit verfgen und niemals ernsthaft
an die Wahrnehmung ihrer atomaren Optionen denken. Die bloe
Tatsache, da sich nach der Stationierung in Europa Atomraketen
mit einer Flugzeit von wenigen Minuten gegenberstehen, gengt,
um uns an den Rand des Atomkriegs zu bringen: zwar nicht (ex
hypothesi) politisch wohl aber technologisch. Bekanntlich hat es
schon in der Vergangenheit wiederholt atomare Fehlalarme gegeben,
-23-
die bislang dank der relativ langen Vorwarnzeiten stets recht-
zeitig gestoppt werden konnten. Die kurzen Vorwarnzeiten, die
wir von Ende 1983 an zu erwarten haben, machen dies unmglich.
Das gilt auch dann, wenn beide Seiten nicht (wie von der UdSSR
bereits angedroht) zu computergesteuerter automatischer Ver-
geltung bergehen. Denn die Zeit, die den amerikanischen und
sowjetischen Entscheidungstrgern bleibt, wird, wie exakte
Berechnungen von Informatikern auf dem Mainzer Kongre deutlich
gemacht haben, in jedem Falle so klein sein, da rationale Re-
aktionen nicht mehr zu erwarten sind, weil objektive Nachpr-
fungen ausscheiden und subjektive Faktoren an ihre Stelle treten:
"Angenommen, die Kreml-Fhrung erhlt die Alarmmeldung: Pershing-2-Raketen im Anflug. Die russischen Fhrer mssen mit dem Tod in wenigen Minuten rechnen, ohne Fluchtmglichkeit. Wie werden sie sich auf einen solchen Fall vorbereiten? Sobald die ersten Pershing-2-Raketen stationiert sind, also ab Ende 1983, wird unser Schicksal Tag und Nacht in jeder Sekunde am seidenen Faden der Fehlerfreiheit der russischen Warncomputer hngen." 46
Oder sollen wir allen Ernstes annehmen, da die sowjetischen
Computer prinzipiell zuverlssiger sind als die amerikanischen,
die sich mehr als einmal als anfllig erwiesen haben?
6. Die Haltung der deutschen Politiker
Es gibt also eine berwltigende Flle von Evidenzen dafr, da
die bevorstehenden Stationierungsmanahmen zwar im Interesse der
USA, wie es die derzeitige "Politik der Strke" definiert, liegen,
fr Westeuropaabe~ abgesehen von Klimaverbesserungen im Verhltnis
zu den USA, keinerlei Vorteil bieten, sondern im Gegenteil eine
dramatische Verschlechterung seiner Sicherheitslage mit sich bringen.
Damitwird nun aber die bislang offen gebliebene Frage (vgl. S.8)
unabweislich, wie denn in aller Welt eine deutsche Regierung und
ein deutsches Parlament dazu kommen konnten, einem Vorhaben zuzu-
stimmen, das den elementarsten Eigeninteressen zuwiderluft? Fr
die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten und die Mehrzahl der Res-
sortminister ist die Antwort einfach: sie gehen ebenso wie wir selbst
davon aus, da die militrischen und sicherheitspolitischen Experten,
die sie aus anderen zusammenhngen als rationale und verantwortunas-
bewute Personen kennen, sich ihrerseits grndlich informiert und
die deutschen Interessen wohl bedacht haben, ehe sie ihre Vorlage
-24-
machten. Kritisch ist die Frage nur mit Bezug auf die Experten
selbst, die man kaum als so uninformiert oder durchweg leichtfertig
ansehen kann, da sie wissentlich eine derart gefhrliche Entwicklung
einleiteten. Eine plausible Erklrung dafr,wie sie zu Befrwortern
des Brsseler Stationierungsbeschlusses werden konnten, kann daher
als eine Art Nagelprobe auf die Eichtigkeit der vorausgegangenen
negativen Einschtzung gelten. Vor allem die Person des frheren
Bundeskanzlers Schmidt ist hier von Bedeutung. Wenn berhaupt einem
deutschen Spitzenpolitiker wird man ihm Kompetenz in der Sache und
ein von emotionalen Vorur~eilen ungetrbtes, illusionsloses
Verhltnis zur Politik der UdSSR und der USA zuschreiben mssen.
Dennoch gab er seine Zustimmung zum Beschlu, ja gilt in der ffent-
lichkeit sogar als derjenige, der die Sache ursprnglich ins Rollen
brachte.
Eine plausible Erklrung ist mglich. Im allgemeinen wird davon
ausgegangen, da Schmidts Rede vor dem Londoner "International
Institute for Strategie Studies" vom Okt. 1977 den entscheidenden
Ansto zur "Nachrstung" gab. Das ist nicht falsch, trifft aber
nur die Auenseite. vorausgegangen war ein Besuch von Fred Ikle
bei Schmidt im Frhjahr 1977. 47 Ikle war damals aktives Mitglied
des "Komitees gegen die vorhandene Gefahr" und damit intimer Ver-
trauter des Vorsitzenden (R.Pipes) und der beiden Hauptanalytiker
(P.Nitze, W.van Cleave) von "Team B", das 1976 die CIA-Daten um-
interpretiert hatte. Ikle brachte diese angeblich neuen,bedrohlichen
Daten mit und warnte zugleich vor der (damals noch nicht revidierten,
mit den Unterhandlungen zu SALT II befaten) Sicherheit.spolitik
Carters, die der sowjet. Rstung gegenber naiv sei. Ikle konnte
voraussetzen, da Schmidt dieser Warnung glauben wrde, denn dessen
geringe Meinung von Carters politischer Kompetenz war allgemein
bekannt. Offensichtlich hat diese Intervention zusammen mit zu ver-
mutenden weiteren whrend des Sommers 1977 die gewnschte Wirkung
gehabt; Schmidt reagierte mit seiner Londoner Rede. Er forderte
darin allerdings keineswegs die inzwischen als "Nachrstung" be-
zeichneten konkreten Manahmen. Er warnte nur vor der Gefahr, da
die Festschreibung des strategischen Potentials der Supermchte
durch die SALT-Abkommen ohne Rcksicht auf die darunterliegenden
Ebenen erfolgt, insbesondere auf den Mittelstreckenbereich, in dem
die UdSSR (bei offenbarer Unttigkeit der USA) mit ihrer Moderni-
sierung bereits begonnen hatte, und da die UdSSR hier einen Be-
wegungsspielraum gewinnen knnte, den die USA nicht besitzen. Der
-25-
Zusammenhang mit den SALT-Verhandlungen war essentiell, wie sich
indirekt auch aus dem spteren (vergeblichen) Versuch von Minister
Apel, die Ratifizierung von SALT II durch Hinweis auf diesen Zu-
sammenhang zu befrdern, 48 und dem noch spteren (hilflosen) Ver-
such der Bundesregierung ergibt, die "Nachrstung" trotz des in
Washington gescheiterten SALT II Vertrages zu rechtfertigen. 4 9
Im Text der Londoner Rede ist der Zusammenhang eindeutig:
"Eine auf die Weltmchte USA und Sowjetunion begrenzte strategische Rstungsbeschrnkung mu das Sicherheitsbedrfnis der westeuropi-schen Bndnispartner gegenber der in Europa militrisch berlege-nen Sowjetunion beeintrchtigen, wenn es nicht gelingt, die in Europa bestehenden Disparitten parallel zu den SALT-Verhandlungen abzubauen. " 5 o
Setzt man Schmidts Mitrauen in CartersVerhandlungsfhrung und seinen
Glauben an die Korrektheit der ihm zugespielten CIA-Daten voraus,
sind Warnungen dieser Art natrlich verstndlich.
Mit diesem Vorsto aber waren der Bundesregierung und- den brigen
Europern bereits, ohne da sie es ahnten, die nachfolgenden Ent-
wicklungen weitgehend aus den Hnden geglitten. Er lieferte den
Entspannungsgegnern in Washington die gewnschte innenpolitische
Munition. Die ersten Schritte zur Torpedierung von SALT II waren
getan. Es wurde mglich, das bekannte Paket aus iandgesttzten
Pershing II und Cruise Missiles als Entgegenkommen gegenber dem
"europischen Wunsch nach NATO-Aktivitten im Mittelstreckenbereich"
zu offerieren, ohne mit besonders kritischer Prfung durch die zu-
stndigen europischen und amerikanischen Gremien rechnen zu mssen.
Man kann wohl davon ausgehen, da den europischen, partiell viel-
leicht auch den amerikanischen Entscheidungstrgern die weitreichen-
den technologischen Implikationen der neuen Waffen nicht sofort zu
Bewutsein gekommen sind, zumal eine strategische Umorientierung
der USA zugunsten "berlegener Abschreckung" oder "vernichtender
Erstschlagfhigkeit" damals noch nicht im Gesprch war. Es ist sogar
mglich, da auch die amerikanischen "Falken" die Chancen, die
ihnen die neuen Waffen in Verbindung mit der anstehenden NATO-
"Nachrstung" boten, erst im Verlauf der Planungen bemerkt haben.
Als sie die Europer bemerkten, war es jedenfalls, wie es scheint,
bereits zu spt. Schmidts Versuch, die Stationierung der Waffen
zur See (auf Ubooten) ins Gesprch zu bringen, stie in den USA
bereits auf kein Interesse mehr; die nachfolgende strategische Wende
erklrt, warum. Ein Zurck von den Brsseler Beschlssen wre von
einem gewissen Zeitpunkt an offenbar nur noch um den Preis eines
-26-
offenen Konflikts mit den USA mglich gewesen, vor dem die Bundes-
regierung aus vielfltigen denkbaren Grnden (unter ihnen massive
amerikanische Drohungen) faktisch zurckschreckte. Ihr blieb nichts
brig, als sich an den Verhandlungsteil der Beschlsse zu halten
und ihren Einflu geltend zu machen, um die Gromchte wenigstens
zur formellen Aufnahme von Verhandlungen zu bewegen - ein Vorhaben,
das wohl vor allem durch den begleitenden Druck der beunruhigten
ffentlichkeit gelang. Illusionen ber die Erfolgsaussichten in
Genf drften die informierten Mitglieder der Bundesregierung sich
von Anfang an kaum gemacht haben. Um die allein verbliebenen Hoff-
nungen auf die Gesprche aber nicht von vorneherein niederzuschlagen,
waren sie gezwungen, den Doppelbeschlu vor der ffentlichkeit in
einer Weise zu verteidigen, die ihnen selbst nicht gerechtfertigt
erscheinen konnte. Die vage Hoffnung, die USA knnten vielleicht,
unter dem Druck der politischen Gesamtlage, doch noch zu ernsthaften
Verhandlingen bergehen oder die UdSSR unerwartet groe Zugestnd-
nisse im Mittelstreckenbereich machen, mag dabei ber die aufkommen-
den inneren Konflikte hinweggeholfen haben. Diese Situation hat
sich auch nach dem Regierungswechsel nicht grundstzlich gendert,
auch wenn die Zahl derer, die Gutglubigkeit oder moralische Ver-
drngungsfhigkeit an einer illusionslosen Einschtzung der Reali-
tten hindert, grer geworden sein drfte. Da Konflikte vorhan-
den sind, zeigen jedenfalls die gereizten und zunehmend nervseren
Reaktionen auf ffentliche Kritik, insbesondere auf die moralischen
Bedenken der Kirchen.
7. Schlu
Aln der Verhinderung einer "Nachrstung", deren unzumutbare Risiken
oben aufgewiesen wurden, mssen die Europer unmittelbar interessiert
sein. Sie haben aber natrlich auch ein vitales Interesse daran, da
die Sowjetunion ihr Mittelstreckenpotential abbaut und von ihrem
Konzept Abstand nimmt, ihre Sicherheitsinteressen gegenber den
USA durch die Bedrohung Europas zu befriedigen. Letzteres ist gewi
nur dann zu erreichen, wenn die Frage der europischen Sicherheit
von den strategischen Interessen der Supermchte entkoppelt wird,
was nur im Rahmen einer grundlegenden Revision des europischen
Sicherheitssystems denkbar erscheint. Kurzfristig mssen sich unsere
Hoffnungen auf Genf richten, wo zusammen mit der Verhinderung der
-27-
untragbaren "Nachrstungs"-Manahmen auch eine sprbare Reduzierung
der Bedrohung durch sowjet. Mittelstreckenraketen erreichbar wre.
Es mag sein, da die Sowjetunion nur durch die Dr0hung mit neuen
Waffen zu Verhandlungen hierber gebracht werden konnte. Aber die
dadurch entstandene Chance darf nicht durch fehlende Kompromi-
bereitschaft wieder verspielt werden, zumal ein Interesse der UdSSR
am Erfolg der Verhandlungen erkennbar ist. Leider gibt es auf ame-
rikanischer Seite wenig Anzeichen fr Kompromibereitschaft, wie
aus den obengenannten (S.18f.) Grnden zu befrchten stand. Es wre
die selbstverstndliche Aufgabe der europischen Regierungen, im
eigenen Interesse hier klar Stellung zu beziehen. Das Gegenteil ist
der Fall, zumal trichte Einlassungen deutscher Politiker (z.B.
Alfred Dregger) die Amerikaner in ihrer Kompromiunwilligkeit noch
r bestrken. Nur breitester ffentlicher Protest kann angesichts einer
schlafenden, leichtfertigen oder amerikanischem Druck gegenber
ngstlichen Bundesregierung die wahnwitzige, fr unser Land im
hchsten Mae bedrohliche Entwicklung vielleicht noch in letzter
Sekunde verhindern.
l'mrnerkungen
1 "Da Knige philosophiren, oder Philosophen Knige wrden, ist nicht zu er-warten, aber auch nicht zu wnschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Da aber Knige oder knigliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Vlker die Classe der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern ffentlich sprechen lassen, ist Beiden zu Beleuchtung ihres Geschfts unentbehrlich und, weil diese Classe ihrer Natur nach der Rottirung und Clubbenverbndung unfhig ist, wegen der Nachrede einer P r o p a g a n d e verdachtlos." ( I. Kant: Zum ewigen Frieden, Abschn.1, Zusatz 2, AA VIII, 369)
2 Kommunique der Sondersitzung der Auen- und Verteidigungsminister der NATO am 12. Dezember 1979 in Brssel, in: A.Mechtersheimer/P.Barth(ed.): Den Atom-krieg fhrbar und gewinnbar machen? Dokumente zur Nachrstung, Band 2, Reinbek., 1983' 25
ebd., 26'
4 Vgl. "Es geht um unsere Sicherheit: Bndnis. Verteidigung. Rstungskontrolle", Hg.Auswrtiges Amt, ref.fr ffentlichkeitsarbeit /Bundesministerium der Vertei-digung, Informations-und Pressestab, 3.erw.Aufl.,-Kln 1982, 54; Atomwaffen in Europa. Nachrstungsdruck und Abrstungsinitiativen. Rstungsjahrbuch 82/83, Hg. Stockholm Intern. Peace Res. Inst. ( SIPRI).; Reinbek 19 83, 60ff.
SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 35, 57f.
W.Bittorf(ed.): Nachrstung, Reinbek 1981, 27ff.; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 36, 38, 43f.
7 Bittorf(ed.) 1981, a:a.O., 19ff., 37ff.; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.0.,35; H.J.Neuman: Kernwaffen in Europa, Hg. Intern.Inst.f.Strateg.Stud.(IISS) London, Bonn 1982, 126ff.
Neuman 1982, a.a.O., 128; SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., 46f., 57
9 Vgl. U.Albrecht: Kndigt den Nachrstungsbeschlu!, Frankfurt 1982, 71
lO Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 51ff.; R.Scheer: With Enough Shovels. Reagan, Bush, and Nuclear War, New York 1982, dt.u.d.T. Und brennend strzen Vgel vom Himmel. Reagan und der 'begrenzte' Atomkrieg, Mnchen 1983, 128
11 Vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.o., 52f.
l2 Vgl. die Nachweise bei G.Krell/H.J.Schmidt: Der Rstungswettlauf in Europa, Frankfurt 1982, 19f., repr.in: Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 30ff.
13 Zur Kritik des "Abkopplungsarguments" vgl. SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O. ,64ff.
14 So auch der frhere US-Sicherheitsberater McGeorge Bundy; vgl. McG.Bundy: Es geht auch ohne Landraketen, in: Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 205
15 Vgl. Anm.13
16 zit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 36
17 C.F.v.Weizscker: Gefahren der Rstung in den achtziger Jahren, in: Mechters-heimer/Barth 1983, a.a.0.,208ff.
18 Bundy 1981, a.a.o., 204
19 Demonstrative Alarmbereitschaft der F-111 Bomberstaffel in Lakenheath/Gro-britannien zur strategischen Absicherung der versuchten Geiselbefreiung in Iran; vgl. W.Bittorf: Raketen tten nicht - Menschen tten, in: Der Spiegel 37(1983) Nr.9, 161
20 Vgl. hierzu und zum Folgenden R.J.Barnet: Wie es zur neuen Politik der Strke kam, in:' Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., l80ff.; Scheer 1983, a.a.O., Kap.4
21 Die uerungen amerikanischer Spitzenpolitiker, die dies belegen, sind Legion und jedem aufmerksamen Zeitungsleser oder Fernsehzuschauer der letzten Jahre bekannt; dokumentiert sind sie zudem in zahlreichen deutschen und amerikanischen Buchpublikationen.
22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Barnet 1981,, a.a.O., 183ff.; Scheer 1983, a.a.O., Kap.5
23 C.S.Gray/K.Payne: Victory is Possible, repr.in: Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.o., 59-72
24 J.Wernicke: Wir haben nur noch wenige Monate Zeit, Hg. Die Grnen/Bunde~geschftsstelle, Bonn Juni 1983
25 Gray/Payne 1983, a.a.O., 70f.
26 Vgl. dazu vor allem Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 60ff. und Bittorf 1983, a.a.O., 156-176, wo auch diverse uerungen amerikanischer Politiker zitiert sind.
27 Vgl. "Aspekte der Friedenspolitik", Hg. Bundespresseamt Bonn, Juni 1981, repr. (ausz.) in: Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 215
28 Vgl. dazu vor allem Scheer 1983, a.a.O., Kap.3
29 Vgl. Scheer 1983, a.a.o., 21ff.; Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 95ff.
30 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 15f.
31 tit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 83, 88, 84f. und 91
32 Zum Folgenden vgl. SIPRI-Jahrbuch 1983, a.a.O., vor allem 210ff.
33 Zu den Einzelheiten vgl. Scheer 1983, a.a.O., Kap.8
34 Verff. der US-Bundesnotstandsbehrde, zit, nach Scheer 1983, a.a.O., 200
35 Vgl. dazu Scheer 1983, a.a.O., 75
36 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 55f., 235f.
37 Vgl. Scheer 1983, a.a.O., 16
38 Vgl. etwa Kennans .Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buch-handels; vgl. Barnet 1981, a.a.O., 175. hnlich uerten sich z.B. George W.Ball, Staatssekretr im Auenministerium unter Kennedy und Johnson, und der Oxforder Militrhistoriker Michael Howard (Zitate in Bittorf,ed. 1981, a.a.0.,168 bzw.
Bittorf 1983, a.a.o., 176)
39 Zu Jones vgl. Scheer 1983, a.a.O., Kap.2
40 Vgl. Scheer 1983, a.a"O., 198
41 Zit. nach Scheer 1983, a.a.O., 25f.
42 Zum Folgenden vgl. Scheer 1983, a.a.O., 161ff.; Bittorf 1983, a.a.0.,156ff.
43 Zit. nach Scheer 1983, a.a.O., 165
44 Vgl. dazu Scheer 1983, a.a.O., 175f.
45 So Caspar Weinberger im Spiegel-Interview vom 28.9.1981, repr.in: Mechters-heimer/Barth 1983, a.a.O., 78
46 Wernicke 1983, a.a.O., 6
47 Hierzu und zum Felgenden vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.O., 77ff.; Bittorf 1983, a.a.O., 172
48 Vgl. Bittorf(ed.) 1981, a.a.o., 81
49 Vgl. "Aspekte der Friedenspolitik" 1981, a.a.O., 217
SO Zit. nach Mechtersheimer/Barth 1983, a.a.O., 24
Ernst Tugendhat
Rationalitt und Irrationalitt der Friedensbewegung und ihrer Gegner+)
I.
Ich gehe aus von dem sich immer erneut wiederholenden schrecklichen Er-
lebnis des Sich-gegenseitig-nicht-Verstehens in der Frage des gemeinsa-
men berlebens. Fast die ganze westliche Welt ist wie gespalten in zwei
groe, ber die nationalen Grenzen zusammenhngende Kommunikationssys~eme,
die sich gegenseitig abzuschotten drohen und neue Grenzen schaffen, die
quer durch Familien und Freundscha~ten verlaufen. Es sind nicht einfach
entgegengesetzte politische Zielsetzungen. Die tiefere Differenz, die uns
aneinander und, wenn wir dnnhutig sind, an uns selbst verzweifeln
lassen kann, ist die Differenz in der Sprache, im Verstehen, in den un-
ausgesprochenen Voraussetzungen, die in die beiderseitige Wahrnehmung
der politischen Realitten eingehen-
Wenn Menschen sich nicht mehr verstehen, knnen sie sich gegenseitig nur
noch irrational erscheinen; das liegt einfach im Sinn des Nichtver-
stehens. Es ist daher kein Zufall, da der hufigste wechselseitige Vor-
wurf, der von de~ Gegnern der Friedensbewegung gegen diese und von dieser
gegen jene erhoben wird, der Vorwurf der Irrationalitt ist. Ein solcher
Vorwurf bedeutet immer, da die Grnde, die die anderen fr ihre ber-
zeugungen anfhren, als unzureichend empfunden werden. Wenn wir die